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Inhalt

Vorwort und Dank

ERSTER TEIL

KAPITEL 1

KAPITEL 2

ZWEITER TEIL

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

DRITTER TEIL

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

VIERTER TEIL

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

Über die Autorin

Francine Rivers war bereits eine bekannte Bestsellerautorin, als sie sich dem christlichen Glauben ihrer Kindheit wieder zuwandte. Danach schrieb sie 1986 ihr bekanntestes Buch, „Die Liebe ist stark“, dem noch rund 20 weitere großartige Romane folgten. Heute lebt Francine mit ihrem Mann in Nordkalifornien und genießt es, Zeit mit ihren drei mittlerweile erwachsenen Kindern zu verbringen und ihre Enkel zu verwöhnen.

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Die amerikanische Originalausgabe
erschien im Verlag Tyndale House Publishers
(Reprint Edition 2013) unter dem Titel „The Scarlet Thread“.
Published in association with Browne and Miller Literary Associates, LLC,
410 Michigan Avenue, Suite 460, Chicago, IL 60605
© by Francine Rivers
All Rights Reserved.
Copyright © 2016 Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar


1. Auflage 2016
ISBN 978-3-96122-177-6

Umschlaggestaltung: Hanni Plato
Umschlagmotiv: © 2011 by Robert Papp. All rights reserved
Satz: DTP Apel, Wietze

www.gerth.de

Meinen Weggenossinnen gewidmet:

Sue Hahn
Fran Kane
Donzella Schlager

Vorwort und Dank

Bei der Geburt dieser Geschichte waren mir drei ganz besondere Freundinnen behilflich: Sue Hahn, Fran Kane und Donzella Schlager, die alle meinen Traum teilten, einmal den berühmten Oregon Trail zu bereisen – die Route, über die im 19. Jahrhundert neue Siedler bis zum Pazifik vorstießen und die späteren US-Staaten Oregon und Washington gründeten.

Mit dem Segen unserer Ehemänner fuhren wir nach Independence (Missouri), von wo aus wir dem Oregon Trail bis nach The Dalles am Columbia River folgten. Über 5.000 Meilen waren wir zusammen unterwegs. Wir sahen die unfassbare Schönheit unseres Landes, hielten an jedem historischen Punkt (und an jeder Raststätte) an, besuchten jedes große und kleine Museum, das wir finden konnten, und versorgten uns mit so viel Informationen, dass wir noch Jahre brauchen werden, um sie ganz durchzulesen.

Danke, Mädels! Diese Reise gehört zu den schönsten Erinnerungen in meinem Leben. Wann fangen wir mit dem Lewis and Clark-Trail an?

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ERSTER TEIL

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Der Ruf

KAPITEL 1

Sierra Clinton Madrid zitterte am ganzen Körper. Ihr Magen flatterte. Ihr Kopf pochte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse. Das, was Alex ihr da am Telefon gesagt hatte, hatte eingeschlagen wie eine Bombe.

Das letzte Mal hatte sie solche Kopfschmerzen am Abend des großen Schulballs gehabt, in ihrem letzten Jahr in der High School. Alex war in dem ramponierten Chevy seines Vaters vorgefahren, um sie abzuholen. Ganze drei Minuten später war ihr Vater nach Hause gekommen. Es war das erste Mal gewesen, dass er frühzeitig von der Arbeit zurück war, aber sie hätte es sich ja denken können. Sie sah ihn heute noch vor sich, den Blick in den Augen ihres Vaters, als er den zum Niederknien gut gebauten, langhaarigen jungen Hispano-Amerikaner sah, wie er in seinem geliehenen Smoking auf der Eingangstreppe der Familienvilla stand und der Tochter des Hauses eine Orchidee an ihr Ballkleid steckte. Als Sierra die Tür des väterlichen Autos zuschlagen hörte, war sie fast in Ohnmacht gefallen vor Angst.

Und in diesem Augenblick hatten die Kopfschmerzen angefangen. Der fragende Blick in Alex’ Augen hatte es noch schlimmer gemacht. „Was ist denn?“, hatte er gefragt. Was sollte sie antworten? Sie hatte ihrem Vater das mit Alex ja gesagt; sie hatte ihm nur nicht alles erzählt.

Ein kurzer Wortwechsel. Dann die Stimme ihrer Mutter, die zum Glück zu Hause war und Vater leidlich beruhigen konnte. Alex hatte sie schließlich unter dem finsteren Blick ihres Vaters zu seinem Auto geleitet und ihr galant die Beifahrertür aufgehalten. Doch er hatte sie keines Blickes gewürdigt, als er den ersten Gang einlegte und losfuhr.

Sie waren schon halb in Santa Rosa gewesen, als er endlich das Schweigen brach. „Du hast ihm also nicht gesagt, wer dich heute zum Ball begleitet, wie?“

„Doch.“

„Doch? Hast nur ein paar Einzelheiten ausgelassen, was, Chi­quita?“ So hatte er sie noch nie genannt; es war ein schlechtes Omen für diesen Abend. Mehr sagte er nicht auf der ganzen Fahrt zu dem teuren Restaurant in Santa Rosa.

Als sie eines der billigsten Gerichte wählte, war er noch wütender geworden. „Denkst du, ich kann nicht mehr bezahlen als ’nen kleinen Salat?“

Woraufhin sie mit hochrotem Kopf das gleiche Steak bestellt hatte wie er. Es hatte ihn nicht besänftigt. Er war in immer bockigeres Schweigen verfallen und sie hatte ihr Essen schließlich in der Toilette wieder von sich gegeben.

Sie war wahnsinnig verliebt gewesen in Alejandro Luis Madrid. Na ja. Vor allem wahnsinnig. Ihr Vater hatte sie gewarnt. Hätte sie doch nur auf ihn gehört!

Heiße Tränen brannten in Sierras Augen, während sie über den Old Redwood Highway fuhr, der Windsor und Healdsburg verband. Stürmisch oder nicht, heute erschienen sie ihr beinahe romantisch, die Szenen der Vergangenheit – verglichen jedenfalls mit der erschreckenden Gegenwart und der unsicheren Zukunft.

Der Schulball war ein Desaster gewesen. Schon weit vor Mitternacht hatte Alex sie wieder nach Hause gebracht. Die Haustürlampe erwartete sie mit grellem Licht; es sah gerade so aus, als habe ihr Vater die 60-Watt-Birne durch eine 250-er ersetzt. Auch im Flur war es hell. Alles in allem mehr als genug Licht, um zu sehen, wie wütend Alex war. Und nicht nur wütend. Tief unter seinem kalt-verkrampften Gesichtsausdruck schwärte eine Wunde, sie spürte es.

Sie dachte, er würde sich einfach umdrehen und wegfahren. Aber nein, so leicht machte er es ihr nicht. „Ich wusste, dass es ein Fehler war, dich um ein Date zu bitten.“

Die Worte trafen sie wie eine Ladung Schrot. Aber er war noch nicht fertig. „Ich bin keine Figur aus einer Shakespeare-Tragödie, Sierra. Wir sind nicht Romeo und Julia. Und ich hab dich nicht ausgeführt, weil ich mit dir spielen wollte!“

Er drehte sich abrupt um und war schon fast auf der Treppe, als sie ihm unter Tränen nachrief: „Ich liebe dich, Alex.“

Er drehte sich um und sah sie an. „Wie bitte?“ Seine Augen waren immer noch zornig. Mit gutem Recht. Sie hatte nicht ­bedacht, was ihr Schweigen ihn kosten konnte. Sie hatte nur an sich gedacht – nur keinen Zusammenstoß mit ihrem Vater riskieren.

Er stand abwartend da.

„Ich … hab gesagt, dass ich dich liebe.“

„Sag es auf Spanisch.“ Er sagte es in genau dem gleichen Ton, den er bei den Nachhilfestunden benutzte.

Sie schluckte. Wollte er sie nur demütigen, bevor er wegging? „Te quiero, Alejandro Luis Madrid. Corazón y alma.“ Sie begann zu weinen, das Schluchzen schüttelte ihren Körper. Er nahm ihre Hand und antwortete auf Spanisch. Sie verstand nicht alles, aber seine Augen und Hände sagten ihr umso deutlicher, dass auch er sie liebte.

Im Laufe der Jahre war es auch später noch gelegentlich passiert, dass er in besonders gefühlsgeladenen Augenblicken in seine Muttersprache verfiel. In der Hochzeitsnacht hatte er spanisch gesprochen, und auch, als sie ihm erzählte, dass sie schwanger war. Als dann Clinton sich früh am Morgen seinen Weg in die Welt bahnte, hatte er ihn weinend auf Spanisch begrüßt. Bei Carolyns Geburt war es genauso gewesen, und dann nochmal, als ihr Vater starb.

Sie vergaßen das grelle Haustürlicht in dieser Nacht. Sie vergaßen alles, bis die Tür aufflog und ihr Vater Alex anherrschte, er solle endlich verschwinden.

Ihr Vater hatte ihr danach rundweg verboten, sich mit Alex zu treffen. Es beeindruckte ihn nicht, dass Alex der Viertbeste von 200 Schülern war. Er sah nur, dass Luis Madrid, Alex’ Vater, „einer von diesen Bohnenfressern“ war, die in den Weinbergen von Sonoma County arbeiteten. Dass Alex eine Vierzigstundenwoche an einer Tankstelle hatte, um sich das Geld für ein Studium zusammenzusparen, scherte ihn nicht. „Ich wünsche ihm viel Glück“, sagte er nur und meinte es natürlich sarkastisch.

Sierra bat und bettelte, redete, weinte, argumentierte. Sie bat ihre Mutter um Hilfe, doch die weigerte sich. Schließlich drohte Sierra damit, wegzulaufen oder sich umzubringen. Das wirkte – sozusagen. „Wenn du den Chicano auch nur anrufst, hole ich die Polizei!“, hatte ihr Vater gebrüllt. „Du bist fünfzehn, er ist achtzehn. Dafür kann ich ihn verhaften lassen!“

„Wenn du das machst, sage ich der Polizei, dass ihr mich misshandelt!“

Ihr Vater hatte schließlich ihre Tante angerufen und Sierra für ein paar Wochen zu ihr geschickt, „zum Abkühlen“.

Als sie zurückkam, wartete Alex auf sie, und er war noch sturer als ihr Vater. Als Sierra heimliche Treffen vorschlug, kommentierte er die Idee mit einigen saftigen spanischen Schimpfworten. Er war ein Kämpfer, der den Stier bei den Hörnern packte. Eines Tages, fünf Minuten, nachdem ihr Vater nach Hause gekommen war, stand er vor der Haustür. Sierra erfuhr später von einer Nachbarin, dass er über eine Stunde lang weiter unten an der Straße gewartet hatte. Ihre Mutter ließ ihn herein, bevor ihr Vater zur Tür kommen und ihn zum Verlassen des Grundstücks auffordern konnte.

Sierras Hände umklammerten jetzt das Lenkrad ihres Honda. Sie sah die Szene wieder vor sich: Alex im Hausflur, zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater. Sie hatte wahnsinnige Angst gehabt, dass ihr Vater ihn schlagen würde.

„Was macht der denn hier?“ Sie hörte jetzt noch die Wut in der Stimme ihres Vaters, als er seine Aktentasche auf den Boden schmiss. Sicher wollte er die Hände frei haben, um Alex den Hals umzudrehen!

Alex ging um ihre Mutter herum und trat vor ihn. „Ich möchte Sie um die Erlaubnis bitten, Ihre Tochter regelmäßig sehen zu dürfen.“

„Erlaubnis! Wie bei dem Schulball, wie?“

„Ich hatte gedacht, Sierra hätte das mit Ihnen besprochen. Mein Fehler.“

„Stimmt! Ein großer Fehler! Und jetzt raus hier!“

„Brian, lass den jungen Mann doch erklären …“

„Du hältst dich da raus, Marianna!“

Alex verzog keine Miene. „Ich möchte nur, dass Sie mich anhören.“ Dass Sierra am oberen Ende der Treppe stand, sah er gar nicht.

„Von Ihnen will ich nichts hören, junger Mann!“

Sie waren wie zwei sich anfletschende Hunde. „Papa, bitte …“, hatte Sierra gesagt und war die Treppe heruntergekommen. „Wir lieben uns.“

Lieben?“

„Das verstehst du nicht“, protestierte sie.

„Ich verstehe viel mehr, als du denkst! Geh in dein Zimmer!“

„Ohne Alex gehe ich nirgendwohin!“, sagte sie und stellte sich neben Alex. In diesem Augenblick wusste sie: Wenn ihr Vater sich auf ihn stürzte, würde sie alles tun, um ihn zu stoppen. Alles! Noch nie in ihrem Leben war sie so wütend gewesen.

Alex packte ihr Handgelenk und zog sie hinter sich. „Das hier ist eine Sache zwischen deinem Vater und mir. Halt dich da raus.“ Seine Augen verließen ihren Vater keine Sekunde lang.

„Verlassen Sie mein Haus!“

„Ich will nur ein paar Minuten mit Ihnen reden, Mr Clinton. Wenn Sie dann wollen, dass ich verschwinde, verschwinde ich.“

„Zurück nach Mexiko?“

„Brian!“, rief ihre Mutter.

Das Gesicht ihres Vaters war puterrot. Alex schlug voll in die Kerbe hinein. „Ich bin in Healdsburg geboren, Mr Clinton, genauso wie Sie auch. Mein Vater hat schon vor zehn Jahren die amerikanische Staatsbürgerschaft bekommen, mit fliegenden Fahnen, rot-weiß-blau. Er hat nie einen Dollar Sozialhilfe beansprucht, und er arbeitet hart für sein Auskommen – wahrscheinlich härter als Sie in Ihrem netten Maklerbüro.“ Er ließ seinen Blick vielsagend durch den Flur wandern. „Wir wohnen nicht in einer Villa, aber auch beileibe nicht in einer Wellblechhütte.“

Die kleine Rede hatte es keineswegs besser gemacht. Die Verlegenheit ihres Vaters war wieder der Wut gewichen. „Sind Sie jetzt fertig?“

„Gleich. Es wird Sie freuen zu hören, dass meine Eltern ebenso sehr gegen meine Beziehung zu Sierra sind wie Sie.“

Sierras Mund klappte auf.

„Gegen … was?“, sagte ihr Vater empört. „Warum?“

„Warum, Mr Clinton? Nun, weil sie weiß und protestantisch ist natürlich!“

„Vielleicht sollten Sie auf Ihre Eltern hören.“

„Das tue ich. Ich achte meine Eltern sehr. Aber ich habe auch meine eigene Meinung. Für mich ist ein Fanatiker ein Fanatiker, egal, wie seine Hautfarbe ist.“

Ein langes Schweigen entstand, in dem man ihren inneren Zorn förmlich zischeln hören konnte.

„Also“, sagte Alex schließlich. „Reden wir jetzt miteinander oder nicht?“

Sierras Vater sah kurz sie an, dann wieder Alex. Sein Blick war wütend und resigniert zugleich. „Wir reden.“ Sein Kopf ruckte in die Richtung einer der Zimmertüren. „Aber es wird Ihnen nicht gefallen.“

Zwei geschlagene Stunden hatten die beiden in dem kleinen Büro neben dem Eingangsflur verbracht, während Sierra mit ihrer Mutter in der Küche saß und abwechselnd heulte und sich wütend ausmalte, was sie alles tun würde, wenn ihr Vater sie nicht mit Alex ausgehen ließ. Ihre Mutter hatte nicht viel gesagt.

Schließlich war ihr Vater in die Küche gekommen und hatte ihr mitgeteilt, dass Alex gegangen sei. Bevor sie mit dem Protestgeschrei beginnen konnte, fuhr er fort, dass sie sich wieder mit ihm treffen dürfte, aber nur, wenn sie die Regeln akzeptierte, auf die er sich mit Alex geeinigt hatte. Ein Telefongespräch pro Abend, nicht länger als dreißig Minuten und erst, wenn sie mit ihren Hausaufgaben fertig war. Kein Ausgehen in der Woche. Freitagsabends hatte sie um punkt 23:00 Uhr wieder zu Hause zu sein, samstags um 22:00 Uhr. Jawohl, 22:00 Uhr; sie sollte sonntags nicht unausgeschlafen zur Kirche gehen. Wenn ihre Schulnoten auch nur einen Hauch schlechter würden, wäre es aus und vorbei mit Alex; ebenso, wenn sie nicht zur Kirche ging.

„Und das hat Alex akzeptiert?“

„Ja.“

Die Regeln gefielen ihr überhaupt nicht, aber sie war so verliebt in Alex, dass sie allem und jedem zugestimmt hätte. Was ihr Vater auch sehr gut wusste.

„Aber ich sage dir, Sierra, der Junge bricht dir noch das Herz.“

Und jetzt, vierzehn Jahre später, hatte er genau das getan.

Sierra wischte sich die Tränen aus den Augen und fuhr über die Russian-River-Brücke und dann nach rechts.

Ihr Vater hatte natürlich darauf spekuliert, dass die Beziehung sich im Laufe der Zeit von selbst erledigen würde, aber da hatte er sich getäuscht. Alex schloss die High School mit Auszeichnung ab und ging aufs College. Sierra hatte von der Schule abgehen und ihn kurzerhand heiraten wollen; als Supermarktkassiererin hätte sie ihrem Mann das Studium finanzieren können – wie romantisch … Aber Alex hatte ihr klipp und klar gesagt, dass er sein Collegestudium selbst finanzieren würde und eine Schulabbrecherin als Ehefrau für ihn nicht in Frage käme, basta. Er zog das auf zwei Jahre angelegte Studium in eineinhalb Jahren durch und besuchte danach die University of California in Berkeley, wo er Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Computertechnologie studierte. Sierra beendete brav die High School, ging dann auf eine Handelsakademie und zählte im Übrigen die Tage bis zu Alex’ Examen.

Zurück in Healdsburg bekam Alex auf Anhieb eine Stelle bei Hewlett-Packard in Santa Rosa, kaufte sich einen Gebrauchtwagen und mietete einen kleinen Bungalow.

Ihre jeweiligen Eltern und Schwiegereltern konnten sich nicht darauf einigen, wie die Hochzeit gefeiert werden sollte. Das junge Paar fuhr daraufhin kurzerhand nach Reno und ließ sich heimlich trauen. Sehr glücklich war allerdings keiner darüber.

Seit zehn Jahren waren sie jetzt verheiratet. Zehn wunderbare Jahre. Und die ganze Zeit hatte Sierra gedacht, dass Alex genauso glücklich war wie sie. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass er tief innen so unzufrieden war. Warum hatte sie nichts gemerkt? Warum hatte er es ihr nicht einfach gesagt?

Sie bog in die Einfahrt ihres Elternhauses in der Matheson Street ein und betete, dass ihre Mutter daheim war. Mit ihr hatte sie immer vernünftig reden können; vielleicht konnte sie ihr jetzt helfen, Alex seine verrückten Pläne auszureden.

Sie öffnete die Haustür. Der Flur empfing sie mit seinem glänzenden Parkettboden. „Mama?“ Sie schloss die Tür hinter sich und ging den Korridor entlang zur Küche.

Fast hätte sie auch „Papa!“ gerufen. Aber nein … zwei Jahre war es jetzt schon her … Um 3:00 Uhr morgens war der Anruf gekommen. Noch nie zuvor hatte die Stimme ihrer Mutter so geklungen. „Dein Vater hat einen Herzinfarkt. Der Krankenwagen ist gerade gekommen.“

Sie waren sofort zum Krankenhaus gefahren, aber es war schon zu spät gewesen. „Er hat eigentlich nur über Bauchschmerzen geklagt“, hatte ihre Mutter tonlos berichtet. „Die Schulter tat ihm auch weh.“

Jetzt hielt Sierra an der Tür zu seinem Arbeitszimmer an und sah hinein. Halb erwartete sie, dass er an seinem Schreibtisch sitzen und den Immobilienteil der Zeitung studieren würde, wie früher. Sie vermisste ihn immer noch. Alex fehlte er auch. Als Clinton und Carolyn auf die Welt gekommen waren, waren Alex und ihr Vater gute Freunde geworden. Wie Enkel es doch immer wieder fertig brachten, die Mauern zwischen Generationen niederzureißen …

Vor ihrer ersten Schwangerschaft hatten sie und Alex wenig von ihren Eltern gesehen. Ihr Vater hatte immer eine Ausrede gefunden, wenn sie ihn zum Essen einluden; bei Alex’ Eltern war es nicht besser gewesen.

Dann kam die Nacht ihrer ersten Entbindung, und alles wurde anders. Beide Familien waren in trauter Gemeinschaft im Krankenhauswartezimmer versammelt. Alex hatte sie geküsst und vorgeschlagen, ihren Sohn Makepeace („Friedensstifter“) zu nennen. Sie hatten sich schließlich auf Clinton Luis Madrid geeinigt, sozusagen als nominelle Brücke zwischen den beiden Familien. Als ein Jahr später Carolyn Maria die Lebensbühne betrat, hatten die Clintons und die Madrids bereits reichlich Gelegenheit gehabt, einander kennenzulernen und festzustellen, dass sie viel mehr gemeinsam hatten, als sie dachten.

„Mama?“, rief Sierra wieder. In der Küche war sie also nicht. Sie schaute durch das Fenster in den hinteren Garten, wo Mutter oft arbeitete. Auch hier war niemand zu sehen. Ihr Auto stand in der Einfahrt; in der Kirche oder bei einem ihrer vielen Wohltätigkeitsprojekte war ihre Mutter also nicht.

Sie ging in den Korridor zurück und die Treppe hoch. „Mama?“ Vielleicht machte sie einen Mittagsschlaf. Sie schaute in das Schlafzimmer. Eine helle Karodecke lag sauber zusammengefaltet am Fußende des Bettes. „Mama?“

„Ich bin auf dem Dachboden! Komm rauf!“

Sierra ging überrascht ans Ende des Flurs und stieg die schmale Treppe hoch. Sie streckte den Kopf in die Dachkammer. „Was machst du denn hier oben?“

Sie betrat den Dachboden. Die kleinen Mansardenfenster waren offen und ließen eine schwache, sonnenwarme Brise in den Raum. In den schräg einfallenden Strahlen tanzten winzige Staubkörnchen.

Der Dachboden hatte Sierra immer fasziniert, und für einen Augenblick vergaß sie ihre Probleme. Hinten an der Wand war ein kleiner Stapel Gartenstühle. Gleich neben der Tür stand eine große Milchkanne mit diversen alten Regenschirmen und Spazierstöcken darin. Auf einem Regal thronte ein halbes Dutzend Weidenkörbe in allen Ausführungen. Kisten und Kästen unbekannten Inhalts waren zu unregelmäßigen Türmen gestapelt.

Wie oft hatten ihr Bruder und sie ihre Zimmer entrümpelt, Krimskrams sortiert, in Schachteln gesteckt und nach hier oben getragen? Als Oma und Opa Clinton starben, waren große Kisten und Schachteln aus ihrem Haus in der Schummerdämmerung gelandet. Überall waren alte Bücher, Truhen, Koffer, Kisten mit Geschirr und Silberbesteck. In einer Ecke lehnte ein zusammengerollter Flickenteppich, von Sierras Urgroßmutter handgeknüpft, an einem ehrwürdigen Hutständer. Die Kiste mit den Sonntagskleidern, die Sierra als kleines Mädchen getragen hatte, war noch da, auch der große ovale Spiegel, in dem sie sich so oft beim Umziehen bewundert hatte.

Nicht weit daneben stand das rote Tretauto ihres Bruders, still befördert zum Kunstausstellungswagen für ein gutes Dutzend alter Gemälde, die aufrecht hintereinandergestapelt darin standen und an der Wand lehnten. Einige davon waren Ölgemälde, die ihr Großvater in seinem Ruhestand gemalt hatte. Auf einem anderen Regal war ein Sammelsurium alter Farbdosen von der letzten Hausrenovierung, aufgehoben für den Fall, dass etwas ausgebessert werden musste. Ein ganzes Bücherbrett war mit Schuhkartons gefüllt, sorgfältig von ihrem Vater beschriftet, mit den Steuererklärungen und Rechnungen der letzten zwanzig Jahre. Und in der hintersten Ecke blätterte traurig die Farbe von einem ausrangierten Schaukelpferd.

Sierras Mutter hatte einige der alten Möbel verschoben, sodass Opa Edgeworths altes Sofa mit den Löwenfüßen in der Mitte des Raumes stand. Ihm gegenüber war Vaters alter Ruhesessel. Zwei ehemals vornehme Fußbänke mit Sticküberzug dienten als Ablagefläche für die Dinge, die ihre Mutter gerade aus einer alten Truhe holte.

Marianna Clinton hatte sich als Schutz vor dem Staub ein Tuch um den Kopf gebunden und sah komisch aus. „Ich habe gedacht, ich muss hier mal ein bisschen Ordnung machen.“

„Wie, Ordnung?“, fragte Sierra zerstreut.

„Na, einfach mal sehen, was ich wegwerfe und was ich behalte.“

„Und warum jetzt?“

„Das ist schon jahrelang überfällig.“ Ihre Mutter lächelte schuldbewusst. „Ich hab’s immer vor mir hergeschoben.“ Ihr Blick wanderte durch den Raum. „Es ist schon eine ganze Menge Zeug. Und von so vielen Leuten.“

Sierra strich mit der Hand über einen Schemel, der früher in der Küche gestanden hatte. Sie wusste noch, wie sie als Kind immer auf diesen Schemel gestiegen war, um Mutter beim Plätzchenbacken zuschauen zu können. „Alex hat mich vorhin angerufen. Er hat eine Stelle in Los Angeles angenommen.“

Ihre Mutter sah kurz zu ihr hoch. Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Ja … das war wohl zu erwarten.“

„Zu erwarten?“, echote Sierra.

„Alex war schon immer ehrgeizig.“

„Aber er hat doch eine gute Stelle! Erst letztes Jahr ist er befördert worden, und er verdient gutes Geld. Was Krankenversicherung und Betriebsrente angeht, hat ihn seine Firma auch bestens versorgt. Wir haben ein schönes neues Haus. Unsere Nachbarn sind nett, und Clinton und Carolyn fühlen sich wohl in ihrer Schule. Wir haben endlich ein richtiges Familienleben. Ich habe nicht mal gewusst, dass Alex sich nach einem anderen Job umgesehen hat. Erst heute, als er anrief …“ Ihre Stimme brach. „Er war so begeistert, Mama! Du hättest ihn hören sollen. Er sagte, diese neue Firma habe ihm ein Superangebot gemacht und da habe er zugeschlagen, ohne mich zu fragen.“

„Was für eine Firma ist das?“

„Computerspiele. Das Zeug, womit er sich zu Hause so gerne beschäftigt. Er hat die Leute letztes Frühjahr kennengelernt, auf einer Ausstellung in Las Vegas. Er behauptet, er hätte mir das damals erzählt, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Alex tüftelt schon seit einiger Zeit an einem Rollenspiel herum, in dem die einzelnen Spieler sich miteinander vernetzen und ganze Armeen aufbauen und Schlachten ausfechten. Er sagt, es ist genau das, was diese Firma sucht. Dass es die Firma erst seit vier Jahren gibt und dass sie in einer Garage angefangen hat, scheint ihn überhaupt nicht zu stören.“

„Apple hat auch in einer Garage angefangen.“

„Das ist was anderes. Diese Leute sind doch völlige Grünschnäbel, die müssen doch erst mal beweisen, dass sie sich auch auf dem Markt halten können. Gerade verlieren überall Leute ihren Job, und da will Alex zehn Jahre in leitender Position bei Hewlett-Packard einfach wegschmeißen! Ich will nicht nach Los Angeles, Mutter! Alles, was ich liebe, ist hier!“

„Du liebst Alex, Schatz.“

„Lieben? Erschießen möchte ich ihn! Wie kann er so eine Entscheidung einfach ohne mich treffen?“

„Hättest du ihm denn überhaupt zugehört?“

Sie traute ihren Ohren nicht. „Natürlich hätte ich das! Was bildet er sich ein – dass das mit mir alles nichts zu tun hat?“ Sie wischte sich die Zornestränen von der Wange. „Weißt du, was er gesagt hat? Er hat schon eine Maklerin angerufen; sie kommt heute Abend und begutachtet unser Haus. Kannst du dir das vorstellen? Dabei habe ich gerade erst Osterglocken gesetzt. Und jetzt werde ich womöglich nicht mehr erleben, wie sie blühen!“

Ihre Mutter schwieg einen langen Augenblick, die Hände im Schoß gefaltet, während Sierra ihre Handtasche nach einem Taschentuch durchwühlte.

Sierra putzte sich die Nase. „Das ist doch nicht fair! An meine Gefühle hat er keine Minute gedacht! Stellt mich einfach vor vollendete Tatsachen. Wir ziehen nach Los Angeles, zack. Ob ich das will, ist ihm ganz egal, Hauptsache, er kriegt seinen Willen!“

„Ich glaube nicht, dass das eine Kurzschlussentscheidung war. Alex ist doch ein besonnener Mann und betrachtet immer alles von allen Seiten.“

„Aber nicht von meiner Seite.“ Sierra ging aufgebracht durch den Raum. Sie hob einen alten Teddybär hoch, den ihr Bruder als kleiner Junge überallhin mitgeschleppt hatte, und drückte ihn an sich. „Alex ist doch hier in dieser Gegend aufgewachsen, so wie ich auch, Mutter. Ich verstehe einfach nicht, warum er das alles wegwerfen will und diese Aussicht auch noch toll findet!“

„Vielleicht verbindet Alex mit der Gegend hier nicht ganz so positive Erinnerungen wie du, Sierra.“

Sie sah ihre Mutter überrascht an. „Seine Eltern haben ihn nie schlecht behandelt.“

„Ich habe nicht Luis oder Maria gemeint; die sind wundervoll. Ich meine eher die Vorurteile, die so viele Menschen gegenüber Hispano-Amerikanern haben.“

„Als ob das in Los Angeles anders wäre! Dann hat er dort ja gleich noch einen Nachteil – außer dem Smog, dem Verkehr, der Kriminalitätsrate und den Erdbeben.“

Ihre Mutter lächelte. „Und den Filmstars und den Stränden und Disneyland.“

Mutter, die ewige Optimistin! Ihr Vater hatte sich oft darüber aufgeregt. Sierra jetzt auch. „Mama, alle Menschen, die uns lieb sind, sind hier. Alle Verwandten, alle Freunde.“

„Ihr zieht doch nicht ans andere Ende der Welt, Schatz. Nach Los Angeles fährt man von hier aus mit dem Auto ein paar Stunden. Und Telefone gibt’s ja heutzutage auch.“

„Du klingst ja beinahe so, als ob es dir gar nichts ausmachen würde, wenn wir wegziehen.“ Sierra biss sich auf die Lippe und sah weg. „Ich dachte, du würdest mich verstehen.“

„Wenn ich die Wahl hätte, wäre es mir natürlich lieber, ihr bleibt hier. Ich verstehe das alles sehr gut. Deine Großeltern waren auch nicht begeistert, als ich von Fresno nach San Francisco zog.“ Sie lächelte. „Auch nur eine Autofahrt von zehn Stunden, aber für meine Eltern war es, als ob ich auf die Rückseite des Mondes zog.“

Sierra lächelte schwach. „Du als Beatnik in San Francisco, Mama? Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Dass du einmal einen wunderbaren Mann und zwei Schulkinder haben würdest, konnte ich mir früher auch nicht vorstellen.“

Sierra putzte sich nochmal die Nase. „Wunderbarer Mann?“, murmelte sie. „Vollblut-Macho, meinst du wohl. Wahrscheinlich hat er noch nicht mal seinen Eltern etwas gesagt.“

„Oh, Luis wird ihn verstehen. Dein Vater hätte ihn auch verstanden. Ich glaube, Alex ist nur wegen dir überhaupt so lange hier geblieben. Es ist Zeit, dass du ihm die Gelegenheit gibst, seine Möglichkeiten voll auszuleben.“

Das war so ziemlich das Letzte, was Sierra hören wollte. Sie antwortete nicht, betrachtete stattdessen die Buchrücken auf einem der Regale. Es war etwas dran an dem, was ihre Mutter da sagte. Alex hatte im Laufe der letzten Jahre schon etliche Jobangebote bekommen und sie alle ausgeschlagen, nachdem er sich mit ihr besprochen hatte. Sie hatten diese Entscheidungen gemeinsam getroffen. Aber war es wirklich gemeinsam gewesen? Sie war sich nicht mehr sicher. Wie glücklich er geklungen hatte am Telefon eben …

Sie zog Winnie Pooh aus einem der Regale und blies den Staub von dem Umschlag. Ihre Finger strichen über das Titelbild. Ihre Mutter hatte sie immer auf den Schoß genommen und ihr die Geschichten vorgelesen. Wie oft wohl? Der Umschlag war ganz dünn und abgegriffen.

Und jetzt sollte sie also hier wegziehen und nicht mehr alle paar Tage bei ihrer Mutter hereinschauen und mit ihr reden können? Neue Tränen traten ihr in die Augen.

„Alex hat heute Morgen gekündigt.“ Sie schob das Buch zurück. „Das war das Erste, was er nach dem Anruf aus Los Angeles getan hat. Als Zweites hat er dann mich angerufen.“ Sie weinte jetzt richtig.

Ihre Mutter legte die Arme um sie, genau wie früher. „Das wird schon werden, du wirst sehen.“ Sie streichelte ihr über den Rücken, als sei sie noch ein Kind. „Alle Dinge müssen irgendwann zu unserem Besten dienen. Gott liebt dich und auch Alex; er meint es gut mit euch. Vertrau ihm.“

Warum musste ihre Mutter immer gleich mit Gott kommen? Und was sollte daran gut sein, einen Menschen total zu entwurzeln?

Sie machte sich aus der Umarmung frei. „Alle unsere Freunde sind hier. Du bist hier. Ich will nicht wegziehen. Es macht doch keinen Sinn. Was erwartet Alex denn von Los Angeles, das er hier nicht hat?“

„Vielleicht will er eine Chance, sich zu beweisen.“

„Das hat er doch schon längst! Alles, was er angepackt hat, hat funktioniert.“

„Vielleicht ist ihm das nicht genug.“

„Und mir muss er schon gar nichts beweisen!“

„Manchmal müssen Männer sich selbst etwas beweisen.“ Ihre Mutter nahm ihre Hand. „Komm, setz dich.“ Sie zog sie auf die abgewetzte Couch und streichelte ihr versonnen lächelnd über die Hand. „Ich erinnere mich noch daran, wie Alex mit deinem Vater über seine berufliche Frustration sprach.“

„Ja. Und Papa hat ihm geraten, dass er nicht zu viele Experimente machen soll.“

„Dein Vater hatte Sorge, dass Alex die gleichen Fehler machen würde wie er.“

Sie putzte sich die Nase und sah zu ihrer Mutter hoch. „Wie meinst du das?“

„Dein Vater hat ein halbes dutzend Mal umgesattelt, bevor er Makler wurde.“

„Wirklich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.“

„Dazu warst du damals noch zu klein.“ Ihre Mutter lächelte. „Dein Vater wollte ursprünglich mal Lehrer an der High School werden.“

„Papa als Lehrer?“ Sie konnte es sich nicht vorstellen. Ihr Vater vor einer Schulklasse … Den ersten Schüler, der ein Papierkügelchen verschoss, hätte er glatt einen Kopf kürzer gemacht!

Ihre Mutter lachte. „Ja. Papa. Er hat fünf Jahre lang studiert, um Biologielehrer zu werden, aber nach dem ersten Jahr an der Schule wollte er nicht mehr. Er stöhnte, die Mädchen hätten alle Stroh im Kopf und die Jungen seien nichts als Hormone mit Beinen.“

Sierra lächelte, halb amüsiert, halb erstaunt. „Ist ja nicht zu fassen!“

„Danach arbeitete er in einem Labor. Das gefiel ihm auch nicht. Er sagte, den ganzen Tag in ein Mikroskop zu starren sei zum Verrücktwerden langweilig. Also wurde er Verkäufer in einem Herrenbekleidungsgeschäft.“

„Was?! Papa?“

„Ja, Papa. Du und Mike, ihr wart schon in der Schule, als er da auch wieder aufhörte. Als Nächstes wurde er Polizist. Ich war mindestens so sehr dagegen, wie du gerade gegen den Umzug nach Los Angeles bist.“ Sie strich wieder über Sierras Hand. „Aber Gott ließ etwas Gutes daraus entstehen. Ich konnte nachts nicht schlafen vor Angst, dass irgendein Ganove ihn umbringen könnte. Es waren die schlimmsten Jahre meines Lebens; auch unsere Ehe litt darunter. Aber damals kam auch der größte Segen für uns. In der Zeit, in der dein Vater oft nachts Streifendienst hatte, fand ich zum Glauben an Gott.“

„Das hast du mir noch nie erzählt, Mama.“

„Nein – du warst ja noch viel zu klein. Ihr wart beide nicht glücklich damals, ihr habt die Spannungen zwischen uns gespürt. Wenn euer Vater zu Hause war, musste er schlafen und hatte kaum Zeit für euch. Ich musste euch mit Spielen und Puzzles und langen Spaziergängen beschäftigt halten und dauernd sagen: ‚Seid schön leise, Papa schläft.‘ Die Nachtarbeit und der Stress waren schlimm für euren Vater, aber ich glaube, die Tatsache, dass er so wenig von euch mitbekam, war der Hauptgrund dafür, dass er schließlich bei der Polizei aufhörte. Er erwarb seine Maklerlizenz. Das war endlich etwas, was ihm gefiel. Vielleicht war es ein Wink von Gott, dass er sich während des großen Immobilienbooms selbstständig machte. Zwei Jahre nachdem er seine Lizenz bekommen hatte, war er schon einer der Top-Makler im Bezirk Sonoma. Er hatte schließlich so viel zu tun, dass er sich auf gewerbliche Immobilien spezialisierte.“

Sie drückte Sierras Hand. „Was ich dir damit sagen möchte, Kind: Dein Vater hat sechzehn Jahre gebraucht, bis er einen Beruf gefunden hatte, in dem er wirklich aufging.“ Sie lächelte. „Alex wusste schon, was er wollte, als er aufs College ging. Aber bisher hat er noch keine Gelegenheit gehabt, es zu erreichen. Das größte Geschenk, das du ihm machen kannst, ist die Freiheit, sich zu entfalten.“

„Du hörst dich ja so an, als hätte ich ihn die ganze Zeit an der kurzen Leine geführt!“ Sierra begann wieder hin- und herzumarschieren. „Er hätte erst mit mir reden sollen, Mutter. Ist das denn so schwer zu verstehen? Er hat mich einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Das ist einfach nicht fair!“

„Wann ist das Leben schon fair?“, sagte ihre Mutter.

„Papa hat dich nie gezwungen, umzuziehen!“

„Ja, aber ich wäre froh gewesen, wenn er es getan hätte.“

Sierra drehte sich zu ihr um und starrte sie an. „Ich dachte, dir gefällt es hier in Healdsburg.“

„Heute schon. Aber als ich jünger war, hätte ich alles darum gegeben, hier wegzukommen. Ich stellte mir vor, wie herrlich es sein musste, in einer großen Stadt wie San Francisco zu leben, wo so viel los war. Ich bin ja auf Omas Farm auf dem platten Land groß geworden, und glaub mir, das war langweilig. Ich wollte ins Theater und auf Konzerte gehen, ich wollte Museen besichtigen und Kultur erleben. Ich wollte im Golden Gate-Park spazieren gehen. Und das habe ich dann auch getan, allen Warnungen meiner Eltern zum Trotz.“

„Und hast Papa dabei kennengelernt.“

„Ja. Er hat mich gerettet, als ein paar Typen mich überfallen wollten.“

Sierra musste an das Hochzeitsfoto auf dem Kamin im Wohnzimmer denken. Ihr Vater hatte damals lange Haare gehabt, und sein „Hochzeitsanzug“ hatte aus Jeans und schweren Stiefeln bestanden; ihre Mutter trug einen schwarzen Stehkragenpullover und Caprihosen und hatte Blumen in ihr taillenlanges kastanienbraunes Haar gesteckt. Das Foto hatte sich immer mit dem Bild gebissen, das Sierra von ihren Eltern hatte. Auf dem Foto sahen sie so aus, als wären sie wilde junge Hippies gewesen.

Ihre Mutter lächelte. „Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir in San Francisco geblieben.“

„Ehrlich? Ich hatte ja keine Ahnung!“

„Na ja, aber als ihr Kinder dann da wart, hatte sich das, was ich wollte, drastisch verändert. Bei dir wird es sich auch noch ändern. Das Leben ist ständig im Fluss, Sierra. Gott sei Dank. Manchmal reißt uns eine Strömung in eine Richtung, die uns gar nicht gefällt – und später erst merken wir, dass die ganze Zeit Gott dahintersteckte!“

„Dass wir nach Los Angeles ziehen, hat aber nicht Gott beschlossen, sondern Alex!“ Sierra hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme, aber sie weigerte sich einfach, deshalb Schuldgefühle zu haben. Sie kochte vor Wut darüber, dass Alex eine solche Entscheidung ohne sie getroffen hatte; und sie hatte Angst. Angst, dass sie verlieren würde, wenn sie sich jetzt mit ihm anlegte, und regelrechte Panik vor dem Ende des behaglichen Lebens, das sie so liebte.

„Was soll ich denn machen, Mama?“

„Das musst du selbst wissen, Schatz.“ In den Augen ihrer Mutter standen Mitleidstränen.

„Ich brauche deinen Rat.“

„Das wichtigste Gebot ist, dass wir unseren Nächsten so lieben wie uns selbst. Vergiss einmal deine eigenen Wünsche und denk darüber nach, was Alex braucht. Dann müsstest du wissen, was zu tun ist.“

„Wenn ich das tue, hat er mich im Sack! Dann nimmt er als Nächstes eine Stelle in New York an, bevor ich auch nur Huch sagen kann!“ Noch während sie sie aussprach, wusste sie, dass die Worte unfair waren. Alex hatte sie bisher wirklich auf Händen getragen. Er hatte ihr ein sehr komfortables Leben ermöglicht, ein tolles Haus, zwei wunderbare Kinder. Alles war so nett gewesen, dass sie anscheinend überhaupt nicht gemerkt hatte, was in ihm vorging. Die Erkenntnis machte ihr Angst. Konnte es sein, dass sie ihren Mann doch nicht so gut kannte, wie sie immer gedacht hatte?

Sie sah einfach keinen Ausweg. Ein Teil von ihr wollte die Kinder von der Schule abholen und sofort wieder hierher zu ihrer Mutter fahren; wenn sie nicht unterschrieb, konnte Alex das Haus nicht verkaufen, neuer Job hin, Maklerin her. Aber sie wusste auch: Wenn sie das tat, müsste sie auch mit dem Echo leben. Die wenigen Male, die sie ihn unabsichtlich verletzt hatte, hatte er sich hinter eine Wand aus eisigem Schweigen zurückgezogen. In seiner Familie brüllte man nicht herum, wenn man wütend war, aber Sierra wusste nicht, ob die kalte Schulter nicht sogar schlimmer war. Sie mochte nicht daran denken, wie er reagieren würde, wenn sie ihn absichtlich verletzte oder hinterging.

„Vielleicht solltest du einfach mal ein paar Stunden abschalten und Abstand gewinnen“, sagte ihre Mutter.

Sierra setzte sich seufzend wieder auf das Sofa. Sie deutete auf die offene Truhe und den Kartonstapel. „Warum machst du das, Mama?“

Ein Flackern ging über das Gesicht ihrer Mutter. „Es ist eine gute Winterbeschäftigung, findest du nicht?“ Sie blickte durch den Raum. „Es ist so viel Unordnung hier. Dein Vater und ich wollten schon vor Jahren alles mal sortieren, aber …“ Sie sah plötzlich traurig aus. „Die Zeit rennt einem davon. Ich will einfach nicht, dass ihr euch mal durch dieses Chaos durchwühlen müsst – Mike und du.“

Sie stand auf und schlenderte durch den Raum. Ihre Finger streichelten einen alten Schaukelstuhl, ein Bücherregal, einen Puppenwagen. „Ich will deine und Mikes Sachen aussortieren und da drüben in der linken Ecke unterbringen. Ihr könnt dann später selbst entscheiden, was ihr behaltet und was ihr wegwerft. Die wichtigen Sachen von der Familie deines Vaters und von meiner verpacke ich neu. Das meiste von den Geschäftsunterlagen und Steuererklärungen könnt ihr verbrennen; es hat ja keinen Sinn, das noch aufzubewahren. Und Opas Bilder … die zerfallen zum Teil schon.“

„Künstlerisch wertvoll sind sie sowieso nicht alle“, grinste Sierra.

„Das stimmt“, lachte ihre Mutter. „Aber er hatte Spaß daran.“ Sie hielt beim Fenster an, das auf den Vorgarten hinausschaute. Ihr Gesicht war nachdenklich. „Die ganzen Familienpapiere kann ich im Laufe des Winters durchgehen und für dich und Mike ordnen.“ Sie sah zu Sierra zurück und lächelte. „Das wird viel Arbeit sein, aber wahrscheinlich auch interessant.“

Sie kam zurück und setzte sich neben Sierra. „Diese Truhe hier gehörte einmal Mary Kathryn McMurray, einer deiner Vorfahren. Sie kam 1847 in einem Planwagentreck hierher. Ich war gerade dabei, mir ihr Tagebuch anzusehen, als du kamst.“ Sie holte ein in Leder gebundenes Buch aus der Truhe und wischte mit der Hand darüber. „Sehr weit gekommen war ich noch nicht. Ursprünglich war das wohl ein Aufgabenbuch, und sie hat es dann als Tagebuch benutzt.“

Sie legte das Buch zwischen ihnen auf das Sofa. Sierra nahm es in die Hand und öffnete es. Sie las die Kinderhandschrift auf der ersten Seite: Mama sagt das man in der Wildnis lebt, ist kein Grunt dumm zu sein. Ir Papa war ein gebildeter mann und häte keine dummen in der Fermilie gedultet.

„Die Truhe stammt aus Opa Clintons Nachlass“, sagte Sierras Mutter. „Ich habe jahrelang nicht mehr reingeguckt.“ Sie holte ein geschnitztes Kästchen heraus und lächelte. „Oh, an das hier erinnere ich mich.“ In dem Kästchen lag ein besticktes Seidentaschentuch. Sie faltete es vorsichtig auseinander und hielt es Sierra hin. In dem Tuch lag eine Goldkette mit einem Kreuz aus Amethysten.

Wir

„Und meine Mutter? Und deine Eltern?“

„Wir ziehen ja nicht nach New York, Sierra.“

„Das hast du dir für nächstes Jahr aufgespart, was?“

Stille. Ihr Herz schlug schneller, und sie konnte förmlich spüren, wie sich am anderen Ende der Leitung dunkle Wolken aufbauten. Hör auf, sagte eine Stimme in ihr. Treib es nicht auf die Spitze … Aber sie wollte nicht aufhören. „Du hättest mir vorher etwas davon erzählen können, Alex. Oder wenigstens andeuten.“

„Andeuten? Ich hab dir schon vor Wochen von dieser Firma erzählt. Und seit geschlagenen vier Jahren sage ich dir, was ich vorhabe. Aber du hörst ja nie zu.“

„Ich höre zu!“

„Aber nicht richtig.“

„Doch!“

„Dann hör mir jetzt mal gut zu: Zehn Jahre lang ist alles nach deiner Nase gegangen. Vielleicht bin ich jetzt mal dran.“

Klick.

„Alex?“ Stille im Hörer. Sierra blinzelte schockiert. Einfach aufgelegt – das hatte Alex noch nie gemacht!

Sie ging nach unten, noch niedergeschlagener als vorhin. Der betörende Duft von frisch gemahlenem Kaffee erfüllte die Küche. Ihre Lieblingssorte. So wie die Plätzchen, die ihre Mutter in dem sonnigen Erker auf einen Kuchenteller gelegt hatte. Willst du mich aufmuntern, Mutter? Vergiss es!

Sie legte das Mobiltelefon auf die blumenbestickte Decke und ließ sich auf den Stuhl fallen. „Er hat einfach aufgelegt.“ Ihre Mutter goss Kaffee ein. „Erst macht er mir mein ganzes Leben kaputt, und dann legt er auf. Er hat behauptet, ich höre ihm nie zu.“

Ihre Mutter stellte die Kaffeekanne ab und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. „Manchmal hören wir nur das, was wir hören wollen.“ Sie nahm einen kleinen Schluck.

„Du siehst müde aus, Mutter.“

„Ich hab nicht gut geschlafen. Musste dauernd an deinen Vater denken.“ Ihr Mund wurde weicher. „Manchmal sehe ich ihn vor mir, wie er in seinem Sessel sitzt und die Nachrichten schaut. Oder irgendwo im Haus knarrt etwas und ich werde wach und denke, er kommt gleich herein.“ Sie schaute traurig lächelnd in ihre Tasse. „Ich vermisse ihn.“

„Ich auch“, seufzte Sierra. Papa hätte Alex vielleicht seine Los Angeles-Spinnerei ausreden können.

Ihre Mutter hob den Kopf und schaute sie weich lächelnd an. „Dein Vater war auch nicht immer ein einfacher Mensch, Sierra. Aber ein wertvoller.“

„Wenn Alex unbedingt nach LA will, muss ich wohl mit. Aber deswegen muss ich doch keine Freudentänze aufführen!“

„Vielleicht nicht, aber es wäre schon besser, wenn du dich mit der Sache arrangierst. Bitterkeit und Zorn zerfressen die Liebe so schnell wie der Rost den Gartenstuhl da draußen. Ich finde, es ist eine Tragödie, wenn eine Ehe wegen einer Sache kaputtgeht, die man in einem vernünftigen Gespräch zwischen zwei Erwachsenen hätte bereinigen können.“

Die Worte taten Sierra weh. „Mit einem Gespräch kann man Alex wohl kaum umstimmen.“

„Dann kommt es darauf an, was du eigentlich willst.“

Sierra blinzelte ihre Mutter durch ihre Tränen hindurch an. „Wie meinst du das?“

Marianna nahm ihre Hand. „Ganz einfach, Sierra. Willst du deinen Willen haben oder willst du Alex?“