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Titelseite

1

Wir konnten einfach nicht aufhören, über den Mörder zu reden. Immer wieder versuchten wir, ihn aus unseren Gedanken zu verbannen. Doch es gelang uns nicht richtig. Irgendwer fing immer wieder mit diesem Thema an.

Wir waren alle nervös. Nicht, dass es irgendjemand zugegeben hätte. Nein, wir taten so, als wäre das alles unheimlich witzig. Dabei waren wir verdammt nervös. Weil der Mord ganz in der Nähe geschehen war. Und weil das Opfer ein Mädchen in unserem Alter war – ein Mädchen wie wir.

„Seht es doch mal so“, sagte Dawn, während sie sich ihre weiße Bluse zuknöpfte. „Jetzt muss sie sich wenigstens nicht mehr stressen, um einen Partner für den Abschlussball zu finden.“

„Du bist widerlich!“, rief ich empört.

„Aber echt!“, stimmte Rachel mir zu.

Es war Dienstag und der Sportkurs war gerade vorbei. Der Umkleideraum war voller Mädchen, die sich eilig umzogen. Gleich sollte die Infoveranstaltung zum Abschlussball stattfinden und ehrlich gesagt hatte ich sie völlig vergessen. Kreischen und Gelächter drangen durch die warme, dunstige Luft.

Ich stellte meinen linken Fuß auf die Holzbank zwischen Dawn und Rachel, die sich gerade in ein Paar schwarze Jeans quetschte, und band hastig meinen Turnschuh zu. „Habt ihr den Bericht im Morgenfernsehen gesehen?“, fragte ich die beiden.

Rachel schüttelte den Kopf, aber Dawn erwiderte: „Über den Mord?“

„Ja. Sie haben gezeigt, wie die Polizei im Fear-Street-Wald herumgestapft ist und nach Spuren gesucht hat. Dann haben sie auf den schlammigen Graben geschwenkt, in dem der Wanderer die Leiche gefunden hat. Und zum Schluss konnte man auch noch den blauen Leichensack sehen.“

„Bäh!“ Dawn machte ein würgendes Geräusch.

„Außerdem haben sie ein Schwarz-Weiß-Foto des Mädchens eingeblendet. Es war unscharf, aber sie hatte ein richtig süßes Lächeln. Es hieß, sie sei durch sechzehn Messerstiche getötet worden.“

„Na, das Lächeln wird ihr wohl vergangen sein“, ätzte Dawn.

Seitdem wir von dem Mord erfahren hatten, machte sie am laufenden Band solche schlechten Scherze. Vermutlich war das ihre Art, damit umzugehen. Wenn es darum ging, ihre Gefühle zu verbergen, war sie unschlagbar.

Rachel warf ihr einen finsteren Blick zu. „Das finde ich überhaupt nicht witzig.“

„Hey, entspann dich“, gab Dawn scharf zurück. „Es ist ja nicht deine Schwester oder so. Nur ein unbekanntes Mädchen.“

„Ich habe in der Mittagspause mit meiner Cousine Jackie telefoniert“, erwiderte Rachel ruhig. „Sie lebt in Waynesbridge. Und sie sagt, sie kennt das Opfer.“

Sofort bombardierten Dawn und ich sie mit Fragen: „Sie kennt sie?“ „Warum hast du uns das nicht gleich gesagt?“ „Und was hat sie erzählt? Wie gut kannte sie sie denn?“

Sehr gut“, beantwortete Rachel nur meine letzte Frage. „Sie waren die dicksten Freundinnen. Jackie ist völlig fertig.“

Rachel, die gerade ihr glattes rotes Haar mit kräftigen Strichen gebürstet hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. Sie wurde kreidebleich. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass hier in Shadyside ein Mord passiert ist. Das ist so furchtbar!“

„Hat deine Cousine einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?“, fragte Dawn.

Rachel schüttelte den Kopf. „Nein. Sie meinte, Stacy war einfach nur ein total nettes Mädchen, das alle mochten. Als die Polizisten mit Jackie gesprochen haben, war sie viel zu aufgeregt, um klar denken zu können. Sie konnte ihnen überhaupt nichts sagen.“

Sie ließ ihre Haarbürste in den Rucksack fallen und zog den Reißverschluss zu. „Ihr wisst doch, dass ich in der Fear Street wohne. Sie haben die Leiche bei uns im Wald gefunden. Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass es mich auch hätte treffen können. Dass ich jetzt dort liegen könnte.“

„Also, mir wäre garantiert nichts zugestoßen“, sagte Dawn, während sie ihr Lipgloss zu Ende auftrug. „Bei all den gruseligen Sachen, die da immer passieren, würde ich lieber tot umfallen, als einen Fuß in den Fear-Street-Wald zu setzen.“ Als ihr klar wurde, was sie da gesagt hatte, prustete sie los.

„Ach, wirklich?“, schnaubte ich. „Heute Morgen haben sie einen der Polizisten interviewt. Und der sagte, dass der Mörder Stacys Haus ausspioniert haben muss. Er glaubt, dass dieser Psycho gewartet hat, bis sie allein war, und dann …“

Ich blickte auf und machte eine dramatische Pause.

„Und dann?“, drängte Dawn ungeduldig.

„Dann hat er sie in ihrem Zimmer ermordet.“

Dawns Mund öffnete sich zu einem erschrockenen kleinen O. „Ich habe es schon immer gehasst, alleine zu Hause zu sein“, gestand sie leise.

„Wahrscheinlich wird dir diese Geschichte nicht gerade dabei helfen, darüber hinwegzukommen“, murmelte ich.

Dawn starrte mich einen Moment lang mit leerem Blick an. Plötzlich schrie sie hysterisch los. Sie hielt sich mit beiden Händen den Kopf und kreischte aus voller Kehle. Ihre gespielte Panikattacke löste eine Lachsalve bei den Mädchen aus, die sich noch im Umkleideraum befanden.

Shari Paulsen hielt ein imaginäres Messer hoch und begann dann, auf die Luft einzustechen, während sie das unheimliche Geräusch aus dem Film Psycho nachmachte. Dieses Geräusch, das immer eingeblendet wird, wenn Anthony Perkins jemanden abmurkst – Iii! Iii! Iii!

Dann marschierte Shari wie ein ferngesteuerter Zombie durch den Umkleideraum und tat so, als würde sie jeden in ihrer Reichweite erstechen. Wieder bogen sich alle vor Lachen.

Eigentlich war es gar nicht komisch, aber wir lachten trotzdem. Wie soll man auch reagieren, wenn etwas so Schreckliches in nächster Nähe passiert? Vielleicht half es uns ja herumzualbern. Ich wusste es nicht.

Das Mädchen am Ende unserer Reihe knallte die Tür ihres Spinds zu und rannte hinaus. Dawn zuckte so heftig zusammen, als hätte jemand eine Kanone abgefeuert. „Wir müssen jetzt mal mit diesem Thema aufhören“, sagte sie. „Ich drehe langsam durch.“

„Dann wirst du das Allerschlimmste gar nicht hören wollen“, vermutete ich.

Dawn und Rachel stöhnten auf. „Schlimmer, als durch sechzehn Messerstiche zu sterben?“, fragte Dawn. „Was ist passiert? Ist sie zusätzlich noch von einem Laster überfahren worden?“

„Ich dachte, du wolltest nichts mehr davon hören“, erwiderte ich unschuldig.

„Komm, sag schon!“, drängelte sie.

„Die Polizei hat gesagt, dass dieser Mord Ähnlichkeiten zu dem in Durham letzte Woche hat.“

Durham war eine Stunde Fahrt von Shadyside entfernt. Aber im Moment schien das gar nicht so weit weg zu sein.

„Aha. Und was soll das heißen?“, fragte Dawn ungeduldig.

„Das heißt, es könnte sich um einen Serienkiller handeln“, erwiderte ich.

„Auch das noch …“, murmelte Rachel. „Ich muss meine Eltern unbedingt dazu überreden, dass wir uns einen Hund anschaffen.“ Sie stieß ihre Füße unsanft in ein Paar zerrissene Laufschuhe. „Wir haben nicht mal eine Alarmanlage zu Hause.“

Es stimmte – verglichen mit unseren, waren Rachels Eltern ziemlich arm. Ich bezweifelte, dass sie sich eine Alarmanlage leisten konnten. Nicht mal, wenn ein Serienkiller in unserer Gegend sein Unwesen trieb.

Es klingelte zur nächsten Stunde. Die wenigen Mädchen, die noch im Umkleideraum waren, stöhnten auf.

„Na los, ihr beiden“, rief Dawn. „Beeilt euch ein bisschen.“

Sie bewunderte ihr Gesicht im Spiegel und zog einen Schmollmund. „Ich weiß, worüber wir außer dem Mord reden könnten“, sagte sie. „Was meint ihr, mit wem soll ich zum Abschlussball gehen?“ Sie gab uns die Namen der vier beliebtesten Jungen der Shadysider Highschool zur Auswahl.

„Die haben dich alle gefragt?“, rief Rachel ungläubig aus.

„Jetzt schon?“, schloss ich mich an. „Der Ball ist doch erst in fünf Wochen.“

„Na ja, bis jetzt haben sie mich noch nicht gefragt“, gab Dawn zu. „Aber das werden sie noch. Glaubt mir.“

Wir waren die Letzten, die den Umkleideraum verließen. Die Flure waren wie ausgestorben, ein sicheres Zeichen, dass wir zu spät zur Versammlung kamen. Als wir losrannten, quietschten die Sohlen unserer Turnschuhe auf dem Fliesenboden.

„Was ist mit dir?“, fragte mich Rachel, als wir den Flur entlangflitzten. „Hast du schon einen Begleiter?“

Ich schüttelte den Kopf.

Eigentlich hätte ich schon einen Tanzpartner für den Ball gehabt. Wäre da nicht die Army gewesen. Im Ernst. Ich war seit über einem Jahr mit Kevin McCormack zusammen. Und ausgerechnet jetzt wurde sein Vater, der Major bei der US-Army ist, nach Alabama versetzt.

Kevins Familie war im Januar umgezogen. Seitdem führten wir unsere Beziehung ganz altmodisch per Post. Am Anfang haben wir noch stundenlang telefoniert, aber als mein Vater die Rechnung bekam, schob er dem einen Riegel vor. Und da Kevins Vater strikt gegen das Internet war, konnten wir nicht mal mailen.

Bis jetzt hatte Major McCormack Kev nicht erlaubt, zum Abschlussball nach Shadyside zu kommen. Er war der Meinung, dass es für Kev wichtiger war, „sich erst einmal an seinem neuen Stützpunkt einzuleben“. Laut Kevin hatte er sich genau so ausgedrückt. Sein Vater benutzte ständig diesen Army-Slang.

„Sag deinem Dad, er ist ein Vollpfosten“, hatte ich zurückgeschrieben. Echt clever von mir, was?

Dawn zog die schweren Türen der Aula auf. Ein paar Leute in den hinteren Reihen drehten sich um und starrten uns an.

Oben auf der Bühne hatte Miss Ryan bereits mit ihren Ankündigungen begonnen. Mr Sewall stand in der Nähe der Bühne. Er fing meinen Blick auf und schaute mich finster an, während wir in der letzten Reihe Platz nahmen.

„Mrs Bartlett lässt euch ausrichten, dass ihr diese Woche überfällige Büchereibücher zurückgeben könnt, ohne Säumnisgebühren zu zahlen“, verkündete Miss Ryan gerade. „Ich hoffe also, dass ihr alle regen Gebrauch von diesem großzügigen Angebot macht. Solltet ihr Bücher haben, deren Fälligkeitsdatum überschritten ist, gebt sie bitte umgehend in der Schulbibliothek ab.“

Sie raschelte mit ihren Notizen. „Jetzt kommen wir zum Hauptgrund unseres Treffens – der Verkündung der fünf Kandidatinnen für den Titel der Ballkönigin.“

Einige Jungs klatschten und pfiffen laut. Miss Ryan starrte über das Mikrofon hinweg ins Publikum, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Dann wandte sie sich an unseren Rektor, der ein paar Schritte hinter ihr auf der Bühne wartete. „Mr Sewall?“

Mr Sewall war klein, rundlich und hatte eine Glatze. Er sah aus wie eine der Figuren aus der Sesamstraße, deswegen hatten wir ihm den Spitznamen „Muppet“ verpasst.

Mit einer weißen Karteikarte in der Hand trat er ans Mikro. Plötzlich wurde ich richtig aufgeregt. Ich weiß, es war nicht besonders cool von mir, aber ich freute mich total auf den Abschlussball. Und den meisten meiner Freundinnen ging es genauso.

Nur wir Schüler im letzten Highschooljahr durften wählen. Ich hatte für Rachel gestimmt. Sie war nicht das beliebteste Mädchen der Klasse, aber das lag hauptsächlich daran, dass sie so schüchtern war. Außerdem wirkte sie immer ein bisschen verbittert, wahrscheinlich weil ihre Familie so arm war. Doch wenn man sie erst einmal näher kannte, war sie richtig süß und eine wirklich gute Freundin. Vielleicht machte es sie ja etwas lockerer, wenn sie zur Ballkönigin gewählt wurde.

Allerdings hatte sie keine großen Chancen zu gewinnen.

„Bevor wir beginnen“, sagte Muppet, „möchte ich noch ein paar Worte zur Tragödie sagen, die sich gestern in Shadyside zugetragen hat.“

Rachel und ich tauschten einen Blick. Dawn steckte sich den Finger in den Hals und tat so, als würde sie sich übergeben.

„Ich hoffe, wir alle hoffen, dass die Polizei den Mörder so schnell wie möglich stellt. Bis es so weit ist, bitte ich euch, Ruhe zu bewahren. Trotzdem ist es wichtig, in nächster Zeit besonders vorsichtig zu sein.“

„Tolle Art, einen zu beruhigen“, flüsterte Dawn.

„Nun gut“, fuhr der Rektor fort. „It’s Showtime!“ Er gluckste, als hätte er einen tollen Witz gemacht.

„Hier habe ich die Wahlergebnisse.“ Er wedelte mit der Karteikarte. „Wie ihr alle wisst, sind die fünf Mädchen mit den meisten Stimmen als Kandidatinnen für die Wahl zur Ballkönigin nominiert. Ich werde jetzt die Namen der Gewinnerinnen vorlesen und sie bitten, zu mir nach vorne auf die Bühne zu kommen. Am besten gehe ich alphabetisch vor.“ Er lächelte, warf einen kurzen Blick auf seine Karte und blickte wieder auf. Die Spannung stieg mit jeder Sekunde. Schließlich sagte er: „Elizabeth McVay.“

Zuerst reagierte ich gar nicht. Ich erkannte nicht mal meinen eigenen Namen!

Dawn klopfte mir begeistert auf den Rücken und rief: „Super, Lizzy!“

Auf dem Weg durch den Gang wäre ich beinahe gestolpert, und da wir ganz hinten gesessen hatten, musste ich ein ganzes Stück gehen. Mir war ein bisschen schwindelig.

Nachdem ich auf die Bühne geklettert war, schüttelte mir Muppet die Hand.

Ich wünschte, ich hätte an die heutige Versammlung gedacht. Mein Outfit bestand nämlich aus einer zerschlissenen Jeans und einem alten blauen Shirt. Mein langes, lockiges Haar war immer noch feucht vom Duschen.

Im Idealfall sind meine Haare honigbraun, das sagt zumindest meine Mum immer. Aber wenn sie nass sind, sehen sie einfach nur langweilig braun aus. Ich strich mir ein paar widerspenstige Strähnen aus den Augen, aber sie fielen sofort wieder zurück.

Muppet beugte sich über das Mikrofon und verkündete: „Die zweite Kandidatin für die Wahl zur Ballkönigin ist … Simone Perry.“

Die Leute begannen wie wild zu klatschen. Simone stand auf und quetschte sich seitlich durch ihre Reihe bis zum Gang.

Sie hatte sich richtig aufgemotzt und trug eine seidig glänzende schwarze Bluse und einen Lederrock. Offenbar hatte sie die heutige Versammlung nicht vergessen. Während sie auf die Bühne zuschwebte, warf sie immer wieder effektvoll ihr langes dunkles Haar über die Schulter.

„Herzlichen Glückwunsch“, flüsterte ich ihr zu, als sie auf dem Stuhl neben mir Platz nahm.

„Danke“, flüsterte sie zurück.

Es überraschte mich keineswegs, dass sie nicht hinzufügte: „Dir auch.“ Ich mochte Simone, aber sie vergaß gerne mal, dass die Welt sich nicht nur um sie drehte.

„Elana Potter!“, verlas Mr Sewall als Nächstes.

Noch mehr Applaus. Elana stand mit einem breiten Lächeln auf und hüpfte regelrecht den Gang entlang. Sie wirkte nicht im Geringsten überrascht. Kein Wunder. Sie war eines der beliebtesten Mädchen der Highschool – und das wusste sie auch.

Zwei Kandidatinnen fehlten noch. Ich blickte zur letzten Reihe, wo Dawn und Rachel saßen. Dawn war wahrscheinlich kurz davor durchzudrehen. Bestimmt war sie sauer, weil sie nicht als Erste aufgerufen worden war. Und das, obwohl Mr Sewall angekündigt hatte, nach dem Alphabet vorzugehen.

„Dawn Rodgers!“

Dawn stieß einen Jubelschrei aus und klatschte in die Hände. Sie war nicht die Einzige. Genau genommen hatte sie bis jetzt den meisten Beifall bekommen.

Während sie auf die Bühne zuging, stieß sie triumphierend die Faust in die Luft. Das sorgte erneut für lauten Applaus. Diese Geste machte sie immer, wenn sie in einem wichtigen Tennisspiel einen Punkt geholt hatte. Dawn war nämlich der Kapitän der Mädchenmannschaft.

„Und last, but not least“, Mr Sewall blickte angestrengt auf seine Karte, „Rachel West!“

Nach Dawn an der Reihe zu sein, war ziemlich undankbar. Der Applaus für Rachel war längst nicht so eindrucksvoll. Aber ich tat, was ich konnte, und klatschte, bis mir die Handflächen wehtaten.

Rachel schien es nichts auszumachen, dass sie nicht so viel Beifall bekam. Sie lächelte verzückt und ihr Gesicht war fast so rot wie ihre Haare, als sie zu uns auf die Bühne stürmte.

„Wie ihr alle wisst, sind es nur noch fünf Wochen bis zum Abschlussball“, fuhr Muppet fort.

Dawn klatschte in die Hände und johlte begeistert.

„Aber was ihr noch nicht wisst: Mir ist es gelungen, das neu renovierte Halsey Manor House für das Fest zu mieten.“

Er wartete auf den begeisterten Applaus, der jedoch nicht kam. Schließlich war uns allen klar, dass sich das Halsey Manor House mitten im Fear-Street-Wald befand – dort, wo gestern die ermordete Stacy gefunden worden war.

„Das sind doch ideale Voraussetzungen für eine großartige Party, oder?“

Der Fear-Street-Wald. Im Moment klang das nicht gerade nach einem Ort, an dem ich mich gerne aufgehalten hätte. Und tanzen gehen wollte ich dort erst recht nicht.

Vielleicht würden wir das Ende Mai anders sehen, aber das bezweifelte ich.

Während Mr Sewall mit seiner Rede fortfuhr, ließ ich meinen Blick über die anderen Mädchen auf der Bühne wandern. Ich kannte sie alle so gut, dass ich genau wusste, was in diesem Moment im Kopf von jeder einzelnen vorging.

Dieses Spiel spielte ich manchmal ganz gerne. Mr Meade, mein Englischlehrer aus dem letzten Jahr, hatte es uns beigebracht. Er meinte, es sei ein gutes Training für angehende Schriftsteller. Bis auf lange Briefe an Kevin nach Alabama hatte ich noch nicht viel geschrieben. Aber eines Tages würde ich es tun.

Mit Simone fing ich an. Sie war der Star unserer Theater-AG und sah auch so aus. Sie war groß, dunkel und wirkte irgendwie … na ja, dramatisch eben. Außerdem war sie sehr launisch – alles ideale Voraussetzungen für eine Schauspielerin.

Sie war ganz verrückt nach ihrem Freund Justin. Und ziemlich besitzergreifend. Sie starrte ihn schon eine Weile an. Das merkte ich, als ich ihrem Blick in den Zuschauerraum folgte.

Bestimmt dachte sie gerade: „Mit wem redet Justin denn da? Warum sieht er mich nicht an?“

Als Nächstes konzentrierte ich mich auf Elana. Sie war ausgesprochen hübsch, auf eine zarte, altmodische Art und Weise. Und sie wusste genau, wie sie sich kleiden musste, um das zu betonen. Zum Beispiel trug sie jetzt eine weiße Rüschenbluse und einen dunkelgrünen Wickelrock. Als sie lächelte, enthüllte sie zwei Reihen perfekter weißer Zähne. Sie sah aus, als sei sie einer Fernsehwerbung entsprungen.

Elana schien alles in den Schoß zu fallen. Das war schon immer so gewesen. Sie hatte die besten Noten, ohne sich groß dafür anzustrengen, und ihre Familie war so reich, dass sie alles bekam, was sie wollte. Aber sie war so ausgeglichen und freundlich, dass man ihr das einfach nicht übel nehmen konnte.

Was dachte sie wohl in diesem Moment? „Hey, als Ballkönigin zu kandidieren, macht sicher Spaß. Bestimmt werde ich mich später auch mal als Präsidentin der Vereinigten Staaten zur Wahl stellen.“

Als ich zu Dawn hinübersah, nickte sie mir zu. Ihre blauen Augen strahlten. Ich schaute sie einen Augenblick an und bewunderte ihre Bräune.

Ende April regnete es bei uns für gewöhnlich sehr viel. Aber egal, wie das Wetter war, Dawn besaß immer eine beneidenswerte Bräune und ihr langes, welliges blondes Haar schimmerte so golden, als hätte sie sich stundenlang in der Sonne aufgehalten.

Aber das hatte sie vielleicht auch. Dawn war ein Ass im Tennis und auch in jeder anderen Sportart.

Ich wusste genau, was sie dachte. Ihr Blick sprach Bände. „Ich werde gewinnen!“

„Natürlich möchte jede von euch die Ballkönigin werden“, hob Muppet wieder an. „Und dieses Jahr gibt es dafür noch einen zusätzlichen Grund – die Königin erhält ein Stipendium über dreitausend Dollar, das das Autohaus von Gary Brandts Vater gestiftet hat.“

In diesem Moment schaute ich zufällig in Rachels Richtung und sah, wie ihre smaragdgrünen Augen aufleuchteten. Es war wie in einem Comicstrip, wenn bei einer Figur Dollarzeichen in den Augen auftauchen. Ich wusste, dass Rachel das Geld gut gebrauchen konnte. Aber gegen dreitausend Dollar hätte ich auch nichts einzuwenden gehabt.

Wie ich bereits erwähnte, war Rachels Familie ziemlich arm, jedenfalls verglichen mit dem Rest von uns. Rachel war die Einzige, die ich kannte, die nach der Schule jobben musste. Das stresste sie, weil ihr die Zeit für die Hausaufgaben fehlte und ihre Noten dementsprechend darunter litten. Sie befürchtete, dass sie es deshalb vielleicht nicht aufs College schaffen würde.

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob sie wohl deswegen so schüchtern war, weil sie das Gefühl hatte, irgendwie nicht zu uns zu gehören. Sie schien nicht mal zu wissen, wie hübsch sie war.

Mr Sewalls nächste Worte brachten mich wieder in die Gegenwart zurück. „Der Unterricht ist für heute beendet.“

Sofort brach das übliche Schulschluss-Chaos aus und die anderen Schüler riefen uns Nominierten Glückwünsche zu. Bevor ich von der Bühne verschwinden konnte, packte Dawn mich am Arm.

„Ich werde gewinnen“, flüsterte sie mir entschlossen ins Ohr. „Das spüre ich ganz deutlich.“

Ich lächelte sie an. Im Lauf der Jahre hatte ich mich an ihr Konkurrenzdenken und ihre Angeberei gewöhnt. Offenbar war das Leben für sie ein Spiel, in dem sie alle anderen ausstechen musste, um zu siegen.

Als ich die Stufen von der Bühne hinabstieg, stürmte Simone an mir vorbei und brachte mich beinahe zu Fall. Ich sah ihr nach, als sie sich durch die Menge zu ihrem Freund durchdrängelte.

Sie schien ziemlich sauer zu sein. Justin grinste sie beschämt an.

„Äh, Lizzy?“

Es war Rachel. Ich konnte ihre leise Stimme kaum verstehen. „Hast du vielleicht Lust, heute Abend zum Lernen zu mir zu kommen?“, fragte sie.

„Würde ich echt gerne“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Aber ich habe meinen Eltern heute Morgen versprochen, früh nach Hause zu kommen und nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr rauszugehen.“

Ich bin Einzelkind. Vielleicht reißen sich meine Eltern deswegen ein Bein aus, um mich zu beschützen. Diesmal nervte es mich ausnahmsweise mal nicht. Wenn irgendwo da draußen ein Mörder unterwegs war, war mir das nur recht.

Simone stritt sich immer noch hitzig mit Justin. Offenbar hatte er sich während der Versammlung einen Haufen Ärger eingehandelt. In diesem Moment stöhnte er genervt auf, warf die Hände in die Luft und lief hinaus.