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Marie Louise Fischer

Das eigene Glück

Roman

hockebooks

Roberta saß vor dem Fernseher.

Julia steckte den Kopf ins Wohnzimmer und sagte in einem Ton, der nicht so unbefangen klang, wie sie gewünscht hätte: »Hallo, da bin ich wieder!«

Sie bekam keine Antwort.

»Hast du schon zu Abend gegessen?«

»Wenn du nichts dagegen hast.«

»Nicht das Geringste. Ich habe keinen Hunger.« Sie trat hinter ihre Tochter und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Roberta zuckte zurück. »Du stinkst nach Nikotin!«

»Ja«, sagte Julia, »ich habe geraucht. Ausnahmsweise.«

»Du stinkst«, wiederholte Roberta.

»Dann steige ich am besten gleich mal in die Badewanne.«

»Gute Idee«, erwiderte Roberta mürrisch.

Nur zu gern wäre Julia allein geblieben, um Ordnung in ihre Gefühle und Gedanken zu bringen. Aber die Tatsache, dass Roberta sich nicht in ihr eigenes Zimmer zurückgezogen hatte, zeigte ihr, dass das Mädchen mit ihr sprechen wollte, auch wenn sie es nicht offen zugeben mochte. So kehrte Julia denn, nachdem sie gebadet und sich einen leichten Hausanzug angezogen hatte, zu Roberta zurück. Sie schenkte sich einen Cognac ein und setzte sich neben ihre Tochter. Die Handlung, die auf der Mattscheibe vorüberzog, nahm sie gar nicht wahr. Zu sehr war sie von ihren eigenen Erlebnissen erfüllt. Sie begriff nicht mehr, wie ihr Johannes Herder, der ihr noch wenige Stunden zuvor völlig fremd gewesen war, so rasch hatte vertraut werden können.

Als Roberta sie endlich ansprach, zuckte Julia zusammen und musste zugeben, dass sie sie nicht verstanden hatte. »Was hast du gefragt?«

»Nichts. Ich habe nur festgestellt, dass du verabredest warst.«

»Das stimmt nicht.«

»Ach, lüg’ mich doch nicht an.«

»Das tue ich gar nicht und hätte auch wohl keinen Grund dazu.«

»Wo warst du?«

»Möchtest du den Fernseher nicht abschalten, wenn du mit mir sprichst?«

»Der Film interessiert mich.«

»Dann sieh ihn dir an.«

»Du weichst mir aus.«

»Nein, Liebling.«

»Also … wo bist du gewesen?«

»In München.«

»Und wer war der Mann?«

»Ich habe ihn zufällig kennengelernt.«

Roberta stieß ein höhnisches Lachen aus. »Und das soll ich dir glauben?«

»Wie oft habe ich dich beschwindelt?«

»Oft genug. Mir langt’s allmählich.«

Julia stand auf. »Hör mal, Robsy, das führt doch zu nichts. Ich lege mich jetzt lieber hin. Wenn der Film aus ist, kannst du noch zu mir kommen.« Sie leerte ihr Glas.

»Das könnte dir so passen!« Roberta sprang hoch, schaltete den Fernseher aus, war mit einem Satz bei der Tür und knipste die Deckenbeleuchtung an. »Damit du dir eine Entschuldigung ausdenken kannst!«

Unwillkürlich hielt Julia sich schützend die Hand vor die Augen. »Du hast kein Recht mich zu verhören, Robsy … kein Recht, in einem solchen Ton mit mir zu sprechen!«

»Aber du, du kannst dir alles erlauben, was? Sag mal, für wie blöd hältst du mich eigentlich? Als ob ausgerechnet du einem Mann um den Hals fallen würdest, den du gerade erst kennengelernt hast! Wie lange läuft das schon? Hinter meinem Rücken?«

»Du hast mir nachspioniert?«, fragte Julia erschüttert.

»Ich habe auf dich gewartet, das ist alles. Ich war beunruhigt, weil du so plötzlich auf und davon warst … da habe ich aus dem Fenster gesehen. Ist das etwa ein Verbrechen?«

»Wenn du aus warst, habe ich so etwas nie getan.«

»Natürlich nicht! Du bist ja auch die Engelhafte, Tolerante, Supernachsichtige!«

»Ich habe mich beherrscht, um dir die Freiheit zu lassen, die du brauchtest.«

»Hättest du es doch nicht getan! Hättest du mir lieber deine wahre Meinung gesagt … Robsy, dieser Junge ist ein primitiver Flegel, er passt nicht zu dir, nimm dich ich Acht! … aber stattdessen hast du mich voll ‘reinsausen lassen.«

»Hättest du denn auf mich gehört? Das möchte ich doch sehr bezweifeln.«

»Aber du hättest doch wenigstens versuchen können, mich zu warnen …«

»Ich wollte den Konflikt zwischen uns nicht noch vertiefen.«

»Und jetzt rächst du dich! Gib zu, dass du dich an mir rächst!«

»Aber, Robsy, was für ein Blödsinn!« Julia schaltete die Stehlampe ein und das Deckenlicht aus. »Was redest du dir da ein!«

»Wenn du diesen Kerl wirklich erst heute kennengelernt hast …«

»Ja, Robsy, das schwöre ich dir!«

»… dann hast du ihn dir bloß geangelt, um ihn mir vorzuführen … um mir zu zeigen, dass du auch noch Erfolg haben kannst, wenn du nur willst.«

»Ach, Robsy!« Julia setzte sich an den Tisch. »Was geht bloß in deinem kleinen Kopf vor.«

»Das versuche ich dir ja gerade klarzumachen. Die Geschichte mit Tobby hat dich schrecklich enttäuscht, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Julia ehrlich.

»Ich komme mir jetzt nachträglich auch ganz blöd vor … wie ich auf diesen Kaffer hab’ hereinfallen können. Aber begreifst du denn nicht …« Roberta zog sich einen Fußschemel herbei und ließ sich vor Julia nieder, »… dass das passieren musste!«

»Doch, Robsy.«

»Jeder Mensch muss einmal seine Erfahrungen machen … bevor man nicht an den glühenden Ofen gegriffen hat, kapiert man nicht, dass er einen verbrennt. Jetzt weiß ich es. Es wird nie mehr vorkommen.«

»Hoffentlich wenigstens nicht so bald.«

»Warum sagst du so was? Wenn ich dir doch schwöre …«

»Ich glaube dir, dass du jetzt felsenfest davon überzeugt bist. Aber du kennst dich selber noch nicht gut genug …«

»Doch Julia! Siehst du denn nicht, dass die ganze Geschichte auch was Gutes für uns beide hat? Früher war ich ein kleines Mädchen, und du warst eine Frau mit Erfahrung … jetzt habe ich gleichgezogen … jetzt können wir endlich wirkliche Freundinnen sein!«

»Nichts lieber als das, Robsy!« Julia strich ihrer Tochter zärtlich über das Haar.

»Oh, Julia, ich bin fast verrückt geworden, als ich nach Hause kam und du nicht da warst! Ich war so wütend auf dich, aber jetzt habe ich meine Lektion gelernt. Nie, nie wieder werde ich mich mit einem Jungen einlassen, und du versprichst mir …«

Julia fiel ihr ins Wort. »Und das soll Freundschaft sein! Da kann ich dir nicht folgen, Liebling. Ich meine, wir sollten wie zwei selbständige erwachsene Frauen miteinander leben … uns Freiheit lassen, Verständnis haben …«

»Bitte, Julia, hör auf damit. Es war alles schlimm genug für mich. Du hast deine Rache gehabt. Jetzt lass es gut sein.«

»Rache? Aber ich wollte mich niemals an dir rächen!«

»Warum bist du dann nach München gefahren?«

»Weil du dich sehr schlecht benommen hattest und ich dachte, es würde mir guttun, dich einen Tag lang nicht mehr zu sehen.«

»Und dieser Kerl?«

»Er ist kein Kerl, sondern ein Mann … ein Herr, wenn du so willst …«

»Warum hast du ihn hierhergeschleppt?«

»Er hat mich nach Hause gebracht. Es ergab sich so. Ich konnte ja nicht damit rechnen, dass du mir auflauern würdest.« Sie seufzte, ohne es zu merken. »Ach, Robsy, diese ganze Auseinandersetzung ist doch absurd. Mir schwindelt der Kopf.«

Roberta legte ihr die Arme auf die Knie und blickte sie aus ihren hellen Augen beschwörend an. »Ich weiß, ich war in letzter Zeit sehr fies zu dir, Julia. Es tut mir leid … ehrlich. Aber ich war so durcheinander.«

»Das verstehe ich doch, Liebling.«

»Verzeih mir, bitte!«

»Ich trage dir nichts nach.«

»Dann lass es uns noch einmal versuchen! Es soll alles so werden wie früher. Wir haben uns doch gut verstanden, das musst du zugeben.« – »Ja, Robsy.«

»Er war ganz schön gerissen von dir, mich so zu erschrecken!« Robertas Lächeln war kindlich. »Du hast mir einen heilsamen Schock verpasst. Ich bin dir geradezu dankbar dafür. Ich habe mich wirklich schrecklich aufgeführt in letzter Zeit. Aber damit ist es vorbei.«

»Das wäre wunderbar, Liebling.«

»Ich werde ganz, ganz lieb zu dir sein … und dich verwöhnen … und von mir aus auch wieder zusammen mit dir einkaufen gehen …«

»Aber warum? Es macht dir doch allein mehr Spaß.«

»Das stimmt gar nicht. Ich habe nur so getan, um dich zu verletzen.«

»Das redest du dir jetzt ein.«

Roberta ergriff Julias Hände. »Wir werden immer zusammen sein … ganz wie früher! Natürlich sollst du deine Skatrunde haben und deinen Verkehrsverein …«

»Robsy, es tut mir leid. Du siehst das alles ganz falsch. Ich habe mich nicht von diesem Mann nach Hause bringen lassen, um dich zu ärgern … und ich habe ihn auch nicht geküsst, damit du es sehen solltest, sondern weil mir danach zumute war. Er bedeutet mir sehr viel.«

»Und erst hast du mir weismachen wollen, du hättest ihn erst heute kennengelernt!«

»Ich habe ihn schon früher gesehen, aber erst heute sind wir ins Gespräch gekommen. Ich … ich war ihm schon früher aufgefallen, und er mir auch. Es ist wahr, wir sind uns zufällig begegnet … wenn er auch meint, dass es Schicksal war. Das kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall will ich ihn nicht mehr verlieren.«

»Und wenn ich dich anflehe?«

»Nein, Robsy, du bist jetzt erwachsen. Du musst es verstehen.«

Roberta sprang so heftig auf die Füße, dass der kleine Schemel, auf dem sie gehockt hatte, umkippte und sich überschlug. »Dass dir eine Straßenbekanntschaft mehr bedeutet als ich!«

»Du bist meine Tochter. Von diesem Platz kann dich niemand verdrängen.«

»Und was ist mit ihm? Was willst du von ihm? Wozu brauchst du ihn?«

»Ich glaube, ich habe mich in ihn verliebt.«

»In deinem Alter?«

Julia schwieg und sah ihre Tochter nur an.

»Du machst dich lächerlich! Das habe ich gleich gesehen, als ich euch beobachtet habe … Er wollte dich gar nicht küssen, aber du … du hast dich ihm an den Hals geworfen!«

»Das sind doch gerade die Töne, Robsy, denen du eben noch abgeschworen hattest.«

»Ich bin nun mal nicht wie du! Ich kann dich nicht mit offenen Augen in dein Unglück sausen lassen!«

»Du hast mich eben darauf aufmerksam gemacht, dass ich alt bin … Ich kann dir versichern, ich bin alt genug, um auf mich aufzupassen.«

»Du bist verrückt.«

»Kann schon sein. Liebe hat immer etwas mit Wahnsinn zu tun. Aber sie ist der schönste Wahnsinn der Welt.«

»Dieser Kerl lacht sich ins Fäustchen über dich! Bring ihn hierher, lass ihn nur kommen, und ich werde ihm auf den Kopf zusagen …«

»Du wirst ihn kennenlernen, Robsy, aber nicht so bald, und an deiner Stelle würde ich mich hüten, mich mit ihm anzulegen. Er ist eine starke Persönlichkeit.«

Plötzlich schlug Robertas Stimmung um. »Ach, worüber streiten wir uns eigentlich?«, sagte sie wegwerfend. »Ich wette, er wird nie mehr etwas von sich hören lassen.« Darauf wusste Julia nichts zu sagen.

»Du hast mit ihm geflirtet. Gut und schön. So was kann passieren. Du warst ja auch ganz schön wütend auf mich. Jetzt bist du aufgekratzt und bildest dir ein, es wäre die große Liebe. Schon morgen früh sieht alles anders aus. Dann wirst du froh sein, dass du mich noch hast.«

Julia stand auf und nahm ihre Tochter in die Arme. »Ich bin immer froh, dass ich dich habe. Aber noch froher wäre ich, wenn du endlich beginnen würdest, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist … und aufhören würdest, sie dir nach deinen Wünschen zurechtzuschustern.«

Roberta schmiegte sich an sie. »Es wird alles wie früher werden«, murmelte sie.

Julia begriff, dass das Mädchen nichts verstanden hatte, aber sie war des Streitens müde und ließ es dabei bewenden.

Am nächsten Morgen gab sich Roberta heiter und liebevoll.

Julia empfand es angenehm, obwohl sie wusste, dass es sich zweifellos um eine Taktik handelte; sie ging auf den Ton ihrer Tochter ein.

Später, als sie allein war, überfiel sie der heftige Wunsch, Johannes Herder anzurufen. Aber sie verbot es sich. Es war noch zu früh. Als Künstler war er gewiss gewohnt, morgens auszuschlafen. Und was sollte sie ihm sagen? Der Kampf mit ihrer Tochter hatte ja erst begonnen.

Gegen elf Uhr hielt sie es nicht mehr aus. Sie wollte wenigstens seine Stimme hören, sich vergewissern, dass ihre Begegnung mehr als eine Illusion gewesen war, und sich ermutigen lassen.

Gerade, als sie zum Hörer griff, klingelte das Telefon. Sie nahm ab und meldete sich. Er war es! Ihr Herz klopfte wie ein Hammerwerk, und nur mit Mühe zwang sie sich zu einem gleichmütigen Ton.

»Aber das ist gegen unsere Abmachung!«, sagte sie. »Hättest du mich denn angerufen?«

»Ja. Schade, dass du mir keine Gelegenheit gegeben hast.«

»Ich konnte nicht warten.«

Etwas in seiner Stimme beunruhigte sie. »Ist etwas passiert?«

»Ja.«

Sie konnte kein Wort herausbringen. »Ich muss fort, Julia«, sagte er. »Wann?«

»Morgen Mittag. Ich fliege in die Staaten. Es geht um die deutschen Texte für eine Langspielplatte.« Als sie schwieg, fügte er hinzu: »Ich könnte natürlich auch ablehnen …«

»Nicht meinetwegen!«

»Wenn du es verlangst …«

»Nein, nein!« Sie nahm alle Kraft zusammen und fragte: »Wie lange?«

»Zwei oder drei Wochen.«

Eine Ewigkeit!, dachte sie und sagte: »Das ist doch nicht lange!«

»Ich werde mich beeilen.«

»Nein, nein, lass dir nur Zeit. Wirst du dich melden, wenn du zurück bist?«

»Ich werde von unterwegs anrufen.«

Sie war nahe daran, das abzulehnen, aber dann dachte sie, er könnte annehmen, dass es Robertas wegen wäre und sagte: »Fein.«

»Es ist der ungünstigste Zeitpunkt, nicht wahr?«

»Nein«, sagte sie, »wenn du gestern hättest fliegen müssen, wäre es schlimmer gewesen.«

Er lachte. »Sehr realistisch!«

»Ich versuche mich nur zu trösten.«

»Wenn du wüsstest, wie mir zumute ist.«

»Vielleicht ist es ganz gut so. Es gibt mir Zeit, es den Kindern beizubringen.«

»Wie hat es Robsy aufgenommen?«

»Sie will es nicht wahrhaben.«

»Schmollt sie?«

»Nein, sie zeigt sich von ihrer besten Seite. Sie glaubt, ich hätte unsere Begegnung provoziert, um mich zu rächen.«

»Kleiner Tollkopf.«

»Ja, das ist sie.«

Einen Augenblick schwiegen beide. »Ich hätte dir so schrecklich viel zu sagen!«, stieß sie endlich hervor.

»Ich dir auch! Aber nicht am Telefon. Hör mal, Julia, ich bin heute noch den ganzen Tag da …«

»Du musst packen.«

»Nicht der Rede wert. Willst du nicht kommen? Ich glaube, es wäre für uns beide leichter, wenn …«

Er sprach es nicht aus, aber sie wusste, was er meinte. Ihre körperliche Sehnsucht nach ihm war so stark, dass sie am liebsten alles hätte stehen und liegen lassen und zu ihm gefahren wäre. Es war ihr ganz gleich, was Roberta von ihr denken würde, wenn sie auch heute die Wohnung leer finden würde.

»Ich sehne mich schrecklich nach dir!«, bekannte sie. »Dann komm! Wir haben noch mehr als vierundzwanzig Stunden Zeit.«

»Nein«, sagte sie und wusste selber nicht warum, »es … es wäre so überstürzt.«

»Vielleicht wird es dir ewig leidtun, wenn du diesen Tag ungenutzt hast verstreichen lassen.«

Sie wurde hellhörig. »Was soll das heißen? Was willst du damit sagen?«

»Das, was ich gesagt habe.«

»Hast du etwa vor, in den Staaten zu bleiben?«

»Nein, das nicht.«

»Warum sagst du dann so etwas?«

»Kannst du dir das nicht denken?« Er lachte leise. »Ich möchte dich mürbe machen.«

»Hilf mir lieber, klaren Kopf zu bewahren.«

»Ist das denn wichtig?«

»Ja. Ich möchte kein Abenteuer, sondern eine wirkliche menschliche Beziehung.«

»Und du fürchtest, du würdest irgendetwas verderben, wenn du jetzt zu mir kämst.«

»Ja.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht. Aber ich habe das Gefühl, es würde nicht zu mir passen …«

»Vielleicht nicht«, gab er zu, »aber gerade deshalb. Spring doch einmal über deinen Schatten!«

»Nein«, sagte sie.

»Auch auf die Gefahr hin, dass du mich furchtbar enttäuschst?«

»Ich glaube nicht, dass du mich anders haben willst, als ich bin.«

»Wenn du mich wirklich liebtest …«

»Still!«, mahnte sie. »Nicht so große Worte! Als Textdichter kommen sie dir wahrscheinlich leicht über die Lippen, aber du solltest auch wissen, wie trügerisch sie sind.«

»Du bist sehr weise.«

»Nein, gar nicht. Aber ich bin eben auch kein kleines Mädchen mehr. Ich dachte, gerade das würde dir an mir gefallen.«

»Ja, Julia, aber …«

»Bitte, Hans, quäl mich nicht! Kaum wäre ich bei dir, würde ich mir Sorgen um Robsy machen … mein Gewissen würde mir zusetzen. Ich kann nun einmal nicht so sein.«

»Ich liebe dich, Julia! Ich weiß, du willst es nicht hören … noch nicht … aber ich bin mir ganz sicher: Ich liebe dich!«

»Pass gut auf und komm gesund wieder!«

»Können wir uns nicht wenigstens morgen noch am Flughafen sehen?«

»Das würde alles nur noch schlimmer machen. Dich noch einmal zu sehen, um dich dann gleich zu verlieren … nein. Ich könnte es kaum ertragen.«

»Ich liebe dich, Julia! Ich hätte nie gedacht, dass es mich noch so packen könnte.«

»Ich werde an dich denken!« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf, denn sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.

Nach wenigen Minuten klingelte es wieder, aber sie nahm nicht mehr ab. Vor Schluchzen hätte sie kein Wort mehr hervorbringen können, und sie wollte ihn nicht mit ihrem Schmerz belasten.

Die nächsten Wochen verlebte Julia in einem seltsamen Gefühl der Unwirklichkeit. Ihr Herz war schwer vor Glück und gleichzeitig gebeutelt von Schmerz, erfüllt von flirtender Erwartung und doch gepeinigt von Angst, das Glück, das er ihr gerade offenbart hatte, schon wieder verloren zu haben. Obwohl sie versuchte sich zusammenzunehmen, ging sie doch wie eine Schlafwandlerin durch den Alltag, vergaß die einfachsten Dinge, hörte nicht zu, wenn man mit ihr sprach, konnte sich auf nichts konzentrieren und fand doch manchmal Sätze von einer Klarheit, die sie selber überraschte.

Roberta behandelte die Mutter nachsichtig und liebevoll, überzeugt, dass der Mann, den sie kennengelernt hatte, schon wieder aus ihrem Leben verschwunden war.

Julia mochte mit ihr nicht darüber sprechen, so wenig wie mit ihren Freundinnen. Sie empfand ihre Liebe als eine so geheimnisvolle Kraft, dass die Worte fehlten, sie auszudrücken.

Ursprünglich hatte sie vorgehabt, einmal in der Woche nach München zu fahren, allein, um Roberta an die Vorstellung zu gewöhnen, dass sie ihr eigenes Leben führen wollte. Aber dann brachte sie die Kraft dazu nicht auf. Da Johannes Herder nicht auf sie wartete, schien es ihr ein sinnloses Theater, das nur zu neuen Auseinandersetzungen mit Roberta führen konnte, ohne die Situation wirklich zu klären.

Manchmal war sie nahe daran, Roberta anzuschreien: Hör auf, mich wie eine Kranke zu behandeln!

Aber dann unterließ sie es doch, weil sie empfand, dass sie wirklich krank war, liebeskrank, wenn auch in einem anderen Sinne, als Roberta glaubte.

Sie war kaum imstande, die Sitzung des Verkehrsvereins zu überstehen, und nur ihr Pflichtgefühl hielt sie davon ab, sich krank zu melden. Nicht einmal der allwöchentliche Skatabend konnte sie reizen. Lustlos trödelte sie herum.

»Es wird Zeit«, drängte Roberta, »du musst dich umziehen!«

»Mir ist heute nicht nach Skat.«

»Aber, aber!«, tadelte das Mädchen in überlegenem Ton. »Wie kannst du so etwas sagen!«

»Ich habe Kopfschmerzen!«

»Denk nur daran, wie sehr du Agnes und Lizi enttäuschen würdest.«

Julia seufzte. »Ja, ich weiß. Ich muss wohl hin.«

»Ich werde dich begleiten«, erbot sich Roberta.

Es war Freitag. Der Skatabend sollte in Lizi Silbermanns Wohnung über der Boutique stattfinden, und Agnes wollte gleich vom Geschäft aus hinfahren.

»Nett von dir«, sagte Julia, obwohl sie lieber allein gegangen wäre. Roberta beobachtete sie lauernd. »Du bist ganz blass. Wenn dir wirklich nicht gut ist, solltest du dich doch besser hinlegen. Ich werde bei Lizi anrufen und dich entschuldigen. Vielleicht finden die beiden ja noch einen dritten Mann. Oder sie können Rommé spielen.«

»Nein, Robsy, ich möchte meine Freundinnen nicht im Stich lassen.«

»Aber eben sagtest du doch …«

»Ich weiß, was ich sagte. Aber so schlimm sind meine Kopfschmerzen auch wieder nicht. Ich werde eine Tablette nehmen, dann wird’s schon gehen.«

»Wie du meinst. Aber ich hätte dich gern gepflegt.«

»Das glaube ich dir«, sagte Julia und erschrak über den feindlichen Unterton in ihrer Stimme.

Roberta schien nichts zu merken. »Wenn du dich jetzt ins Bett legtest und dir eine kalte Kompresse von mir machen lassen würdest …«

»Danke, Liebling, aber ich habe mich schon entschieden.« Sie hatte es jetzt sehr eilig sich umzuziehen, wählte einen karierten Rock und einen dünnen rosa Pullover, von dem sie hoffte, dass er ihrem Gesicht Farbe geben würde.

Wenig später kam sie ins Wohnzimmer zurück. »Ich bin fertig, Liebling …«

»Warte doch! Ich komme mit!« Roberta sprang auf. »Aber lass dich erst mal ansehen.«

»Ja?«, fragte Julia irritiert. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Doch. Tadellos, nur … Nein, ich sage nichts, du würdest nur böse werden …«

»Meinst du, ich hätte mich ein bisschen anmalen sollen?«

»Nein, das nicht, aber …« Roberta zögerte, dann platzte sie heraus: »Findest du nicht, dass diese Aufmachung ein bisschen zu jugendlich für dich ist? Du kannst dich doch wirklich nicht mehr wie ein Schulmädchen anziehen!«

Es erstaunte Julia, dass sie sich nicht verletzt fühlte. »Lizi und Agnes wird’s nicht stören«, erwiderte sie obenhin und wandte sich zur Tür.

Roberta war mit wenigen Schritten neben ihr. »Weißt du, ich glaube, man kann sich selber nie so sehen, wie man wirklich ist! Deshalb ist es gut, wenn man jemanden hat, der objektiv urteilen kann.«

Sie liefen die Treppe hinunter.

»Und du glaubst, du bist mir gegenüber wirklich objektiv?«

»Nicht ganz!«, erklärte Roberta. »Dazu habe ich dich zu lieb.«

»Dann muss ich wohl froh sein, dass ich nicht weiß, wie ich mich in den Augen der anderen spiegele.«

Sie hatten die Straße erreicht, und Julia schlug nach einem Blick auf ihre Armbanduhr ein zügiges Tempo an.

Roberta, auf ihren hochhackigen Schuhen, konnte kaum schritthalten. »Nicht so rasch, Julia!«, bat sie. »Ich komme nicht mit!«

»Aber ich bin wirklich spät dran! Vielleicht ist es besser, du kehrst um.«

»Ach, lass die beiden doch ruhig ein bisschen warten!« Roberta hakte sich bei der Mutter ein und zwang sie so, sich ihrem gemächlicheren Gang anzupassen. »Ich wollte schon lange mit dir reden.«

»Aber dazu hast du doch immer Gelegenheit.«

»Nein. Du warst in letzter Zeit so … so abwesend, ja geradezu abweisend mir gegenüber.«

»Das war nicht meine Absicht. Tut mir leid.«

Roberta drückte ihren Arm. »Ich wollte dir nur sagen … ich weiß sehr gut, wie dir jetzt zumute ist.«

Julia schwieg.

»Ich habe ja dasselbe durchgemacht … das heißt, nicht ganz dasselbe, aber doch etwas sehr Ähnliches …«

Vergebens suchte Julia nach einem Wort, mit dem sie das Gespräch hätte abblocken können.

»Die Männer sind nun mal so«, fuhr Roberta fort.

Julia konnte nicht länger an sich halten. »Was weißt du schon von den Männern!«

»Vielleicht wird man wirklich nicht aus Erfahrung schlau … Sonst hättest du doch nicht so ‘reinfallen können.«

»Ich muss dich enttäuschen, Robsy.«

»Aber, Julia, ich bitte dich! Versuch doch nicht, mir etwas vorzumachen! Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der dich voll versteht.«

»Nein, Robsy, du irrst dich.«

»Meinst du, ich hätte dich nicht beobachtet! Seit wer weiß wie lange wartest du vergeblich auf ein Lebenszeichen dieses Typen …«

Julia fiel ihr ins Wort. »Nein, Robsy, das ist einfach nicht wahr!«

»Mir gegenüber kannst du es doch zugeben.«

»Aber du bist völlig auf dem Holzweg. Er hat sich mit mir in Verbindung gesetzt.« Roberta lachte hohl. »Wie denn?«

»Hast du schon mal etwas von der Erfindung des Telefons gehört?«

»Du willst behaupten, er hat dich angerufen?«, fragte Roberta ungläubig.

»Ja, das hat er.«

»Und warum lässt er sich nicht blicken? Warum verabredet er sich nicht mit dir? Er muss sich wohl erst scheiden lassen, wie?«

»Er ist nicht verheiratet.«

»Und das glaubst du? Alle attraktiven Männer in deinem Alter sind verheiratet!«

»Er ist ein paar Jahre jünger als ich.«

Roberta blieb so abrupt stehen, dass Julia fast ins Stolpern geriet. »Das ist nicht wahr!«

»Warum sollte ich so etwas erfinden?«

»Wie viel jünger ist er?«

»Fünf Jahre.«

»Fünf? Julia, das kannst du doch nicht machen!«

»Komm, gehen wir weiter, Robsy! Wir können später zu Hause darüber sprechen.«

Roberta setzte sich wieder in Bewegung, aber sie gab das Thema nicht auf »Du kannst doch nicht ernstlich glauben, dass ein … lass mich nachrechnen … ein vierunddreißigjähriger Mann etwas an dir finden könnte! Dann muss er ein Holzbein haben!«

»Sehr schmeichelhaft.«

»Oder er hat es auf dein Geld abgesehen! Ja, natürlich … zu dumm, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Er weiß, dass dir das Haus gehört, das hast du ihm bestimmt gleich auf die Nase gebunden. Wart’s nur ab, er wird dir vorschlagen, es zu verkaufen … dann wird er das Geld kassieren und …«

»Ich wusste gar nicht, dass du eine so blühende Fantasie hast, Robsy. Schade, dass du sie nicht gelegentlich in deine deutschen Aufsätze fliegen lässt.«

»Jetzt wirst du gemein!«

»Wenn eine von uns beiden gemein ist, dann doch wohl du! Aber jetzt Schluss damit! Es ist nicht nötig, dass wir uns in aller Öffentlichkeit zanken.«

»Also wieder mal Rücksicht auf die Leute!«

»Ja, Robsy.«

Tatsächlich war Julia froh, dass um diese Zeit – die Geschäfte hatten schon geschlossen und die Filmvorstellungen hatten noch nicht begonnen – nur wenige Menschen unterwegs waren.

Trotzdem musste sie, während Roberta sie angriff, sich immer wieder zu einem Lächeln zwingen und diesen und jenen Gruß erwidern, während das Mädchen so tat, als wären sie allein auf der Welt. Sie hatten jetzt schon den Hauptplatz erreicht, auf dem einige Jugendliche an ihre Mofas und Mopeds gelehnt herumlungerten und offensichtlich überlegten, wie sie den Abend verbringen wollten.

»Dann mach dir doch auch mal klar, was die Leute sagen werden, wenn du mit einem Vierunddreißigjährigen ankommst! Stell dir bloß mal das Hohngelächter vor!«

»Warum sollte mich jemand deswegen verspotten? Die anderen Frauen werden mich höchstens beneiden.«

»Mir kannst du nur leidtun!«

»Ich nehme dich beim Wort, Robsy. Dann wirst du mir sicher zusätzliche Schwierigkeiten ersparen und dich wie eine erwachsene Frau benehmen.« – »Was heißt das?«

»Muss ich dir das wirklich erklären?! Du wirst aufhören, mir Szenen zu machen und mich die Sache durchstehen lassen.«

»Also bist du doch nicht glücklich.«

»Ich bin ziemlich durcheinander, Robsy«, gestand Julia, »das alles ist so plötzlich gekommen, und ich fürchte, es wird mein Leben völlig verändern. Es wäre schön, wenn ich in dir jetzt eine Stütze hätte … einen Menschen, der mich versteht.«

Tränen schossen in Robertas Augen. »Du liebst mich nicht mehr! Sonst wärst du gar nicht auf den Gedanken gekommen, dich mit so einem Schnösel einzulassen!«

»Ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, sondern es ist einfach passiert. Und ein Schnösel ist er auch nicht. Denk doch nur einmal daran, wie ich zu dir gehalten habe, als du und Tobby …«

»Das war etwas ganz anderes!«

»Daran besteht kein Zweifel. Aber du wirst zugeben, dass ich mich nicht so aufgeführt habe wie du jetzt … Also, bitte, lass mich los und lass mich gehen! Ich habe wirklich keine Zeit mehr!«

Julia ließ Roberta stehen. Es zerriss ihr das Herz, aber sie konnte nicht anders. Als sie die nächste Straßenecke erreichte, wurde sie fast von dem Zwang überwältigt, sich nach ihrer Tochter umzusehen. Aber sie blieb hart und ging weiter.

An diesem Abend spielte Julia schlecht. Sie warf eine Lusche ab, wo sie hätte stechen müssen, und brachte es dahin, dass Agnes einen Zehner verlor, den sie hätte nach Hause bringen können.

»Herrjemine, Liebchen, wo hast du nur deine Gedanken!«, rief Agnes. »Wenn wir nicht schon jahrelang miteinander spielten, müsste ich glauben, ich wäre mit einer Anfängerin geschlagen.«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Julia, »es soll nicht wieder vorkommen.«

»Das will ich hoffen!«

»Ich kann mich heute auch nicht recht konzentrieren«, gestand Lizi.

»Sollen wir es etwa aufgeben?«

»Ich schlage vor, wir legen eine Pause ein.«

»Aber wir haben doch gerade erst begonnen!«

»Ich muss euch etwas sagen«, erklärte Lizi, »eigentlich habe ich es bis nach dem Spiel aufheben wollen, aber ich glaube, es ist besser, ich rücke gleich damit heraus.«

Agnes warf die Karten, die sie gerade wieder hatte verteilen wollen, auf den Tisch. »Also … von mir aus!«

Lizi stand auf und schenkte sich und den Freundinnen Cognac ein. »Ihr werdet vielleicht eine kleine Stärkung brauchen.«

»Komm, komm!«, drängte Agnes. »Mach’s nicht so feierlich!« Lizi stand da, ihr Glas in der Hand, und sah auf die anderen herunter. »Ich werde mich wieder verheiraten.«

Eine Sekunde lang starrten Agnes und Julia sie entgeistert an.

Dann brach es aus Agnes heraus: »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Und warum nicht, liebe Agnes? Kannst du dir etwa nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der mich nimmt?«

»Blödsinn! Natürlich kannst du, wenn du willst … Daran hat niemand gezweifelt! Oder du etwa, Liebchen?« Julia schüttelte den Kopf.

»Aber wozu, würde ich gern wissen?«, fuhr Agnes fort. »Du hast doch alles, was du brauchst … ein gesichertes Einkommen …«

»Ja, das habe ich. Aber das allein genügt mir nicht mehr … jedenfalls nicht für den Rest meines Lebens. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe es satt. Schon seit Langem.«

»Wer ist es denn?«, fragte Julia und nahm einen Schluck.

»Karl Fakosch.«

Julia und Agnes sahen sich an.

»Müssten wir den kennen?«, fragte Agnes.

»Ihr kennt ihn beide. Es ist der Oberkellner aus dem ›Duschl-Bräu‹.«

»Du willst einen Kellner heiraten?«, rief Agnes. »Entschuldige, bitte, ich bin wirklich kein Snob und weiß, dass das ein ehrenwerter Beruf ist. Aber zu dir, Lizi, passt ein Kellner doch wie die Faust aufs Auge.«

Julia hatte sich indessen bemüht, sich an den Oberkellner, den sie nie als Mann betrachtet hatte, zu erinnern. »Er ist aber doch sehr nett«, sagte sie, merkte selber, dass es lahm klang und fügte hinzu: »Sehr tüchtig und vertrauenerweckend, und Humor hat er auch.«

»Danke, Julia«, sagte Lizi.

»Du und ein Kellner!«, wiederholte Agnes. »Ausgerechnet du! Du wolltest doch immer so hoch hinaus.«

»Jetzt komm mir bloß nicht damit, dass ich mal Miss Dingsbums war. Das ist so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist. Aber es stimmt schon, ich habe immer versucht, aus meinem Leben etwas zu machen. Allein habe ich es eben nicht geschafft. Die Boutique war ja nie ein großes Geschäft, das wisst ihr so gut wie ich. Alles Kleinkleckerkram. Und gesellschaftlich hänge ich als geschiedene Frau mit Gelegenheitsbekanntschaften hier in Eysing schwer daneben.«

»Und du bildest dir ein, wenn du diesen Kellner heiratest, wird das anders werden?«

»Er muss ja nicht immer Kellner bleiben.«

»Er will sich selbständig machen?«, fragte Julia.

»Du hast es erfasst. Wir wollen uns selbständig machen«, erwiderte Lizi und betonte das ›wir‹. »Wir haben schon eine Lokalität gefunden, die Kneipe bei der ›Alten Mühle‹ … es ist eine Bruchbude, ich weiß, wir müssen allerhand hineinstecken, aber wir haben schon einen Vertrag mit einer Brauerei.«

»Gratuliere, Lizi!«, sagte Julia. »Das ist eine fabelhafte Neuigkeit!«

»Und woher nehmt ihr das Geld?«, wollte Agnes wissen. »Karl hat Ersparnisse, und ich werde meine Wohnung verkaufen … die brauche ich ja dann nicht mehr … und auch das Geschäft. Wäre das nicht übrigens etwas für dich, Julia? Du weißt doch inzwischen, wie der Hase läuft.«

Julia überlegte. Der Gedanke, die Boutique selbständig zu führen, war einen Augenblick lang verlockend. Aber sie wollte gerade jetzt keine Verpflichtung eingehen. »Nein, danke, Lizi«, sagte sie, »aber lieb, dass du an mich gedacht hast.«

»Und was ist mir Leonore?«, forschte Agnes. »Sollte sie die Boutique nicht übernehmen? So war es doch immer geplant.«

»Sie hatte doch nie wirklich Spaß daran. Warum soll ich sie zu ihrem Glück prügeln? Leonore kann tun und lassen, was sie will.« Als die Freundinnen schwiegen, fügte sie verteidigend hinzu: »Außerdem hat sie mehr davon, später ein gut gehendes Restaurant zu erben als eine mäßig florierende Boutique.«

»Das ist dein Bier!«, sagte Agnes friedfertig. »Aber was wird aus unseren Skatabenden?«

»Die werde ich bestimmt nicht aufgeben, verlasst euch drauf. Wir werden sie auf einen anderen Tag verlegen müssen, weil ich am Wochenende wahrscheinlich Hochbetrieb haben werde … so hoffe ich wenigstens.«

»Viel Glück, Lizi!«, sagte Julia.

»Da kann ich mich nur anschließen!«, rief Agnes. »Das muss gefeiert werden! Ich hoffe doch, du hast eine Flasche Champagner im Haus?«

»Extra für diese Gelegenheit beschafft. Sie wartet im Kühlschrank.«

»Dann also … her damit!«

Lizi holte die Flasche, und Agnes, die sich in ihrer Wohnung auskannte, die Gläser. Lizi löste den Korken mit einem sanften »Plopp«, schon ganz in der Rolle der routinierten Wirtsfrau, und füllte die Gläser mit der prickelnden Köstlichkeit. Sie stießen miteinander an und tranken, die Stimmung wurde ausgelassen, wenn auch ein wenig hektisch. –

Als Agnes und Julia dann im Kast’schen Firmenwagen nach Hause fuhren – früher als gewöhnlich, denn zum Spielen war es nicht mehr gekommen – sagte Agnes: »Ich freue mich für die gute Lizi …«

»Aber?«

»Vielleicht geht ja auch wirklich alles gut, nur … ich habe ein sonderbares Gefühl.«

»Es ist sicher ein Wagnis, auf das sie sich da einlässt. Sie hat es ja nicht direkt gesagt, aber ich nehme an, dass sie alles, was sie besitzt, in dieses Unternehmen ‘reinsteckt … und wenn’s dann kein Erfolg wird, sitzt sie ohne einen Pfennig da.«

»So weit habe ich gar nicht mal gedacht.«

»Was bedrückt dich dann?«

»Nur so ein Gefühl … wie gesagt, als wenn alles auseinanderbräche.«

»Nur weil Lizi heiratet? Unsinn.«

»Nicht nur! Dein Dieter hat sich inzwischen auch aufbieten lassen … Seine kleine Apothekenhelferin hat es also geschafft.«

»Das berührt mich überhaupt nicht mehr. Von mir aus sollen sie glücklich werden.«

»Hoffentlich.«

»Warum bist du auf einmal so pessimistisch?«

»Ich weiß es selber nicht. Mir ist, als wenn ihr alle von mir fortstrebtet … auch du, Schätzchen.«

Julia wusste, dass dies das Stichwort war, auf das sie von ihrer Begegnung mit Johannes Herder hätte erzählen sollen. Vielleicht ahnte Agnes sogar schon etwas, wahrscheinlich sogar, denn es musste ihr aufgefallen sein, dass Julia von ihrem Ausflug nach München so wenig geredet hatte.

Aber Julia brachte es nicht fertig, sich der Freundin anzuvertrauen. Sie hatte diesmal nicht den Wunsch sich auszusprechen, wusste, dass sie weder gutgemeinte Ratschläge noch Warnungen hören wollte.

So beugte sie sich denn zu ihr hin und küsste sie leicht auf die Wange. »Sei nicht traurig, Agnes … Wir werden dich immer lieb haben.« Dabei kam sie sich ein wenig wie eine Verräterin vor.

Als Agnes das Auto vor dem Haus in der Akazienallee einparkte, blickte Julia zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf. Sie waren dunkel, Roberta schlief also wohl schon oder hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Es versetzte ihr einen leichten Schock, dass sie das als Erleichterung empfand.

Mitten in der Nacht schrillte das Telefon.

Julia brauchte Zeit, sich zurechtzufinden. Sie blickte auf das Leuchtblatt ihres Weckers – es war drei Uhr früh.

Das Telefon klingelte immer noch.

Sie machte Licht, fuhr in ihre Hausschuhe und hastete in die Diele. Als sie den Hörer abnahm und sich meldete, glaubte sie nichts anderes, als dass sich jemand verwählt haben müsste, ein Betrunkener vielleicht, und sie kämpfte darum, sich ihren Ärger nicht zu deutlich anmerken zu lassen.

Aber es war ein Ferngespräch aus New York.

Roberta erschien auf der Schwelle, schlaftrunken und mit bloßen Füßen. »Was is’n los?«, fragte sie verschwommen. Julia hielt die Muschel zu. »Geh zu Bett, Liebling!« Roberta wich nicht von der Stelle.

Es waren Geräusche in der Leitung, eine helle Frauenstimme, die etwas in englischer Sprache sagte, das Julia nicht verstand, und dann plötzlich hörte sie Johannes Herder, so deutlich, als riefe er vom Ort her an.

»Julia«, sagte er, »Julia …«

»Du?«

»Kannst du mich verstehen?«

»Ganz deutlich.«

»Wundervoll. Ich dich auch. Hast du meinen Brief gekriegt?«

»Nein.«

»Er muss in den nächsten Tagen kommen.«

»Ja, Hans, ja …«

»Ich muss dauernd an dich denken!«

»Ich auch!« Julia sah zu Roberta hin, machte eine Handbewegung, um sie zu verscheuchen, aber das nutzte nichts; das Mädchen beobachtete sie jetzt mit wachen Augen, und es war ihr anzumerken, wie sehr sie die Ohren spitzte.

»Ich habe Sehnsucht nach dir!«, kam es aus New York.

»Ja, Hans!«

»Du bist nicht allein?«

»Ja.«

»Sag es trotzdem, trau dich! Sag: Ich habe Sehnsucht nach dir.«

»Ich habe schreckliche Sehnsucht nach dir!«

»So ist’s gut! Und wie war die Wirkung?«

Julia blickte zu der Stelle hin, wo Roberta eben noch gestanden hatte. Das Mädchen war verschwunden.

»Sie hat sich auf dem Absatz umgedreht.«

»Sehr gut. Ich liebe dich, Julia!«

Weil sie sich plötzlich bedrängt fühlte, konnte sie nichts anderes sagen als: »Wie schön!«

»Julia!«

»Verzeih mir, Hans, das hat vielleicht ein bisschen sarkastisch geklungen … aber bei mir geht es nicht so schnell. Du musst Geduld mit mir haben.«

»Ist ja schon gut, Julia, ich weiß schon. Ich hab dich ja aus dem Bett geklingelt.«

»Ja. Aber es macht nichts. Ich bin froh, deine Stimme zu hören.«

»Ich konnte nicht früher. Hier ist es jetzt neun Uhr abends.«

»Weißt du schon, wann du zurückkommst?«

»Nicht so bald. Es gibt da einige Schwierigkeiten …«

»Schade!«, sagte sie, und da sie selber merkte, dass es sehr enttäuscht geklungen hatte, fügte sie rasch hinzu: »Aber es macht nichts. Wir haben ja noch ein halbes Leben vor uns.«

»Ich muss jetzt Schluss machen, Julia! Da sind einige Burschen, die …«

»Schön, dass du angerufen hast!«

»Ich liebe dich, Julia, ich …«

Und dann war das Gespräch unterbrochen.

Julia fühlte sich glücklich und doch auch wie ausgepumpt; es war ihr, als wäre alles Wichtige ungesagt geblieben.

Am nächsten Morgen, bei einem späten Frühstück, sagte Roberta: »Ziemlich rücksichtslos, so spät in der Nacht anzurufen, findest du nicht auch?«

»Nein. Ich bin froh, dass er es getan hat.«

»Dir hat’s den Verstand vernebelt, das habe ich schon gemerkt.«

Julia schwieg, denn sie hatte weder Lust, sich zu verteidigen noch zu entschuldigen.

Sie schenkte sich gerade die zweite Tasse Kaffee ein, als es an der Haustür klingelte.

»Die ›Abendzeitung‹!«, sagte Roberta. »Ich spring gleich mal ‘runter.«

Die »Münchner Abendzeitung« kam täglich mit der Post, und sie pflegten sie samstags, wenn Roberta keine Schule hatte, beim Frühstück zu lesen. Diesmal aber brachte das Mädchen außer der Zeitung und einem kleinen Stoß Drucksachen einen Brief hinauf, den sie der Mutter hinwarf. Er steckte in einem Luftpostumschlag und war in New York abgestempelt. Julia betrachtete ihn flüchtig und legte ihn beiseite. »Na, was gibt’s Neues?«, fragte sie und streckte die Hand nach der Zeitung aus.

»Willst du ihn denn nicht lesen?«

»Nicht jetzt, Robsy.«

Roberta, die sich gerade erst niedergelassen hatte, sprang auf. »Ich störe wohl?«

»Ich möchte mich in Ruhe damit befassen!«

»Die sollst du haben!« Roberta stürzte aus der Küche und schmetterte die Tür ihres Zimmers hinter sich zu.

Julia öffnete den Umschlag dennoch nicht, sondern zwang sich, die Zeitung zu lesen, wenn sie auch schon im nächsten Augenblick nicht wusste, was sie eigentlich gelesen hatte. Wie sie es nicht anders erwartet hatte, war Roberta wenige Minuten später wieder zurück und warf einen lauernden Blick auf Julia und den immer noch verschlossenen Umschlag. »Ja, Robsy?«, fragte Julia ohne aufzugehen.

»Ich gehe jetzt!«, verkündete das Mädchen. »Bist du zum Essen zurück?«

»Was denn sonst?«

»Dann bis später.«

Julia wartete, bis die Wohnungstür hinter ihrer Tochter ins Schloss fiel, stand auf, lief, den Brief in der Hand, in Ralphs Zimmer, beobachtete die Straße und vergewisserte sich, dass Roberta tatsächlich abzog. Dabei kam sie sich ziemlich lächerlich vor, aber sie wollte diesen Brief für sich allein haben und auf keinen Fall über seinen Inhalt Auskunft geben müssen. Doch jetzt konnte sie keine Sekunde länger warten, riss den Umschlag, noch am Fenster stehend, auf und nahm die dünnen Bögen heraus.

»Geliebte Julia«, las sie, »wie traurig, dass Du nicht bei mir bist! Tagsüber könntest Du durch New York bummeln – eine Stadt, die Dich sicher faszinieren würde! – und abends wären wir zusammen. Wir könnten ins Ballett gehen oder in eines der zahlreichen Musicals, oder wir würden einfach auf dem Zimmer bleiben und eines der Fernsehprogramme genießen; zusammen würde es bestimmt Spaß machen, aber allein ist es eine traurige Angelegenheit.

So hocke ich Abend für Abend mit einigen Burschen von der Crew zusammen, die auch nicht hier zu Hause sind, wir saufen, quatschen und – was noch schlimmer ist – pokern. Jeden Morgen erwache ich mit einem dicken Kopf und schwöre mir, nicht wieder mitzumachen. Aber dann läuft’s doch wieder aufs Gleiche hinaus. Was tut ein Mann ganz allein in New York?

Ich sehne mich nach Dir. Du willst nicht hören, dass ich Dich liebe – aber so ist es eben. Ich kann Dir nicht schwören, dass es ewig so bleiben wird – so viel Vertrauen habe ich nicht mehr zu meinen Gefühlen – aber heute und hier und jetzt liebe ich Dich.

Wie es mit uns weitergehen soll, weiß ich nicht. Unentwegt schmiede ich Pläne und verwerfe sie wieder. Meine Wohnung in München – eine Maisonette in der Amalienpassage – ist zu klein für zwei Personen, von denen eine – ich – arbeiten muss. Aber wir könnten sicher eine größere finden. Ich könnte auch zu Dir nach Bad Eysing ziehen – aber ich möchte Deinem Ruf nicht schaden. Und schließlich könnten wir auch heiraten, wenn es sein muss. Du bist jetzt vielleicht enttäuscht über dieses »Wenn es sein muss«. Aber es beweist nur meine Liebe. Ich habe seit jeher einen Horror vor der Ehe, aber Dir zuliebe würde ich es wagen. Alles ist besser, als Dich zu verlieren.

Da ich Dich kenne, meine liebe, süße, allzu vernünftige Julia, weiß ich, Du wirst jetzt denken: Der schlägt wieder ein Tempo ein! Warum kann er sich nicht damit begnügen, dass wir uns hin und wieder sehen? Warum lässt er den Dingen nicht einfach ihren Lauf?

Weil ich weiß, wie sie sich entwickeln werden, geliebte Julia: Ich werde schon bald nicht mehr damit zufrieden sein, Dich nur sporadisch zu sehen, und Du wirst, hoffe ich jedenfalls, genauso empfinden. Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!

Sei stark, geliebte Julia, sei stark um meinetwillen! Ich brauche Dich, aber ich werde Dich nicht auspressen und ausnutzen wie Deine Kinder – denen ich übrigens gar keinen Vorwurf daraus mache, denn Du hast es ihnen zu leichtgemacht und sie sind hundejung und damit egoistisch und rücksichtslos, und eigentlich ist das ihr gutes Recht, solange man es ihnen nicht verwehrt – ich weiß, dass ich Dir viel zu geben habe, einen ganzen Schatz von Liebe, der sich in meinem Herzen angehäuft hat und von dem ich bisher nur Bettelpfennige verteilt habe! Jetzt wartet er auf Dich, dass Du ihn ausschöpfst!

Also überlege mit mir, was aus uns werden soll. Stell Deine Forderungen – keine wird mir zu hoch sein!

Ich liebe Dich, liebe, liebe Dich! Hans.«

Die kräftigen, erst sehr sorgsam geschriebenen, später immer flüchtiger werdenden Zeilen in einer schönen, männlichen Schrift mit starken Unterbögen verschwammen vor Julias Augen. Tränen flossen ihr die Wangen herab, während sie gleichzeitig lächelte – über diese stürmische Werbung, über dies Bekenntnis einer Liebe und über ihre eigene schulmädchenhafte Ergriffenheit.

Sie rieb sich mit der Hand über die Augen, suchte vergeblich nach einem Taschentuch, nahm ihren Ärmel zur Hilfe und las den Brief wieder und wieder; sie konnte ihn nicht aus der Hand legen.

Am Sonntagmorgen erschien Ralph, unangemeldet, aber nicht unerwartet. Julia hatte damit gerechnet, dass Roberta ihn alarmieren würde, um sie von ihrer »Dummheit« abzubringen.

Er tat harmlos, küsste Mutter und Schwester zärtlich und versucht zunächst, den wahren Grund seines Kommens zu verschleiern. »Mir ist eingefallen, dass Robsy nächste Woche siebzehn wird! Ich dachte, wir sollten mal zusammen überlegen, wie wir das feiern wollen!«

»Soll das heißen, dass du dabei sein willst?«, fragte Julia. »Welch unverhoffte Ehre!«, spottete Roberta. »Je nachdem, was ihr vorhabt. Oder«, forschte er scheinheilig, die Lider mit den langen, seidigen Wimpern gesenkt, »bist du an diesem Tag etwa verhindert, Julia? Dann würden Robsy und ich …«

»War ich jemals an einem eurer Geburtstage verhindert?«, fragte Julia scharf.

»Nein! Aber wie ich höre, hat sich die Situation inzwischen geändert. Könnte ja sein, dass …«

»An Robsys Geburtstag würde ich niemals etwas anderes vorhaben.«

»Das beruhigt mich. Wie wäre es dann mit einem festlichen Dinner in München? Ihr wisst ja, dass ich tagsüber arbeiten muss und deshalb …«

»Das können wir später besprechen!«, unterbrach Julia ihn. »Es ist mir sehr lieb, Ralph, dass du dich heute zu uns bemüht hast. Ich habe dir nämlich einiges zu sagen.«

»Aha!« Sie waren in das Wohnzimmer gegangen, Ralph warf sich in den bequemsten Sessel und streckte die langen Beine aus. »Also, lass hören! Aber ich warne dich.«

»Wovor?«, fragte sie überrascht.

»Dich nicht vor uns lächerlich zu machen. Wir sind beide ziemlich erwachsen … Also komm uns nicht mit Liebe, Verliebtheit und all solchem Quatsch!«

»Das hatte ich auch nicht vor.«

»Gut so. Du weißt, wir verzeihen dir alles, aber wir könnten es wohl kaum vergessen, wenn du jetzt die …« Er stockte und sagte: »Eine komische Rolle übernehmen würdest.« Sie erriet, was er hatte sagen wollen: »Die komische Alte spielen würde, meinst du wohl.«

»So hart wollte ich es nicht ausdrücken.«

»Aber du hast es so gemeint. Jetzt pass einmal auf, mein lieber Junge: Mit meinen Gefühlen, Hoffnungen und Wünschen will ich euch gar nicht belämmern, denn die gehen euch nichts an. Ich möchte nur eines klarstellen. Vor ein paar Monaten hast du verkündet, dass du möglicherweise wieder bei uns einziehen willst, und ich, in meiner mütterlichen Blindheit, habe dem zugestimmt. Roberta hat mir damals gleich gesagt, dass ich verrückt bin, und sie hatte recht. Ich nehme also hiermit mein Einverständnis zurück. Du kannst natürlich jederzeit hier wohnen, Ralph, und ich bin auch bereit, dich zu bekochen, denn auf ein Essen mehr oder weniger kommt es ja nicht an … Aber um deine Wäsche kümmerst du dich gefälligst selber oder besorgst dir jemand, der sie macht. Waschmaschine und Bügeleisen stehen dir selbstverständlich zur Verfügung.«

»Hört, hört!«

»Das Gleiche gilt auch für dich, Robsy! Da du noch Schülerin bist, verlange ich von dir natürlich kein Wohngeld … aber deine Sachen hältst du von nun an selber in Ordnung. Ich weiß, du hast dir hin und wieder mal eine Bluse gebügelt, und ich war jedes Mal schwer begeistert … Aber ab sofort werden wir aus der Ausnahme eine Regel machen. Ich bin nicht da, um dich zu bedienen … das gilt auch vom Putzen deines Zimmers, des Bades und des Klos.«

»Dann komme ich nicht mehr zum Lernen!«

»Auch recht. Deine Mittlere Reife hast du ja. Geh von der Schule und such dir einen Beruf … wenn du glaubst, dass dir dann mehr Zeit für den Haushalt bleibt.«

»Aber, Julia«, sagte Ralph betroffen, »was sind das für Töne!«

»Ich hätte sie längst anschlagen sollen. Du hast ganz recht, Ralph, ihr seid beide inzwischen ziemlich erwachsen … viel zu erwachsen, um euch noch von mir bedienen zu lassen.«

»Dieser Mann muss ein wahrer Teufel sein!«

»Er hat damit gar nichts zu tun.«

»Erzähl uns doch so was nicht! Robsy sagt, dass er ein paar Jahre jünger ist als du. Ist dir nicht klar, dass er dich nur ausnehmen will!«

»Du hast keine Ahnung.«

»Bildest du dir ein, er wird dich heiraten? Und wenn … wirst du wirklich so blöd sein, darauf einzugehen? Auf deine schöne Pension verzichten und dich diesem Kerl ausliefern?«

»Das, lieber Ralph, steht hier gar nicht zur Debatte. Es geht nur um mein Verhältnis zu euch. Ich habe es einfach satt, mich von euch ausnutzen zu lassen.«

»Aber wir haben dich doch lieb!«, rief Roberta.

»So lieb, dass ihr mir nicht die Luft zum Leben lasst. Ihr behandelt mich wie eine Schwachsinnige. Am liebsten würdet ihr den Schlüssel abziehen, wenn ihr geht. Ihr sucht euer Glück … dagegen ist nichts einzuwenden … aber ich soll währenddessen treu und brav auf meinem Platz sitzenbleiben und auf euch warten … für den Fall, dass ihr mich wieder braucht.«

»Du hast ja eine Meise«, sagte Ralph.

»Nenn es, wie du willst. Auf alle Fälle habe ich es satt, bis an mein Lebensende nur noch Mutter zu sein. Ich war es lange genug, aber jetzt genügt es mir nicht mehr. Ich weiß, in euren Augen bin ich eine alte Frau. Aber ich bin es nicht. Bloß … wenn ich so weitermache, werde ich wirklich ganz rasch alt sein. Dann wird mir nichts mehr bleiben als euer Mitleid und eure Nachsicht und … vielleicht, aber auch nur sehr vielleicht … eure Dankbarkeit. Ihr werdet mir eure Kinder bringen, wenn sie euch im Wege sind, und ich darf dann auf sie aufpassen. Aber das genügt mir nicht.«