Cover

Marie Louise Fischer

Zu viel Liebe

Roman

hockebooks

Als Ralph vierzehn war, lernte er in der Tennishalle einen Jungen kennen, der nicht zum Kreis der Kinder von Bekannten seiner Mutter zählte.

Es war Markus von Kosel, ein Jahr älter als Ralph und einen guten Kopf größer, hellhäutig, schlank und etwas schlaksig. Er hatte regelmäßig neben dem Platz, den Julia für sich und ihre Kinder gemietet hatte, seine Trainerstunde.

Eine Zeitlang beobachteten die beiden Jungen sich unauffällig aus den Augenwinkeln. Eines Tages schlenderte Markus nach Schluss seines Unterrichts auf Ralph zu, der, gelangweilt, Mutter und Schwester beobachtete, und fragte ihn, ob er nicht ein paar Bälle mit ihm tauschen wollte. Die Trainerstunde dauerte immer nur 45 Minuten, während der Platz für eine ganze Stunde gemietet wurde.

»Wenn du nicht zu kaputt bist«, erwiderte Ralph.

Markus trocknete sich Gesicht und Nacken mit einem korallenroten Frottiertuch. »Dann hätte ich dich ja nicht aufgefordert.«

Ralph nahm seinen Schläger und folgte Markus auf den Nebenplatz. Es dauerte eine Weile, bis sie zu einem gemeinsamen Rhythmus fanden, aber dann flogen die Bälle lang und elegant, nicht allzu schnell, über das Netz von einer Seite zur anderen.

Später, beim Umkleiden, wechselten sie einige belanglose Worte miteinander, in denen sie sehr wenig über sich selber verrieten.

Julia war diese Bekanntschaft nicht recht, und sie litt darunter, weil es keinen vernünftigen Einwand gab. Sie musste sich eingestehen, dass es sehr viel besser für Ralph war, noch eine Viertelstunde zu spielen, als nur herumzusitzen.

Trotzdem war ihr Ton, der beiläufig sein sollte, ziemlich scharf, als sie auf dem Heimweg fragte: »Wer ist dieser Junge?«

»Er heißt Markus«, erwiderte Ralph achselzuckend.

»Wie weiter?«

»Hat er mir gesagt. Aber ich habe es nicht richtig verstanden.«

»Jedenfalls scheinst du ein besonderes Talent zu haben, schnelle Freundschaften zu schließen.«

Da es nun aber gerade das war, was er nicht besaß, verzichtete er auf eine Antwort, sondern bedachte sie nur mit einem seiner unergründlichen schrägen Blicke.

Noch während sie es aussprach, war es ihr bewusstgeworden, dass sie ihm unrecht tat. »Oh, verzeih, Liebling«, sagte sie rasch, »das war eine blöde Bemerkung. Tut mir leid.«

»Schon gut, Julia«, sagte er gnädig, denn er verstand sehr wohl, dass sie eifersüchtig war.

Beim nächsten Mal begrüßte Markus ihn mit einem Winken des Schlägers, als er den Tennisplatz betrat, und als seine Trainerstunde beendet war, ging Ralph unaufgefordert zu ihm hinüber.

Von nun an gehörte die letzte Viertelstunde nach dem Training ganz selbstverständlich ihnen beiden. Julia verbiss sich jede weitere Bemerkung. –

Als es Frühjahr wurde, erzählte Ralph auf dem Nachhauseweg: »Stellt euch vor, Markus hat einen eigenen Tennisplatz … das heißt, sein Vater hat einen. Ich soll ihn mal besuchen.«

»Na, vorläufig ist an Tennis im Freien wohl noch lange nicht zu denken«, sagte Julia.

»Nimmst du mich mit?«, fragte Roberta. »Sein Vater ist wohl sehr reich?«

»Sie haben ein Gut.«

»Klingt phantastisch«, meinte Roberta.

»Markus möchte mir das alles zeigen«, sagte Ralph.

»Dabei weiß ich nicht einmal, wie er mit Nachnamen heißt!«

»Er heißt Markus von Kosel.«

»Huii, ein Adeliger!«, rief Roberta.

»Darf ich ihn besuchen?«, drängte Ralph.

Julia kämpfte mit sich. »Natürlich darfst du. Aber erst möchte ich ihn kennenlernen. Das wirst du wohl verstehen.«

»Aber du kennst ihn doch!«

»Vom Grüßen in der Tennishalle? Das ist mir zu wenig.«

»Weißt du, Julia«, sagte Ralph, »du solltest wirklich langsam aufhören, mich wie ein Baby zu behandeln.«

»Tue ich das? Nur weil ich wissen möchte, mit wem du umgehst?«

»Zwei aus meiner Klasse sind in den letzten Sommerferien mit der Europakarte, ganz allein kreuz und quer gereist.«

»Ja, das sind dann solche Kinder, die an Rauschgift und Schlimmeres geraten!«

Ralph lachte.

»Ich finde Markus Spitze«, sagte Roberta.

»Dein Urteil interessiert mich nicht!«, fuhr Julia ihr über den Mund. »Du hast ja noch nicht einmal eine Spur von Menschenkenntnis.«

»Na schön«, sagte Ralph langmütig, »wenn du darauf bestehst … ich werde Markus bitten, dir seine Aufwartung zu machen! So sagt man doch wohl in den besseren Kreisen, zu denen du dich zählst.«

»Du bist unverschämt!«

»Ich gebe nach. Was verlangst du denn noch?«

»Er soll mir nicht seine Aufwartung machen, sondern uns einfach mal besuchen.«

»Und wenn seine Eltern genauso darüber denken wie du?«

»Ich kann mich ja auch mit seiner Mutter in Verbindung setzen. Ja, ich denke, das wird das Beste sein.«

»Musst du denn immer ein solches Brimborium machen?« Jetzt wurde Ralph wütend. »Andere Jungens besuchen sich und ziehen miteinander los, ohne dass ihre Eltern sich überhaupt darum kümmern.«

»Was andere zulassen, interessiert mich nicht. Du hast keinen Vater mehr, deshalb bin ich doppelt für dich verantwortlich.«

»Ach, sei doch ehrlich! Du willst ja bloß nicht, dass ich einen Freund habe.«

In dieser Bemerkung lag so viel Wahrheit, dass Julia nicht widersprechen konnte.

»Müsst ihr euch denn immer streiten?«, fragte Roberta.

»Ich glaube, wir haben Föhn!«, sagte Julia, und es war wirklich erstaunlich warm für einen Tag im März. »Kommt, ich spendiere euch ein Eis, ja?«

Damit waren die Kinder sogleich einverstanden.

»Ich habe nichts gegen Markus«, sagte Julia später, als sie vor einer Tasse Kaffee und die Kinder vor ihren Eisbechern saßen, »und auch nichts gegen eine Freundschaft mit ihm. Es kommt mir nur so vor, als käme er aus einer anderen Welt. Dies alles … Gutshof und eigener Tennisplatz … ich habe Angst, du könntest dich danach bei uns nicht mehr wohlfühlen.«

»So ein Quatsch! Als wenn ich nicht wüsste, dass es bei uns zu Hause am schönsten ist!«

Als die Kinder am nächsten Morgen in der Schule waren, suchte Julia die Nummer von Kosels im Telefonbuch, fand sie aber nicht und musste die Auskunft anrufen. Es stellte sich heraus, dass sie in Haidholtzen lebten, einem Dorf, etwa fünfzehn Minuten von Bad Eysing entfernt.

Für Julia war das beruhigend. Allzu eng, so dachte sie, konnte diese Freundschaft schon durch die räumliche Entfernung nicht werden.

Sie überlegte lange, ob sie anrufen sollte, fühlte sich schüchtern und musste sich dazu überwinden.

Es war dann ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Eine weibliche Stimme sagte: »Bitte, warten Sie einen Augenblick, ich werde die gnädige Frau benachrichtigen!« Eine längere Pause entstand, ein Klicken in der Leitung, die Julia sagten, dass die weibliche Bedienstete, die das Gespräch entgegengenommen hatte, erst anfragte, ob es der »gnädigen Frau« auch recht war, mit ihr zu sprechen.

Dann meldete sich eine rauchig heisere und, wie es Julia schien, sehr junge Stimme: »Ina von Kosel.«

Julia stellte sich vor. »Mein Sohn hat Ihren Markus kennengelernt …«

Ina von Kosel sagte nicht: »O ja, ich weiß«, sondern sie schwieg.

»In der Tennishalle«, half Julia nach.

Immer noch kam keine Reaktion.

»Nun hat Markus meinen Sohn aufgefordert, ihn zu besuchen, und ich wollte mich nur vergewissern, ob das mit Ihrem Einverständnis geschehen ist.«

»Markus kann einladen, wen er will«, sagte Ina von Kosel und es klang – ja, wie klang es? – gelangweilt, fand Julia.

»Das freut mich.«

»Wen er will und wann er will«, fügte Ina von Kosel hinzu.

»Ich würde Markus aber gern erst einmal bei mir sehen!«, sagte Julia. »Würden Sie mir die Freude machen, uns nächsten Sonntag zu besuchen?«

»Ich?«

»Ja, Sie, Frau von Kosel … mit Markus und, wenn er Lust hat, auch mit Ihrem Mann.«

Eine Sekunde blieb es still in der Leitung; offensichtlich brauchte Ina von Kosel Zeit zum Nachdenken. »Das tut mir leid«, sagte sie dann, »ich habe in meinem Terminkalender nachgesehen. Nächsten Sonntag sind wir, mein Mann und ich, in München. Aber Markus kann natürlich gerne kommen. Wann?«

»So um drei, habe ich gedacht. Ich weiß natürlich nicht die Busverbindungen …«

»Ich werde ihn mit dem Auto bringen lassen.«

Noch ein Gruß hin und her, dann war das Gespräch beendet.

Julia war erleichtert. Bei diesen merkwürdigen Menschen, dachte sie, würde Ralph sich bestimmt nicht wohlfühlen können.

Am Sonntagnachmittag scheuchte Ralph Roberta aus seinem Zimmer, dessen Fenster zur Straße hin lagen. Aber sie ließ es sich nicht nehmen, die Ankunft von Markus zu beobachten, und kletterte auf einen Schemel im Bad.

Er fuhr in einer geschlossenen Limousine vor, einem Auto, das mindestens zehn Jahre alt war und dessen Bauweise ihm Würde verlieh. Der Chauffeur war ein junger Mann in Jeans und einem Rollkragenpulli, keineswegs der livrierte Chauffeur, den Roberta sich erhofft hatte. Er öffnete Markus auch nicht den Schlag, sondern ließ ihn ganz allein aussteigen, und fuhr gleich darauf davon.

Dennoch war dieser Auftritt von Ralphs Freund in altertümlicher Limousine und mit Chauffeur beeindruckend für Roberta.

Als das Läuten dann endlich die gespannte Erwartung zerriss, sagte Julia: »Geh, Ralph und mach auf! Empfang deinen Freund!«

Sie selber lehnte sich in einem der Ledersessel im Wohnzimmer zurück, bemüht, sich zu entspannen, was ihr aber nicht gelingen wollte.

Ralph führte Markus herein, gefolgt von Roberta, die vor Aufregung auf den Zehenspitzen wippte.

Markus verbeugte sich sehr wohlerzogen und überreichte Julia eine braun-goldene Orchidee. »Aus unserem Treibhaus!«

Julia war überrascht. »Oh, wie hübsch!«, sagte sie. »Bitte, Robsy, stell sie in eine Vase!«

Markus wusste die richtigen Antworten auf alle ihre Fragen. Er hatte ab der fünften Klasse ein Internat am Bodensee besucht. Im vergangenen Frühjahr war er mit einer schweren Krankheit, einer Lungenentzündung, in eine Klinik in Friedrichshafen eingeliefert worden, und danach hatte ihn sein Vater zu einem Genesungsaufenthalt nach Hause geholt. Er lernte jetzt bei einem Hauslehrer, um bis zum Herbst den Anschluss an seine Klasse wiederzugewinnen.

Obwohl Julias hübsche, aber eher kleinbürgerliche Wohnung gewiss eine ungewohnte Umgebung für ihn war, gab er sich weder anmaßend noch verlegen. Er aß und trank mit gutem Appetit, ohne heißhungrig zu sein, betrachtete Julia und Roberta aus seinen kühlen grauen Augen wohlwollend und ohne Bewunderung, und zog sich, sobald Ralph das Zeichen dafür gab, sofort mit ihm in sein Zimmer zurück.

Als Julia den Jungen um fünf Uhr noch eine Zwischenmahlzeit servierte – Schnittchen mit Aufschnitt, hart gekochtem Ei, Gurke und eingemachtem Paprikasalat – fand sie sie auf dem Teppich liegend. Sie hatten eine Platte mit Rock-Musik aufgelegt und schmökerten.

»Gefällt es dir bei uns?«, fragte Julia.

Markus kam sofort auf die Füße. »Das ist ein sehr schönes Zimmer.«

»Ralph hat sich alles selber ausgesucht!«

Das Zimmer glich einer Kapitänskajüte auf einem alten Segelschiff; sogar die Decke war gesenkt und schräg gezogen worden, um diesen Eindruck zu verstärken.

»Guck dir mal mein Zimmer an, Markus!«, bat Roberta, die hinter Julia hereingekommen war. »Was ich mir ausgesucht habe!«

»Das interessiert Markus doch nicht!«, behauptete Ralph, der beim Eintritt seiner Mutter kaum aufgesehen hatte.

»Warum nicht?«, sagte Markus. »Zeig’s mir nur!«

Robertas Stolz war ein Jungmädchenzimmer wie aus einem Möbelkatalog ausgeschnitten: eine Liege mit rotem Polster, die eine Nische in einem Schrank aus hellem Holz bildete, ein leichter Schreibtisch und ein Spiegel in imitiertem Jugendstil.

»Sehr hübsch«, sagte Markus.

»Und aus dem Fenster kann ich in den Garten sehen! Jetzt ist das natürlich nichts … aber im Sommer …«

Markus schob den Vorhang zurück. »… ist es bestimmt sehr nett, kann ich mir vorstellen.«

Julia fand diese Vorführung ihrer Wohnung lachhaft. Sie ärgerte sich, dass ihre Kinder so sichtlich bemüht waren; Eindruck auf Markus zu machen. Dabei war er, Limousine mit Fahrer und elterliches Gut hin oder her, doch ein ganz gewöhnlicher Junge in braunen Cordhosen und Pulli. »Soll ich dir mein Zimmer auch zeigen?«, fragte sie.

»Wenn Sie möchten«, erwiderte Markus mit gleichmütiger Freundlichkeit.

»Ich weiß nicht, ob es Gnade vor deinen Augen finden kann!«

»Julia!«, sagte Ralph scharf von der Tür her.

»Ja?«, fragte sie, unschuldsvoll tuend.

»Markus ist nicht gekommen, um unsere Wohnung zu inspizieren, sondern weil du ihn kennenlernen wolltest!«

Julia errötete, weil sie einsah, dass dieser Vorwurf berechtigt war. »Wie kann ich das denn«, verteidigte sie sich, »wenn ihr euch in deinem Zimmer vergrabt?«

Roberta hüpfte auf und ab. »Wir könnten Monopoly spielen … oder Rommé!«

Markus blickte auf seine Armbanduhr. »Das nächste Mal! Ich werde um sechs abgeholt.«

»Wie schade!«, sagte Julia. »Dann esst wenigstens noch, was ich euch zurechtgemacht habe!«

»Kann ich mitkommen?«, fragte Roberta eifrig.

»Natürlich!«, sagte Markus. »Wir setzen uns auf den Boden und machen ein Picknick!«

An Markus von Kosel war nichts auszusetzen. Er war intelligent, gepflegt, hatte gute Manieren, und in seinen grauen Augen sprang hin und wieder sogar ein Funken von Humor auf.

Dennoch fühlte sich Julia in seiner Gegenwart unbehaglich, noch unbehaglicher, wenn sie daran dachte, dass Ralph zu ihm hinausfahren wollte. Sie schalt sich selber krankhaft eifersüchtig, aber das nutzte nichts; das Unbehagen blieb.

»Er ist nett, nicht wahr?«, fragte Ralph, als Markus gegangen war.

»Sehr!«, log Julia.

»Was hast du gegen ihn?«

»Nichts.«

»Aber du klingst nicht gerade begeistert!«

»Bist du schon einmal von einem meiner Freunde begeistert gewesen?«

Ralph lachte. »Das ist doch kein Vergleich!«

»Wann willst du ihn besuchen?«

»Übermorgen. Es sei denn, du willst erst noch seine Mutter, seinen Vater und seine Ahnengalerie kennenlernen!«

»Sei nicht so zu mir!«

»Aber du wirst doch zugeben, dass du ein bisschen spinnst! Es ist doch Quatsch, dass du erst jeden unter die Lupe nehmen musst, mit dem ich es zu tun habe. Warum lässt du mich nicht meine eigenen Erfahrungen machen?«

»Du bist noch sehr jung, Ralph.«

»Kein Grund, mich in Watte zu packen.«

Julia zermarterte vergeblich ihr Gehirn, um einen Einwand gegen Markus zu finden. Als Ralph am Dienstag gleich nach dem Mittagessen das Haus verließ, denn der Bus nach Haidholtzen ging um zwei, hätte sie sich am liebsten krank gestellt, um ihn bei sich zu behalten. Aber sie fand es unfair, und sie nahm sich zusammen.

Das Gut der von Kosels lag nördlich von Bad Eysing, dort, wo das Land flach war und man die Berge nur noch bei Föhn sehen konnte. Es war keineswegs so großartig wie die Landsitze, die Ralph von Filmen her kannte, aber immerhin noch beeindruckend genug. Er wusste nicht, wie weit es tatsächlich reichte.

»Das alles gehört dazu«, sagte Markus mit einer vagen Handbewegung über Felder und Wiesen hinweg.

Das Herrenhaus passte nicht recht in die Landschaft. Es glich einer Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert, war schmal und hoch gebaut, als hätte es nicht Platz genug, um sich auszubreiten. Aber es gehörte ein Park dazu mit Rasenflächen, Büschen und Bäumen, ein großes Treibhaus, in dem man aufrecht gehen konnte und in dem es betäubend nach exotischen Pflanzen duftete, ein geheiztes, überdachtes Schwimmbad, das, wie Markus erzählte, erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut worden war, und ein Tennisplatz mit zwei Feldern.

Das Zimmer von Markus war größer als das von Ralph, größer und auch heller, aber nicht halb so schön eingerichtet. Die Möbel sahen aus, als wären sie aus anderen Räumen ausrangiert – was sie auch wohl waren – und wahllos hineingestellt worden.

Aber es gab, was Ralph bisher nicht kannte, viel Personal, Frauen und Männer, die die Familie bedienten, Haus und Garten in Ordnung hielten und zur Saat- und Erntezeit auf den Feldern arbeiteten.

Es war eine neue Welt, und Ralph beobachtete alles mit großer Neugier. Er kam sich fremd hier vor, und er fand, dass auch Markus wie ein Fremder durch den elterlichen Besitz ging.

Die beiden Jungen durchstreiften das Haus, den Park und ein Wäldchen, das auch zum Besitz gehörte, und schlenderten über die Felder, auf denen die Frühjahrsbestellung im Gang war.

»Ich werde später Landwirtschaft studieren und dann den Betrieb hier übernehmen«, erklärte Markus.

»Dann weißt du wenigstens schon, was du willst.«

»Ich will das gar nicht. Aber mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben. Als einziger Sohn.«

»Was würdest du denn lieber tun?«

»Forschungsreisen machen … wie Sven Hedin oder …«

»Ja, das möchte ich auch!«

Endlich hatte Ralph eine gleichgestimmte Seele gefunden, mit der er seine Träume teilen durfte. Auch Julia pflegte zuzuhören, wenn er ihr von den Büchern erzählte, die er gelesen hatte, oder von Ländern, die für ihn noch voller Rätsel waren. Aber sie tat es mit lächelnder Nachsicht, und ihr Interesse hatte immer sehr viel stärker ihm selber gegolten als dem, wovon er sprach.

Mit Markus war das anders. Er sog jedes Wort geradezu in sich auf, und Ralph ging es, wenn Markus erzählte, genauso.

Immer, wenn es die Schularbeiten zuließen, fuhr Ralph von nun an nach Haidholtzen, um Markus zu besuchen. In den Oster- und Pfingstferien war er fast täglich draußen.

Julia war das gar nicht recht. »Ich verstehe ja, dass Markus dein Freund ist«, sagte sie, »deshalb braucht ihr aber doch nicht dauernd zusammenzustecken.«

Er schwieg dazu.

»Warum verteidigst du dich nicht wenigstens?«, fragte sie aufgebracht.

»Ich wusste nicht, dass ich angeklagt bin.«

»Ach, du verstehst mich ganz genau! Warum musst du immer da hinausfahren? Warum kannst du ihn nicht mit herbringen?«

Wieder sagte Ralph nichts. Er hätte Julia auch nicht erklären können, warum er lieber mit Markus auf dem Gut war als bei sich zu Hause. Tatsache war, dass dort draußen sie niemand störte, ja, sich auch nur um sie kümmerte.

Herr von Kosel war ein großer, gutaussehender, mürrischer Mann, der völlig in der Organisation seines Betriebes aufging. Markus hatte ihm Ralph einmal vorgestellt, aber seitdem zogen sie es vor, ihm aus dem Weg zu gehen. Seine Frau, Ina von Kosel, war sehr jung, sehr hübsch, sehr puppig, mit hellblond gefärbtem Haar, tiefrot lackierten Fingernägeln und immer geschminkt, als wäre sie gerade im Begriff, eine Party zu besuchen.

Die Mutter von Markus hatte ihren Mann schon seit Jahren verlassen, um ihre Karriere als Opernsängerin wiederaufzunehmen, die sie ihrer Ehe wegen unterbrochen hatte.

Allmählich lernte Ralph verstehen, wie es zu der großen Einsamkeit um Markus gekommen war; wahrscheinlich erinnerte er sie, seinen Vater und seine Stiefmutter, an seine Mutter, an die sie beide nicht erinnert werden mochten.

»Siehst du deine Mutter manchmal?«, fragte er.

»Eigentlich nie.«

»Wieso nicht?«

»Weil es sich einfach nicht ergibt. Sie ist meist auf Reisen, verstehst du, und wenn sie mal in München gastiert, bin ich bestimmt nicht dort. Aber sie schreibt mir oft, und zu Weihnachten und auch mal zwischendurch schickt sie mir Geschenke.«

»Sie muss doch furchtbare Sehnsucht nach dir haben.«

»Warum?«

»Weil Mütter Sehnsucht nach ihren Kindern haben.«

»Das schreibt sie auch. Aber ihr Beruf ist ihr eben doch wichtiger als ich es bin. Sonst hätte sie mich ja auch mitnehmen können.«

»Ich dachte, dein Vater hätte es nicht erlaubt.«

»Nein, sie sind beide zu der Übereinstimmung gekommen, dass es besser für mich ist, hier aufzuwachsen. Ich meine: Wenigstens in den Ferien bin ich hier.«

Ralph fand diese Entscheidung ganz und gar nicht richtig. Aber er sprach es nicht aus, weil er überzeugt war, dass Markus auch darunter litt. Er wollte ihn nicht verletzen.

Aber es wurde ihm klar, dass Julias Liebe, die er immer als selbstverständlich und in letzter Zeit sogar als etwas lästig empfunden hatte, etwas ganz Besonderes war.

Am Abend nach diesem Gespräch brachte er ihr eine Orchidee mit, die er, mit Wissen von Markus, aus dem Treibhaus stibitzt hatte.

Eines Nachmittags empfing Markus den Freund schon an der Bushaltestelle. »Du, ich hab’ was gefunden«, sagte er, »du wirst staunen!«

»Zeig her!«

»Nicht hier! Lass uns laufen!«

»Was ist es denn?«

»Du wirst schon sehen!«

Sie trabten los und kamen ziemlich atemlos auf dem Gut an; der Park nahm sie auf, grün und schattig. Auf den Rasenflächen drehten sich die Berieselungsanlagen.

»Also jetzt!«, forderte Ralph.

Markus sah sich um; weit und breit war niemand zu sehen. »Zu gefährlich«, sagte er dennoch, »gehen wir lieber ins Treibhaus!« Drinnen war es dämmrig und schwül.

Markus zog einen großen, leicht vergilbten Umschlag aus seinem Hemd. »Ich hab’ das im Herrenzimmer gefunden«, sagte er, »hinter der zweiten Bücherreihe.«

Ralph konnte seine Enttäuschung nicht verbergen; er wusste nicht, was er erwartet hatte – vielleicht eine Waffe – jedenfalls etwas anderes als einen alten Umschlag. »Nur Papiere?«, sagte er. »Und dafür die ganze Heimlichtuerei!«

»Du wirst schon sehen!« Mit einer Handbewegung fegte Markus Erde und Tonscherben von einem der Pflanztische, öffnete den Umschlag und holte Fotos heraus, die er eines nach dem anderen vor Ralph hinlegte; es waren Glanzfotos, und sie zeigten nackte Mädchen, sehr junge Mädchen, noch ohne Schamhaare, in gewagten Posen.

»So etwas hat dein Vater?«, fragte Ralph und wagte nur zu flüstern.

»Da staunst du, was?« Markus legte ihm den Arm um die Schultern.

»Wie kommt man an so was?«

»Weiß nicht!«

Plötzlich spürte Ralph eine Erregung in sich aufsteigen, wie er sie vorher noch nie erlebt hatte. »Du … musst sie … wieder … zurücklegen«, sagte er und war seiner Stimme kaum noch Herr.

»Ja, natürlich!« Markus sah von den Fotografien in das Gesicht seines Freundes. »Hast du es noch nie gemacht?«

»Was meinst du?«

»Ach, du weißt schon!«

»Nein, nie!« Ralph spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief.

»Willst du?«

Ralph nickte; er wusste, dass er keine Wahl hatte.

Markus nahm ihn bei der Hand und zog ihn in die hinterste Ecke des Treibhauses, und dort, auf einem Stapel alter Torfsäcke, in subtropischer Hitze, den Duft von Levkojen und Oleander in der Nase, erlebte Ralph seine erste Liebesstunde. Es war schrecklich, und es war schön.

Später lagen sie, lang ausgestreckt und entspannt, nebeneinander.

»Musst du wieder ins Internat zurück?«, fragte Ralph.

»Da führt kein Weg dran vorbei.«

»Das wird schlimm für mich sein.«

»Überrede doch deine Mutter, dass sie dich auch hinschickt.«

»Sie trennt sich nicht von mir.«

»Dann sei ein bisschen ekelhaft.«

»Kann ich nicht.«

»Wir haben im Internat auch Mädchen.«

»Ich will kein Mädchen!«

»Natürlich nicht!« Markus küsste ihn. »Ich habe das ja auch nur so gesagt.«

Von nun an kam es zwischen den Jungen immer wieder zu erotischen Kontakten.

Ralph hatte kein schlechtes Gewissen dabei, denn er liebte den Freund und fühlte sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Dennoch war ihm bewusst, dass er mit dieser Liebe ein Tabu verletzte. Es drückte ihm das Herz ab, dass er jetzt ein Geheimnis hatte, das ihn wie eine unüberwindbare Wand von Julia trennte. Er hatte sich schon früher angewöhnt, vieles für sich zu behalten, aber das waren doch Gedanken, die er hätte aussprechen können und die Julia, auch wenn sie sie nicht verstand, hätte erfahren dürfen. Jetzt aber hatte er das Gefühl, ein Fremder für sie geworden zu sein; der Junge, den sie liebte, war nicht er.

Eines Abends wagte er einen Vorstoß, sich ihr anzuvertrauen. Sie sahen sich zusammen einen Spätfilm im Fernsehen an – Roberta war schon ins Bett geschickt worden. Es war dunkel im Wohnzimmer, nur eine kleine Lampe brannte, und die Mattscheibe flimmerte.

Als eine langweilige Stelle kam – der Held rannte durch nächtliche Straßen, aber es war anzunehmen, dass seine Verfolger ihn nicht einholen und killen würden, denn der Film sollte noch vierzig Minuten dauern –, sagte Ralph wie unvermittelt, tatsächlich aber nach langem inneren Kampf: »In unserer Schule gibt es Jungen, Julia …« Er stockte. »… die sich lieben!«, platzte er heraus.

Julia dachte nach.

»Du meinst wohl, sie treiben sexuelle Spielereien?«, fragte sie und war froh, dass die Dunkelheit verbarg, wie sie errötete.

»Sie sagen, dass sie sich lieben«, beharrte Ralph.

Julia war schockiert. Dennoch sagte sie, denn sie hielt sich für aufgeklärt: »Du solltest, glaube ich, trotzdem nicht schlecht von ihnen denken, Ralph. In einem gewissen Alter … wenn Jungen kaum erst ernstlichen Kontakt zu Mädchen haben, dann passiert so etwas. Es ist nur eine Entwicklungsphase, es wird vorübergehen.«

»Und wenn nicht?«

»Warum machst du dir Sorgen darüber?«

»Ich möchte ja nur wissen, was du von so was hältst.«

»Wie ich dir schon sagte … ich nehme es nicht ernst.«

»Und wenn ich selber so etwas täte?«

Julia lachte. »Du doch nicht, Ralph! Dich kenne ich, du bist ein anständiger Junge …«

»Was hat das denn damit zu tun!«

»Nun, man kann doch sagen, was man will, sehr anständig ist es nicht, wenn zwei Jungen hinter einem Busch stecken. Oder findest du?«

Ralph schwieg.

Sie nahm seine Hand. »Mach dir keine Gedanken, Ralph. Ich verstehe ja, dass diese Entdeckung ziemlich erschreckend für dich gewesen sein muss. Aber im Leben geschehen Dinge … du siehst ja doch auch mal in die Zeitung … dagegen bedeutet so eine Bubenspielerei gar nichts.«

Ralph hätte herausschreien mögen, dass er nicht von anderen Jungen, sondern von sich und Markus gesprochen hatte. Er hätte es auch gewagt, denn er war kein Feigling. Aber seine Klugheit und die Liebe zu Markus hielten ihn zurück. Er hätte mit einem Bekenntnis riskiert, dass Julia die Verbindung zu seinem Freund unterbunden hätte. Sie besaß die Macht, es zu tun, und er traute ihr sogar zu, harte Maßnahmen anzuwenden, nur um ihn zu schützen.

Sie zündete sich eine Zigarette an, und die Flamme des Feuerzeuges erhellte ihr Profil. Sie war so lieb und gut und unschuldig; Ralph fühlte sich erfahrener und älter als sie.

»Ich hab’ dich lieb, Julia!«, sagte er und drückte ihre Hand.

»Ich dich wohl auch!«

Aber er wusste, dass er sich ihr niemals würde anvertrauen können.

Das Verhältnis zwischen Julia und Ralph hatte sich schon vor dem entscheidenden Gespräch erheblich verändert. Ralph spielte kaum noch mit ihr auf dem Tennisplatz; er spielte ja mit Markus in Haidholtzen. Die meisten Nachmittage verbrachte sie jetzt allein mit Roberta.

Das kleine Mädchen war inzwischen auch nicht mehr so gut auf Markus zu sprechen. »Der blöde Kerl!«, maulte sie. »Warum besucht er Ralph nicht hier? Immer lässt er ihn nach Haidholtzen kommen!«

»Da ist es wohl schöner als in der Stadt«, behauptete Julia, obwohl sie genauso empfand wie Roberta.

»Manchmal glaube ich, Ralph hat uns gar nicht mehr lieb.«

»Ach, Unsinn. Er ist doch reizend zu uns.«

Tatsächlich genoss es Roberta, mit der Mutter allein zu sein, deren Aufmerksamkeit bei aller Liebe doch immer in erster Linie Ralph gegolten hatte – und immer noch galt, wie sie sehr genau spürte. Deshalb brachte sie, wann immer Julias Gedanken abschweiften und ihr Interesse erlahmte, das Gespräch auf Ralph, und schon war Julia wieder hellwach.

Es stimmte übrigens, dass er »reizend« war, wie Julia behauptet hatte. Er war höflich, freundlich, blieb gelassen, wenn sie einmal die Nerven verlor, brachte ihr Blumen mit und fand schmeichelnde Worte für seine kleine Schwester.

Julia war stolz auf ihren Jungen und deshalb tief gekränkt, als Agnes einmal sagte: »Ralph … ich weiß nicht! Hans und Georg waren so anders in seinem Alter!«

»Du kannst doch Ralph nicht mit den beiden vergleichen!«

»Warum nicht? Jungen sind Jungen.«

»Sunt pueri pueri pueri puerilia tractant!«

»Was heißt das?«, fragte Agnes erstaunt.

»Genau das, was du gesagt hast: Jungen sind Jungen und treiben jungenhafte Spiele! Das ist ein lateinischer Spruch, den ich in der Schule gelernt habe.«

»Also wussten es schon die alten Römer! Ich finde einfach, so in einem gewissen Alter … zwischen dreizehn und fünfzehn … da muss ein Junge ein bisschen raubauzig sein. Es ist das Entwicklungsstadium. Ralph ist mir unheimlich.«

»Ich bin sehr mit ihm zufrieden, nur …« Julia zögerte; es war ihr eingefallen, dass es vielleicht nicht klug war, ihre Sorgen der Freundin anzuvertrauen.

»Ja?«, drängte Agnes. »Mir kannst du das alles erzählen!«

»Dass er dauernd auf dieses Gut hinausfährt, das passt mir nicht.«

»Wieso nicht? Ich kann das gut verstehen. Ein Gutsbetrieb übt auf jeden normalen Jungen eine ganz besondere Anziehungskraft aus … Ställe und Pferde und was weiß ich … und es wurde ja wirklich höchste Zeit, dass er mal einen richtigen Freund bekam.«

»Gegen Markus habe ich ja auch nichts einzuwenden, aber ich finde, er könnte öfter auch mal zu uns kommen.«

»Aber Julia! Was hast du ihnen an Abenteuern denn schon zu bieten?«

»Abenteuer? Nein, nichts«, musste Julia zugeben.

»Na, siehst du!«

Julia entschied sich, bei der Haltung zu bleiben, zu der sie sich durchgerungen hatte. Sie ließ Ralph nach Haidholtzen hinausfahren, wann immer er es wollte, weil es sein Wunsch war. Auch dass er abends oft nicht mehr mit ihr und Roberta zusammen war, weil er Schulaufgaben nachholen musste, akzeptierte sie. Wenn er Zeit für sie hatte, ließ sie ihn nicht spüren, dass sie sich vernachlässigt fühlte – oder glaubte doch wenigstens, ihn das nicht spüren zu lassen.

Die Sommerferien nahten, und sie holte sich einen Stapel Prospekte aus dem Reisebüro.

An einem regnerischen Sonntagnachmittag, an dem sie, ganz wie in alten Zeiten, gemütlich bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen zusammengesessen hatten – nur Roberta trank jetzt noch Kakao, auch Ralph bevorzugte seit einiger Zeit Kaffee –, holte sie die Prospekte hervor.

»Ich habe eine gute Neuigkeit!«, sagte sie. »Endlich können wir es uns wieder mal leisten zu verreisen!«

»An den Lido?«, fragte Roberta sofort.

»Lieber nicht.« Die Erinnerungen an den Lido di Venezia waren für Julia noch zu schmerzlich.

»Aber wohin dann?«

»Genau das wollen wir uns zusammen überlegen. Wie immer werde ich das tun, was ihr vorschlagt … wenn es sich verwirklichen lässt!« Sie stand auf, goss sich ein Glas Sherry ein und kam an den Tisch zurück.

»Ich möchte lieber nicht fort«, erklärte Ralph.

»Nicht?«, fragte Julia; sie versuchte, gelassen zu erscheinen, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Finger, als sie sich die Zigarette anzündete, zitterten.

»Aber, Ralph!«, rief Roberta. »Bist du denn deppert? Nicht verreisen? Denk an das Meer …«

»Ich habe überhaupt keine Lust, am Strand herumzuliegen.«

»Das muss ja auch nicht sein«, sagte Julia, »es gibt doch noch andere Reiseziele. Eine Fahrt durch Schottland zum Beispiel … auf einem Pferdewagen oder einem Hausboot …«

»Das klingt phantastisch!«, jubelte Roberta.

»Ich möchte lieber nicht mit«, wiederholte Ralph; er wusste, dass er Julia weh tat, und es schmerzte ihn fast so sehr wie sie.

»Aber warum denn nicht?«, fragten Julia und Roberta fast gleichzeitig.

»Die Kosels haben mich eingeladen. Auf dem Gut würde ich mich am besten erholen.«

»Die ganzen Ferien?«, fragte Julia betroffen; sie hatte so sehr gehofft, Ralph wieder einmal für sich zu haben, und sei es auch nur für vierzehn Tage.

Ralph begriff, dass er jetzt vorsichtig sein musste. »Nur solange ihr verreist seid«, erklärte er.

»Ich verstehe dich wirklich nicht mehr«, sagte Julia, »du bist doch sowieso schon dauernd draußen.«

»Aber es würde doch was anderes sein, dort zu wohnen … ich könnte morgens früh ‘raus und mit aufs Feld.«

»Ich weiß nicht, Ralph«, sagte Julia, »das kommt mir zu überraschend. Ich muss es mir erst überlegen.«

»Jedenfalls weißt du jetzt, dass ich keine Lust habe.«

»Das hast du mir deutlich genug gesagt.« Julia streifte die Asche ihrer Zigarette ab. »Es scheint dir bei uns überhaupt nicht mehr zu gefallen.«

»Wie kannst du so was bloß sagen!«

»Das ist doch nicht aus der Luft gegriffen! Du bist dauernd weg und willst nicht mal in den Ferien mit uns verreisen.«

Ralph nahm allen Mut zusammen, denn er wusste, eine günstigere Gelegenheit zu einer Aussprache würde nicht so bald wiederkommen. »Natürlich gefällt’s mir bei euch, und ich habe euch lieb, das ist doch gar keine Frage. Aber das ist doch hier die reinste Weiberwirtschaft.«

Julia errötete nicht, sondern sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Roberta starrte ihren Bruder mit offenem Mund an.

»Du machst alles, so gut du kannst, Julia«, sagte Ralph, »das weiß ich ja. Aber allmählich bin ich kein Kind mehr, und irgendwie kommt es mir unnatürlich vor, so verwöhnt zu werden.«

Julia rang um Fassung. »Gut, ich verspreche dir, dich in Zukunft nicht mehr zu verwöhnen. Gekocht wird nur noch das, was du nicht magst, keine Leckerbissen zwischendurch, mach dir dein Bett alleine, und von mir aus wasch dir auch deine Socken selber.«

»Das ist nicht das, was ich möchte, und du würdest es auch gar nicht durchhalten.«

»Was möchtest du denn?«

»Auf ein Internat.«

Julia glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Du willst weg von uns … ganz weg?«

»Es gibt doch so viele Ferien im Jahr!«

»Du spinnst!«, rief Roberta.

»Wahrscheinlich willst du in das Internat, das Markus besucht? Wohin geht er denn?«

»Nach Rabenstein. Das ist gar nicht mal so weit von hier. Oberhalb des Chiemsees.«

»Von Rabenstein habe ich gehört«, sagte Julia, »das ist ein Landerziehungsheim, nicht wahr? Da muss alles von den Eltern bezahlt werden, das Wohnen, die Verpflegung und sogar die Lehrer und Erzieher. Nein, Ralph, ich will nicht sagen, dass es mir leidtut, aber das können wir uns nicht leisten.«

»Für eine Sommerreise hast du Geld.«

»Das ist eine einmalige Ausgabe.« Julia drückte ihre Zigarette aus und leerte ihr Glas. »Seid mir nicht böse, wenn ich mich jetzt zurückziehe.«

Mit steinernem Gesicht stand sie auf, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Noch nie zuvor hatte sie das getan, aber sie musste allein sein und vor jeder Störung sicher.

Aber natürlich dachte sie nicht nach, sondern sie brach in bittere Tränen aus.

Als Julia sich ausgeweint hatte, war es schon dämmrig geworden; fahles graues Licht ließ die Konturen der Möbel verschwimmen.

Sie knipste die Stehlampe an, und der Raum, der ihr und den Kindern früher als Schlafzimmer gedient hatte, war sofort völlig verändert. Mit seinen Bücherwänden, der Couch mit den bunten Kissen, dem kleinen Tisch mit der runden Platte und den zierlichen Sesseln, hellen Möbeln, zu denen der Handarbeitstisch aus Rosenholz einen freundlichen Kontrast bildete, wirkte er anheimelnd und freundlich.

Julia stand auf und blickte durch das Fenster in den Garten hinunter, in dem sich Büsche und Bäume gespenstisch im Abendlicht bewegten; dann zog sie die goldfarbenen Vorhänge zu.

Noch nie, selbst nach dem Tod ihres Mannes nicht, hatte sie sich so einsam gefühlt. Sie hatte das Bedürfnis, mit einem Menschen zu sprechen – nicht mit Agnes und nicht mit Lizi, denn die beiden, das wusste sie, würden ihren Kummer gar nicht verstehen und Ralphs Wünsche ganz natürlich finden. Von allen ihren näheren und weiteren Bekannten blieb nur Dieter Sommer für eine Aussprache.

Während der Neueinrichtung der Wohnung hatte Julia den Telefonanschluss in ihr jetziges Zimmer verlegen lassen und den alten Apparat gegen einen hübschen neuen umgetauscht, grün und mit Tastatur. So brauchte sie nur Dieter Sommers Nummer zu wählen.

Er war erstaunt, dass sie es war, die ihn anrief, denn bisher hatte sie die Wochenenden streng ihren Kindern vorbehalten. Aber er freute sich wie immer, wenn sie etwas von sich hören ließ.

»Kann ich dich sehen?«, fragte sie.

»Wann?«

»Nun, ich dachte … nach dem Abendbrot. So gegen acht.«

Er hatte zwar um diese Zeit mit einem Kollegen Schach spielen wollen, zögerte aber nicht zuzustimmen; die Verabredung würde er absagen.

»Im ›Hurler-Stübchen‹!«, sagte sie noch, bevor sie das Gespräch beendete.

Das »Hurler-Stübchen« war ein sehr einfaches kleines Gasthaus nahe dem Güterbahnhof, in dem Julia und Dieter Sommer sich zuweilen trafen, wenn sie ungestört miteinander reden wollten. Hier verkehrte keiner der Honoratioren Eysings, sondern einfache Leute, Arbeiter, Lkw-Fahrer, Möbelpacker. Auf der Speisekarte standen nur ganz wenige, schnell zubereitende bayrische Spezialitäten wie Leberkäs und Würstl verschiedener Art mit Kraut oder Kartoffelsalat. Aber es gab ein sehr gepflegtes Pils vom Fass, und man saß in Nischen.

Dieter erwartete Julia schon; er musste eine ganze Zeit vor ihr dagewesen sein, denn er hatte sein Glas Bier fast geleert.

»Hab’ ich mich verspätet?«, fragte sie sofort.

»Nein, nein«, beruhigte er sie und half ihr aus dem Mantel, »ich hatte mich verfrüht. Du kennst mich ja. Ich kann es immer schlecht abwarten, dich zu sehen.«

Sie hatte den Kindern das Abendbrot bereitet, selber aber nichts gegessen, sondern die Zeit genutzt, ihre Augen mit Eis zu kühlen und ihr Gesicht herzurichten. Dennoch konnte sie nicht verbergen, dass sie Kummer hatte. Die Bindehaut ihrer weit auseinanderstehenden Augen war leicht gerötet, die Lider noch ein wenig geschwollen, und um ihre Lippen zuckte es.

Aber er verlor kein Wort darüber. »Auch ein Bier?«, fragte er.

Sie nickte.

Er winkte der Kellnerin, einer dicken, fröhlichen Person mit blondem, zu einem Knoten gedrehtem Haar, und bestellte.

»Eine Kleinigkeit zu essen?«

»Nein, danke.«

Er nahm ihre beiden Hände beruhigend in die seinen. »Schön, dich zu sehen! Und das am Sonntagabend! Das ist noch nie vorgekommen, nicht wahr?«

»Ich glaube nicht.« Sie wandte das Gesicht zur Seite. »Sieh mich nicht so an.«

»Darf ich mich nicht an deinem Anblick erfreuen?«

»Ich weiß, ich sehe ziemlich … demoliert aus.«

»Verletzt, würde ich sagen. Aber das macht dich nur noch schöner.«

Die Kellnerin stellte das Glas Pilsener vor Julia auf die Kunststoffplatte. Er hätte sich selber gern noch ein frisches Pils bestellt, aber er verzichtete darauf, weil er merkte, dass es ihr schwerfiel zu reden und er jede Unterbrechung vermeiden wollte. Sie nahm einen Schluck, suchte ihre Zigaretten aus der Handtasche. Er gab ihr Feuer und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. »Die Kinder sitzen sicher vor dem Fernseher«, sagte er tastend.

»Ja.«

»Soviel ich weiß, läuft heute Abend ein alter Film mit Humphrey Bogart.«

»›Sabrina‹, ja.«

Er hatte das Gefühl, dass es besser war, zu schweigen und abzuwarten; also schwieg er.

»Es ist … wegen Ralph«, brach es endlich aus ihr heraus.

»Dacht ich’s mir doch! Er ist nicht mehr so gut in der Schule wie früher … kein Grund, sich Sorgen zu machen, Julia, er gehört immer noch zu den Besten. Aber der Eifer fehlt. Das ist in seinem Alter ganz normal.«

»Er hat ja kaum noch Zeit, Schulaufgaben zu machen«, sagte sie bitter und erzählte von Ralphs Freundschaft zu Markus.

»Und das beunruhigt dich so?«, fragte er. »Glaubst du, dass etwas Sexuelles dahintersteckt?«

»Aber nein! Wie kannst du so etwas sagen! Doch nicht Ralph … er ist ein so sauberer Junge.«

»Aber dann …«

»Er will nicht mit uns verreisen!«

Mitfühlend hörte er sich die Geschichte an. »Ich verstehe, dass das für dich ein schwerer Schlag ist«, sagte er, »aber es war vorauszusehen. Bitte, reg dich jetzt nicht gleich wieder auf, sondern hör mir zu! Ralph ist überhaupt keine Ausnahme. Bei allen Kindern kommt die Zeit, wo sie nicht mehr mit den Eltern verreisen wollen, sondern Wanderschaften oder Jugendreisen machen, in Zeltlagern nächtigen … eben unter sich sein wollen. Die Interessen der Jugendlichen und der Erwachsenen gehen eben von einem bestimmten Zeitpunkt an auseinander. Eher wäre es ein Grund zur Sorge, wenn er ewig bei dir hocken bliebe.«

»Aber ich habe doch schon das Jahr über nichts von ihm«, klagte sie, »da könnte er doch einmal vierzehn Tage wieder mit uns zusammen sein.«

»Ich verstehe dich sehr gut, Julia. Du liebst ihn. Aber für ihn wird es Zeit, sich von dir zu lösen.«

»Du bist ein Mann«, sagte sie, »du kannst das nicht verstehen.«

Sein Lächeln war traurig und ein wenig spöttisch. »Du meinst, weil ich ein Mann bin, kann ich nicht lieben?«

Sie begriff, dass sie ihn, der seit Jahren bedingungslos zu ihr stand, verletzt hatte. »So habe ich es nicht gemeint! Ich wollte nur sagen, dass die Beziehungen zwischen einer Mutter und ihrem Sohn …«

»… eine Beziehung ist wie jede andere auch!«, fiel er ihr ins Wort. »Du bist deinen Kindern auf ganz besonders tiefe Weise verbunden, daran zweifle ich nicht. Aber auch einen Vater, der ein enges Verhältnis zu seinem Sohn hat, wird es schmerzen, wenn sein Junge plötzlich an Gleichaltrigen mehr Interesse hat, sich einen anderen Mentor sucht oder sich einem Mädchen zuwendet … von der oft sehr innigen und schwierigen Beziehung zwischen Vater und Tochter, in der jeder Bewerber um das Mädchen grundsätzlich erst einmal abgeblockt wird, ganz zu schweigen.«

Sie drückte ihre Zigarette aus. »Was soll ich also tun?«

»Lass ihn bei den Kosels.«

»Muss das sein?«

»Etwas anderes ist gar nicht möglich. Was hättest du schon davon, wenn er dich mürrisch und missvergnügt begleiten würde.«

Sie sah ein, dass er recht hatte, aber sie war enttäuscht, denn sie hatte sich einen anderen Rat von ihm erhofft.

»Ich wollte übrigens schon seit Langem einmal über Ralph mit dir sprechen«, sagte er.

»Wegen der Schule?« Sie blickte zu ihm auf.

»Nein, überhaupt.« Er zögerte, denn er wusste, dass sie das, was er sagen wollte, nicht gern hören würde. »Ich glaube, das Beste für ihn wäre, du würdest ihn in ein Internat geben.«

»Du auch?« Sie sagte es so laut, dass die Kellnerin, die gerade mit dem Tablett an ihrer Nische vorbeikam, sie erstaunt ansah.

Er nahm die Gelegenheit wahr, noch zwei Gläser Pils zu bestellen.

»Wieso … ich auch? Wer denn noch?«, fragte er.

»Doktor Opitz. Als er gerade erst in die Schule gekommen war.« Sie brachte es nicht über sich, ihm zu bekennen, dass Ralph selber von zu Hause fort wollte.

»Damals war er wohl noch zu jung. Aber heute wäre er gerade in dem richtigen Alter.«

»Wo denkst du hin! Ein Internat könnte ich doch gar nicht bezahlen.«

»Ich habe an ein staatliches Internat gedacht, an Marquartstein. Nicht nur die Lehrkräfte werden dort vom Staat bezahlt, sondern es gibt noch andere Zuschüsse. Natürlich werden die Schüler ausgesiebt. Aber Ralphs Leistungen entsprechen durchaus dem Niveau.«

»Wie viel würde das denn kosten?«

»Ich weiß es nicht genau. Sicher nicht mehr als sechshundert Mark im Monat.«

»Immer noch zu teuer. Seine Kleidung käme ja dazu, all die vielen kleinen Extras, die Heimfahrten …«

»Du solltest mal durchrechnen, was der Junge dich hier kostet.«

»Bestimmt nur halb so viel.«

Die Kellnerin brachte die Gläser.

»Wenn er fort wäre«, sagte Dieter Sommer vorsichtig, »könntest du vielleicht halbtags arbeiten.«

»Schlägst du mir das im Ernst vor?«

»Nun, warum nicht? Deine Aushilfen in Lizis Boutique sind ja immer nur Spielereien. Du bist jung, geschickt, siehst gut aus … wenn du dich umsiehst, wirst du bestimmt eine Stellung finden, in der du wirklich verdienen kannst.«

»Und dieses Geld soll ich dann für Ralphs Internat ausgeben?«

»Ja«, sagte er, obwohl er merkte, dass das Barometer auf Sturm stand.

Sie sprang auf. »Du musst verrückt sein, mir so etwas vorzuschlagen!«

»Es wäre das Beste für Ralph, glaub mir doch. Dein Haushalt ist zu … zu weiblich für einen Jungen.«

Dass er wiederholte, was Ralph selber gesagt hatte, machte sie noch wütender. »Und daran, was gut für mich ist, denkst du überhaupt nicht!«, protestierte sie. »Ich soll mich von meinem einzigen Sohn trennen … ihn hergeben, jetzt, wo er noch ein Kind ist! Ich soll mutwillig mein Heim zerstören, ihn fremden Einflüssen aussetzen, die Geschwister auseinanderreißen … und mich zu allem Überfluss noch hinter den Ladentisch stellen!«

»Es muss ja nicht gerade der Ladentisch sein! Du könntest …«

»Ach, du verstehst mich überhaupt nicht!« Sie riss ihren Mantel vom Haken und ergriff ihre Handtasche. »Du willst ihn nur loswerden!« Sie stürmte aus dem Lokal.

Da er noch zahlen musste, hatte er zu rennen, bis er sie einholte, und weil er sie liebte und nicht gegen sich aufbringen wollte, nahm er alles zurück. »Du hast mich ganz falsch verstanden, Julia«, beteuerte er, »es war ja nur ein Vorschlag! Woher soll ich wissen, was für Ralph richtig ist?«

»Nein, das weißt du wirklich nicht!« Er war froh, dass sie wenigstens mit ihm sprach.

Nach den Sommerferien kehrte Markus nach Rabenstein zurück.

Ralph hatte gewusst, dass es schlimm für ihn sein würde, aber wie schlimm es wirklich wurde, hatte er sich nicht vorgestellt. Sie schrieben sich, aber Briefe waren kein Ersatz für Liebe. Auch konnten sie nicht schreiben, was sie wirklich empfanden, denn immer war die Angst da, dass ein Brief in fremde Hände kommen könnte. Ralph litt, und er konnte es niemandem zeigen.

Julia hätte ihn vielleicht nicht verstanden, wenn er ihr die Wahrheit gesagt hätte, aber sie hätte ihn gewiss nicht weniger geliebt. Aber da war eine Sperre, die er nicht überwinden konnte. Der Gedanke an seine Mutter in Verbindung mit Sex war ihm immer verhasst gewesen. Sie war für ihn zu einem Symbol der Reinheit geworden, und das machte es ihm unmöglich, sich ihr gegenüber zu seiner Leidenschaft zu bekennen. Er hätte es wohl auch dann nicht gekonnt, wenn sie einem Mädchen gegolten hätte.

Sie ahnte nicht, was in ihm vorging, war nur froh, dass die Zeit der Trennung vorüber war – sie hatte die Kreuzfahrt durch die skandinavischen Fjorde, die sie mit Roberta unternommen hatte, nicht genießen können, weil sie immer an ihn hatte denken müssen –, dass Markus fort war und er jetzt wieder fast immer zu Hause war. Zwar zog er sich meist in sein Zimmer zurück, um zu arbeiten, wie er behauptete. Er hörte Pop-Musik mit Kopfhörern, was ihn von seiner Umwelt abschloss, aber er war doch wenigstens da.

Wenn er aus seiner Höhle, wie sie sein Zimmer scherzhaft nannte, herauskam, war er höflich, freundlich und beherrscht. Er bewunderte ihr Aussehen, lobte ihre Küche und war geduldig mit seiner kleinen Schwester. Es war nichts an ihm auszusetzen. Dass er nicht fröhlich war, schob sie dem Schulstress zu, den er selber gern als Vorwand nahm.

Tatsächlich galten all seine Gedanken und seine Sehnsucht Markus.

Die Weihnachtsferien kamen, und sie wurden eine Enttäuschung. Ralph hätte am liebsten die meiste Zeit mit Markus verbracht. Aber das war nicht möglich. Auf dem Gut wurden Partys gefeiert, zu denen er nicht eingeladen wurde. Die Kosels fuhren mit ihrem Sohn nach München, besuchten Theater und Oper, und Ralph blieb allein zurück.

Ralph hätte sich gewünscht, dass Markus für ihn eingetreten wäre, aber er tat es nicht. Er hatte sich verändert und war – in übertriebenem Maß, wie Ralph meinte – darauf bedacht, sich nicht mit ihm zu kompromittieren. Dazu kam, dass sie sich, auch wenn sie beisammen waren, auf dem Gut nicht mehr so frei bewegen konnten wie im Sommer. All die Arbeitskräfte, die so beschäftigt gewesen waren, hatten jetzt sehr viel mehr Muße. Die Jungen fühlten sich beobachtet.

Ralph lud Markus ein, an einem Samstag, an dem Julia ihren Skatabend bei Lizi Silbermann hatte, bei ihm zu übernachten.

»Wie soll ich das meinen Eltern beibringen?«, fragte Markus.

»Lass dir was einfallen! Ich war im Sommer zwei Wochen bei dir!«

»Ja, aber dafür gab es auch Gründe … Ferien auf dem Bauernhof und so weiter. Mir fällt kein Argument ein, mit dem ich sie überzeugen könnte.«

»Du willst nur nicht!«

Markus blickte kühl auf ihn herab. »Weißt du, Ralph, manchmal scheinst du mir doch reichlich kindisch!«

Das war nicht das Ende ihrer Freundschaft, sie versöhnten sich wieder. Aber Ralph musste schmerzlich einsehen, dass sich der Sommer ihrer Liebe nicht fortsetzen und nicht wiederholen ließ.

Ralph schlenderte gern, wenn er aus der Schule kam, wie auch andere Jungen, über den Markt. Im Winter war nicht viel los. Es gab nur Buden, an denen frierende Männer, in wollene Mützen und Schals eingehüllt, weiße, nicht einwandfreie Schürzen vor den Bauch gebunden, mit fingerlosen Handschuhen heiße Würstchen und gegrillte Hamburger verkauften. Aber der Duft war verführerisch, und hin und wieder konnte der eine oder andere der Versuchung nicht widerstehen, sein Taschengeld dort anzulegen, wohl wissend, dass zu Hause das Mittagessen wartete.

Im Frühjahr belebte sich der Markt. Bauern und Bäuerinnen aus dem Umland boten Geflügel an, Eier, Gemüse und frisches Obst. In diesem Jahr war ein neuer Stand hinzugekommen. Unter einem großen roten Sonnenschirm bot ein schlanker Mann Gartenblumen zum Verkauf. Seine Ware war täglich frisch, und die Hausfrauen drängten sich um ihn und erstanden zu ihren anderen, sehr realen Einkäufen gern noch einen Strauß.

Keiner der Jungen, außer Ralph, interessierte sich für diesen Blumenmann. Er hätte ihm stundenlang zusehen können. Seine schlanken Hände banden die Sträuße so geschickt, fast anmutig, und obwohl seine tiefliegenden Augen eigentlich traurig blickten, hatte er doch für jede der Frauen ein nettes Wort und ein Lächeln.

Etwas an diesem Mann faszinierte Ralph. Er wusste selber nicht, was es war, aber er schien ihm von einem Geheimnis umgeben. Zwar wirkte er mit seiner großen grünen Schürze, offenem Hemd und einem roten Tüchlein um den Hals durchaus wie ein Gärtner und doch auch irgendwie anders.