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Ralph G. Kretschmann

Nicht alle Toten schweigen

Das Erbe des Likedeeler

Edel Elements

Prolog

Das Flämmchen seiner Öllampe flackerte. Kleine Rußflocken stiegen auf. Nicht mehr lange und es würde erlöschen. So wie sein Leben. Er tauchte den Federkiel in die Tinte und schrieb mit geübten Fingern weiter. Er musste fertig werden, bevor das Licht erlosch! Er besaß kein Öl zum Nachfüllen. Wenn die Lampe erlosch, dann kam die endlose Dunkelheit. Die Feder kratzte über das raue Papier. Irgendwann würde man ihn finden und dann sollte man lesen können, wer diese schändliche Tat begangen hatte. Sie sollten nicht ungestraft davonkommen! Dummes Pack! Goldgierig wie alle Menschen! Verflucht sollten sie sein! All das Wissen, all die Weisheit, die sie zurückgewiesen hatten!

Schnell, schreib auf, was sie getan haben! Schreib, schreib! Ein letztes Mal zuckte das Flämmchen hoch, wie ein leidendes Tier, dann zog es sich in seine tönerne Hülle zurück und erstarb. Er ließ den Kiel sinken und schloss seine Augen. Er brauchte sie nicht mehr. Die Dunkelheit würde nicht mehr weichen. Einige Stunden nach dem Licht starb auch er. Das Kinn sank ihm auf die Brust und der Federkiel entglitt den toten Fingern.

1

Ein kalter Wind trieb Papierfetzen über den leeren Kai und sammelte sie in den Ecken der zerbröckelnden Betontreppe, auf der ein Löwenzahn Wurzeln geschlagen hatte. Noch vor wenigen Jahren hatten in diesen Häfen die großen Überseedampfer angelegt und ihre Ladung gelöscht, aber jetzt herrschten die Ratten über die Docks, und Wind und Wetter nagten an den Gebäuden und Kaianlagen.

Das ganze Gelände war verlassen und leer. Überflüssig wie die Leute, die hier gearbeitet hatten. Werner Graf schlug den Kragen seiner Cabanjacke hoch und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette. Die Kippe war so kurz geraucht, dass jeder weitere Zug ihm die Fingerspitzen verbrennen würde. Er schnippte den Rest der Zigarette in eine Pfütze. Zischend verlosch sie.

Er war hier Kranführer gewesen. 32 Jahre lang. Dann hatte der Betrieb Pleite gemacht und er saß auf der Straße. Mit seinen 56 Jahren fühlte er sich noch lange nicht dem alten Eisen zugehörig, aber einen Job bekam er trotzdem nicht. Zu alt. Lächerlich.

Er war jetzt Frührentner. Werner Graf hatte nie darüber nachgedacht, was er mit seiner Zeit anfangen würde, wenn er sein Berufsleben beendete. Er hatte immer gedacht, dass diese Entscheidung noch lange nicht anstehen würde, und dann war sie von einer Sekunde auf die andere da.

Die Lichter von Blohm+Voss strahlten durch die Nacht von der anderen Elbseite herüber und tauchten die ganze Gegend in ein fahles gelbes Licht. Genug, dass Graf nicht ins Stolpern kam. Er stieg über Betontrümmer hinweg und kletterte unter dem Zaun durch, der das Gelände absperren sollte, aber seinen Zweck in keiner Weise erfüllte. Werner Graf schob die Hände in die Taschen des wollenen Cabans und trottete am Ufer der Elbe entlang in Richtung auf den Grasbrook zu. Hafencity hieß das jetzt. Dahinter, auf der Spitze des Kaiserkais, bauten sie die neue Staatsoper. Elbphilharmonie nannte sich das. Was für ein Blödsinn! Ausgerechnet eine Oper! Einen Musikklub mehr könnte die Stadt sicher noch brauchen, aber eine Oper? Und für so eine Summe? Das Ding kostete mehr, als Graf sich auf einem Haufen vorstellen konnte.

Wenn es wenigstens schön gewesen wäre! Aber er hatte die Entwürfe in einer Sendung im Dritten gesehen. Stahl und Beton. Neumodischer Mist.

Werner Graf wohnte in seiner kleinen Altbauwohnung in der Hein-Hoyer-Straße schon seit fast 30 Jahren. Ein Jugendstilbau mit einem Medusenhaupt über dem Eingang und geschnitzten Türen. In den Zimmern prangte Efeustuck unter den Decken und die Türgriffe waren aus Holz. Das war in seinen Augen Stil, nicht diese moderne Betongießerei.

Er bog aus dem Grasbrook nach links in die Straße Am Kaiserkai ein und die Baustelle der Oper kam in Sicht.

Werner Graf drehte sich gegen den Wind und fingerte eine neue Zigarette aus der fast leeren Packung. Das Einwegfeuerzeug flammte auf und er sog den Rauch ein.

Das Blatt klatschte ihm mitten ins Gesicht, als er sich umdrehte, um seinen Weg fortzusetzen. Seine Hand fuhr hoch und zog das Papier von den Augen fort. Fast wäre seine Brille heruntergefallen. Na danke, ohne Sehhilfe den ganzen Weg zurück! Ohne seine Brille war er nahezu hilflos. Graf schob das Gestell auf der Nase zurecht und warf einen Blick auf den Fetzen in seiner Hand. Er wollte ihn schon weiter dem Wind überlassen, aber das Papier fühlte sich seltsam zwischen den Fingern an. Dicker als normales Schreibmaschinenpapier. In einer altertümlichen Schrift war etwas darauf geschrieben. Eng schoben sich Reihen eleganter Buchstaben über das vergilbte Dokument. In der Schule hatte er Sütterlinschrift gelernt, und diese Schrift sah dem Sütterlin ähnlich, aber Werner Graf konnte sie nicht entziffern. Er faltete das Blatt zusammen, wobei er bemerkte, dass das Papier keine Knicke aufwies. Es schien vorher noch nie gefaltet worden zu sein.

Er schob das gefaltete Blatt in die Innentasche seiner Cabanjacke.

In der Ferne heulten Sirenen. Polizei und Feuerwehr. Die Einsatzfahrzeuge kamen näher. Er drehte sich um und sah die Lichter den Grasbrook herauf auf sich zukommen. Er trat an den Straßenrand, da raste schon der erste Polizeiwagen mit heulender Sirene, die in den Ohren schmerzte, an ihm vorbei, gefolgt von einem Krankenwagen und einem Feuerwehrfahrzeug. Kein Löschfahrzeug, sondern eines der kleineren Modelle. Sie hielten an der Baustelle der Elbphilharmonie und sofort sprangen die Freunde und Helfer aus den Wagen und rannten in den Bau hinein.

Langsam ging Werner Graf weiter. Am Ende des Kais führte eine Brücke hinüber zum Sandtorkai und von da kam man über die Kehrwiederspitze zur U-Bahn-Haltestelle Baumwall. Der Wind kam noch immer von vorn und trieb einen feinen Sprühregen vor sich her. Verflucht, jetzt regnete es auch noch. Dabei hatte NDR 3 einen trockenen Abend vorhergesagt …

Mit gesenktem Kopf ging Graf weiter. Den Mann, der auf ihn zugerannt kam, sah er erst im letzten Moment. Schnell sprang er zur Seite, sonst wäre der blasse, dürre Kerl glatt in ihn hineingerannt. Die Augen des anderen blinzelten und Tränen rannen ihm über das Gesicht.

„Kann ich helfen?“

Graf zog seine Hände aus der Jacke und breitete die Arme aus, aber der andere lief weiter. Ein kurzes Schluchzen, dann verschluckte ihn die Dunkelheit des Hafens. Graf schüttelte den Kopf und ging weiter.

An der Baustelle musste er rechts herum, um zum Sandtorkai zu kommen.

Die Sanitäter trugen eben eine Bahre heraus. Die Decke, die sie über den Körper auf der Trage gelegt hatten, verhüllte auch das Gesicht. Große, feuchte dunkle Flecken zeichneten sich auf ihr ab. Was da unter dem Stoff lag, bot sicher keinen schönen Anblick. Ein Arbeitsunfall? Graf hob den Blick und schaute zur oberen Kante des Bauwerks hinauf. Das war ein ganzes Stück zu tief, um einen Sturz zu überleben. Hatte der Kerl, der ihn beinahe umgerannt hätte, den Toten gekannt?

Werner Graf ging weiter. Hinter ihm wurden Wagentüren zugeworfen. Mit eingeschaltetem Blinklicht, aber ohne Sirenen fuhren die Einsatzfahrzeuge ab.

Graf stieg am Baumwall in die U3 und fuhr bis St. Pauli. Das Heiligengeistfeld lag verlassen da und er kam ungehindert quer über den Platz zur Fußgängerampel. Er ging die Clemens-Schultz-Straße entlang und nahm sich wieder einmal vor, nachzuschlagen, wer zum Henker dieser Clemens Schultz gewesen war. Nach ein paar Metern stand er vor dem Eingang seines Wohnhauses in der Hein-Hoyer-Straße und schüttelte sich die Wassertropfen von der Jacke. Seine Wohnung lag im fünften Stock und einen Aufzug gab es nicht. Aber das hält fit, sagte sich Graf und stieg klaglos die knarrenden Stufen hoch.

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Illu 1: Die alte Polizeiwache am Brooksfleet. Werner Graf geht über die Wilhelminenbrücke, die die Kehrwiederspitze mit der Straße Am Sandtorkai verbindet.

Seine Wohnung war klein, aber gemütlich. Auf drei Zimmer verteilte 24 Quadratmeter, die voller Poster von Grateful Dead, Pink Floyd und Deep Purple hingen, alle schön gerahmt und in der gleichen Höhe aufgehängt. Die Möblierung war eher spärlich, mit Ausnahme des Wohnzimmers. Bücherregale, eine gewaltige Stereoanlage, ein kleiner Fernseher, der an den Verstärker angeschlossen war. Und eine Menge kitschiger Engel. Zu Dutzenden hingen bronzene, irdene, hölzerne und einige aus Porzellan in allen Größen und Formen an einer Wand, aber alle waren mehr oder weniger vergoldet.

Graf hängte die nasse Jacke sorgfältig auf ihren Bügel und zog sie gerade, damit der Wollstoff des Cabans keine Beulen bekam. Es war noch kaum halb zehn Uhr abends. Im Fernsehen liefen die üblichen Samstagabend-Sendungen. Auf Gottschalk und Konsorten hatte Graf noch nie Lust gehabt. Er setzte einen Kessel auf den Gasherd und holte die Flasche Rum aus dem Schrank. Hinter den geschwungenen Scheiben der Seitenfächer bewahrte er seine Alkoholika auf. Der 70-Prozentige ergab mit heißem Wasser und einem Löffel Zucker einen hervorragenden Grog, der die Wärme in seine ausgekühlten Füße zurückbringen würde.

Graf schlurfte auf Socken in den Flur, zog das Papier aus der Innentasche des trocknenden Cabans und ging dann ins Wohnzimmer. Ein wohlüberlegter Griff in die CD-Sammlung lieferte die passende Musik. Mit der Fernbedienung und dem Grog machte er es sich auf der kleinen Couch gemütlich, drehte sich eine Zigarette aus dem Halbschwarzen, den er in der Porzellandose auf dem Tisch aufbewahrte. Zu Hause rauchte er immer Selbstgedrehte. Das war zum einen billiger und zum anderen mochte er den Geschmack. Ein Druck auf die Fernbedienung und die CD lief an. Jethro Tull, Too Old to Rock ’n’ Roll: Too Young to Die!. Das passte zu seiner Stimmung. Er rauchte die Zigarette an und legte sie in den indischen Messingaschenbecher, nahm einen Schluck von dem heißen Grog und wendete sich dann dem Flugblatt zu, das er ins Gesicht bekommen hatte.

Er strich das Papier so glatt es ging und legte es vor sich auf die Tischplatte. Jetzt wollen wir doch mal sehen, was das ist! Papier war es jedenfalls nicht. Es hatte eher die Farbe und das Aussehen von Pergamin, diesem Backpapier, das seine Mutter immer auf die Bleche gelegt hatte, wenn sie zu Weihnachten ihre Zimtsterne gebacken hatte. Graf strich mit dem Finger über die samtig glänzende Oberfläche. Es fühlte sich aber anders an. Stumpfer, rauer. Nicht glatt und fettig wie Backpapier.

Er fand es auch sehr verwirrend, dass das Papier oder Pergament oder was es nun auch immer war, nicht den Eindruck erweckte, es sei sehr alt.

Graf befeuchtete seinen Zeigefinger und tupfte auf die gräulich aussehende Tinte, mit der das Pergament beschrieben war. Sie löste sich nicht auf. Frische Tinte tat das aber, soweit er wusste. Die Schrift war schwungvoll und wohl mit einer breiten Feder geschrieben worden. Das erkannte er an den schmaler und breiter werdenden Strichen. Aber die Schrift selbst war das größte Rätsel. Das entsprach in nichts dem, was Werner Graf je zu Gesicht bekommen hatte. Er war Kranführer gewesen. Ein nicht ungefährlicher Job, der ein großes Maß an Verantwortung mit sich brachte. Ein Fehler mit einer tonnenschweren Last und unten gab es Verletzte oder gar Tote. Aber in den Zeiten zwischen den einzelnen Hebevorgängen, wenn er auf einen Laster warten musste, der Material brachte, oder wetterbedingt, gab es immer wieder genug Muße, um ein Buch zu lesen. Überhaupt war Graf immer eine Leseratte gewesen. Er hatte aber immer lieber irgendein Sachbuch gelesen als einen Roman. Da gab es Bücher über Physik, welche über Saurier, Bücher über den Dreißigjährigen Krieg, Napoleon, Alexander, den sie den Großen nennen, der aber auch nur ein Massenmörder war in den Augen von Grafs Vater. Bücher über untergegangene Kulturen fand Graf am faszinierendsten. Er hatte einmal ein Buch gelesen, das sich mit der Entwicklung der Schrift befasst hatte. Es war ihm in der Öffentlichen Bücherhalle mehr zufällig unter die anderen geraten und hatte sich als das interessanteste herausgestellt.

In dem Buch waren Abbildungen so ziemlich aller bekannten Schriften gewesen, und Graf hatte ein recht gutes Gedächtnis, aber er konnte die Schrift auf dem Bogen mit keiner in Verbindung bringen. Sie wirkte wie eine Mischung aus arabischen Schriftzeichen, hebräischer Flammenschrift und lateinischen Einsprengseln.

So kam er nicht weiter. Jemand musste helfen. Er trank den Grog aus und drückte den Rest seiner Zigarette in den Ascher.

Ian Anderson fiel der Fernbedienung zum Opfer und Graf griff zu seinem Telefon. Er hatte seinen Bruder schon lange nicht mehr angerufen, aber die Nummer musste sich noch im Adressbuch befinden. Er drückte auf „Heinz“. Es tutete, bis sich eine genervte Stimme am anderen Ende meldete.

„Graf!“, meldete sich die schrille Stimme von Heinz.

„Hier auch“, meldete er sich, wie immer, wenn er mit seinem Bruder telefonierte.

„Werner?“, fragte der sicherheitshalber zurück, als gäbe es da einen Zweifel. „Sag mal, weißt du eigentlich, wie spät es ist?“

„Halb elf rum, denk ich“, antwortete Werner Graf lapidar. „Du bist doch immer noch in der Verwaltung an der Uni, oder?“

„Noch drei Jahre bis zur Pensionierung, es sei denn, die Penner in Berlin erlassen noch ein paar Gesetze …“

Werner kannte diese Tiraden zur Genüge, nur dass sie in ihrer Jugend noch in Bonn gesessen hatten, diese Penner, von denen sein Bruder sprach.

„Du, ich brauch mal deine Unterstützung“, fuhr Werner Graf unbeirrt fort. „Ich hab hier heute so eine Art Schrift, die ich nicht lesen kann. Könntest du an der Uni mal fragen, ob sich das mal jemand ansehen könnte?“

„Wenn du es nicht lesen kannst, dann ist es vielleicht Französisch!“

Heinz hatte es nie verknust, dass sein kleiner Bruder einen Beruf auf dem Bau gewählt hatte, anstatt zu studieren.

„Je me parler français très bien, maintenant!“, sagte Werner und stellte sich das dumme Gesicht seines Bruders vor. „Ich war ein paar Monate auf der Abendschule und hab’s nachgeholt, n’est-ce pas! Und Spanisch ist es auch nicht, auch nicht Kyrillisch oder Arabisch oder sonst was … Es ist … anders.“

„Ja, gut, ich werde mich morgen mal umhören, wer so was macht. Ich denke, die Stubig ist da richtig. Macht irgendwas mit Sprachen. Ich werd mal nachfragen, ob sie sich deine Schrift ansieht.“

Sie wechselten noch ein paar Plattitüden und beendeten das Telefonat.

Werner Graf drehte sich eine letzte Zigarette und ließ Jethro Tull ihre Songs beenden, trank noch einen zweiten Grog und ging dann schlafen. Es dauerte eine Weile, bis es in seinem Kopf ruhig wurde. Immer wieder lief dieser weinende Mann gegen ihn und das Blatt flog ihm ins Gesicht.

2

„Nu is aber gut“, sagte der Wirt in der Glocke gutmütig. Der blasse Typ vor ihm am Tresen hatte grade den vierten Aquavit in einer Viertelstunde gekippt. „Mach mal ’n bisschen langsamer! Wie wäre es mit ’nem Wasser oder ’ner Cola zwischendurch?“

Der blasse Mann schüttelte den fast kahlen Kopf und sah ihn finster an.

„Ich hab vorhin gesehen, wie einer an der Philharmonie, da auf der Baustelle, wie der da ’n Kopfsprung hingelegt hat. Gib mir noch einen!“

„Au Scheiße!“, sagte der Wirt, und seine ohnehin tiefe Stimme sackte noch eine Oktave tiefer. „Habbich im Radio gehört. Selbstmord, oder was?“

Er schenkte dem Blassen nach und stellte gleich ein Glas für sich dazu.

„Darauf brauch ich auch einen.“

Sie kippten die Drinks und der Blasse bezahlte.

„Ich muss morgen früh hoch, geh jetzt besser. Schön’ Abend noch.“

Er stülpte sich die verblichene Baseballmütze über, die in seiner Collegejacke gesteckt hatte, und verließ das Lokal. Er hatte absichtlich diesen Laden gewählt, um sich ein paar Schnäpse zu genehmigen. Hier kannte ihn keiner. Die Isestraße lag weit weg vom Hafen und vom Kiez. Dort war er bekannt wie ein bunter Hund.

Es regnete, als der blasse Mann auf die Isestraße hinaustrat. Er zog den Schirm der Mütze tief ins Gesicht und schlug den Weg zum Grindel ein. Ein Fußmarsch würde seinen Kopf wieder klar machen. Der Schreck saß ihm immer noch tief in den Knochen. Er war nur einen Meter von dem Mann entfernt gewesen, als dieser über die Brüstung stürzte. Aber er hatte nichts tun können. Alles war viel zu schnell gegangen. Und dieses verdammte Dokument hatte er auch nicht bekommen. Es war mit hinuntergefallen und nicht mehr auffindbar gewesen.

Das war verdammt noch mal der erste Tote, den er in seinem Leben gesehen hatte, und der Anblick war nicht sehr angenehm gewesen. Und dann waren die Bullen gekommen und er hatte Leine gezogen und war in diesen bulligen Schlägertypen reingerannt. Ehe er sich entschuldigen konnte, hatte er schon eine Ladung Tränengas im Gesicht und das Wasser lief ihm aus allen Knopflöchern. Seine Augen brannten noch immer, aber er wusste, dass er Glück gehabt hatte. Das Spray hatte ihn nicht genau in die Augen getroffen, sonst wäre er jetzt im Krankenhaus.

Was ihn ärgerte, war vor allem anderen, dass er das Pergament nicht hatte. Lockmann wollte das Ding haben und hatte ihn beauftragt, es dem Mann abzunehmen, der abends an einer bestimmten Stelle auftauchen sollte. Das Dumme war, dass der Typ sich das Pergament nicht abnehmen lassen wollte.

Der Mann wirkte wie ein Gelehrter, trug einen dunklen Mantel und teure Schuhe, aber er rannte wie ein Sportler. Und er hinterher. Ohne Kondition und mit etlichen Kilo zu viel auf den Rippen. Der einzige Grund, warum er dem Mann auf den Fersen blieb, war die Aussicht auf 5000 Euro. So viel wollte Lockmann ihm zahlen, wenn er ihm das Pergament brachte.

Der Kerl mit dem Pergament rannte auf die Baustelle der Elbphilharmonie und versuchte, ihn dort abzuhängen. Ihm hing die Zunge aus dem Hals, aber er blieb dran.

Und als er den Kerl in die Enge gedrängt hatte, ziemlich weit oben schon, da fiel der Idiot über die Kante. Hatte nicht aufgepasst, wo er hintrat, versuchte noch, sich an einer Latte festzuhalten, aber die gab nach und dann ging es abwärts …

Er hatte beim Gehen seinen Gedanken freien Lauf gelassen, aber das brachte ihn nicht weiter. Er musste zu Lockmann, der wartete auf ihn. Am Schlump stieg der durchnässte Blasse in die U-Bahn und fuhr die letzten Stationen bis Feldstraße.

Den dunkel gekleideten Kerl, der ihm folgte, als er aus der U-Bahn-Station herauskam, bemerkte er nicht. Zu sehr war er in seine Gedanken vertieft. Der Dunkle folgte dem Blassen über die Straße und ging Richtung Neuer Pferdemarkt hinter ihm her. Dann bogen sie in die verlassene Sternstraße ein. Der Dunkle beschleunigte seine Schritte und trat von hinten an den Blassen heran. Er griff ihn an der Collegejacke, riss ihn nach hinten und schnitt ihm mit einer schnellen, kraftvollen Bewegung die Kehle durch. Sofort trat der Dunkle einen Schritt zurück und stieß sein röchelndes Opfer mit dem Fuß zu Boden.

Der Blasse gurgelte noch einen Moment mit rotem Schaum in der klaffenden Halswunde, dann brach sein Blick. Mit verdrehten Gliedern und brechenden Augen sackte er in sich zusammen.

Der Dunkle beugte sich über den Toten und durchsuchte seine Kleidung. Er suchte sehr gründlich.

Als er sich aufrichtete, kam nur ein einzelnes Wort über seine Lippen.

„Scheiße!“

Er klappte das Rasiermesser zusammen, schob es in seine Manteltasche und ging mit eiligem Schritt davon. Niemand hatte mitbekommen, was geschehen war.

Den Toten würde erst ein betrunkener Punker finden, der die Polizei rief, nachdem er dem Toten sein Bargeld abgenommen hatte. Der würde es wohl eh nicht mehr brauchen.

3

Vielleicht war es die fehlende Sonne. Seit Wochen hing eine graue Wolkendecke über dem Land. Man hatte zwar den Eindruck, sie bewege sich, mal nach Osten, dann nach Westen, ab und an nach Süden, selten in nördliche Richtung. Jonas Hansen hoffte es. Seit Jahren hatte er keine melancholischen Anfälle gehabt, und er hoffte, dass das auch so bleiben würde. Früher, in seiner Jugend, hatte er oft unter ihnen gelitten. Nach der Pubertät hatten sie nachgelassen, und seit er die 30 überschritten hatte, waren die depressiven Phasen fast gänzlich ausgeblieben. In den 40 Jahren seither hatte er nur drei oder vier solcher Zeiten erleben müssen. Und bei einer war er sich nicht sicher. Der Tod seiner Frau hatte ihn mitgenommen, aber war das nicht normal? Hätte in solch einer Situation nicht jeder Depressionen bekommen?

Hansen starrte auf das Meer hinaus. Sein kleines Häuschen stand oben auf der Deichkrone und von hier aus hatte er einen freien Blick über die Weite der Nordsee. Dieses verdammte Meer! Er liebte und er hasste es. Schon immer.

Als Kind hatte er den Strand geliebt. Besonders die Tage im Frühjahr und im Herbst, wenn heftige Stürme alle möglichen interessanten Dinge am Ufer abluden. In seinen schwarzen Gummistiefeln war er dann über den Sand und das nahe Watt getobt und hatte eingesammelt, was ihm sammelnswert erschien, und das war nicht wenig. Er hatte eine ganze Sammlung von Rettungsringen, Bojen und Schwimmern gehabt.

Dann hatte er die Leiche gefunden. Danach hatte er nie mehr etwas am Strand aufgelesen. Seine Sammlung hatte er mit dem Sperrmüll entsorgt. Der Tote am Strand hatte sein Leben verändert.

Hansen war knapp 13 Jahre alt gewesen, an dem Tag, als er den Toten fand. Er war über die Dünen zum Wasser hinuntergelaufen, und da hatte er im Sand gelegen. Das Wasser begann sich eben zurückzuziehen und hinterließ den Körper im Sand.

Hansen konnte nicht sagen, weshalb er hingegangen war und sich den toten Körper angesehen hatte. Vielleicht war es Neugier gewesen. Seine Knie waren weich wie Pudding gewesen. Er hatte Angst gehabt. Große Angst. Und doch war er hingegangen und hatte in das tote Gesicht gesehen.

Der Tote war ein Mann mit halblangen Haaren gewesen. Er hatte auf dem Rücken gelegen und hatte Hansen aus seinen toten, milchigen Augen angestarrt. Seine Kleidung war eigentümlich gewesen. Altmodisch, schon altertümlich. Aber der Mann konnte noch nicht lange im kalten Nordseewasser gelegen haben. Seine Haut war unverletzt. Kein Fisch und keine Krabbe hatten sich an ihm gütlich getan.

Hansen war ins Dorf gerannt. Seine Eltern waren auf dem Feld und im Dorf waren Leute. Leute, die sich um den Kadaver am Strand kümmern würden, so, wie sie sich immer um dergleichen gekümmert hatten. Bisher hatte Jonas Hansen davon nur reden hören. Diesmal war er mittendrin. Er hatte den Büttel und den Ortspolizisten benachrichtigt und zum Strand gebracht. Zu der Stelle, an der er den Toten gefunden hatte.

Da war nur kein Toter mehr, als sie ankamen.

Nicht einmal ein Abdruck im Sand war zu sehen gewesen. Manche Leute im Ort hatten gemeint, das Meer hätte ihn zurückgeholt, mit einer unerwarteten Welle vielleicht. Andere meinten, der junge Hansen wolle sich nur wichtigmachen.

Damals hatte er fast ein halbes Jahr lang unter der Melancholie gelitten. Nur einmal war ein Anfall länger gewesen. Keiner war aber so intensiv, so voller Angst und furchtbarer Visionen gewesen wie der, nachdem der Tote verschwunden war. Er war die Geschichte nie losgeworden. Im Dorf war er der Spinner geblieben.

Langsam waren die Alten weggestorben und die Geschichte geriet bei den Leuten in Vergessenheit.

Seit ein paar Tagen hatte er wieder diese Albträume. Von Schiffen im stürmischen Meer und flatternden Segeln. Von knarrenden Rümpfen und dem Schlagen der Takelage im Wind. Von wettergezeichneten Männern und einem Turm. Einem steinernen Turm. Einem Turm, der an einer Stelle stand, die er kannte und wo kein Turm stand. Nur in seinem Traum. Und jedes Mal wachte er schweißgebadet auf.

Jonas Hansen hatte diesen Traum oft gehabt. Früher. Während der Melancholie. Und nun war er wieder da. Er hoffte inständig, dass es bei den Träumen bleiben würde. Wenn nur der Himmel mal aufreißen würde. Was er brauchte, war Sonne, war ein Lichtblick, der die Beklemmung aus seinem Herzen vertrieb.

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Illu 2: Der dunkle Turm am Strand von Mulsum, als dort noch die Küste verlief.

4

Werner Graf brühte sich den zweiten Morgenkaffee und wie jeden Morgen schaltete er dabei das Radio ein. Etwas leichte Rockmusik zum Frühstück.

Ein paar Regionalnachrichten. Ein Mann war am Neuen Pferdemarkt mit durchschnittener Kehle aufgefunden worden, wohl ein Raubmord, in Harburg war ein Besoffener gegen ein Klohäuschen gefahren, und nun stank das halbe Viertel, und der Elbtunnel war gesperrt. Wieder mal hatte jemand die Höhenkontrolle ausgelöst.

Von dem Toten an der Elbphilharmonie kein Wort. Die Musik dudelte, und Graf ging den Tag an, wie er es immer tat. Einkauf bei Feinkost Albrecht, dem Aldi-Markt um die Ecke, Abwaschen, ein bisschen Staubsaugen. Zum Mittag hin überlegte er, noch einmal zu der Stelle zu gehen, wo er gestern Abend das Pergament gefunden hatte. Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Die Nummer auf dem Display sagte ihm nichts, aber sie begann mit einer 48, also wohl eine Behördennummer.

„Graf“, meldete er sich kurz angebunden.

„Ja. Äh … guten Tag, Herr Graf, mein Name ist Jasmin Dreyer, ich bin Studentin bei Frau Doktor Stubig, und man sagte mir, Ihr Bruder, Doktor Graf, hätte Frau Doktor Stubig gebeten, jemanden zu finden, der sich ein Schriftstück ansieht. Nun … äh, das wäre dann ich …“

Die anfängliche Sicherheit in der jungen weiblichen Stimme war gewichen, und sie stockte dann ganz.

„Ja, das ist … das ging ja schneller, als ich gehofft hatte!“, antwortete Graf. „Wie hätten Sie denn Zeit?“

„Also, wenn Sie möchten, dann könnten Sie gleich vorbeikommen. Ich bin hier noch bis 17 Uhr.“

Graf warf einen Blick auf die Zeitanzeige am CD-Player. Halb eins.

„Ich könnte so in einer Stunde bei Ihnen sein, Fräulein Dreyer“, sagte er und wusste im selben Moment, dass man „Fräulein“ heutzutage nicht mehr sagte. „Wo finde ich Sie denn genau?“

Sie gab ihm die Anschrift. Werner Graf kannte sich auf dem Campus recht gut aus und würde ihr Büro ohne Schwierigkeiten finden.

Er legte den Hörer auf und zog sich an. Jeans, Caban, Wollmütze. Sein Haar war ziemlich lang geworden. Als Kranführer hatte er es meist sehr kurz geschnitten getragen. Das war einfach praktischer gewesen. Jetzt ging es ihm fast wieder bis zur Schulter, so wie damals, als er noch Rockmusiker hatte werden wollen.

Das Pergament rollte er zusammen und schob es in ein Papprohr, auf dem einmal Geschenkpapier aufgerollt gewesen war. Er hatte es immer aufbewahrt, weil er das Gefühl gehabt hatte, er würde es einmal brauchen können. Nun konnte er.

Es hatte zu regnen aufgehört und er kam trocken zur U-Bahn-Station St. Pauli am Millerntor. Nur wenige Leute waren unterwegs. Das würde sich in etwa einer halben Stunde ändern. Dann war Mittagspause.

Er fuhr bis Stephansplatz und ging den Rest zu Fuß. Früher war er immer durch den Dammtorbahnhof gegangen, aber seit dem Umbau ging er lieber die Edmund-Siemers-Allee hinunter, auch wenn der Weg länger war.

Die Staatsbibliothek lag nur ein kurzes Stück die Straße hinab. Ein grauer Bau aus Waschbeton, der seinem Inhalt irgendwie hohnsprach, wie Graf fand.

Eine graue Tür trug das gesuchte Namensschild: Jasmin Dreyer.

Graf klopfte und ein gehustetes „Herein!“ erklang.

Werner Graf öffnete die Tür und trat in das nüchterne, rigipswandige Büro. Ein Schreibtisch, Ablagen, Regale. Ein Computer und ein paar Geräte, die daran angeschlossen waren. An den Wänden Buchstaben, Schriften und Zettel in wildem Durcheinander.

Jasmin Dreyer entsprach der Einrichtung in keiner Weise. Sie war das genaue Gegenteil des Interieurs. Langes schwarzes Haar, Lederhose, schwarzes, viel zu tief ausgeschnittenes T-Shirt mit einem schielenden Totenkopf darauf, stark geschminkt. Auf der Straße hätte Graf sie für die Sängerin einer Punkband gehalten. Oder die Bassistin.

„Herr Graf!“ Ihre Stimme klang noch jünger als am Telefon. Werner Graf hatte sich schon lange davon entfernt, das Äußere zu stark zu bewerten. Die größten Verbrecher, die ihm in seinem an sich beschaulichen Leben untergekommen waren, trugen Krawatten und teure Anzüge und lächelten so freundlich, als könnten sie kein Wässerchen trüben.

Wenn Fräulein Doktor Punk eine Schriftgelehrte war, dann sollte sie sich das Schriftstück ansehen, egal, wie ihre Garderobe aussah.

„Ja, angenehm, Werner Graf!“ Er zog die Rolle unter dem Arm heraus und reichte sie der jungen Dame.

„Sie sind ja gar nicht so ein alter … ich meine, so alt, wie ich gedacht hatte. Ich meine, Ihr Bruder …“

„Ist ’n alter Sack. Ist er. War er schon immer. Der wurde als alter Sack geboren. Aber er ist mein Bruder und ich liebe den alten Sack.“

Jasmin Dreyer lachte. Sie hatte schon befürchtet, ihr kleiner Fauxpas würde die Stimmung verkrampfen, aber der Mann schien einigermaßen unverkrampft zu sein. Für einen alten Sack.

„Dann wollen wir mal sehen“, sagte Jasmin und schüttelte das Pergament aus der Papprolle. Sie entrollte den Bogen und breitete ihn auf dem Tisch aus. Oben und unten stellte sie ihren Locher und den Tesaabroller.

Sie musterte das Schriftstück eingehend.

„Wo haben Sie das denn her?“

„Ist mir quasi vor die Füße geweht. Ich wollt’ es erst wegschmeißen, aber das sah nicht nach ’ner Schrift aus, die mir schon untergekommen ist. Und jetzt würde ich gern wissen, was da draufsteht, das ist alles.“

Er trat neben sie und deutete auf die verschnörkelte Schrift.

„Ich hab so was in keinem Buch gefunden und weil mein Herr Bruder an der Uni ist, dachte ich, ein Fachmann … oder eine Fachfrau könnte da eher was mit anfangen, Fräul… Frau Dreyer, richtig?“

Jasmin lachte.

„Frau Dreyer, wie das klingt! Da denke ich ja, Sie rufen meine Mutter! Nennen Sie mich einfach Jazz. Das tun alle!“

„Jazz, hm?“ Graf musste grinsen. „Ich hätte eher auf Punk getippt.“

„Punkjazz. Passt doch“, sagte die junge Frau und nahm das Pergament unter den Gewichten fort. Sie legte das Blatt mit der Schrift nach unten auf eine Glasplatte und legte einen Deckel darauf.

„Was wird das jetzt?“, fragte Graf und trat neugierig an den Kasten heran, in dem das Pergament lag.

„Ich scanne Ihr Fundstück in den Computer. Dann wollen wir mal sehen, was wir da haben. Das Schriftbild erinnert mich an ein Schreiben von da Vinci, das mir mal untergekommen ist. Als Datei, meine ich.“

„Sie meinen, das ist von da Vinci? Von Leonardo?“

„Um Himmels willen, nein! Es erinnert mich nur an seine Handschrift. Schwungvoll, präzise …“

„Seitenverkehrt …“, murmelte Graf. „Meinen Sie, das ist in Spiegelschrift geschrieben?“

„Ach, Sie kennen sich aus? Interessierter Laie, sozusagen?“

Graf wurde warm in seinem wollenen Caban und er knöpfte die Jacke auf.

„Ja, kann man so sagen. Ich les halt viel.“

Der Computer piepte, dann drückte die junge Frau ein paar Tasten, das Gerät mit dem Blatt brummte laut, und ein Lichtstrahl wanderte unter dem Deckel entlang. Gleichzeitig zeichnete sich auf dem Bildschirm ein Abbild des Pergaments ab. Zeile für Zeile las der Scanner die Daten ein und der Rechner machte ein Bild daraus.

Als die Maschine fertig war, brummte das Ding noch einmal, und das Licht erlosch. Jetzt hatte Jazz einen kompletten Scan. Sie speicherte das Bild und lehnte sich zurück.

„So, da haben wir Ihr Schreiben. Jetzt wollen wir mal sehen.“

Ihre Finger huschten über die Tasten, dann griff sie zur Maus und begann, das Bild zu verändern.

Erst wurde es dunkler und die Schrift trat besser hervor, dann schärfer. Ein Mausklick und das Bild wurde größer. Dann spiegelte sie es. Jetzt sah die Schrift irgendwie ungelenk aus, fand Graf. Aber sie hatte recht gehabt. Das war lesbarer. Nicht für ihn, aber Jasmin Dreyer grunzte zufrieden.

„Da haben wir ihn! Spiegelverkehrt. Aber der Kopist hat schon von einer gespiegelten Vorlage gearbeitet. Da sind ihm etliche Fehler unterlaufen. Hier, und dort auch.“

Sie deutete auf die entsprechenden Stellen im Text.

„Das ist eine Kopie, meinen Sie? Da hat sich aber einer ’ne Menge Arbeit gemacht! Wäre eine Fotokopie nicht einfacher gewesen?“

„Vielleicht hat es religiöse Gründe, was weiß ich! Im jüdischen Glauben wird auch heute noch jede einzelne Gebetsrolle von Hand auf Pergamentrollen geschrieben, die Thora.“

„Echt? Alles Handarbeit? Wow …“

Graf war beeindruckt. Wenn es etwas gab, was ihm imponierte, dann war es handwerkliche Perfektion.

Jazz tippte wieder auf ihrer Tastatur und schob die Maus auf ihrem Pad herum. Das Bild auf dem Monitor veränderte sich. Der Ausschnitt wurde vergrößert, und man erkannte die Struktur des Materials, aus dem das Schriftstück bestand.

„Echtes Pergament, erstaunlich!“, murmelte Jazz und rieb sich das Grübchen am Kinn. „Aber es ist nicht alt, höchstens vielleicht 30 oder 40 Jahre. Handgeschrieben, aber nicht von einem geübten Kopisten. Mehr ein begabter Amateur. Aber er hat sich viel Mühe gegeben, Fehler zu vermeiden. Es muss Wochen gebraucht haben, das zu schreiben.“

„Und was steht da nu?“

Jazz zoomte aus dem Bild heraus, bis der Text wieder sichtbar wurde, und schob den Ausschnitt an den Beginn der Schrift. Eng aneinander standen Schlingen und Schlaufen, wie ein sorgsam gelegtes Seil, auf dem Pergament.

„Das sieht mir nach mittelalterlichem Niederdeutsch aus“, antwortete sie. „Ich bin mir fast sicher. Allerdings ist das kein geläufiger Dialekt …“

„Niederdeutsch? Sie meinen Platt? Das ist in Plattdütsch schrewen?“ Graf mochte es kaum glauben.

„Ja, im Mittelalter sprach das die ganze Hanse und jeder Kaufmann. Das Dumme war, dass es keine festgelegte Schriftform gab und jeder die Worte so schrieb, wie er sie sprach. Sie können sich vorstellen, was dabei rausgekommen ist.“

Graf nickte. Das musste ein heilloses Durcheinander sein. Schwer zu lesen für jemanden, der das nicht gewohnt war.

„Ich will mal sehen …“ Die junge Frau beugte sich über die Tastatur und begann zu schreiben. Auf dem Bildschirm verfolgte Graf, wie sich normale Druckschrift aus den Zeichen bildete.

„Ik dy scribtor …“

Werner Graf richtete sich auf. Er hätte seine Lesebrille mitnehmen sollen. Das gebeugte Herumstehen war nicht gut für den Rücken, aber sonst war er nicht nah genug, um die Feinheiten auf dem Monitor erkennen zu können.

„Klingt nicht nach Platt“, stellte er fest. „Eher wie Latein für Arme.“

Jazz lachte laut auf.

„Das war Mode im Mittelalter. Klang gelehrt, nehme ich an. Hier hat der Schreiber das latinisierende Scribtor benutzt, anstatt Schriewer, wie es wahrscheinlich geheißen hat. Aber der Text ist mittelalterlich. Das Pergament nicht, wie gesagt. Ich nehme an, es ist eine Eins-zu-eins-Kopie des Originals. Jedenfalls der Versuch davon.“

„Ah so …“, sagte Graf und wippte auf den Fußspitzen. „Ein Blender also. Und was steht da denn nun?“

Jazz lehnte sich in ihrem Sitzmöbel zurück und streckte sich.

„Wissen Sie was?“ Ihre Gelenke knackten und sie verschränkte die Arme im Nacken. „Ich setze mich heute Abend dran und übersetze das ins Hochdeutsche. Gleich ist hier nämlich Feierabend und ich bin zum Schwimmen verabredet. Zu Hause mach ich mir dann einen vergnüglichen Abend mit Ihrem Fundstück hier.“

Graf musste wohl komisch geguckt haben, denn die junge Frau fügte sofort hinzu: „Das meine ich ernst, mit dem vergnüglichen Abend. Jetzt bin ich neugierig und Warten gehört nicht zu meinen Tugenden. Ich werde meinen Spaß haben. Wenn ich fertig bin, schicke ich Ihnen sofort eine Mail mit dem Ergebnis, okay?“

„Nee“, sagte Graf trocken. „Das geht nicht, E-Mail hab ich nicht.“

„Wie, Sie haben keinen Rechner?“ Die moderne junge Frau konnte es kaum glauben.

„Nö, wofür denn? Ich bin meistens draußen, da kommt so eine Kiste doch nicht mit hin.“ Graf hatte sich nie ernsthaft mit dem Gedanken beschäftigt, zu lernen, wie man mit diesen Kisten umgeht. In den letzten Berufsjahren hatte er auf dem Kran genug mit Computern zu tun gehabt. In seiner Freizeit wollte er die Kisten nicht um sich haben. Zudem hatte es bislang auch nie eine Situation gegeben, wo so ein Ding von Computer von Vorteil gewesen wäre.

„Also, ich könnte ohne so eine Maschine gar nicht richtig arbeiten!“, entgegnete Jazz und machte eine ausholende Geste über ihre Computeranordnung. „Sie haben ja gesehen, was damit alles möglich ist.“

„Mag sein“, knurrte Graf. „Aber ich bin kein Linguist …“

Jazz zuckte mit den Schultern.

„Telefon haben Sie ja. Ich ruf Sie an, wenn ich damit durch bin, in Ordnung?“

„Selbstverständlich, Fräulei… Frau Dreyer.“ Es war ihm schon wieder rausgerutscht! „Rufen Sie durch, wann Sie wollen.“ Graf gab sich betont steif.

Jazz nickte.

„Vergessen Sie Ihr Original nicht!“

Graf nahm das Pergament aus dem Scanner und rollte es wieder ein. Man wünschte sich einen guten Tag und Graf machte sich auf den Rückweg. Er ging mal wieder zu Fuß. Das half beim Nachdenken. Die meiste Zeit dachte er darüber nach, ob es vielleicht an der Zeit wäre, sich mit der Wunderwelt der Elektronik anzufreunden. Ein paar kurze Momente schweiften seine Gedanken ab. Die junge Frau hatte ein Dekolleté, das ihm nicht aus dem Kopf ging. Aber er wischte den Gedanken beiseite.

Jasmin Dreyer, genannt Jazz, brauchte eine Weile, bis sie ihren Laptop mit dem Bürorechner verband und die Daten auf ihre Festplatte kopierte. Dieser Text war sehr interessant. Und dieser Werner Graf … der hatte was. Sah ein bisschen aus wie Jan Fedder, fand sie.

Als die Daten übertragen waren, verstaute sie ihren Laptop in seiner Tasche, schnappte sich die Sporttasche und die dicke Lammfelljacke aus dem Spind und sauste los. Sie wollte nicht zu spät kommen. Einmal in der Woche Schwimmen war im Moment der einzige Ausgleich zum ständigen Sitzen vor dem Computer, der ihr geblieben war. Das Studium und ihr Nebenjob nahmen sie zu sehr in Anspruch, um noch zusätzlich zum Judo und Yoga zu gehen, wie sie es noch im letzten Semester getan hatte. Nicht einmal für ihre Band hatte sie Zeit übrig.

5

Der Bericht war kurz und ließ keine Frage offen. Der Mann war nicht ausgeraubt worden, er hatte nichts bei sich, das in irgendeiner Art hilfreich gewesen wäre, zu klären, weshalb er sich am gestrigen Abend auf der Baustelle der Elbphilharmonie herumgetrieben hatte. Fremdeinwirkung war auch keine festzustellen. Der Mann schien sich gegen eine lose Latte gelehnt zu haben und in die Tiefe gestürzt zu sein. Vielleicht Selbstmord, aber es gab keinen Abschiedsbrief.

Phillip Harms war Professor der Archäologie gewesen, hatte lange Jahre am Museum für Hamburgische Geschichte gearbeitet und war gesund gewesen. Seine Frau schien ehrlich betroffen, der Sohn im Ausland wurde benachrichtigt. Finanzielle Schwierigkeiten hatten sie auch nicht feststellen können. Aber irgendwas sagte Wilkens, dass das kein Unfall war. Er hatte den Computer des Wissenschaftlers in sein Büro bringen lassen. Mit ein wenig Glück würde sich auf dem Rechner etwas finden, das ihn weiterbrachte.

Wenn es nach seinen Vorgesetzten ging, war der Fall abgeschlossen. Der Professor war ein Liebhaber klassischer Musik, hatte sich leichtsinnigerweise allein und nachts auf die Baustelle der Elbphilharmonie begeben und war verunglückt. So einfach war das. Aber so einfach war es eben nicht immer!

Wilkens machte seinen Job seit fast 30 Jahren, und er fühlte einfach, dass da mehr dahintersteckte. Er verkabelte den PC des Professors mit dem Monitor und bootete die Maschine.

Der blaue Bildschirm verriet ihm, dass da gerade Windows XP hochfuhr. Kein Passwort. Ein Mausklick, und er war auf dem Desktop und inspizierte, was da aufgelistet war. Die üblichen Officeprogramme, Bildbearbeitungssoftware und auf der rechten Seite ein paar Ordner. Wilkens klickte sie der Reihe nach an. Familienfotos, Korrespondenz mit Ämtern, Schülerlisten, Dienstpläne. Dann ein Ordner mit dem Titel „Grasbrook“.

Er enthielt eine Menge verschiedener Dateien. Schriftstücke, Kopien von historischen Dokumenten, Landkarten vom Hafenbereich, Fotos vom Grasbrook, von der Speicherstadt und den dortigen Häfen. Ein paar Bilder vom Störtebeker-Denkmal an seinem alten Standort und auch von der Stelle, wo es jetzt aufgestellt worden war.

Das hatte wohl alles mit seinem Beruf zu tun. Wilkens seufzte und lehnte sich in seinem Sessel zurück, strich sich mit den Handballen über die müden Augen. Er stand auf und holte sich einen neuen Kaffee aus dem Automaten im Gang. Es war zwar erst Spätnachmittag, aber er wusste, es würde eine lange Nacht werden. Egal, was sollte es? Niemand wartete darauf, dass er nach Hause kam, da konnte er genauso gut auch im Präsidium bleiben und an dieser Sache arbeiten.

Jedenfalls würde es nicht langweilig werden. Wilkens wusste, was früher auf dem Grasbrook los gewesen war. Damals, in den Zeiten der Hanse, wurden dort die Delinquenten einen Kopf kürzer gemacht. Das war ein Thema, das Wilkens schon immer brennend interessiert hatte. Ihm schoss ein Gedanke durch den Kopf.

Vielleicht war der Professor deshalb mitten in der Nacht auf das Gerüst geklettert, weil er von dort oben etwas sehen wollte, das mit seinen Forschungen zu tun hatte! Die Gegend war so gut ausgeleuchtet, dass er auch in der Nacht einen guten Überblick über die Hafenanlagen gehabt hätte.

Kommissar Wilkens klemmte sich wieder hinter den Computer und begann, die Texte zu lesen, die der Geschichtswissenschaftler gesammelt hatte.

6

Werner Graf lief den ganzen Weg zum Kiez zurück. Der Weg an der Alster entlang gab ihm genug Zeit nachzudenken. Er hatte ein grüblerisches Gefühl, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Tausend Gedanken gingen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Und nicht alle drehten sich um das Pergament.

Er wanderte um die Alster herum, über Jungfernstieg und Rathausmarkt zum Rödingsmarkt, und ehe er es sich versah, stand er am Baumwall, gegenüber der Baustelle der Elbphilharmonie. Fast hätte er seine Schritte nach links gewendet, aber er schüttelte dann doch nur den Kopf und ging rechts entlang Richtung Landungsbrücken.

Das Pergament war also wirklich Pergament. Er hatte auch darüber etwas gelesen. Pergament wurde aus der Haut von Tieren gemacht. Erinnerte er sich richtig, dass die von ungeborenen Lämmern genommen wurde? Oder war das der Persianer von Tante Hilde gewesen? Er rief sich zur Ordnung. Ihm durften nicht immer die Gedankengänge aus dem Ruder laufen.

Pergament. Haut. Eine Art spezielles Leder sozusagen. Wenn jemand sich die Mühe machte, einen so komplizierten Text, den er wohl nicht einmal lesen konnte, zu kopieren, so viel Sorgfalt darauf verwendete, dann bedeutete ihm das etwas. So was machte sich ja schließlich nicht über Nacht! Da saß man Stunden, Tage, wenn nicht Wochen dran.

Aber es war eben nicht alt. Kein Original.

Graf schloss die oberen Knöpfe seines Cabans. Der Wind hier direkt an der Elbe blies ganz ordentlich. Wolkenfetzen jagten über ein zerrupft wirkendes Firmament. Dieser Frühling war bisher zu kalt und zu nass für Grafs Geschmack. Die Knospen an den noch kahlen Bäumen waren prall und warteten nur darauf, dass die Sonne ein paar warme Strahlen durch die Wolken schickte, um endlich ihre Blätter in die Freiheit zu entlassen.

Graf war an den Landungsbrücken angekommen und setzte seinen Weg am Elbufer entlang fort, so weit das möglich war. Er ließ sich Zeit und sah den Bugsierern bei der Arbeit zu, gab einem dünnen Punker eine Zigarette und schlenderte mehr, als dass er ging. Langsam wurde es dunkel und die Straßenlaternen flammten auf. An den Kneipen gingen die Leuchtreklamen an und die Stadt schaltete auf Nachtbetrieb.

Die Straße machte einen Bogen, wurde zur Hafenstraße und führte dann in die Davidstraße, deren Verlängerung die Hein-Hoyer bildete. Eigentlich kein Weg, wenn man gut zu Fuß war. Obwohl er eine Jahreskarte für den Hamburger Verkehrsverband hatte, ging Graf so oft wie nur möglich zu Fuß. Das hatte er schon immer gern getan. Als Kranführer hatte er die Bewegung dringend gebraucht. Oben auf dem Kran war er zum Sitzen verdammt. Beine vertreten war nicht möglich oder, wie Graf sagte, er verdiente sein Geld eigentlich mit dem Mors.

Eine melancholische Stimmung kam in ihm hoch. Einem Impuls folgend, bog er in die Clemens-Schultz-Straße ab und ging noch auf einen Kaffee und einen 103er ins Millers. Der Kaffee dort entsprach noch am ehesten seinen Maßstäben. Was Kaffee und Tee anging, war Graf Feinschmecker. Bei seinem Tabak machte er schon mal Abstriche, aber er hatte noch nie Kaffee bei Aldi gekauft.

Er hatte da so über die Jahre seine Adressen gesammelt, von denen er seinen kleinen Luxus bezog. Dafür fuhr er sogar durch die halbe Stadt.

Der Weinbrand und der Kaffee brachten seine Gedankenwelt wieder ins Lot. Melancholie war nun etwas, das er gar nicht brauchen konnte. Das war was für den Winter und der war seit Wochen vorbei. Wenigstens kalendarisch. Die Temperaturen hinkten der Jahreszeit weit hinterher.

Er hörte das Telefon schon, als er die knarrende Treppe hochstieg. Wie lang kam einem plötzlich die Zeit vor, die man benötigte, den Schlüssel aus der Tasche zu holen und ihn ins Schloss zu stecken, ihn umzudrehen, die Tür zu öffnen und zum Telefon zu hetzen.

Graf streckte seine Hand aus und das Klingeln erstarb. Er hob trotzdem ab und hielt den Hörer ans Ohr. Freizeichen, Mist.

Er legte wieder auf und zog die Jacke aus. Das Papprohr mit dem Pergament stellte er neben das Sofa und ging in die Küche. Ihm war nach mehr Kaffee. Nach Großmutters Methode. Kaffeewasser zum Kochen bringen, einen Moment warten, bis es nicht mehr blubberte, und es dann erst in den Filter über das Kaffeepulver schütten. Das Klingeln des Telefons ließ ihn so sehr zusammenzucken, dass er heißes Wasser danebenschwappen ließ und sich fast verbrühte.

Diesmal würde er den Anruf nicht verpassen.

„Ja, bitte?“

„Herr Graf?“ Ja! Fräulein Dreyer. Jasmin … Jazz. Sein Herz klopfte vor Anspannung.

„Jau, am Apparat“, sagte er betont lässig. „Gibt’s was Neues?“

Blöde Frage, sonst hätte sie ja wohl nicht angerufen, schalt er sich.

„Kann ich Sie noch stören, um diese Zeit? Ich würde das nicht gern am Telefon erzählen …“

Graf warf einen Blick auf die Uhr am CD-Player. Kurz vor neun. Dachte die junge Frau vielleicht, er ginge um zehn ins Bett?

„Ja, na aber sicher doch“, antwortete er. „Vor Mitternacht geh ich eh nie ins Bett.“ Wobei „nie“ ein dehnbarer Begriff war.

„Dann bin ich so in einer Stunde bei Ihnen, wenn’s recht ist.“

„Ist recht … Ich mach uns dann einen frischen Kaffee.“ Nee, dachte Graf, du hättest Tee anbieten sollen. Frauen trinken um die Zeit keinen Kaffee mehr.