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Über die Autorinnen

Cathy LaGrow schreibt vorwiegend auf ihrem Blog Windows and Paper Walls über ihr Leben und ihre Liebe zu Büchern. 2006 erzählte ihre Großmutter Minka Disbrow ihr und ihrer ganzen Familie zum ersten Mal die Geschichte, die sie fast 80 Jahre lang als Geheimnis gehütet hatte. Anfang 2012 fing Cathy LaGrow an, die Geschichte ihrer Großmutter aufzuschreiben. Das vorliegende Buch ist ihr erstes Werk.

Cathy ist seit 25 Jahren mit Dan verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Oregon.

Cindy Coloma ist eine amerikanische Bestsellerautorin. Sie hat zwölf eigene Romane verfasst und als Koautorin bei zahlreichen Biografien mitgewirkt. Mit ihrer Familie lebt sie in Kalifornien.

Für Minka, die gewartet hat

Inhalt

Prolog

Teil eins Verlust

Verbrechen am See

Farmarbeit unter anderen Umständen

Geraubte Unschuld

Winterreise

Das Haus der Barmherzigkeit

Eine Frau zum Reden

Betty Jane

Briefe

Teil zwei Sehnsucht

Die große Liebe?

Neues Glück, neue Herausforderungen

Dunkle Wolken

Ortswechsel

Abschied und Neuanfang

Aktiv bis ins hohe Alter

Gebet mit Folgen

Teil drei Vermächtnis

Ruth – ein liebenswürdiger Wildfang

Ruth – eine gesegnete Kindheit

Ruth – unbeschwerte Jugend

Ruth – Kindersegen

Ein Astronaut in der Familie

Auf der Suche

Kontakt

Telefongespräche und Vorfreude

Das Wiedersehen

Teil der Familie

Über das Buch: Wie die Geschichte lebendig wurde

Wiedervereint: Wie es weiterging

Nachwort

Danksagung

Bildteil

Prolog

Alles, was sie über Jahrzehnte von ihr besessen hatte, war diese Fotografie.

Wie oft hatte sie heimlich das Bild angeschaut! Das kleine schwarz-weiße Foto war unendlich kostbar, jeder Punkt war ihr vertraut. Immer, wenn sie nach dem Bild griff, betrachtete sie zuerst das liebe kleine Gesicht. Dann wanderte ihr Blick nach rechts. Dort kauerte die junge Mutter, dem Baby zugewandt. Die jungen, aber schon verkrüppelten Hände ruhten auf ihrem besten Kleid. Es waren dieselben Hände, die nun das Foto hielten. Heute waren es geschwollene Hände, von dunklen Flecken übersät und alt.

Wie jung sie damals war!

Es war so leise bei ihr. Die Wohnung war sorgfältig aufgeräumt, durchs offene Fenster wehte ein Hauch von salziger Meeresluft. Aber die Einsamkeit war nicht mehr da. Dieser Platz in ihrem Herzen, der immer leer gewesen war, hatte sich gefüllt. Das war noch nicht lange her. Seither war sie fassungslos vor Glück.

Vierundneunzig Jahre war sie geworden, wirklich alt. Doch nach all den Jahren erlebte sie jetzt, was sie sich immer gewünscht hatte. Zu allem anderen hatte sie auch die Briefe bekommen, die sie in jungen Jahren geschrieben hatte. Hunderte von Seiten waren es.

Ihre eigene Erinnerung war unklar, verdunkelt von dem Trauma aus jener Zeit. Aber während sie die Briefe las, fühlte sie den tiefen alten Schmerz ganz neu, dazu die Liebe, die seit damals in ihr war. Diese Gefühle kannte sie. Seit fast achtzig Jahren waren sie da.

Sie fing an zu lesen, Seite um Seite, Brief für Brief.

Dann hielt sie inne. Das war nicht ihre Schrift. War das nicht der Name ihres Pfarrers gewesen? Er war schon lange tot, genau wie alle anderen, von denen sie in ihren Briefen las.

Als sie die Worte des Pfarrers überflog, holte die Erinnerung sie endgültig ein. Sie wurde zurückversetzt in eine andere Zeit, ein anderes Jahrhundert, in eine Zeit in ihrem Leben, die entsetzlich und kostbar zugleich war …

SEKRETARIAT DES PFARRAMTS
PFARRER W. F. KRAUSHAAR, M.A.


3. April 1929

Sehr geehrte Dame,

zu meiner Gemeinde gehört ein bedauernswertes junges Mädchen, das Ende des Monats ein Kind zur Welt bringen wird. Nach gründlicher Beschäftigung mit ihrem Fall kam ich zu dem Schluss, dass sie Opfer eines abscheulichen Verbrechens wurde. Sie stammt aus einer christlichen Familie, lebt jetzt aber bei Verwandten in Sioux City. Könnten Sie das Mädchen in Ihr Haus aufnehmen und ihr während der Zeit ihrer Niederkunft beistehen? Ihre Angehörigen sind nicht wohlhabend, aber sie haben versichert, für alle anfallenden Kosten aufzukommen.

Es sei noch erwähnt, dass ihre Familie der Ansicht ist, das Kind müsse zur Adoption freigegeben werden, da der Vater ein flüchtiger Straftäter sei. Das Mädchen selbst würde ihr Kind jedoch gerne behalten. Vielleicht können Sie der Familie auch in dieser Entscheidung Rat geben? Stehen Sie vielleicht auch in Kontakt zu Familien, die ein solches Kind aufnehmen möchten? Natürlich käme es den Wünschen der Betroffenen entgegen, wenn es sich um eine evangelische Familie handeln würde.

Für eine umgehende Antwort wäre ich Ihnen dankbar.

Hochachtungsvoll
Ihr Pfarrer Kraushaar

Teil eins
Verlust

1. Kapitel

Verbrechen am See

August 1928.

In viereinhalb Stunden würde sich ihr Leben für immer verändern. Doch davon ahnte Minka noch nichts. Sie stand aufgeregt auf dem staubigen Parkplatz, zerknüllte nervös ihr Taschentuch und hoffte, ihre Familie würde bald fertig sein. Oder sollte sie einfach ihr knöchellanges Kleid zusammenraffen und zu Fuß nach Hause laufen?

Ihr Stiefvater Honus lehnte lässig an seinem Wagen, die Hände tief in den Taschen seines sommerlichen Anzugs vergraben. Sunnyside Dairy stand in großen Buchstaben auf dem Auto. Honus besaß einen Molkereibetrieb und brachte die Milch persönlich zu den Kunden. Obwohl es noch nicht Mittag war, schwirrte die Luft schon vor Hitze. Überall gingen die Männer jetzt zu ihren Fahrzeugen und kurbelten die Motoren an, fast alle hatten das T-Modell von Ford. Die Frauen verabschiedeten sich, riefen ihre Kinder zusammen und stiegen in die Autos ein.

Minkas Schwester Jane und ihre Mutter standen aber immer noch auf den Stufen vor der Kirche. An anderen Sonntagen hätte Minka sich zu ihnen gesellt. Vielleicht hätte sie auch den Mut aufgebracht und sich an den Gesprächen beteiligt. Die verschiedenen Sprachen mischten sich fröhlich durcheinander, es wurde Englisch, Deutsch und Holländisch gesprochen. Vor zehn Monaten hatten die Einwanderer, die hier zusammenlebten, abgestimmt. Seither war Englisch ihre offizielle Sprache. Aber wenn sie miteinander plauderten, hielt sich niemand daran.

Minka, sonst ein ruhiges Mädchen, hatte heute im Gottesdienst kaum still sitzen können – so sehr freute sie sich auf den Nachmittag.

Mit ihren sechzehn Jahren war sie auffallend groß und schlank. Ihr kinnlanges braunes Haar hatte sie seitlich mit einer Schleife zurückgesteckt. Fühlte sie sich unbeobachtet, dann sah sie mit lebhaften, klugen Augen in die Welt. Doch oft hielt sie ihren Blick gesenkt, in der Öffentlichkeit hielt sie sich meist schüchtern zurück. Sie dachte, ihre Ohren und ihre Nase wären zu groß und war sich gar nicht bewusst, wie schön die zarten Wangenknochen ihr Gesicht formten.

Honus wartete ruhig, hielt jetzt seinen Filzhut in den Händen und sah ein paar Vögeln hinterher.

Ungeduldig sah Minka zu ihrer Mutter. Sie hatte sich schon ein paar Schritte weiterbewegt, aber Jane redete weiterhin angeregt mit ihrer Freundin, lachte und ahnte nicht, wie aufgeregt Minka war.

Seit Wochen freute sich Minka auf diesen Tag, nun war es endlich so weit. Heute machte die Nähschule ihren Ausflug zum See. Zu Hause lag ein neues Kleid bereit, perfekt gebügelt, auch den passenden Schmuck hatte Minka längst ausgesucht. Sie würde ihre Haare hübsch zurechtmachen und für ein paar Stunden ein ganz normales Mädchen sein. Heute Nachmittag würde sie weder in der elterlichen Milchwirtschaft noch in der Fleischfabrik arbeiten.

Wenn doch Mutter und Jane endlich kämen!

Da fuhr ein Wagen vorbei, dessen blauer Lack so glänzte, dass Minka sich darin spiegelte. Staunend sah sie ihm hinterher. Sie liebte alles Schöne, auch wenn es nicht ihr Eigentum war. Honus bemerkte ihren Blick. „Das ist der neue Ford, er heißt Modell A“, erklärte er.

„Ist der besser als die Tin Lizzie?“, fragte Minka spontan, ganz untypisch für ihre sonst so beherrschte Art. Auch wenn ihr oft unzählige Fragen durch den Kopf schossen, so hielt sie diese meist zurück. Doch die Vorfreude auf das Picknick machte sie auch ihrem Stiefvater gegenüber redseliger.

In schwerfälligem Englisch, mit vielen holländischen Worten durchsetzt, erklärte Honus ihr bereitwillig die Vorzüge des neuen Fahrzeugtyps. Er war als junger Mann von Holland nach Amerika ausgewandert und hatte nie richtiges Englisch gelernt. Auch Jennie, Minkas Mutter, stammte aus Holland. Sie war mit Minka schwanger gewesen, als sie nach Amerika kam.

Minka erinnerte sich noch gut an die Zeit, als alle mit Pferdewagen fuhren. Hier an der Kirche gab es immer noch den Abstellplatz dafür. Aber er wurde kaum noch genutzt. Die meisten Leute waren längst auf motorisierte Fahrzeuge umgestiegen.

In letzter Zeit schien es jeden Monat etwas Neues zu geben. Inzwischen hatten die meisten Häuser elektrisches Licht, manche besaßen sogar einen Schrank, in dem die Lebensmittel gekühlt wurden. Das schien wirklich viel besser zu sein als die Erdkeller, die bis dahin jeder gehabt hatte. Allerdings war es ungünstig, wenn die giftige Kühlflüssigkeit aus den modernen Schränken lief und mit der Haut in Berührung kam. Viele Familien besaßen jetzt Radios und die Kleider der Frauen waren nicht mehr bodenlang.

Ihr erster Kinobesuch war Minka noch gut im Gedächtnis. Zusammen mit ihren Geschwistern beobachtete sie staunend, wie Bilder von Personen und Landschaften leise über die weiße Leinwand flimmerten.

Auch bei Honus zog der Fortschritt ein. Er besaß neuerdings ein Badezimmer im Inneren des Hauses, was allen Familienmitgliedern sehr entgegen kam. Bevor sie zu Honus zogen, lebten Minka, ihre Mutter und ihre Geschwister bei einem Mann, den die Kinder Onkel nannten, irgendwo draußen in der Prärie. Jennie hatte für ihn sämtliche Hausarbeiten gemacht, unter den einfachsten Bedingungen arbeitete sie schwer für ihn. Doch vor drei Jahren tauchte plötzlich Honus Vander Zee auf. Jennie heiratete ihn ohne große Umschweife.

Seither hatten die Kinder ein festes, eigenes Zuhause. Aber ihre Kindheit war vorbei. Honus führte eine Milchwirtschaft im großen Stil und alle mussten mitarbeiten. „Schule ist nur für die Stadtkinder, die sonst nichts zu tun haben“, sagte er oft. So beendeten Jennies Kinder mit 14 Jahren ihre Schulzeit und mussten von da an den ganzen Tag lang Kühe melken. Minkas älterer Bruder war daraufhin zur Marine gegangen.

Honus stand immer noch am Auto und räusperte sich.

„Heute wird es heißer als gestern“, erklärte er.

„Ja, Sir“, antwortete Minka. „Aber vielleicht wird es heute Nachmittag am See kühler sein, bei dem Picknick.“ Sie konnte an nichts anderes mehr denken.

„Vielleicht.“

Minka wusste nicht, dass es Jennie einige Mühe gekostet hatte, Honus die Erlaubnis für ihren Ausflug abzuringen. Er hatte erst mit 35 Jahren geheiratet und verstand nicht viel von jungen Mädchen. Seine Kindheit in Europa hatte ihn gelehrt, dass Kinder zum Arbeiten da waren und dass die Pflicht viel wichtiger war als das Vergnügen. Auf seiner Farm gab es immer viel zu tun. Wenn einer seine Pflicht nicht tat, dann mussten die anderen dessen Aufgaben miterledigen.

Er konnte aber, zumindest nach seinem Verständnis, auch großzügig sein. Wenn samstagabends alle Arbeit getan war, dann kam er manchmal in die Küche und lächelte: „Kommt, wir fahren in die Stadt.“ Es gab dann keine Zeit zum Waschen oder Umziehen, denn die Zeit zwischen der letzten Arbeit am Abend und der Schlafenszeit war knapp. Auf der Milchfarm ging man früh zu Bett, um wieder früh bei den Kühen zu sein. In ihren schmutzigen Overalls stiegen Jennie und die beiden Mädchen dann ins Auto und Honus fuhr zur Eisdiele. Dort kaufte er einen Milchshake in einem Metallbecher und ließ sich dazu vier Strohhalme geben. Er brachte die Köstlichkeit zum Wagen, wo genau darauf geachtet wurde, dass jeder die gleiche Menge bekam. Dann brachte er den Becher zurück zum Laden und fuhr die Damen wieder heim. In seinen Augen war das wirklich großzügig und sicher etwas, das er in seiner Kindheit nicht bekommen hatte.

Immer mehr Gottesdienstbesucher strebten nun zu dem Parkplatz. Darunter waren auch einige Mädchen aus der Nähschule.

„Bis in einer Stunde“, riefen sie einander zu und stiegen in die Autos ihrer Eltern ein.

Minka ballte die Fäuste und sah zu Mutter und Schwester, die sich nicht bewegten. Warum sagte Honus denn nichts? Er war doch sonst immer so ungeduldig. Egal was Pfarrer Kraushaar über die Sonntagsruhe auch predigen mochte, wo Kühe waren, gab es auch sonntags Arbeit, und er drängte sonst immer darauf, nach dem Gottesdienst zügig nach Hause zu gehen. Honus erwiderte Minkas fragenden Blick und sie wusste, dass er die beiden nicht rufen würde. Wollte er etwa, dass sie den Ausflug verpasste?

Minka machte es nichts aus, schwer zu arbeiten, auch wenn jeder ihrer Tage damit ausgefüllt war. Oft hatte sie das Gefühl, dass je länger sie arbeitete, desto mehr Energie hatte sie. Sie war ein praktischer Typ und konnte wirklich zupacken – darauf war sie stolz. Sie war nicht so unterhaltsam wie ihre Schwester Jane, aber arbeiten konnte sie wie eine Erwachsene.

Doch in letzter Zeit nagte der Gedanke an ihr, dass sie so gut wie keine Schulbildung besaß. Sie kam aus armen Verhältnissen, aber dafür hatte sie sich nie geschämt. Als Kind rannte sie fröhlich und selbstbewusst über die Farm des Onkels, auch wenn sie keine Schuhe besaß. Sie hatte nie das Gefühl, weniger wert zu sein als andere. Aber nun war sie sechzehn und außer Kühe melken konnte sie nichts. Würde sie ihr Leben lang einfach nur eine Melkerin sein?

Heute Nachmittag beim Picknick, da würde sie sich endlich einmal genauso wertvoll und frei fühlen dürfen wie die Gleichaltrigen. Ihr Herz klopfte vor Freude und Aufregung. Vielleicht würden Honus und ihre Mutter ihr in Zukunft auch öfter so einen Ausflug erlauben? Sie würde ihnen zeigen, dass sie davor und danach noch fleißiger arbeitete als sonst!

Endlich kamen sie. Jane hatte sich bei ihrer Mutter untergehakt, lachte und redete mit ihr. Auch Jennie lächelte. Konnten sie nicht schneller gehen? Minka öffnete die hintere Tür des Lieferwagens. Der Griff war glühend heiß. Beim Einsteigen stieß sie sich ihre Knie an den Holzkisten, die als Sitz dienten. Ihr Taschentuch landete auf dem Boden aus zerkratztem Metall. Es war vollkommen zerknüllt.

Bald darauf stand Minka im Schlafzimmer vor dem Spiegel ihrer Mutter und legte den Schmuck an, den sie sich ausgesucht hatte. Obwohl sie ein Bauernmädchen war, hatte sie schon immer Freude an schönen Accessoires gehabt. Vor vielen Jahren hatte Jennie in Holland billige Ketten, Armreife und Ohrringe gekauft. Als kleines Mädchen hatte Minka es geliebt, sich gleich mehrere Ketten umzulegen und damit durch das Haus des Onkels zu stolzieren. Ihre Geschwister hatten sie deshalb „Zigeunerin“ genannt.

Aber heute machte sich Jane nicht über Minka lustig. Es kam so selten vor, dass es eine Abwechslung im Leben der Mädchen gab, da respektierte Jane die Freude der großen Schwester, auch wenn sie selbst zu Hause bleiben würde. Sie hatte sogar am Vorabend beim Backen fürs Picknick geholfen.

Während Minka sich herausputzte, musste Jane in die Arbeitskleider schlüpfen. Eigentlich war sie es gewohnt, die hübsche Kleine zu sein. Nun trug Minka ein Kleid, das schöner war als alles, was im Kleiderschrank der ganzen Familie hing. Etwas widerwillig stapfte Jane durchs Haus.

Auch wenn man inzwischen fast alles in den Geschäften kaufen konnte – von fertigen Kleidungsstücken über Essen in Dosen bis hin zu Drogerieartikeln –, war Nähen immer noch eine wichtige Disziplin. Fast alle Mädchen aus dem Ort nahmen an der Nähschule teil. Genau wie alle anderen waren auch die Vander Zees Selbstversorger. Sie hielten verschiedene Tiere, bauten Obst und Gemüse an, reparierten, was kaputt ging, stellten ihre eigene Seife her und nähten ihre Kleidung selbst.

Jennie konnte sehr gut nähen und hätte den Mädchen alles beibringen können, wenn sie nicht so viel andere Arbeit zu tun gehabt hätte. Also ging Minka zur Nähschule. Sie war selbst überrascht, wie schnell sie Fortschritte machte und wie viele gute Ideen sie bekam. „Niemand näht so gleichmäßig wie Minka“, hörte sie ihre Lehrerin eines Tages zu ihrer Mutter sagen. Minka liebte es, über neue Stoffe zu streichen. Manchmal träumte sie von meterlanger teurer Seide in leuchtenden Farben, die wie Wasser über ihre Schultern fallen und sich perfekt um ihre Hüften legen würde. Daran dachte sie, während sie Kühe melken und andere grobe Arbeit erledigen musste.

Für das Kleid, das sie heute trug, hatte sie einen modernen Schnitt mit tief sitzender Taille ausgesucht und einen feinen grün-weißen Baumwollstoff gewählt. Dazu hatte sie eine Applikation unter die linke Schulter genäht, die sie aus einem passenden Stoff ausgeschnitten hatte: einen Apfel auf einem grünen Blatt. Das Ganze sah so reizend aus, dass sogar ihr schönstes Sonntagskleid daneben verblasste.

Minka schloss eine Perlenkette in ihrem Nacken, als ihre Mutter ins Zimmer kam. Überrascht legte Jennie die Hand auf den Mund, als sie ihre Tochter so sah. Ihr stilles, fleißiges Kind hatte sich in eine bezaubernde junge Frau verwandelt.

„So hübsch, das gibt’s doch nicht“, murmelte sie in Holländisch und fügte etwas lauter in Englisch hinzu: „Minka, du bist eine richtig gute Näherin!“

Minka tat die Bewunderung gut. Sie war damit aufgewachsen, dass ihre hübsche kleine Schwester immer alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Grundsätzlich fühlte sie sich im Hintergrund auch wohler, aber wenn sie dann beobachtete, wie Jane sich einfach in die Arme ihrer Mutter kuschelte, da hätte sie das auch gerne getan. Aber in dieser holländisch geprägten Familie musste man sich schon aktiv darum bemühen, wenn man körperliche Nähe suchte oder ein Kompliment hören wollte. Minka war zu schüchtern – aber auch zu stolz –, um das zu tun.

„Wirst du hier abgeholt?“, fragte Jennie.

„Ja, Mama.“ Sie versuchte nun, ihre angefeuchteten Haare in Form zu drücken, aber es war zu heiß. Sie waren schon wieder trocken. Den anderen Mädchen würde es genauso gehen.

„Und du bist um fünf wieder zurück, ja?“ Die Kühe mussten morgens und abends jeweils ab fünf Uhr gemolken werden, Picknick hin oder her.

„Ja, Mama, so hat man es mir gesagt.“

Jennie polierte Minkas Schuhe und stellte sie an der Tür bereit. Die schweren Lederschuhe waren eigentlich viel zu warm, aber für Minkas große Füße gab es keine anderen. Keiner wusste, von wem sie das geerbt hatten, aber Jennies Kinder waren einfach groß. Auch Minkas Bruder war jetzt schon über ein Meter achtzig. So groß war sein leiblicher Vater nicht.

Minkas Hände waren ebenfalls sehr groß. Aber schlimmer als die Größe war ihre Form. Das tägliche, stundenlange Melken hatte ihnen nicht gutgetan. Doch der eigentliche Schaden war schon viel früher entstanden, als Minka noch ein kleines Mädchen war. Der Onkel erwartete, dass die Kinder bei der Arbeit mithalfen, sobald sie gerade gehen konnten. John versorgte die Pferde und half auf dem Feld, während die kleine Jane immer dort helfen wollte, wo ihre Mutter gerade war. Also blieb für Minka, die ältere Tochter, nur die schwere Hausarbeit. Sie schleppte die Wassereimer, fütterte das Vieh und schaffte beim Dreschen die riesigen Weizengarben heran. Sie tat das alles gerne, immer in der Hoffnung, mit einem anerkennenden Nicken oder auch mal mit einem Lächeln ihrer Mutter belohnt zu werden. Doch im Alter von 13 Jahren waren ihre Finger für immer verkrümmt, nach innen gebogen von den schweren Lasten, die sie viel zu früh hatten tragen müssen. Minka schämte sich für ihre Hände. Wann immer es möglich war, versteckte sie diese vor den abschätzenden Blicken anderer.

Motorenlärm drang durch das offene Fenster. Minka warf einen letzten Blick in den Spiegel und verbarg dabei unbewusst ihre Hände in den Falten des Kleides. So schön war ich noch nie, wagte sie zu denken, dann drehte sie sich um und eilte in die Küche, wo der Korb mit dem Essen stand.

„Vergiss die Kekse nicht“, rief Jane und hielt ihr die Blechdose hin. Nachdem letzte Nacht endlich alle Kekse abgekühlt waren, hatte Jane die 20 schönsten ausgesucht. Minka hatte die Dose mit einer Stoffserviette ausgelegt und die Einzelstücke vorsichtig arrangiert. Es waren genug, um allen einen anzubieten.

„Danke!“ Minka hätte sie tatsächlich fast vergessen.

„Sag ihnen, dass ich dir beim Backen geholfen habe“, rief Jane noch hinter ihr her.

Minka hatte ihr Leben lang zugesehen, wie Jane die leichtere Arbeit tat und das größere Lob bekam. Heute war endlich einmal ihr ganz besonderer Tag. Trotzdem tat es ihr nun leid, ihre kleine Schwester zurücklassen zu müssen.

Die Fahrzeugkolonne wirbelte eine Menge Staub auf und die Autos fuhren in großem Abstand zum See, damit die Fahrerinnen überhaupt etwas sehen konnten.

Die drei Mädchen, die hinten saßen, redeten und lachten, während Minka vorne vor allem die Aussicht genoss. Die Mutter eines Mädchens saß am Steuer eines riesigen Chryslers. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad so angespannt, dass die Fingerknochen weiß hervortraten. Zunächst hatte sie Minka ein paar freundliche Fragen gestellt und sich nach der Mutter und dem Betrieb erkundigt, doch nun brauchte sie alle Aufmerksamkeit, um sicher an den entgegenkommenden Fahrzeugen vorbeizufahren.

Minka entdeckte eine Schafherde, die sich im Schatten einiger Pappeln zusammendrängte, dann zupfte sie am Saum ihres Kleides und legte sich in Gedanken einige Sätze zurecht. Wenn sie erst im Park waren, wollte sie auch mit den Mädchen reden.

Die Hitze war unerträglich. Der Staub klebte auf der Haut der Mädchen und sie atmeten ihn unfreiwillig ein. Mit einem bestickten Taschentuch tupfte sich Minka den Schweiß ab, der ihre Haare am Gesicht und im Nacken kleben ließ. Die anderen Mädchen fächelten sich eifrig Wind zu, aber Minka hatte keinen Fächer. Sie besaß nur diese Taschentücher aus dem Stoff ehemaliger Sonntagskleider, die dann zu Arbeitskleidung und schließlich zu Taschentüchern und Putzlappen herabgestuft worden waren.

Sie waren nicht die Einzigen, die an diesem Sonntagnachmittag den Park am See besuchten. Hier gab es Tanzcafés und eine Rollschuhbahn, die Möglichkeit zum Schwimmen und Picknickplätze, man konnte angeln und Basketball spielen. Die meisten Besucher zog es bei diesen Temperaturen ins Wasser. Doch auch allerlei heimatlose Menschen trafen sich im Park. Scharen von arbeitslosen Männern zogen durch die Gegend und ruhten sich hier aus.

Die Kolonne kam auf dem Parkplatz zum Stehen und die Mädchen kletterten aus den Fahrzeugen heraus. Sie rückten ihre Haare zurecht, strichen ihre Kleider glatt und fächelten sich weiterhin Luft zu. Dann sahen sie sich um. Wo wäre der ideale Platz für sie? Schließlich entdeckten sie einen schattigen Bereich unter ein paar Bäumen, den noch niemand zu beanspruchen schien. Die Luft flimmerte wie die Hitze vor dem Ofen, so erbarmungslos brannte die Sonne an diesem Tag.

Minka legte ihre Decke neben Clara, ein ruhiges Mädchen, mit dem sie sich gut verstand. Dann packte sie ihr Mittagessen aus: Brötchen, die Jane heute Morgen noch gebacken hatte, eine mit Wasser gefüllte Milchflasche, deren Inhalt nun ziemlich warm geworden war, dazu ein Stück von einem gebratenen Hähnchen, das gestern noch im Hof herumgelaufen war. Minka hatte es selbst gerupft, nachdem die Federkiele im warmen Wasser weich geworden waren. Es war eine Arbeit, die sie nach all den Jahren fast im Schlaf konnte.

Der Himmel wirkte milchig-weiß über dem See, in dessen Wasser die Sonne glitzerte. Die Rollschuhbahn war heute nicht gut besucht. Doch auch wenn es kühl gewesen wäre, verspürte Minka nicht die Lust dazu. Manche der Mädchen besaßen Rollschuhe, die man über die Schuhe zog, doch Minka hatte das nie ausprobiert. Einige Frauen hatten zwar gesagt, man könnte auch Rollschuhe ausleihen, aber Minka hatte nur geschwiegen. In ihrer Größe gab es sicher nichts.

Sie beobachtete die anderen Mädchen beim Essen und wartete, bis alle ihr Hühnchen, die Wurst oder die Bratenscheibe verzehrt hatten. Dann holte sie die Keksdose aus dem Korb. Ihr Magen zog sich vor Aufregung zusammen. Wie dumm, so schüchtern zu sein! Sie ging von einer zur anderen und sagte immer wieder das Gleiche. Das war einfacher, als es einmal laut zu allen zu sagen.

„Möchtest du einen Keks? Ich habe sie selbst gebacken, mit Jane zusammen.“

Alle griffen gerne zu, niemand lehnte ab. „Die sind aber lecker, Minka!“, lobten alle und fragten nach den Zutaten. Minka setzte sich wieder und lächelte glücklich.

Dann unterhielten sich die Mädchen, es ging vor allem um andere Bewohner ihrer Stadt. Minka kannte keinen davon. In den letzten Monaten waren eine Menge Gerüchte und beunruhigende Geschichten erzählt worden. Angeblich sollte es billige Kneipen und Kellerräume geben, in denen Menschen sich trafen, um gemeinsam gegen das Alkoholverbot zu verstoßen. So etwas in ihrer Stadt? Vielleicht gingen sogar Angehörige aus den Familien dorthin, denen sie immer Milch brachte? Aber die Leute, mit denen sie sonntags in der Kirche saß, taten so etwas sicher nicht.

Dann kam das Thema auf ein Mädchen, das nur selten zum Unterricht kam. Auch heute war sie nicht dabei. Die anderen wussten, warum. Sie hatte einen Freund in der Stadt.

„Ihr wisst ja, wohin das führt“, hatte ein anderes Mädchen mit wichtiger Miene erklärt und alle in der Runde nickten wissend und ernst. Wie erwachsen sie plötzlich aussehen, dachte Minka und hätte zu gerne gewusst, um was es ging. Es musste etwas Schreckliches sein, sonst hätten nicht alle so geschaut. Minka war solche Gespräche nicht gewohnt. Von ihrer Mutter, die nie über andere lästerte und nur das Nötigste sprach, hatte sie das nicht gelernt. Bei diesem Gerede fühlte sie sich einerseits unwohl, andererseits war es aber auch hochinteressant für sie.

So hatte Minka in der Nähschule nicht nur mit Schnittmustern und Nadeln zu tun. Es war eines ihrer wenigen Fenster in die weite Welt. Ein weiteres Fenster waren die gelegentlichen Briefe, die ihr Bruder schrieb. Post von John wurde in der Familie immer aufmerksam herumgereicht, jeder las sorgfältig Wort für Wort. Die dritte Quelle der Information war Charlie, ein Freund ihres Stiefvaters. Jeden Samstagabend kam er vorbei. Dann saßen die beiden Männer im Wohnzimmer und sprachen in Holländisch über die Weltpolitik, die Wirtschaft und alles, was vor Ort von Interesse war.

Minka und Jane hörten gerne zu. In den letzten Wochen drehten sich die Gespräche immer wieder um die Frage, ob es die Touristen wirklich nach South Dakota ziehen würde, nur weil man dort dabei war, vier Präsidentenköpfe in Felsen zu hauen. Die meisten hielten das Projekt für eine große Verschwendung von Staatsgeldern.

Es gab so vieles, was Minka nicht verstand. Was genau war eigentlich Weltwirtschaft? Wozu brauchte es Touristenattraktionen? War es möglich, dass Menschen sogar Gefängnisstrafen riskierten, nur um Alkohol zu trinken? Warum verzichtete ein Mädchen auf das Nähen, nur um sich mit einem Jungen zu treffen? Sie verstand das alles nicht, aber es interessierte sie. Das Leben, das sich jenseits von Milchkühen und Arbeitskleidern abspielte, war spannend und schön.

Wie konnte sie ahnen, dass ihr heute die Unwissenheit geraubt werden würde? Brutal und endgültig würde sie aus dem Schutz der Naivität gerissen werden.

Als das Essen wieder verstaut war, stand es jedem Mädchen frei, ob es im Park herumschlendern, die Füße ins Wasser eintauchen, zur Rollschuhbahn gehen oder lieber sitzen bleiben und weiterreden wollte. Minka erinnerte sich, dass es bald siebzehn Uhr sein würde. Das Melken erwartete sie. Sie wandte sich an Clara.

„Hast du Lust, mit mir am See entlangzugehen?“ In der Gesellschaft einer einzelnen Person fühlte sie sich sicherer als in einer Gruppe, und Clara war so ruhig, dass sie nicht befürchten musste, wieder von Schüchternheit gelähmt zu werden.

Sie folgten einem kleinen Weg, den die Angler gebahnt hatten, unter Bäumen und an Büschen entlang. Minka ließ Steine über die Wasseroberfläche springen und versuchte sich vorzustellen, wie Schwimmen ging. Sie hatte es nie gelernt.

Dort am See musste sie an ihren leiblichen Vater denken. Sein letzter Lebenstag war so heiß wie dieser Tag gewesen. Er starb in South Dakota, in einem anderen See. Minka hatte keine eigene Erinnerung an ihn. Es gab nur dieses eine Fotografenbild, auf dem er erst siebzehn war, dazu die wenigen Geschichten, die Mutter gelegentlich erzählte. Doch diese spärlichen Informationen waren kostbar für Minka, sie sammelte sie in ihrem Herzen wie einen Schatz. Wenn sie sich nach einem richtigen Vater sehnte, dann tauchte sie innerlich in diese Sammlung ein.

Den beiden Mädchen war gar nicht aufgefallen, wie weit sie schon gegangen waren, als ihnen plötzlich drei Männer gegenübertraten. Da wurde ihnen erst bewusst, dass sie sich weit von den Menschen am See entfernt hatten. Die Männer waren etwa 30 Jahre alt. Beschwingt gingen sie auf die Mädchen zu. Sofort stieg in Minka wieder diese Schüchternheit auf. Sie senkte den Blick und wich zur Seite aus.

„Na, ihr Mädchen, was macht ihr denn hier an diesem heißen Tag?“, sagte der eine. Ein zweiter trug einen Cowboyhut und hatte seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Breitbeinig und schweigend stand er da.

Auch Minka schwieg. Clara murmelte einen Gruß und wandte sich dann zögernd der Freundin zu. Minka hatte das Gefühl, immer kleiner zu werden, als könnte sie so der Situation entfliehen.

„Kommt, wir machen mal ein Foto von euch“, redete der erste wieder. Sie richteten eine Kamera auf die Mädchen. Die ließen es geschehen. Es war ja nichts dabei, oder? Der Mann mit dem Hut ging um sie herum und sah prüfend den Weg entlang, den die Mädchen gekommen waren. Dann nahm der andere Clara beim Handgelenk und zog sie mit sich fort, ins Gebüsch. Minka sah verwundert hinter den beiden her. Welch ein Entsetzen in den Augen der Freundin! Sie wollte ihr hinterhergehen, doch nun stellte sich der Mann mit dem Hut ihr in den Weg.

Hatte er sich mit dem Namen Mack vorgestellt? Minka erlebte alles in Zeitlupe, wie ein Plattenspieler, dessen Plattenteller sich zu langsam dreht. Gleichzeitig hatte sie aber das Gefühl, dass die Ereignisse sich überschlugen, so schnell, dass sie nicht davonlaufen konnte. Die Worte, die Mack sagte, kannte sie nicht. Ihr Blick veränderte sich, als ob sie ihn aus der Ferne sehen würde. Winzig sah er aus, als stünde er weit von ihr entfernt.

Sie konnte nicht einordnen, was dann geschah. Auch als seine Hände sie zu Boden stießen und ihr Kleid hoben, verstand sie nichts. Gelähmt vor Schreck und Verlegenheit brachte sie nicht einen einzigen Ton heraus. Sie starrte nur immer auf seinen Hut.

Danach war ihr vollkommen klar, dass etwas Schreckliches geschehen war. Der Schmerz, die Nähe des Fremden, der Ausdruck in seinem Gesicht – alles löste Scham in ihr aus. Dann stand er wieder über ihr, sah einen Augenblick lang kalt und ausdruckslos auf sie herab, drehte sich um und ging, ohne ein Wort zu sagen. Irgendwo, nicht weit entfernt, hörte sie Clara weinen. Aber sie konnte nicht zu ihr gehen.

Minka hatte die Knie zum Kinn gezogen und die Arme um ihre Beine gelegt. Trockene Disteln stachen durch ihre Kleidung und zerzausten ihr Haar. Ihre Handgelenke und Knie sandten stechende Schmerzen aus, auch andere Bereiche des Körpers taten pochend weh. Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt.

Langsam stand sie auf. Sie hatte einen Schuh verloren und das Kleid sah schrecklich aus. Mit zitternden Fingern zog sie Disteln aus dem Stoff.

Nach einigen Minuten ebbte Claras Weinen ab. Dann kam sie aus dem Gebüsch, zusammengekrümmt, als wäre ihr Rücken verletzt. Das Entsetzen in ihrem Gesicht war schlimmer als alles, was Minka selbst empfand. Irgendwie ahnte sie, dass Clara ihr erklären könnte, was gerade geschehen war. Doch sie stellte diese Frage nicht.

Wie spät es wohl war? Clara schleppte sich an ihr vorbei. Ohne aufzusehen murmelte sie etwas von Zurückgehen. Minka eilte hinter ihr her, ein heftiger Schmerz durchzuckte sie bei jedem Schritt. Sie fühlte ein Stechen und wusste nicht, woher es kam. Immer noch zog sie dürre Halme aus ihren Haaren und fuhr sich übers Gesicht. Ihre Haut war schweißnass, trotzdem schlugen ihre Zähne aufeinander, als wäre ihr kalt, mitten in der brütenden Hitze des hochsommerlichen Tages.

Dann fühlte sie das Blut, noch ehe sie es sah. Sie strich hinten über ihr Kleid, fühlte, ob ein Fleck nach außen gesickert war. Doch außer Disteln war da nichts. Mit trockenen Blättern reinigte sie sich, etwas anderes hatte sie nicht. Clara war stolpernd weitergegangen, Minka holte sie schnell wieder ein. Dann traten die Mädchen aus dem Schatten des Waldwegs heraus, zurück ins grelle Sonnenlicht. Rechts von ihnen tollten Menschen im Wasser, lachten, spritzten sich gegenseitig nass und riefen sich lustige Bemerkungen zu. Die Mädchen aus der Nähschule standen mit gefalteten Decken und leeren Körben bei den Autos. Eine legte die Hand über die Augen und deutete zum Wald.

„Da kommen sie!“, rief das Mädchen und winkte fröhlich.

Minka und Clara winkten nicht zurück.

Clara stieg irgendwo ein, drückte sich eng an die Innenseite des Autos und wandte ihr Gesicht von den anderen ab. Die besorgten Fragen beantwortete sie nicht.

„Was ist denn mit der los?“, flüsterten die Mädchen verständnislos.

Minka wartete, bis die Autos angelassen wurden und die Lehrerin die Mädchen zählte, ehe sie sich für ein Auto entschied. Auf keinen Fall wollte sie mit Clara zusammen im gleichen Wagen sein.

Auf der Heimfahrt hatte sie die Augen geschlossen. Sie wollte das Licht nicht sehen, das die Weizenfelder in warmes Gold tauchte. Alles an ihr klebte vom Schweiß, nicht nur von ihrem eigenen. Am liebsten wäre sie aus dem Auto gesprungen und zur nächsten Quelle gerannt. Sie sehnte sich nach klarem, frischem Wasser, wollte so gerne wieder sauber sein.

Während der Wagen über die unbefestigten Wege holperte, fasste sie einen Entschluss. Auch wenn sie ein von Grund auf ehrliches Mädchen war, über diesen Tag würde sie mit niemandem reden. Dieses Erlebnis sollte für immer in ihrem tiefsten Herzen vergraben sein. Niemand sollte jemals davon erfahren. Sie hoffte, dass Clara auch schwieg, dann würde ES bestimmt verschwinden und eines Tages ganz vergessen sein.

Doch Minka würde diesen Vorsatz nicht lange einhalten können. Sie ahnte noch nicht, dass von nun an jeder Tag ihres Lebens von den Folgen dieses Nachmittags überschattet sein würde. Schwere Jahre lagen vor ihr, unvorstellbar für Minka, die noch immer nicht ahnte, was mit ihr geschehen war.

Seine Worte verschwanden allmählich aus ihrem Gedächtnis. Sie vergaß auch seine Kleidung und sein Gesicht. Aber diesen Cowboyhut, der sich als dunkle Kulisse vor dem verblichenen Augusthimmel bewegte, immer auf und ab, den vergaß sie nicht. Dieses Bild hatte sich fest eingeprägt.

Ihr ganzes Leben lang blieb diese Erinnerung, und ihr Leben war sehr, sehr lang.