Wolfgang Fleischer

Das verleugnete Leben

Die Biographie des Heimito von Doderer

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01059-7
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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Herkunft

1. Die Ohren der Kaiserin

1. Teil: 1896–1920

2. Heimchens Welt

3. Latenz und Lümmel

4. Vetteln, Albrecht und Ida

5. Fähnrich mit und ohne Apfelschimmel

6. Sibirien als Elysium

7. Da capo: Sibirien

2. Teil: 1920–1936

8. Zivilist, Student und Schriftsteller

9. Gusti Hasterlik

10. Die Erfindung der Genialität

11. Tagebuch eines Sadisten

12. Franz Heimito von Assisi

13. Divertimenti und Katastrophen

14. Skylla, Charybdis und das Feuer

15. Meister und Montmartre

16. Gusti: Hochzeit und Ende

17. Die Nobel-Standarte

18. Pfeil und Bogen

3. Teil: 1936–1951

19. Dachau: Untergang der Magie

20. Die dauerhaften Bindungen

21. Auguste versus Heimito

22. Die erste Wirklichkeit

23. Offizier und Schriftsteller

24. Prüfer und Versandpaket

25. Zweites Elysium und Heimkehr

26. Schutt und Stiege

27. Held der letzten Chance

28. Aus Depression: Wissenschaft

4. Teil: 1951–1966

29. Triumphzug

30. Der Eros des Ruhms

31. Heimita

32. Zerfall der Lage

33. Hetzjagden

34. Die Bedrohung

35. Heimitisten und andere

36. Pelimbert d. I.

37. Gesänge geheimen Grimms

Anhang

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

Personenregister

VORWORT

Diese Lebensgeschichte ist das klare Gegenteil dessen, was Heimito von Doderer über sich geschrieben hätte wissen wollen.

Vom Künstler, dessen Begabung „eine allgemeinere Bedeutung zukommen kann“ als dem Leben anderer Talentierter, hatte er in seinem Buch über Albert Paris Gütersloh gesagt: „Nicht Alle haben also ein „Schicksal“, sondern nur Wenige. Wer aber eines hat, dessen Leben ist auch schon paradigmatisch, da es wiederum einen neuen möglichen Weg zum „Gral“ (heiße er wie immer) oder zur Hölle (heiße sie wie immer) aufzeigt. Die Irrelevanz des äußeren Geschehens, der äußeren Lebenspositionen, aus denen Einer zu seiner Irrfahrt aufbricht oder die er im Verlaufe derselben erreicht, macht es möglich, ein solches Leben rein von seiner paradigmatischen Seite her aufzuzeichnen und zulänglich zu umschreiben, so daß […] auf alle Psychologismen, Anekdota und auf die ganze zusammengebastelte biographische Mosaik leicht verzichtet werden kann.“1

Doch Doderers An- und Einsichten zur Kunst – vor allem jener des Romans – zu einem Rechtfertigungskatalog für ein Leben zu machen, das dann, als obskur gehaltene Legende, nicht mehr näher beleuchtet werden dürfte, würde seine Meinungen – in einem geschichtslosen Raum – zu einem rein geistigen Heldenepos stilisieren, wobei jede Frage, die nicht der ,reinen‘ Kunst entstammt, unzulässig wäre. Einer solchen Wunschvorstellung zufolge müßte hier eine Metaphysik der Kunst mit ihren besonderen Auswirkungen auf die Romantheorie entstehen; der biographische Faden dürfte nur den Entwicklungsphasen von Doderers Erkenntnissen folgen; und obendrein müßte das alles mit jener überzeugten Apodiktik vorgebracht werden, wie sie zu ,Paradigmen‘ gehört.

Statt einer Verabsolutierung von Doderers Lehrmeinungen ist es nicht einmal deren Fragwürdigkeit, die im Mittelpunkt dieses Buches steht. Auch seine Vorstellung, daß Kunst die höchstmögliche – „Adel verleihende“ – Lebensform sei, wird nicht als Grundlage zur Betrachtung dieses Lebens übernommen, sondern selbst zu einem Thema der untersuchenden Darstellung. Maßstäbe, die jemand dem eigenen Leben setzt, sind vor allem Äußerungen desselben; wenn der Biograph es als Verpflichtung auffaßte, sie zur Basis seiner Arbeit zu machen, hätte nicht er seinen Gegenstand in der Hand, sondern dieser ihn.

Hier wird ein – gerade um der Kunst willen zunehmend „verleugnetes“ – Leben erzählt, das von der Österreichisch-Ungarischen Monarchie durch vielfache politische und gesellschaftliche Umorientierungen bis tief in die Zweite Republik reicht. Es ist ein Leben, zu dem – von den Vorfahren, der Kindheit und Jugend angefangen, über beide Weltkriege und bis zum Tod – so reichliches Material auffindbar war, daß dieses Buch, allem ersten Anschein zum Trotz, das Ergebnis eines Bemühens um Knappheit ist: wenn auch auf der unverzichtbaren Basis der Anschaulichkeit.

Das ergibt vor allem einmal eine zeitgeschichtlich orientierte Lebensbeschreibung, die sich keineswegs bevorzugt an die Leser und Kenner von Doderers Werken richtet, sondern an jeden, den detaillierte Darstellungen zum mehr oder minder bekannten Schicksal unserer vorangegangenen Generationen interessieren.

Erst von diesem Bild eines Lebens in seiner Zeit ausgehend, ergibt sich der Blick auf Doderer als Schriftsteller, der seine konkreten Erfahrungen für seine Erzählkunst verwendete und zugleich von dieser sein Leben zunehmend bestimmen ließ. Das erfordert die Darstellung vielfacher und teilweise wechselseitiger Bezüge, die weniger zu eindeutig erledigenden Aussagen als zur Vernetzung von oft disparat Bleibendem führen, wie es diesem Leben entspricht, das voll von Widersprüchen und nie ganz aussetzenden Versuchen gewaltsamer Vereinheitlichung ist.

Zur Entwicklung der Werke und Theorien Doderers ist die oft sehr fragwürdige und natürlich auch zeitgenössisch bedingte Herkunft seiner Absichten und Ansichten am interessantesten; dabei wird sichtbar und deutlich, wie fruchtbar – oder auch furchtbar – er mit seinen Irrtümern umging. Sie nährten ebenso Romane, die als gelungen und großartig gelten, wie den häufig rücksichtslosen Umgang mit nahestehenden Personen und obendrein katastrophale politische Fehleinschätzungen; aus demselben Bündel von Grundanschauungen stammten jedoch auch immer wieder die Argumente für Kehrtwendungen, Selbstheilungen und neue – ,paradigmatische‘ – Rechtfertigungen.

Eine solche Darstellung kann natürlich nicht zu einem gewissermaßen germanistischen Überblick über Doderers Werke führen; das würde ich mir weder anmaßen, noch lag es je in meiner Absicht – hier ist auf die entsprechenden Arbeiten von Wendelin Schmidt-Dengler und Dietrich Weber hinzuweisen2. Wie jedoch die einzelnen Werke aus diesem Leben sowie in dessen Atmosphäre und Umwelt entstanden, bildet einen Teil der Erzählung. Daraus positive oder negative Rückschlüsse auf die literarische Qualität zu ziehen, ist von meiner Seite rundweg abzulehnen; als wäre es tatsächlich jemals der Hunger – oder eine richtige Idee gewesen, die aus jemandem einen großen Künstler gemacht hätten.

Hier wäre Doderers Einwänden gegen eine biographische Darstellung fast beizustimmen – hielte ich nicht seine ,Paradigmen‘ für ebensowenig zielführend. Die Ganzheit eines künstlerischen Werks auf irgendeinen sogenannten Schlüssel zu reduzieren, wird immer nur zur Verarmung des Bildes führen. Deshalb scheint mir ein Gesamtbild, das nach Möglichkeit alle Faktoren berücksichtigt, als die größte Annäherung an ein Phänomen, das seinem Wesen nach irreduzibel und daher äußerst komplex bleiben muß.

Daraus ergibt sich auch – was vielleicht ohnehin selbstverständlich sein sollte –, daß sogenannte Rücksichten, die sich etwa auf ,Anstand‘ oder gar Tabus berufen, nicht nur verfehlt wären, sondern tatsächlich Leerstellen im Mosaik verursachen müßten. Und wenn gar noch Absicht dahintersteckte, würde dies die ganze übrige Arbeit desavouieren.

Diesem Bekenntnis zum Umfassenden einer Biographie steht als Ziel die Schlüssigkeit der Darstellung gegenüber; eine solche wird durch Aufzählungen allzuvieler Details, die schon Bekanntes geringfügig variieren, oder durch die Nennung allzu vieler Namen unnötig belastet, ohne noch wesentlich zu gewinnen. So werden einige Kenntnisreiche diesen oder jenes vermissen; dergleichen ist ebenso unvermeidlich wie, bei einer solchen Materialfülle, kleinere Irrtümer, Mißverständnisse oder Unterschiede der Auffassung.

Zuletzt will ich, die Frage vorwegnehmend, kurz beantworten, ob oder wie es diese Arbeit beeinflußt hätte, daß ich Doderer in dessen letzten Lebensjahren gekannt habe. Natürlich ist von jenem persönlichen Umgang ein Bild geblieben, das nicht nur den alten Mann, seine Hoffnungen, Stimmungen und Depressionen umfaßt, sondern auch einen erheblichen Teil seines damaligen Lebenskreises, was der Beschreibung gewiß zunehmende Anschaulichkeit verleiht. Doch blieb mir, abgesehen vom häufig geschilderten Sibirien, seine gesamte Vergangenheit sowie sein intimeres Wesen weitgehend verschlossen – wie es auch ohne Zweifel seiner Absicht entsprach.

Als ich Doderers Vergangenheit fast so lange recherchiert hatte, wie ich seinerzeit ,Secretarius‘ gewesen war – nämlich über drei Jahre –, stand mir zuletzt ein so unbekannter und für mich schwer verständlicher Mensch gegenüber, daß ich an der gestellten Aufgabe mehrfach verzweifelte. Die zunehmende Kenntnis des Charakters, die sich durch die andauernde Beschäftigung mit diesem dann doch ergab, überdeckte weitgehend mein eigenes Erinnerungsbild und machte eine Distanz zur früheren Nähe unvermeidlich. Das ist, wie ich hoffe, zur besten Voraussetzung für das vorliegende Buch geworden.

Wien, im Januar 1996

HERKUNFT

1. DIE OHREN DER KAISERIN

Der eigenen Familie durch Legendenbildung und Ahnenfiguren zu einer Wertsteigerung zu verhelfen, die sich auf alle gegenwärtigen und zukünftigen Mitglieder erstrecken sollte, war in der Sippe der Doderers ein immer wieder ernst betriebenes Spiel. Heimito von Doderer jedoch setzte sich von jeder Stammbaumkletterei strikt ab: er sei kein ,Herkünftler‘, sondern ein ,Hinkünftler‘. Diese negative Haltung gegenüber einer Familienhistorie, noch dazu von einem, der die Ausbildung zum hochqualifizierten Historiker hinter sich hatte, zeigt vor allem eines: wie sehr der Schriftsteller – allzu lang in seinem Leben – darunter gelitten hatte, dem übersteigerten Wertanspruch seiner Verwandtschaft nicht zu genügen. Denn das ist die verwünschte Kehrseite dieser Selbstaufwertung durch Vorfahren: sie fordert zu direkten Vergleichen mit diesen heraus.

Als er – endlich und reichlich spät – berühmt wurde, wollte er den Zusammenhang mit der Herkunft umgekehrt sehen: daß die Vergangenheit daran zu bemessen wäre, wohin sie geführt hatte. Damit meinte er – in seiner immer verletzlich bleibenden, nie zu geringen Eitelkeit – recht unverblümt sich selbst. Er, dem (auch für ihn) recht schmerzliche Zweifel der Familie gegolten hatten, war das erfolgreichste Endprodukt dieser Sippenentwicklung geworden: und ab nun sah er die ,Hinkunft‘ zu ihm als nachträgliche Sinngebung der vorausgegangenen Generationen – als wäre ihre wesentliche Aufgabe bloß gewesen, einen Heimito auszumendeln. Nur einen einzigen Vorgänger schloß er von dieser Sichtweise aus und rückte sich als ,Urgroßneffe‘ diesem geschmeichelt näher, als den Tatsachen entsprach: Nikolaus Lenau. Gern, stolz (und vielleicht doch legitimierend für sein poetisches Erbe) erwähnte er die Verwandtschaft mit dem großen Dichter – blieb aber sogar hier auf Distanz: „Geistesverwandtschaft zu Lenau konnt‘ ich jedoch niemals empfinden.“1 Seine Einzigartigkeit mußte bewahrt und jeder zu direkte Vergleich mit den Ahnen vermieden werden.

Diesem Thema galt auch eine Rede, die Heimo anläßlich des 50. Hochzeitstages seiner Eltern hielt und die – was ganz und gar seiner Interessenlage entsprach – mehr ihm selber als dem Jubelpaar galt. (Sehr persönliche Problemlösungen durch abstrakte Theorien für andere verbindlich zu machen, war ihm damals wie später eine bevorzugte Waffe.) Seine These lautete, daß gerade der weit vom Stamm gefallene Apfel alle bisher ungenutzten Fähigkeiten des gesamten Erbgutes rettet und zur Reife bringt. Die dadurch erweiterte Familienzukunft, auf die stolz zu sein die alten Herrschaften hier vor versammelter Familie gedrängt wurden, verkörperte ein ungenannt bleibender Heimito, der „fast als ein Narr erscheinen“ mochte, jedoch verwirklichte, was im „Blut“ der Generationen angelegt und bloß noch nicht erwacht war. Deshalb sollten sie gerade seinen Abstand und sein Anderssein als eigentliche Zugehörigkeit empfinden: denn nur im bisher von ihnen Mißachteten lag Fortschritt und Gewinn.2 Ein fast rührender Appell um Anerkennung war, neben aufgeplusterten Phrasen, dabei deutlich mithörbar und vielleicht das einzige, was von Herzen kam. Und doch beharrte auch diese – zumindest teilweise – versöhnliche Geste auf einer ganz entschiedenen Ablehnung, sich zu den Traditionen der Familie verpflichten zu lassen; was auf die Eltern, die nicht ganz zu Unrecht für ihre eigenen Leistungen gefeiert werden wollten, wohl kaum gefühlserwärmend gewirkt haben mag.

Unversöhnlich vorwurfsbereit wie gegen seine Familie blieb Heimito von Doderer auch gegen alle andern – Geliebte, Freunde, Bekannte –, denen nicht selbstverständlich war, die Kunst und den Künstler immer und überall als übergeordnete und höchste Entwicklungsstufe anzusehen. Im konkreten Fall meistens: seine Kunst und ihn selber. Aristokratie galt ihm als mitgegebener Vorsprung, die Kunst als einzige Möglichkeit, einen neuen Adel entstehen zu lassen. Nur an Künstler und Adelige richtete er auf seinen Briefumschlägen die altmodische Anrede Hochwohlgeboren Herrn (andere schätzenswerte Menschen mußten sich mit Wohlgeboren zufrieden geben). Eben diese hierarchische Sicht schloß auch aus, daß er von der Ablehnung seiner Familie zur Bohème oder offenen Rebellion weitergegangen wäre; er blieb nicht nur ein hochwohlgeborener Herr, sondern war es, der eigenen Bewertung nach, sogar im doppelten Sinn: Aristokrat und Künstler.

So blieb die Trennung von seiner Herkunft zwiespältig und schmerzlich: er löste sich – so absichtlich wie unvollständig – von einer familiären Vergangenheit, auf die er zugleich den Stolz bewahren wollte. Gern zeigte er Besuchern die Wappen seiner väterlichen und mütterlichen Ahnen an einer Kommode in seinem Zimmer – und machte manchmal den Eindruck, daß er zur respektvollen Würdigung seiner Vorfahren bereit gewesen wäre, wenn ihm eine ebensolche in der eigenen Familie entgegengebracht worden wäre.

Aber in deren Geschichte hatte Kunst eine recht nebensächliche Rolle gespielt – etwa zu Schmückungsbedürfnissen oder bei der Pflege töchterlicher Begabungen; und auch Aristokratie erst eine sehr späte.

Linie des Großvaters mütterlicherseits
Das wollte man natürlich anders sehen; und dichtete sich – anläßlich eines großen Familienfestes 1888 – eine hehre Vergangenheit an:

„Als einstens vor fast 1000 Jahren …
… Erschien der Ritter muth’ge Schaar.
Am kühnsten aber schlug sich durch
Herr Hügel von der Mangelburg.
Er stürmt mit seinem Reitertroß
Heraus aus seinem stolzen Schloß …“3

Das wurde zum 60. Geburtstag von Heimitos Großvater mütterlicherseits, Heinrich von Hügel, vorgetragen; ihm war der – nicht erbliche – Adel erst dreizehn Jahre vorher von Kaiser Franz Joseph verliehen worden. „Der ,berühmte Hügel von Mangelburg‘, auf den unsere Mütter ihre Abstammung zurückführten, existierte nur in der Phantasie der Hügels“, schrieb einer der sorgfältigsten Stammbaumforscher der Familie sehr viel später an den dadurch bloß belästigten Heimito von Doderer, der bei dieser Gelegenheit noch dazu als „kleiner Junge mit Lockenhaar“ erinnert wurde.4

Tatsächlich sind die Hügels seit rund 1500 in Straßburg nachweisbar, und zwar als ,Ackergärtner‘ – was im Grunde Bauern hieß, die jedoch aus Verteidigungsgründen ihre Felder innerhalb der Stadtmauern hatten. Erst David Martin Hügel, geboren 1794, ließ davon ab, die Heimaterde weiter zu durchfurchen, und wurde vorerst in Mainz seßhaft, wo er 1822 Margarethe Brehm heiratete; er brachte es zum ,Frachtbestatter-Assistenten‘ und schließlich zum ,Großhzgl. Hess. Güterexpedienten‘, nämlich der Main-Weser-Bahn in Gießen. Und ab da wurde die Eisenbahn zum Schicksal einiger Generationen.

Noch in Mainz wurden dem David Hügel nach zwei Töchtern schließlich im Jahre 1828 männliche Zwillinge geboren; einer davon war jener (Georg) Heinrich, der sechzig Jahre danach mit dem erwähnten Familienepos gefeiert wurde. Er war Bauunternehmer: mit deutlichem Schwerpunkt auf der Errichtung von Eisenbahnen. Im Land, wo auch sein Vater diente, wurde er zum Großhzgl. Hess. Geheimen Baurat und heiratete 1857 in Darmstadt die einundzwanzigjährige Maria Louise Vietor.

Linie der Großmutter mütterlicherseits
Durch das ,berühmte Verlagshaus Vietor‘, so lautet eine der Doderischen Familienlegenden, sei gewissermaßen das Buch in die Familie gekommen.5 Das bezieht sich offensichtlich auf Maria Louises Mutter Johanette, geborene Diehl, deren Vater Buchbinder sowie Buch- und Schreibmaterialienhändler in Darmstadt gewesen war – und nicht mehr. Die Vietors selbst hingegen hatten es in zwei Generationen vom Silberarbeiter (Friedrich Ludwig Vietor) zum Großhzgl. Hess. Geheimen Botenmeister (Carl Wilhelm Vietor) gebracht; dieser wurde dann noch Chef der Geheimen Schreibstube und Controlleur der indirekten Abgaben.

Großeltern mütterlicherseits
Die – mit ihrem ausgeprägten Kinn recht willensstark wirkende – Tochter dieses Mannes war jedenfalls für Heinrich Hügel eine respektable Partie; er ging mit der jungen Frau nach München, wo er Architekt bei der Ostbahn-Direktion wurde. Und von hier aus begann der steile Aufstieg des kleinen eleganten Mannes mit der großen Energie: wobei immer mehr die selbständige Tätigkeit als eigenständiger Unternehmer überwog, bald mit Sager als Compagnon (,General-Bauunternehmung Hügel & Sager‘), und es rasch zur Expansion in den Osten kam – in die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Dennoch blieb der Hauptsitz in München, wo ihm in seinem Palais, am Karolinenplatz Nr. 6, von 1858 bis 1865 vier Töchter geboren wurden, deren zweite – Johanne Caroline Louise, genannt Willy, geboren am 6. 4. 1862 – die Mutter Heimito von Doderers werden sollte.

Der inzwischen zum Kgl. Bayer. Baurat Arrivierte hatte seine Tätigkeit in Österreich-Ungarn 1869 aufgenommen (und bekam eben dafür sechs Jahre später den persönlichen Adel vom Kaiser verliehen – den erblichen erhielt er erst weitere sechs Jahre später vom König von Bayern, hatte jedoch letztlich aus zwei Ehen nur Töchter). Je renommierter die Firma ,Hügel & Sager‘ in Österreich-Ungarn wurde, um so selbstverständlicher war es auch, daß der kunstliebende Hesse aus Bayern in den entsprechenden Kreisen der Kaiserstadt herumgereicht wurde und vor allem seine angesehensten Kollegen kennenlernte: unter diesen natürlich auch Ferstel und Doderer. Deren Fachgebiet war ein völlig anderes: die großen repräsentativen Bauten jener sich hauptsächlich darin ausdrückenden ,Gründerzeit‘ in Wien – wie etwa Ferstels Votivkirche und Universität und Doderers Corps-Kommando (das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde – es stand an der Stelle des heutigen Institutsgebäudes hinter der Universität) und die prunkvolle Sommerresidenz des rumänischen Königs in Sinaia; Kaiser Franz Joseph, dessen Kunstsinn allerdings mehr als zweifelhaft war, beschrieb sie in einem Brief an die Schratt als „namenlos schön“.

Eine für Erfolg und Ansehen repräsentative Villa wollte sich auch Heinrich von Hügel, wohl seiner Frau zuliebe in Darmstadt, bauen lassen: es wurde ein weitläufiges Palais mit Säulenauffahrt und einem eigenen Gästehaus im Park (mit Äolsharfe – die vielleicht allzu lange Aufenthalte verhindern sollte). Hier bot er Doderers Sohn, der eben beim Vater sein Architekturstudium an der Technischen Hochschule abgeschlossen hatte, die Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln und sich vielleicht auch schon ein erstes Mal zu bewähren. Das scheint tatsächlich der Fall gewesen zu sein; jedenfalls dankte Hügel im Jahre 1877 – als Vater Doderer gerade in den erblichen Ritterstand erhoben worden war – dem „lieben jungen Freund“ für die „vielfachen ersprießlichen Bemühungen“ und zahlte ihm eine Gratifikation von 500 Mark aus.6 Drei Jahre später verlobte sich dieser vielversprechende junge Mann mit der zweitältesten Tochter Hügel, ein Jahr darauf wurde geheiratet. Übrigens blieb auch ihre jüngere Schwester Lollo im selben Gesellschaftskreis: sie heiratete 1885 Ferstels Sohn Max.

Linie des Großvaters väterlicherseits
Auch die Doderers stammten von einer langen Reihe von Bauern ab, die ab rund 1500 im Württembergischen Murrtal nachweisbar sind; der älteste hieß Peter Doder, sein Sohn schon Doderer, ebenfalls Peter. Der erste war in Sechselberg, der zweite auf dem Göckelhof in Mettelbach zuhause, dann folgten fünf Generationen auf dem Weidenhof bei Weidenbach; und sie alle heirateten Töchter von Bauern.

Der letzte dieser Bauern war nebenher schon Zimmermann gewesen und als solcher nach Waltersberg gezogen; sein Sohn Gottlieb, geboren 1782, zog weiter nach Heilbronn, wurde dort Bürger, Zimmermann und Mühlenbaumeister und heiratete die Tochter eines andern Bürgers namens Diruf, der Flaschnermeister war. Ihm wurde im Alter von 43 Jahren der Sohn Carl Wilhelm Christian geboren, der schließlich zu Wilhelm Ritter von Doderer werden sollte.

Nach zwei Generationen von Zimmerleuten blieb der junge Mann dem Baufach verbunden, allerdings schon auf einer höheren Stufe: er studierte Architektur, was damals freilich so aussah, daß er nach Untergymnasium und Oberrealschule viereinhalb Jahre als Maurer und Steinmetz Erfahrungen sammelte, ehe er in Stuttgart das polytechnische Institut vier Jahre lang bis zur Staatsprüfung besuchte. Nach einem weiteren Studienjahr in Berlin führte ihn 1851 der Weg nach Wien, wo auch schon vor der großen Bauepoche der Ringstraßenzeit berühmte Baumeister und Lehrer wie Siccardsburg und van der Nüll tätig waren; und bei diesen beiden begann Doderer seine Tätigkeit. Sie hatten damals gerade das neue Leopoldstädter Theater gebaut; zu wirklich internationalem Ruhm kamen sie erst erheblich später durch die Errichtung der Hofoper.

Doch das Großbauvorhaben, das beim Eintreffen Doderers fast alle namhaften Architekten Wiens beschäftigte, war das Arsenal, eine direkte Kaiserliche Reaktion auf die Revolution von 1848, die nur durch die brutalste Bombardierung der Stadt (hier hatte sich Feldmarschall Windischgraetz schlimmer als Napoleon erwiesen) hatte niedergeschlagen werden können. Auf einem höhergelegenen Areal südlich der Stadt entstand nun – noch dazu im ,romanisch-maurisch-byzantinischen Baustil‘ – ein ummauerter Komplex von 72 Gebäuden, von wo aus das Heer nicht nur mit entsprechender Truppenstärke jederzeit in der Stadt eingreifen, sondern diese auch mit Artillerie bestreichen können sollte. Dieser enorme Einsatz für das Heer – es wurden gleichzeitig und zum selben Zweck noch zwei weitere Kasernen direkt an der Innenstadt erbaut – ist eines der stärksten Zeichen des beginnenden Neo-Absolutismus des jungen Franz Joseph: in der Krise hatten sich nur das Heer und die Bürokratie als staatserhaltend in seinem Sinn – der Dynastie nützlich – erwiesen; jetzt stützte er seine ganze, rasch wachsende Macht auf sie als die einzig geeigneten Mittel der Unterdrückung.

Der junge Architekt Doderer war durch seine Mitwirkung am Arsenalbau für den größten Bauherrn der Monarchie tätig: die Militärbehörden. Bereits nach einem Jahr beriefen sie ihn zum Professor der k.k. Genie-Akademie zu Klosterbruck in Mähren, wo er 1853, also achtundzwanzigjährig, die um zehn Jahre jüngere Marie von Greisinger heiratete. Mit dieser Frau kam bei den Großeltern Heimito von Doderers zu drei deutschen Linien – Hügel, Vietor und Doderer – auch ein österreichischer Teil ins genetische Spiel, mit Lenau zur Gewichtung.

Linie der Großmutter väterlicherseits
Lenaus Mutter Maria Theresia, geborene von Maygraber, stammte aus Pest in Ungarn, wo ihr Vater, ein vorzüglicher Absolvent der philosophischen Hochschule, Oberfiskal der Stadt war; dessen Vater wieder war durch eine Bäckerei in der Pester Innenstadt zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen und stammte seinerseits von einem Kaufmann und Richter aus Loretto am Leithagebirge, damals Ungarn, heute Burgenland. Theresia von Maygraber war eine temperamentvolle Frau, die achtundzwanzigjährig den leichtsinnigen Lebemann und Spieler Franz Xaver Niemtz (Niembsch) durch Selbstmorddrohungen drei Wochen vor der Geburt ihres ersten Kindes zur Ehe zwang. Nikolaus Niembsch, der spätere Lenau, wurde als drittes Kind drei Jahre später geboren und hatte sein Talent gewiß mehr der phantasievollen Mutter zu verdanken als den schlesischen Vorfahren seines Vaters. Dieser konnte auch nicht mehr viel Einfluß als Erzieher geltend machen, woran ihm wohl ohnehin kaum gelegen war; er starb nur vierzigjährig an Schwindsucht, als sein Sohn erst fünf Jahre alt war.

Es kam zu einem zweiten Selbstmordversuch der öfters als psychopathisch dargestellten Frau, wie Lenau seiner Geliebten Sophie Löwenthal 1839 erzählte: „… als mein Vater starb […] stellte sie sich auf eine in den Keller führende Falltür, raufte ihr Haar und stampfte mit den Füßen, damit die Tür einbreche und sie in den Keller hinabstürze.“ Mit der gleich starken leidenschaftlichen Liebe hätte sie auch ihn, ihren einzigen Sohn, ständig umgeben.7 Sie zog ihn vorerst mit seinen beiden Schwestern allein auf, heiratete jedoch 1811 ein zweites Mal, und zwar den (Civil-)Arzt Dr. Carl Vogel in Tokay (später in Szeret). Da die Geburt der Tochter Wilhelmine bereits am 3. März desselben Jahres erfolgte, wird sich der unmittelbare Anlaß zur zweiten Eheschließung nicht wesentlich von jenem zur ersten unterschieden haben. Erst die Linie aus dieser zweiten Ehe – also die Tochter Wilhelmine Vogel – führte letztlich zu den Doderers. Mit ihrem Halbbruder Nikolaus blieb diese übrigens nur die ersten sieben Lebensjahre unter demselben Dach; dann erzwang dessen Großvater Joseph Niembsch, k.k. Oberst und Kommandant der Monturs-Hauptkommission in Stockerau bei Wien, unter Androhung des Verlustes der Erbschaft für den Enkel, daß dieser bei ihm zu verbleiben hätte. Für seine Enkelkinder und sich erwarb er zu Weihnachten 1820 den Adelstitel ,Edler von Strehlenau‘, in Erinnerung an den Ort Strehlen in Schlesien, wo seine Vorfahren herstammten.

Erst im Todesjahr ihres schon seit sechs Jahren geistig umnachteten Halbbruders (er starb wie Heimito in Wien/Döbling), der sich als Dichter Nikolaus Lenau genannt hatte, verehelichte sich Wilhelmine Vogel neununddreißigjährig mit dem um acht Jahre älteren k.k. Oberst im Geniekorps Gustav Adolph Greisinger, der drei Jahre später schon Generalmajor und ,Ritter von‘ war; unter den Trauzeugen in der k.k. Ingenieur-Akademie befand sich sogar ein Feldmarschalleutnant. Allerdings hatte das Brautpaar eine bereits fünfzehnjährige Tochter namens Marie, die vom Vater bei der Geburt anerkannt und unter seinem Namen ins Geburtsregister eingetragen worden war; das geht aus den Dokumenten hervor. Familienlegenden umgehen solche Geschichten (obwohl der Grund vielleicht nur in der Militärlaufbahn Greisingers gelegen war) und berichten lieber von der ,großen Dame‘ mit Federboa, die den ,General‘ und alle andern beherrscht und mit ihrem Temperament in Atem gehalten hätte. Dafür war man 1938, als allerorts Unterlagen für Ariernachweise zusammengerafft wurden, wegen Greisingers Vorfahren besorgt: eines Großhändlers Abraham Greisinger, verehelicht mit Sara Herzogenrath. Doch stellte sich zur Beruhigung der Familie heraus, daß es damals unter den strenggläubigen Protestanten der Gegend (Brünn in Mähren) üblich gewesen war, alttestamentarische Namen zu bevorzugen.

Welche Beziehungen zwischen Nikolaus Lenau und seiner Halbschwester Wilhelmine sowie ihrem nachmaligen Gatten Gustav Greisinger geherrscht hatten, ist unbekannt; eine weitere Schwester namens Theresia heiratete in Stockerau den Vorstand der Münz- und Bergwesens-Hofbuchhaltung Anton Schurz, der später die erste Biographie seines Schwagers verfaßte; auch die dritte Schwester, Maria Magdalena, die einen Jedleseer Bäckermeister geheiratet hatte, lebte in Wien. Immerhin blieb in der Familie Doderer – und das kann nur von Wilhelmine, geb. Vogel, stammen – einiger Besitz von Lenau: Briefe und ein Faust-Fragment gingen nach dem Zweiten Weltkrieg während der russischen Besetzung des Hauses in der Stammgasse verloren, doch Gegenstände wie Teller oder Lenaus Frühstücks-Service – Tasse, Untertasse und zwei Kännchen in Zartlila – sind bis heute bei Doderer-Nachfahren erhalten. Die Lektüre der Werke des berühmtesten Vorfahren war allerdings nicht obligat: am 12. 10. 1961 schrieb Heimito von Doderer an Professor Ivar Ivask, der ihm eine zweibändige Lenau-Ausgabe geschenkt hatte: „Durch dieses Ihr schönes Geschenk werde ich jetzt meinen Urgroßonkel als Dichter kennen lernen …“ Aber er beschränkte sich auf das biographische Vorwort, um daraus fast empört Beispiele des germanistischen Unverständnisses für erotische Neigungen von Dichtern zu zitieren: als wollte er verhindern, daß seine noch bedenklicheren Fixierungen ähnlich behandelt würden.

Die Großeltern väterlicherseits
Marie Greisinger, endlich eine ,eheliche‘ Tochter und bald darauf, sozusagen rückwirkend, eine ,geborene Edle von Greisinger‘, heiratete achtzehnjährig – drei Jahre nach der Eheschließung ihrer Eltern, dazu im allgemeinen Taumel der Verlobung des Kaisers mit Sisi und zur Aufhebung des vierjährigen Belagerungszustandes von Wien, Graz und Prag – im Jahr 1853 den jungen Architekten Doderer, den sie wohl über ihren Vater kennengelernt hatte. Der Oberst im Genie-Corps war Studien-Inspektor der k.k. Ingenieurs-Akademie von Brünn in Mähren, Carl Wilhelm Doderer, Professor der k.k. Genie-Akademie zu Klosterbruck (bei Znaim) in Mähren, der noch dazu vielfache militärische Bautätigkeit ausübte: daraus hatten sich gewiß genug Berührungspunkte ergeben. Noch in Klosterbruck wurde ihm, schickliche neun Monate nach seiner Heirat und vier Monate nach der Hochzeit des Kaisers, sein erster Sohn geboren, der nicht Carl Wilhelm, sondern Wilhelm Carl hieß – Heimitos späterer Vater.

„Ich mußte sehen, wie meine Landsleute, wie hochgerichtete Edelleute hingerichtet und scharenweise auf Festung verurteilt worden sind, wie alle Freiheit im Lande verschwunden ist.“ Damit rechtfertigte sich Johann Libényi vor Gericht nach seinem Attentatsversuch auf Franz Joseph (am 16. Februar 1853); der Kaiser war mit einer eher harmlosen Stichverletzung davongekommen und gewann als Opfer erstmals etwas an Popularität (das zweite Mal durch Sisi; sein Bruder Ferdinand Max erklärte: „Den Frevel möge ewige Nacht bedecken …“ und schrieb aus „Dankbarkeit und Freude“ über die Rettung einen Wettbewerb zu einer Votivkirche aus. Bis zum Abgabetermin am 1. November 1854 (später auf den 31. Januar 1855 verlängert) fieberten die Architekten in fast ganz Europa, genauer gesagt fünfundsiebzig, der Entscheidung entgegen, unter ihnen auch Wilhelm Doderer. Und tatsächlich gehörte er zu den wenigen prämierten Künstlern, die noch dazu für ihre Mühe mit 1000 Gulden gratifiziert wurden; den Auftrag zu dem Bau, der erstmals seit Jahrhunderten oder zumindest seit der Regotisierung der Augustinerkirche 1784/85 wieder rein gotisch gestaltet werden sollte, erhielt allerdings sein späterer Freund Heinrich [von] Ferstel, der damals erst siebenundzwanzig Jahre alt war.

Doch auch Doderers Ruf wurde durch die Prämierung weiter gefestigt; und außerdem war er in den nächsten elf Jahren ohnehin durch militärische Bauten – hauptsächlich Grenzbefestigungen – zur Genüge ausgelastet. Und natürlich war es diese Tätigkeit – und nicht etwa hervorragende künstlerische Gestaltung –, die ihm später seine österreichischen Orden einbrachte, welche damals für die gesellschaftliche Stellung teilweise bedeutender waren als das Einkommen8 – vor allem, wenn die Auszeichnung mit einem Allerhöchsten Handschreiben Sr. k.u.k. Apostol. Majestät verbunden war. So hohe Huld wertete nachdrücklicher auf als persönliches Verdienst – das Wilhelm Doderer freilich nicht abzusprechen war. Er blieb bis 1866 in Klosterbruck an der Genie-Akademie, in welchem Zeitraum ihm noch zwei Töchter geboren wurden. Dann erhielt er eine Berufung als ordentlicher Professor ans Wiener Polytechnische Institut, die spätere Technische Hochschule; übrigens gleichzeitig mit Ferstel.

In diesem Jahr der Rückkehr Doderers nach Wien war besonders augenfällig im Gange, was sich bis zum Ende der Monarchie fortsetzen sollte: die Residenzstadt des Kaisers erblühte, während sein Reich als staatliche Einheit sich allmählich auflöste. 1857 begann die Schleifung der Stadtmauern mit ihren Basteien und Toren, und vom Erlös der dadurch freiwerdenden Grundstücke am Rand der Innenstadt konnte die großzügigste Neugestaltung in der Geschichte Wiens atemberaubend rasch vorangetrieben werden. Zwei Jahre darauf setzte sich der noch äußerst selbstbewußte junge Kaiser selber an die Spitze seiner Truppen, um die italienischen Provinzen – wie seinerzeit Radetzky – unter seine Krone zu zwingen, und verlor nach der schrecklichen Niederlage von Solferino nicht nur die Lombardei, sondern auch soviel an innenpolitischer Glaubwürdigkeit, daß er seinen harten Neoabsolutismus durch entscheidende Abstriche einschränken mußte. Und dann folgte nochmals derselbe Zweitakt (in der Zwischenzeit war die Wiener Operette entstanden): 1865 wurden die rund vier Kilometer der 57 Meter breiten Ringstraße prunkvoll eröffnet, im Jahr darauf wurde Österreich durch die vernichtende Niederlage bei Königgrätz endgültig aus dem politischen Spiel der deutschen Staaten geworfen und verlor zudem noch Venetien. Und Sisi, die längst nicht mehr zur Verfügung stand, für den erfolglosen Kaiser um Sympathien zu werben, mischte sich in der Folge und zum einzigen Mal in ihrem Leben in die Politik ein, um durch ihre sentimentale Bevorzugung der Ungarn und den dadurch geförderten österreichisch-ungarischen Ausgleich auch ihren nicht unwesentlichen Beitrag zum späteren Untergang der Monarchie zu leisten.

Eine nicht sonderlich willkommene, dafür umso notwendigere Hilfe für den immer wieder geschwächten Kaiser stellte die Schicht all jener dar, die am meisten leisteten, ohne noch entsprechend an der Macht und am Ansehen beteiligt zu sein: die großbürgerlichen Unternehmer und Bankiers. (Ein gleichnamiger Nachfahre jenes Theodor Hornbostel, der an der Gründung der Creditanstalt beteiligt war, sollte als ,Teddy Honnegger‘ in den Dämonen Doderers eine Rolle spielen; ein Nachfahre jener Todescos, die in der verlängerten Kärntner Straße ihr Palais erbauten, ein hilfreicher Freund des jungen Heimito werden.) Zu diesen nun Erfolgreichen gehörten große Anwälte und Ärzte wie etwa Billroth (der bei Heinrich von Hügel verkehrte), und natürlich die Stilisten der Gründerzeit, die Architekten der neuen Nobilität. Der Aufstieg der Doderers gehört zu dieser unwahrscheinlichen Blüte des Reichszerfalls.

Carl Wilhelms weitere Karriere zeugt davon: 1874 stellte er das große Corps-Kommando in Wien fertig, in Tiroler Urlaubsorten ließ er sich für den Bau hübscher kleiner Kirchen gewinnen, 1876 errichtete er in Sinaia die Sommerresidenz für den rumänischen König Carol (und noch mehr für die gutartig-poetische Königin Carmen Sylva, die an ihren feinsinnigen Architekten, Träger der rumänischen goldenen Medaille für Kunst und Wissenschaften, romantische Gedichte schrieb). 1876 wurde er Rektor der Wiener Technischen Hochschule (zu der das Polytechnikum im Jahre 1872 erhoben worden war), im Jahr darauf zum ,Ritter von Doderer‘ geschlagen. Es war die Zeit, in der man dem Kaiser den Spitznamen ,Seh-Adler‘ verpaßte: wen er sah, den adelte er; so dringend war es ihm, die Erfolgreichen an sein Haus zu binden. Was diese neue Klasse vereinte, war der Liberalismus, der in Wien zweifellos in den zehn Bürgermeisterjahren (1868 bis 1878) des vielseitig gebildeten Dr. Cajetan Felder seinen Höhepunkt fand: unter ihm begann der Bau der Hochquellen-Wasserleitung ebenso wie jener der Donauregulierung, die Errichtung des neuen (ebenfalls gotischen) Rathauses sowie des Zentralfriedhofs; und in seinem zweiten Triennium fand auch – 1873 – die große Wiener Weltausstellung statt (getrübt durch Börsenpleite und Cholera). In dieser Legislaturperiode war der o. Prof. Doderer Mitglied des Gemeinderats und wie sein Bürgermeister davon überzeugt, daß Vernunft gepaart mit technischem Einsatz überhaupt alles möglich mache. Doch nichts haßte sein Enkel Heimito mehr als diese Einstellung des Liberalismus, die er letztlich sogar wegen der „sprachlichen Katastrophe, welche das neunzehnte Jahrhundert gebracht hat, als Wurzel des Übels“9 für den (eigenen?) Nationalsozialismus verantwortlich machte.

Mehr Übel kam, aus heutiger Sicht wie aus jener des damaligen Bürgermeisters (und wohl auch Wilhelm Doderers), von der erstmaligen Wahl Luegers, der bald den Weg des Demagogen von der Rüpelhaftigkeit zum Antisemitismus ging. „Merkwürdig bleibt es immer, daß ausgerechnet der friedliche, patriarchalische Bezirk Landstraße der Boden war, aus dem die Drachenzähne aufkeimten“, schrieb Cajetan Felder über Luegers Wahlbezirk später in seiner höchst lesenswerten Lebensgeschichte;10 merkwürdig in diesem Zusammenhang ist noch, daß der Bezirk Landstraße zur Wohnheimat der nächsten Doderer-Generationen wurde – wenn auch durchaus unter dem patriarchalischen Stern von Wilhelm Carl.

Der Rektor Carl Wilhelm Ritter von Doderer war ein großer, eher schlanker Herr mit einem ebenso prägnanten wie intelligenten Gesicht (der gepflegte Bart war für den Status obligat), darin sich doch eine gewisse vorsichtige Scheu und Empfindsamkeit ausdrückte: im Gegensatz zu seinem Sohn, der ein technisch geprägter Großunternehmer wurde, empfand er sich wie die meisten andern Architekten der Gründerzeit als Künstler (und malte auch recht ansprechende Aquarelle). Das mag ihn mit Ferstel, etwa ab ihrer gemeinsamen Berufung ans Polytechnikum, freundschaftlich verbunden haben: woraus sich nicht nur die spätere Verwandtschaft der beiden Familien ergab, sondern letztlich auch der Erwerb des ,Riegelhofs‘, jener in der Strudlhofstiege ausführlich beschriebene Sommersitz der Doderers. 1869 plante Heinrich von Ferstel für Erzherzog Karl Ludwig, den Großvater des späteren Kaiser Karl, einen Sommersitz im damals gerade modern gewordenen Sommerfrischenort Reichenau an der Rax (rund 50 km südlich von Wien); 1870–1872 wurde dann die Villa Wartholz – etwa ein kleineres Jagdschloß – gebaut. (1872 trat Ferstel auch eine leitende Stellung in den Wienerberger Ziegelwerken an, die für die Doderers und die Gründung der Sozialdemokratischen Partei eine entscheidende Rolle spielten, wenn auch aus diametral entgegengesetzten Gründen.) In jener Zeit unternahm Ferstel gemeinsam mit Doderer Wanderungen in der Umgebung, also auf Semmering und Rax, wobei die beiden Herren so etwas wie besonders frühe Alpinisten darstellten. Als Doderers Sohn mehr als ein Vierteljahrhundert später in jener Gegend einen Sommersitz zu errichten wünschte, ließ er sich vom Vater beraten, der sich schließlich für den Bauernhof außer- und oberhalb von Prein an der Rax entschied.

Der alte Herr wurde von der ganzen Familie nur ,Wupperl‘ genannt, was gar nicht nach – zeitgemäß – strenger Autorität klingt; tatsächlich scheint er nicht nur gutmütig, sondern an äußeren Belangen desinteressiert gewesen zu sein. So kam es, daß seine früh erblindete Frau – Marie geb. von Greisinger – trotz ihres Gebrechens die Angelegenheiten Wupperls geradezu mit einem eigenen sechsten Sinn verwaltete, der sich dabei bis zur unauffälligen Effizienz – oder, in anderer Darstellung, bis zum beherrschenden Kommando steigerte. Erblindet war Marie von Doderer übrigens unmittelbar nach der Geburt ihres zweiten Sohnes, jenes Onkels Richard, der zweiundzwanzig Jahre jünger als sein Bruder Wilhelm war und zu dem Heimito ein besseres Verhältnis als zu den meisten andern Verwandten hatte. Man wohnte herrschaftlich in der Belvederegasse – die damals allerdings noch Heuweg hieß, bis der Thronfolger Franz Ferdinand eine solche Adresse für seine Militärkanzlei im Belvedere als zu vulgär empfand und die Namensänderung veranlaßte. Einmal ging der alte Rektor (und mittlerweile auch k.k. Hofrat) zu Fuß dorthin, weil ihm die Gesichter der Mitfahrenden in der Straßenbahn beim Stadtpark endgültig zu unerträglich wurden; sein Enkel Heimito hätte jederzeit genauso reagieren können (seltsamerweise gibt es auch eine auffallende Ähnlichkeit der Unterschrift beider: jene Heimitos wirkt wie eine pedantische Nachahmung der erheblich schwungvolleren seines Großvaters).

Eltern
Künstler und Architekt war sein Sohn Wilhelm Carl gewiß nicht mehr (obwohl er ,Architekt‘ als Berufsbezeichnung führte), sondern nach heutigen Begriffen ein Diplomingenieur für Hoch- und Tiefbau – der allerdings vor der Technischen Hochschule im damals besten Gymnasium Wiens, dem Theresianum, eine solide humanistische Ausbildung erhalten hatte. Diese befähigte ihn nicht nur, bis ins hohe Alter Horaz im Original zu lesen, sondern hatte ihm soviel Liebe zu den klassischen Autoren vermittelt, daß er diese Lektüre auch wirklich immer wieder pflegte. Heimito von Doderer war stolz auf die ererbte väterliche Horaz-Ausgabe, betrachtete sie vielleicht als nachträgliche Verständigungs- oder gar Versöhnungsbrücke mit dem Alten, las aber gewiß weniger darin.

Wilhelm der Jüngere unterschied sich auch äußerlich ganz und gar von seinem Vater: aus dem feschen jungen Kerl mit Schnurrbärtchen wurde bald ein imponierender Büffel von Mann, groß, kräftig, mit wachen gescheiten Augen, im ganzen Habitus ein ständiges Bewußtsein persönlicher Macht ausdrückend, die nicht mehr, wie bei seinem Vater, der Mitgliedschaft zu einem gehobenen Stand galt, sondern dem eigenen Selbstbewußtsein und Können, der eigenen Energie und dem Durchsetzungsvermögen. Da war Humor so selbstverständlich wie Arroganz; seine Güte, Liebe und Toleranz – alles Eigenschaften, die er ebenfalls hatte – kamen nur aus einer Richtung: von oben herab, von seinem patriarchalischen Stern; nichts war einforderbar, sondern alles wurde gegeben, wenn er es so wollte. Damit war er ein Ideal seiner Zeit: autoritäres Mannsbild und sorgender Tyrann, ein Fels des Vertrauens – an dessen Übermächtigkeit seine Kinder weitgehend scheiterten. Er wurde von allen Seiten und ein Lebtag lang auch von der eigenen Frau angehimmelt, mit seinem Charme überwältigte er bedenkenlos, wen immer er wollte; und mit seinen Ansprüchen sowie seiner tatsächlichen Arbeitskraft richtete er sich und andere unbekümmert zugrunde. Ein vollendeter Herr, in bester Kleidung, mit gepflegtesten Umgangsformen. Vom Bild des Übermenschen, wie es die Familienlegende und selbst der Sohn (zumindest teilweise) in den Romanen zeichnet, scheint er tatsächlich nicht allzu weit entfernt gewesen zu sein; solche Kerle gab und gibt es wirklich. (Wie etwa Billroth, der eine Abendgesellschaft gab, um anschließend bei der Uraufführung eines Brahms-Quartettes selbst die zweite Violine zu spielen, worauf er von Mitternacht bis vier Uhr morgens seine umfangreiche Korrespondenz erledigte und um sieben im Seziersaal eintraf.) Und sollte dieser Doderer vielleicht weniger mächtig und machtvoll gewesen sein, als überliefert ist, so bleibt die Tatsache bestehen, daß das Bild des absolut überlegenen Patriarchen die Psyche seiner Nachfahren geprägt hat – nur eine seiner vier Töchter (Ilse) fand einen sie ebenso bestimmenden bis erstickenden Mann, und keinem der Söhne gelang es, sich so sicher im Leben zu verankern; am vorgegebenen Beispiel litten alle gemeinsam.

Wie bald nach seiner Ausbildung (wenn nicht schon vorher durch den Vater) Wilhelm von Doderer auf seinen zukünftigen Schwiegervater Heinrich von Hügel stieß, dessen unternehmerische Erfolge er schließlich mehr oder weniger direkt fortsetzte, läßt sich nicht mehr feststellen. 1876 – als Doderer erst zweiundzwanzig Jahre alt war, aber mit seinem Vater bereits am Schloßbau von Sinaia mitgewirkt hatte und anschließend, ebenfalls nach Entwürfen seines Vaters, das Herkulesbad in Siebenbürgen errichtete – machte sich die ,General-Bauunternehmung Hügel & Sager‘ an ihr bisher größtes Vorhaben in der Monarchie: die Eisenbahnstrecke Wien-Preßburg-Budapest-Temesvár von der letztgenannten Stadt bis nach Orsova am Eisernen Tor fortzusetzen; eine Arbeit, die bereits nach zwei Jahren abgeschlossen war (es war ein Teil der Strecke des später dann so berühmten Orientexpresses, der damals von Wien über Marchegg und Preßburg nach Budapest fuhr). Während dieser Bauzeit stand der junge Doderer, wie erwähnt, Hügel für dessen Darmstädter Villenbau hilfreich zur Verfügung.

1878 bekam Österreich die Gelegenheit, auf dem Balkan den starken Mann zu spielen: Serbien, Montenegro und dann vor allem Rußland setzten dem Türkischen Reich so erfolgreich zu, daß die Westmächte, vor allem England unter Lord Disraeli, eine zu große Machtausweitung Rußlands, verbündet mit einem geplanten Großbulgarien, fürchteten. Der einzige Gendarm in der Nähe war Kaiser Franz Joseph, der, durch die günstige internationale Konstellation gestärkt, seine Verluste in Italien und Deutschland durch den Erwerb Bosnien-Herzegowinas in bescheidenem Ausmaß kompensieren konnte: im Juli erfolgte die stolze (und unerwartet verlustreiche) Besetzung jenes Gebiets, wo später durch die Ermordung des Thronfolgers der Erste Weltkrieg und die Zerschlagung der Monarchie ihren Anfang nahmen.

Erstaunlich rasch, nämlich bereits im September 1878, erhielten Hügel & Sager den Auftrag, eine ,Schleppbahn‘ (für vorerst militärische Zwecke) von Bosnisch-Brod über 145 Kilometer nach Cepče zu führen, von wo die Strecke später bis Sarajewo verlängert wurde. Dabei benutzten sie die – beim Bau zwischen Temesvár und Orsova für Transport und Versorgung benötigte – betriebseigene Feldbahn, die hier nun unter enorm erschwerten Bedingungen (Partisanen, endlose Regenfälle, schwierigstes Gebirgsterrain) als endgültige Bahn installiert wurde. Es handelte sich dabei um eine aus Bayern stammende Schmalspurbahn der Breite von 760 mm (in voller Absicht um 10 mm breiter als die der Preußen!), für die Hügel & Sager auch Lokomotiven der Münchner Maschinenfabrik Krauß kauften: so kam es zur Einführung der ,österreichischen Schmalspur‘. Bei der technischen Prüfung am 15. Mai 1879 wurde die Bahn für so vortrefflich befunden, daß auch das Fahren von Personenzügen bis zu 15 km/h „ohne Bedenken gestattet wurde“11.

Der junge Doderer, der, dem allgemeinen Brauch folgend, da und dort praktizierte, wurde von Heinrich von Hügel beim Bau der bosnischen Bahn ebenso wie bei ähnlichen Unternehmungen in Mähren und der Slowakei zur Mitarbeit herangezogen, wobei die allgemeine Linie dieser Entwicklung sich noch nicht deutlich zeigte: nämlich die immer weiter gehende Einbeziehung Doderers in die Firma bis zu deren gänzlicher Übernahme durch den jüngeren Teilhaber nach dem Rückzug der Gründer. ,Henry‘ – er wurde, trotz der englischen Schreibweise, nur französisch gerufen – hieß in der Familie der ,Bonpapa‘: er hat sich um die Seinen ebenso streng und gerecht wie großzügig gekümmert, an Apanagen nach allen Richtungen fehlte es nie. Sein Haus in Wien – bestens am Kolowratring zwischen Stadtpark und Schwarzenbergplatz gelegen – hielt der ebenso elegante wie tatenfreudige Mann für viele gesellschaftliche Anlässe offen: zu den verbürgten häufigeren Gästen gehörten Kaspar von Zumbusch, Theodor Billroth und Johannes Brahms. (Wer allerdings dort übernachtete, wurde ebenso wie die Familienmitglieder unbarmherzig mit einem Early-morning-tea – um sieben Uhr morgens am Bett – geweckt, während der energische Frühaufsteher Doderer seine Sippe schlafen ließ, so lange jeder wollte, es dafür aber nicht – etwa bei Heimito – an Spott fehlen ließ.)

Durch die Heirat Wilhelms mit der zweitältesten Hügel-Tochter Willy – ab nun ,die beiden Willys‘ genannt – wurde Doderer noch intensiver in sämtliche Unternehmungen und auch gesellschaftlichen Verflechtungen der Hügels eingebunden; dennoch hätte der selbstbewußte junge Mann nie – auch vierzig Jahre später nach dem Verlust seines eigenen riesigen Vermögens nicht – daran gedacht, die überaus reiche Mitgift seiner Frau auch nur anzurühren. Sie lag (und liegt zum geringeren Teil noch heute) bei Merck, Finck & Co. in München, wobei Hügel selbst an der Gründung dieser Bank beteiligt gewesen war; auch nach mehrfacher Aufteilung während zweier Generationen stellte jeder Teilbetrag noch ein beträchtliches Vermögen dar.

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