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Über den Autor

Andi Weiss ist auf zahlreichen Konzerten und Veranstaltungen als Songpoet und Geschichtenerzähler unterwegs. Die andere Hälfte seiner Zeit berät und begleitet er als evangelischer Diakon und Logotherapeut Menschen in Krisensituationen. Auch als Autor zahlreicher Bücher hat er sich bereits einen Namen gemacht. Von der renommierten Hans-Seidel-Stiftung wurde er mit dem „Nachwuchspreis für Songpoeten“ ausgezeichnet und bekam den deutschen Musikpreis „David“ in der Kategorie „Bester nationaler Künstler“.

Andi Weiss ist verheiratet und lebt mit seiner Frau Martina und seinem Sohn Emil Leo in München. Er engagiert sich für die Hilfsorganisation Opportunity International (www.oid.org).

Mehr Informationen über den Autor und Künstler finden Sie unter www.andi-weiss.de.

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Inhalt

Mit dem Herzen laufen lernen

Wer bin ich?

Wenn der Regen in dir fällt

Und wer bin ich nicht?

Der Inder im Flugzeug

Was kann uns von Gottes Liebe trennen?

Lass es am Ende Liebe sein

Nicht wegwerfen, sondern reparieren

Ein kleines Liebeslied

Vom guten und schlechten Vergleichen

Die Kraft der Worte

FEUER!

Die glücklichste Frau der Welt

Alles hatte seinen Grund

50 Euro

Da kommt keiner ran

Wer ist Ihr Claus Meyer?

Komm, gib nicht auf

„Ich bring dich groß raus!“

Helden

Auch das geht vorbei …

Ich weiß, es kommen wieder gute Tage

Nie allein

Nie allein

Personenschaden im Advent

Stille Nacht, heilige Nacht

Ich kann nicht mehr

Wo wohnt Gott?

Ich bring dich durch den Sturm

Angst vs. Liebe

Komm gut übers große Meer

Der Mensch auf der Suche nach Sinn

Dass dir der Himmel offen steht

Binde deinen Karren an einen Stern

Hab dich lieb

Scheißegal … Ich will leben!

Immer, immer wieder

Schöner scheitern

Derek Redmonds größtes Rennen

Laufen lernen

Jeder Mensch kann tanzen

Tanz im Regen

Mir wäre das nicht passiert

Sing dein Lied

Lebens-Wert

Osterglocken am verschneiten Grab

Dein Glück

Vom aufrechten Gang

Nimm dein Bett und geh!

Mein Ziel

Die letzte Seite

Ein Leben, das nicht
für andere gelebt wurde, ist kein Leben.

Mutter Teresa

Mit dem Herzen laufen lernen

Wie fange ich dieses Buch nur an? Wie beginne ich? Vielleicht ein lustiger Witz zur Auflockerung? Eine berührende Geschichte? Ein tief greifender Gedanke? Vorworte sind, wie ich finde, immer das schwierigste Kapitel, wenn man ein Buch schreibt. Schon nach wenigen Worten werden Sie als Leser entscheiden, ob Sie dieses Buch weiterlesen, weiterschenken, weglegen oder als Anzündhilfe für Ihren Kaminofen benutzen. Das setzt mich als Autor ganz schön unter Druck. Meist schreibe ich deshalb auch das Vorwort erst ganz am Schluss, bevor ich das Buch abgebe. Ich schiebe es so lange wie möglich vor mir her, ich mache einen Bogen darum, schreibe ein paar Sätze, um sie dann auch gleich wieder zu löschen. Kennen Sie das? Man will etwas gut machen – richtig angehen –, und weil man nicht den perfekten Weg findet, lässt man es irgendwann ganz sein. Wie gelingt aber dieser erste so wichtige, mutige Schritt?

Seit Hape Kerkeling sich die Füße wund gelaufen und darüber auch noch ein Buch geschrieben hat, wollen viele Menschen auch einfach „mal weg“ sein und machen sich als Pilger auf den Weg nach Santiago de Compostela. Würde man einen Spanier heute fragen, wo der Jakobsweg beginnt, bekäme man die Antwort: „El camino comienza en su casa“, der Weg beginnt also vor der eigenen Haustür. Die Frage ist somit gar nicht, wie man einen Weg beginnt, sondern wo. Ich möchte mir diese Frage für mein Buch ebenfalls stellen: Wo fange ich an? Die Antwort lautet: bei mir. Ich möchte Sie in diesem Buch mit auf Reisen nehmen. Auf Konzerttour, zu Gesprächen und Begegnungen, auf poetische Ausflüge mit meinen Liedern. Begegnungen und Momente, die mir persönlich ein Stück Herzensweite, Lebensweisheit, Hoffnung und Mut geschenkt haben. Diese kleinen Schätze möchte ich mit Ihnen teilen. Im Blick auf die einzelnen Kapitel stelle ich fest, dass viele der Momente, in denen Menschen gereift sind, Abbrüche, Umbrüche, Zusammenbrüche, eben Brüche waren, die zum Umdenken aufgefordert haben. Menschen haben sich in ihren Krisen ernst genommen, haben nachgefragt, nicht aufgegeben, sind aufgestanden, haben weitergemacht und so in ihrem Leben neu laufen gelernt.

Unser Leben lebt von Auf- und Umbrüchen. Gewollt oder ungewollt. Man kommt an seine Grenzen. Als Mensch schrecke ich zunächst zurück, aber ich lerne durch diesen Bruch mein Zuhause neu kennen. „Erst in der Fremde lernt man die Heimat schätzen“, weiß Ernst Wiechert, und mehr noch: Die verlassene Sicherheit eröffnet die Möglichkeit, Neues in und um sich herum zu entdecken.

Wir brauchen diese einschneidenden Momente, um uns weiterzuentwickeln. Christian Morgenstern rät: „Man sollte von Zeit zu Zeit von sich zurücktreten, wie ein Maler von seinem Bilde!“ Der heranreifende Erwachsene wird „Vater und Mutter verlassen“, heißt es einmal in der Bibel, er wird die Nestwärme, die Sicherheit aufgeben und eigene Wege gehen. Aber auch der schon alte Abraham („Steh auf, und geh in ein Land, das ich dir zeigen werde …“) erfährt die Bereicherung im Aufbruch, im schmerzhaften Abschied. Dieses „neue Land“ wird ihn unsicher machen. In diesem neuen Lebensabschnitt gelten auch neue Regeln.

In dem Wort „auf-brechen“ steckt etwas Gewaltiges, vielleicht Schmerzhaftes und doch Erlösendes. Was sucht ein Mensch, der sich auf den Weg macht? Was erwarten Menschen, die zu Pilgern werden und nach Santiago, Jerusalem, Mekka oder wohin auch immer aufbrechen – um nicht nur irgendwo, sondern vielleicht sogar irgendwann bei sich selbst anzukommen? Pilger sind sehnsüchtige, suchende Menschen – sind Sinn-, Lebens- und Gottsucher.

„Pilgern“ stammt aus dem Lateinischen: peregrinari meint „in der Fremde sein“. Pilgern heißt sich aufmachen, aufbrechen – vielleicht auch zwischenzeitlich abbrechen –, manchmal vielleicht auch, weil man in der eigenen Heimat innerlich beinahe zusammenbricht. Welche Sehnsucht treibt den Menschen zum Aufbruch in die Fremde?

Ein Pilger macht sich auf die Suche nach Sinn, nach Tiefe, nach Erlösung – nach Gott. Und wer Gott sucht, der kommt zwangsläufig nicht an sich selbst vorbei. Aufbrechen muss dabei jeder Mensch für sich selbst. Ob er will oder nicht. Auch wenn früher reiche Leute andere dafür bezahlten, dass sie für sie auf Pilgerschaft gingen, erfüllt sich der Wunsch nach einer inneren Reinigung nur dem, der bereit ist, sich selbst hineinzugeben und selbst loszugehen.

Für Ihren ganz persönlichen Lebensweg wünsche ich Ihnen Mut, ein weites Herz und viele gute neue Erfahrungen!

Bleiben Sie behütet!

Ihr

Andi Weiss

Wer bin ich?

Ich muss Ihnen ein Geständnis machen: Wenn ich Konzerte spiele, bin ich immer unglaublich aufgeregt. Das liegt – und ich hoffe, das ist jetzt nicht unhöflich – nicht an meinem Konzertpublikum. Ich bin bei Konzerten immer derartig aufgeregt, weil ich nie weiß, was am nächsten Tag über das Konzert vom Vorabend in der Zeitung steht. Oft kommen Redakteure in der Konzertpause zu mir und fragen mich: „Herr Weiss, was passiert denn in der zweiten Hälfte des Konzerts? Ich habe noch einen Anschlusstermin und muss weg …“ Meistens versuche ich dann, in aller Demut zu beschreiben, wie das für mich ist, wenn ich nach der dreizehnten Zugabe im weißen Bademantel auf die Bühne komme. Vor einigen Jahren bin ich mit meinem „Heimat“-Programm getourt. In diesem Programm habe ich sehr ausführlich und breit erzählt, warum ich Gott so dankbar bin, dass ich in Oberbayern und nicht in Niederbayern auf die Welt gekommen bin. Dieses Programm habe ich auch einmal an der Nordsee gespielt. Just bei diesem Konzert kam wieder – wie eben geschrieben – ein Redakteur in der Pause mit obiger Frage auf mich zu. Ich erklärte ihm, dass alle ober- und niederbayrischen Konflikte nur „gespielt“ waren und nicht wirklich ernsthafte Probleme darstellten. Außerdem wäre ich ja ein Mann der Kirche und stehe für Versöhnung, für Frieden und Einheit unter den Menschen. Genau aus diesem Grund würde ich an diesem Abend auch am Ende des Konzerts – nach der dreizehnten Zugabe – gemeinsam mit den Konzertbesuchern und der Hand auf dem Herzen die Bayernhymne singen. Ich fragte mich den ganzen Weg zurück nach München, ob der Mann meine nicht ganz ernst gemeinte Antwort wohl verstanden hatte. Als ich dann den Zeitungsartikel las, merkte ich: scheinbar nicht.

Es ist tatsächlich sehr spannend, etwas über sich in der Zeitung zu lesen. Manchmal, weil man da Dinge liest, die man selbst noch gar nicht von sich wusste. Und manchmal, weil es tatsächlich für mich sehr interessant ist zu lesen, wie andere Menschen das wahrnahmen, was ich auf der Bühne mache. Eine Redakteurin schrieb neulich in einem Konzertbericht über mich: „Lieder wie Reinhard Mey, im Stil von Herbert Grönemeyer, mit dem Charme von Florian Silbereisen …“ Für einen kurzen Moment musste ich überlegen, ob ich mich freuen oder meinen Anwalt anrufen sollte. Und doch muss ich mich selbst immer wieder fragen: Wer bin ich? Und wer möchte ich gern sein? Bin ich nur mit meinen guten Seiten erwünscht? Oder gehören zu meiner Person auch meine Schattenseiten dazu? Muss ich zu allem Ja und Amen sagen oder sind auch meine Zweifel, mein Versagen, meine Widersprüche Teil meiner Persönlichkeit? Ich erlebe es immer wieder, dass ich gegen mich selbst kämpfe. In solchen Zeiten hört man die guten Worte der Menschen um einen herum nicht, da kann man Lob nicht speichern, weil man ja doch viel besser weiß, wie man in Wirklichkeit ist. Und ich frage mich: Wer bin ich? Mit dieser Frage hat auch Dietrich Bonhoeffer in seiner Gefängniszelle gerungen. Er schrieb:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich trete aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der siegen gewohnt ist. Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! *

Ich habe diesen Text einmal bei einem Konzert auf dem Wittekindshof in Rahden vorgelesen. Dort leben wunderbare Menschen – körperlich oder geistig behindert – zusammen in verschiedenen Wohngruppen. Dieser Text von Dietrich Bonhoeffer lebt ja von der ständigen Wiederholung der Frage: „Wer bin ich?“ Als ich diese Frage gerade das vierte oder fünfte Mal las, rief ein Bewohner nach vorn: „Na, der Andi Weiss!“ Die ganze Truppe lachte. Es tut immer wieder gut, daran erinnert zu werden …

* Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. von E. Bethge u. a. (Bd. 8 der Werkausgabe), Ed. Kaiser im Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 1998, S. 513 f.

Wenn der Regen in dir fällt

Wenn der Regen in dir fällt,

keiner erklärt dir deine Welt.

Wenn sich dein Tag nicht erhellt,

sich viel zu viel gegen dich stellt.

Dann mal ich dir den Himmel blau,

bin auch bei dir – ist er mal grau.

Ich verteidig dein Revier –

denn du gehörst zu mir – und ich zu dir.

Wird dein Leben immer schlimmer,

fehlt in dir die weite Sicht –

bin ich der, der dich erinnert:

dich an dich –

und dich an mich.

Wenn dich jemand laut verlacht,

über dich sich lustig macht,

deine Angst hält dich in Schach

und nichts vertreibt dir deine Nacht.

Bist du dann groß und stark

und ein Gewinner,

scheinbar brauchst du mich dann nicht –

dann bin ich der, der dich erinnert:

dich an dich –

und dich an mich.

Ich teil mit dir dein Leben, deine Tage.

Wenn dich Zweifel überkommt, dann bin ich für dich da.

Ich bleib bei dir im Dunkeln, keine Frage!

Wenn dein Sinn dir still entgleist –
wenn du nicht mehr weiterweißt.

Text und Melodie: Andi Weiss, CD:
„Lieb dich gesund“, © Andi Weiss

Und wer bin ich nicht?

Ein junger Mann kam zum Beratungsgespräch zu mir. Schnell zählte er auf, was ihn so alles quälte: „Ich bin zu dick! Ich bin zu faul! Ich stinke! …“ Die Liste war noch viel länger, und irgendwie erinnerte mich seine Aufzählung an den alten Werbeclip einer Bank, in dem der eine Mann dem anderen stolz seine Errungenschaften präsentiert: „Mein Haus! Mein Auto! Mein Boot!“ Ich persönlich halte mich nicht für kompetent, die äußerlichen Vorzüge von Männern beurteilen zu können, und dennoch verspürte ich den Drang, ihm entschieden zu widersprechen. Ich fand nicht, dass der junge Mann streng roch oder auffallend unattraktiv war. Und hatte er mir nicht gerade erzählt, dass er neben seiner Arbeit noch die Abendschule besuche? Wie konnte er sich da eine so ausgeprägte Faulheit attestieren?

Ich bat ihn, seine Aussagen über sich selbst auf ein Blatt Papier zu schreiben. Schnell war das Blatt mit vielen negativen Sätzen gefüllt. Dann begaben wir uns gemeinsam auf die Suche, wie es zu diesen Aussagen gekommen war. Es brauchte seine Zeit. Es war schon fast kriminalistische Feinarbeit. Doch irgendwann brach der Damm und er fasste Mut und ging tapfer auf eine kleine biografische Entdeckungsreise. Plötzlich sprudelten die Zusammenhänge nur so aus ihm heraus. Stück für Stück fielen ihm die Menschen ein, die Aussagen über sein Leben gemacht hatten. Aussagen, die viel mehr mit dem Leben des jeweiligen Menschen selbst zu tun hatten.

Da war sein Vater, der nach 30 Jahren seine Anstellung verloren hatte und seitdem in seiner Arbeitslosigkeit Tag für Tag ein Stückchen mehr am Leben zerbrach. Hinter dem „Du bist zu faul!“ stand eigentlich seine eigene Angst, und die negative Aussage spiegelte eigentlich nur den Wunsch wider: „Mein Junge, sei fleißig! Sonst geht es dir wie mir!“ Vielleicht hätte er das seinem Sohn auch einfach so sagen sollen?

Da war sein magersüchtiger Bruder, der ihm wieder und wieder vorhielt: „Du bist zu dick!“ Er hatte sein eigenes Lebensthema nicht bei sich behalten. Er hat die eigene Krankheit auf den Bruder abgeladen. Vielleicht hatte er auch nur den Wunsch, diese schwere Bürde nicht allein tragen zu müssen, nicht ahnend, welche Last er damit weitergab?

Wir arbeiteten uns Satz für Satz durch die Aussagen und kamen aus dem Staunen nicht heraus. Stück für Stück zerbrach ein großes, mächtiges Wort nach dem anderen. Am Schluss nahm er das Blatt Papier und zerriss es wütend mit den Worten: „Aber das bin ich doch alles gar nicht! Und ab heute werde ich das auch nicht mehr sein!“

Welche Aussagen hat man über Sie gemacht? Was haben Ihnen Eltern, Lehrer, Geschwister oder Freunde gesagt? Vielleicht gut gemeint – aber doch so schlecht gemacht. Wie lange glauben Sie schon, dass Sie zu jung, zu alt, zu dumm, zu hässlich, was auch immer sind?

Mit fällt dazu eine andere Begebenheit ein. Einmal durfte ich einen Bildhauer interviewen und besuchte ihn dazu in seiner Werkstatt. Bildhauerei hat mich schon immer fasziniert. Begeistert bestaunte ich seine Werke. In einer Ecke seiner Werkstatt stand ein rauer, großer, grober Holzklotz. Unbearbeitet, mit Astlöchern und teils abgeblätterter Rinde. Ich fragte scherzend: „Ist das auch Kunst oder kann das weg?“

Der Künstler reagierte ganz irritiert, so als hätte ich seine Frau beleidigt oder die Ehre seiner Familie beschmutzt. Zärtlich strich er über den Klotz, sah das Stück Holz liebevoll an und fragte mit sanfter Stimme: „Siehst du nicht diese wunderschöne Figur? Diese elegante Haltung? Der etwas gekrümmte und doch in den Himmel blickende Körper? Siehst du das nicht?“

Ich wollte nicht unhöflich sein. Alles, was ich sah, war eben ein rauer, großer, grober Holzklotz. Unbearbeitet, mit Astlöchern und teils abgeblätterter Rinde. Es vergingen ein paar Wochen und eines Tages bekam ich einen Brief mit einem Foto. Der Künstler schrieb: „Siehst du es jetzt? Was für eine schöne Figur! Sie war immer schon da! Ich musste sie nur von dem lästigen Holz um sie herum befreien. Aber das war ganz einfach. Ich musste doch nur das wegnehmen, was nicht dazugehörte.“

Ich glaube, die Frage „Wer bin ich?“ hat auch viel mit der Frage „Wer bin ich nicht?“ zu tun.

Der Inder im Flugzeug