Dirk Schindelbeck


Der aus Reklame Werbung machte
Johannes Weidenmüller, Werbewissenschaftler und Agenturgründer 

Lernen vor der Litfasssäule


Mitten im Ersten Weltkrieg treffen sich in der Wohnung des Werbefachmanns Johannes Weidenmüller in Berlin-Pankow einige Kollegen zu regelmäßigen Arbeitsabenden.2 Im September 1916 liegt auf dem Wohnzimmertisch ein Lageplan. Er zeigt aus der Vogelsperspektive den Standort einer Litfasssäule an der Gabelung zweier Geschäftsstraßen samt Grundrissen und Branchen umliegender Läden. Daneben der Entwurf eines „Fragebogens für die Säulenbeobachtung“ mit Rubriken sowohl zur Erfassung der einzelnen Plakate an der Säule („geschäftliche Reklame“, „Theaterzettel“, „amtliche Anschläge“ usw.) als auch der zu messenden Publikumsresonanz („Nah- und Fernstrom des Publikums“, „Alter und Geschlecht vorbeiströmender Personen“ usw.).

Johannes Weidenmüller war zu dieser Zeit leitender Redakteur der „Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamefachleute“. In diesem Organ berichtete er unter dem Titel „Wir müssen fragen lernen!“ auch über das Ergebnis dieses Abends. Um zu verstehen, wie Massenbeeinflussung funktioniere, brauche man zuerst eine saubere Methodik: „Also fragen wir vielleicht nur nach dem Werbewert des Anschlags! Aber auch in dieser Frage stecken zum mindesten noch zwei große Hauptfragen, die gesondert behandelt sein wollen: 

1. Die Frage nach dem Wesen und Wert des Anschlagblattes als Angebotsträger,

2. Die Frage nach dem Wesen und Wert der Säule als Streuweg.“

En passant hatte er einen Begriff fallen gelassen, den es im deutschen Sprachraum bis dahin noch gar nicht gegeben hatte: „Streuweg“. Dennoch war jedermann klar, was damit gemeint war, ohne dass eine weitere Erklärung nachgeschoben werden musste. Schon die Frage selbst war offensichtlich Teil eines größeren Projekts, der Erarbeitung einer Werbelehre, die auf „klar und zuverlässig beobachteten Tatsachen“ aufzubauen war. Schließlich gebe es für diese Phänomene noch keine Fachsprache, es fehle an „klaren, scharf geprägten Worten“. In diesem Fall könne sich das Ergebnis sehen lassen, denn „der Begriff ‚Verkehrsstrom’ mit seinen Unterbegriffen ‚Nahstrom’ und ‚Fernstrom’ erleichterte das Fragen; auch der zusammenfassende Begriff ‚Angebotsempfänger’ erwies sich als handlich und anwendbar.“ Weidenmüller, der wissen will, wie Werbung wirkt, versteht sie sogar als Bestandteil einer neuen Sozialtechnik: „Wer daran mitarbeiten will, die angebotliche Bewusstseinsbeherrschung als eine Leistung deutscher Wissenschaft zu schaffen, der fange an, fragen zu lernen.“3

Johannes Weidenmüller war der erste in Deutschland, der „angebotliche Bewusstseinsbeherrschung“ als konstituierend für die moderne Industriegesellschaft auffasste. Obwohl es zu seiner Zeit den Begriff ‚Massenkommunikation’ noch gar nicht gab, zielte sein Denken bereits auf die Erarbeitung einer Theorie des kommunikativen Handelns in dem Bewusstsein, dass jeglicher Transfer von Informationen nur über Codierung und Decodierung von Botschaften erfolgte. In seinen Worten klang das 1918 so: „Die äußeren Sprachzeichen, welche die amtliche Nachricht zu Auge und Ohr des Empfängers tragen, sind keine inhalt-erfüllten Gefäße der Mitteilung, durch welche der Sachgehalt der Nachricht in den Bewusstseins-Ablauf hineingegossen würde. Sie sind vielmehr nur äußere Reize, welche als Erinnerungszeichen die vorhandenen Bewusstseins-Inhalte beleben: kein Empfänger kann deshalb eine amtliche Nachricht nur aus dem Wortlaut der Nachricht heraus verstehen, wenn ihm die zugrundliegenden Dinge und Verhältnisse nicht schon im Voraus bekannt sind.“4 

Das Zitat, seiner „Werbelehre für Verwaltungen und Behörden“ von 1918 entnommen, zeigt, wie universell Weidenmüller Werbung dachte. Für ihn war sie keineswegs nur auf den rein kaufmännischen Sektor beschränkt, sondern umschloss bereits den gesamten Bereich dessen, was man heute als Public Relations (PR) bezeichnet. Auf die Idee, auch Behörden eine (60 Seiten starke!) Handreichung für ihre Öffentlichkeitsarbeit zu geben, war vor ihm noch niemand gekommen. Mussten jetzt auch Institutionen werben? Und brauchten sie dazu eine Werbelehre oder gar eine Werbewissenschaft, die ihnen sagte, wie dies zu geschehen habe? Aus der Sicht der kaiserlichen Beamtenschaft waren dies ungeheuerliche Forderungen.  

Eben das macht Weidenmüllers Schrift heute umso lesenswerter. Sie ist ein einziges Plädoyer für die Durcharbeitung der „behördlichen Nachricht“ auf die Adressaten und deren Mentalität hin. Vehement wendet sie sich gegen das formelhafte, schwer eingängige Amtsdeutsch: „Erst wenn die Nachricht ohne jede Kraftanstrengung die gewollten Bewusstseinswirkungen zu schaffen vermag, hat der amtliche Nachrichtendienst jene Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit erreicht, die eine entwickelte Verwaltungsarbeit von ihm fordern muss.“5   


01_a_Litfasssäule_1912_ebook

01_b_Fragebogen_Saeulenbeobachtung_ebook

01_c_Lageplan_sauelenbeobachtung_ebook


Spurensuche nach einem Unbekannten


Um zu dieser Höhe werbestrategischen Denkens zu kommen, brauchte Johannes Weidenmüller kaum zehn Jahre. 1916 hatte er mit seinem „Kurzen Grundriß der Werbelehre“ seinen ersten kompletten Entwurf einer universellen Werbetheorie vorgelegt und darin bereits jene Definition formuliert, um die sein Denken bis in die Zeit der dreißiger Jahre hinein kreiste: „Werbung ist Nachricht von Ware oder Dienstleistung oder Geschäft in willenbewegender Form.“6 

Wer war dieser Mann, der das Gesamtgebiet dessen, für das es damals nur das Wort „Reklame“ gab, bis in all seine Verästelungen durchdachte und der in den zwanziger Jahren als werbwart bzw. werbwalt weidenmüller für so große Irritationen sorgen sollte und gut 80 Bücher und etwa 2000 Aufsätze789