Der Bergpfarrer 113 – Ein Mann mit vielen Gesichtern

Der Bergpfarrer –113–

Ein Mann mit vielen Gesichtern

Der schöne Toni – von seiner Vergangenheit eingeholt

Roman von Toni Waidacher

»Grüß Gott. Herzlich willkommen in St. Johann.«

Sepp Reisinger, der Inhaber des Hotels ›Zum Löwen‹, machte einen Bückling vor der jungen Frau, die eben die Hotelhalle betreten hatte.

»Sie haben reserviert?« vergewisserte sich der Wirt.

»Petra Jäger«, nickte sie. »Ein Zimmer für vierzehn Tage.«

»Frau Jäger, natürlich. Zimmer ›Alpenblick‹, mit Balkon nach Süden.«

Er klingelte nach dem Hausburschen. Die junge, attraktive Frau reichte ihm ihren Autoschlüssel. Während der Hotelier sie persönlich auf das Zimmer führte, wurde ihr Gepäck geholt.

Petra entlohnte den Angestellten mit einem Trinkgeld und schaute sich um. Das Zimmer war im typischen Stil eingerichtet, die Möbel mit Bauernmalereien verziert. Sie zog die Gardine zurück und öffnete das Fenster. Der Name des Zimmers war verdient; von hier aus hatte sie einen herrlichen Blick zu den Bergen hinüber, deren schneebedeckten Gipfel in den Himmel ragten.

Das Klingeln ihres Mobiltelefons riß sie aus ihrer Betrachtung. Petra nahm das Handy und schaute auf das Display: ›Burkhard ruft an‹, stand dort. Mit einem heftigen Kopfschütteln drückte Petra eine Taste und schaltete das Gerät ab. Dann vergrub sie es in einem der Außenfächer ihrer Reisetasche. Dort würde das Handy bleiben, bis sie in vierzehn Tagen wieder nach Hause fuhr.

Auch wenn ihre Reaktion sehr entschlossen gewesen war, so spürte sie doch einen schweren Druck auf ihrem Herzen. Hatte sie damit doch die letzte Chance auf eine Versöhnung ausgeschlagen. Rasch wischte sie sich über das Gesicht und unterdrückte die aufsteigenden Tränen.

Aus, Schluß und vorbei!

Sie hatte genug geweint, einmal mußte es ein Ende haben. Petra wollte nicht mehr zurückdenken, sondern nach vorne blicken, dem Neuanfang entgegen.

Sie ging in das großzügig eingerichtete Bad und ließ kaltes Wasser über Gesicht und Hände laufen. Nachdem sie einen prüfenden Blick in den Spiegel geworfen und die langen, dunklen Haare durchgebürstet hatte, verließ sie ihr Zimmer und schloß hinter sich ab.

Im selben Moment öffnete sich eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite und ein Mann kam heraus.

»Oh, pardon«, sagte er mit einer angenehmen Stimme.

Galant trat er beiseite und ließ sie vorgehen. Dabei musterten seine Augen die junge Frau ausgiebig.

Petra nickte dankend und ging den Flur hinunter. Auf dem weichen Teppichboden konnte man die Schritte nicht hören, aber sie war sicher, daß der Mann hinter ihr ging.

»Einen Moment«, hörte sie wieder seine Stimme.

Er beugte sich vor und öffnete die Tür, die vom Hotelflur zum Treppenhaus führte.

»Bitte sehr«, sagte er und lächelte sie an.

Erst jetzt sah sie ihn richtig. Der Mann mochte etwas älter sein als sie. Er war schlank, hatte kurzes, blondes Haar und ein markantes, sympathisches Gesicht.

»Vielen Dank, sehr freundlich«, antwortete sie.

Dann lief sie schnell die Treppe hinunter, während er oben stehen blieb und ihr nachschaute.

Himmel, was für ein Typ!

Petra verließ das Hotel und trat auf die Straße. Rasch wendete sie sich zur Seite und blickte zurück, ob er ebenfalls herauskam. Nur wenige Sekunden nach ihr stand er vor der Tür. Schnell ging sie weiter.

Mensch, dachte sie, es gibt also doch noch andere gut aussehende Männer, als nur Burkhard!

Dann lief sie die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er sollte sie bloß nicht für neugierig halten oder gar denken, sie würde sich für ihn interessieren. Denn wenn Petra eines ganz bestimmt nicht wollte, dann war es, hier im Urlaub einen Flirt zu beginnen oder sich gar zu verlieben. Dazu hatte sie eine viel zu schlimme Zeit hinter sich, und die Wunden waren längst noch nicht verheilt.

*

Anton Burger blieb vor der Tür des Hotels stehen und schaute der Frau nach. Unter dem Arm klemmten ein paar Zeitungen, die er aus dem Ständer in der Lobby genommen hatte.

Donnerwetter, dachte er dabei, die hat was!

Er ging die Stufen hinunter und schlenderte die Straße entlang. Daß ihm dabei die Blicke vieler Frauen folgten, war er gewohnt. Früher hätte er diese Tatsache weidlich genossen und daraus seinen Vorteil gezogen. Doch mit dieser Phase seines Lebens hatte er abgeschlossen. Es hatte ihn genug Lehrgeld gekostet, und wäre da nicht die überraschende Erbschaft gewesen, wäre es ihm nicht so leicht gelungen, ein anderes, seriöses Leben zu beginnen.

Toni betrat den Kaffeegarten des Hotels und setzte sich an einen schattigen Tisch, unter einen großen Sonnenschirm. Eine Haustochter brachte wenig später einen Cappuccino.

»Wie immer, Herr Burger«, sagte sie, wobei ihre Augen ihn anhimmelten.

»Danke schön, Christel«, nickte er und lächelte das Madel an.

Christel Brandner seufzte innerlich, als sie die Tasse vor ihn hinstellte. Dieser Herr Burger konnte einen ganz schön nervös machen. Wenn er nicht ein Gast des Hauses wäre, dann würde sie ihm bestimmt schöne Augen machen...

Aber so hatte der Chef ein Auge auf seine Angestellten. Private Kontakte mit Gästen waren strengstens verboten.

Toni wußte natürlich, daß das Madel für ihn schwärmte, wie überhaupt die weibliche Bevölkerung aus dem Häuschen war, seit er in St. Johann Urlaub machte. Vor einer Woche war er im »Löwen« abgestiegen, und seither verfolgten ihn die Blicke der Frauen, wenn er sich irgendwo sehen ließ.

Lange Zeit war sein Aussehen sein Kapital gewesen. Der schöne Toni, wie er genannt wurde, legte es geradezu darauf an, den Frauen zu gefallen. Immer mit Erfolg, allerdings war dieser Erfolg ein fragwürdiger. Auf der Strecke blieben zahlreiche gebrochene Herzen, und er handelte sich mehrere Anzeigen wegen Heiratsschwindelei ein – die letztendlich zu einer Anklage und einer Freiheitsstrafe führten...

Die Bekanntschaft mit dem Gefängnis war Toni dann doch eine Lehre gewesen. Schon in der ersten Nacht, die er in seiner Zelle verbrachte, schwor er sich, ein anderes Leben zu beginnen, wenn er wieder entlassen würde. Er führte sich tadellos und brauchte nur zwei Drittel der Strafe verbüßen. Der Rest wurde auf Bewährung ausgesetzt.

Aber Toni hatte noch mehr Glück. Kaum dem Gefängnis entronnen, erreichte ihn die Nachricht, daß er geerbt habe. Eine entfernte Verwandte, die Großtante seiner Mutter, die er nie gesehen hatte, hinterließ ihm eine beträchtliche Geldsumme und ein Haus in München. Tante Gudrun hatte offenbar sparsam gelebt und das Geld immer gut angelegt, denn es war mehr, als Toni jemals besessen hatte. Außerdem vermehrte es sich ständig durch Zins und Zinseszins, und aus dem Haus erwirtschafteten sich dazu noch erhebliche Mieteinnahmen.

Alles in allem konnte Toni Burger zufrieden leben und seine Vergangenheit vergessen.

Nur manchmal, wenn die Frauen ihn umschwärmten und besonders auf dem Tanzabend im Löwen Schlange standen, um mit ihm zu tanzen, dann kam die Erinnerung an all die Frauen zurück, deren Herzen er gebrochen hatte.

Aber zu Tonis Ehrenrettung mußte gesagt werden, daß er seine Taten bereute und den Opfern die erschwindelten Geldbeträge zurückgezahlt hatte.

Er trank genüßlich seinen Cappuccino und blätterte in den Zeitungen. Hin und wieder warf er einen Blick auf die anderen Gäste und fragte sich die ganze Zeit, wer wohl die schöne Unbekannte sei, die das Zimmer bewohnte, das seinem gegenüber lag?

Eine Frau wie diese, so eine fehlte ihm noch zum perfekten Glück, und er ahnte, daß er auf dem besten Wege war, sich zum ersten Mal in seinem Leben richtig zu verlieben.

Ein Gefühl, das ihm keineswegs unangenehm war!

*

Sebastian Trenker lehnte sich entspannt auf seinem Platz im Abteil des ICEs von München nach Hamburg zurück und schaute aus dem Fenster. Draußen rauschte die Landschaft vorbei, während der Reisende vor seinem geistigen Auge andere Bilder ablaufen sah.

Die letzten Wochen waren voller dramatischer Ereignisse gewesen, und der Bergpfarrer hatte wie immer im Mittelpunkt der Geschehnisse gestanden. In Gedanken ließ er noch einmal alles Revue passieren...

Da war die Geschichte mit dem Bankräuber, die allerhand Staub aufgewirbelt hatte, nicht zuletzt, weil der gute Hirte von St. Johann sich der Frau des Mannes annahm und sie bei sich beherbergte. Dann hatte es andere zahlreiche Probleme gegeben, für die eine Lösung gefunden werden mußte, wie etwa mit dem jungen Bauern, Tobias Wallinger, und dessen Magd. Sebastian hatte natürlich auch hier dafür gesorgt, daß zwei Herzen sich finden, und die Trauung war erst ein paar Tage her. Zuletzt kümmerte er sich dann auch noch um seinen Amtsbruder, der mit einer schweren Leberentzündung ins Krankenhaus gekommen war.

Wie immer hatte Sebastian Trenker alle Hände voll zu tun gehabt, doch dafür wurde er jetzt mit einem Urlaub belohnt.

Belohnt?

Er war sich nicht sicher, ob es nicht eher eine Strafe für ihn war, aus seinem geliebten St. Johann ›verbannt‹ zu werden. Aber weder Max, noch Claudia hatten mit sich reden lassen, und sogar Sophie Tappert stellte sich auf die Seite seines Bruders, der meinte, Sebastian müsse endlich mal herauskommen und etwas anderes sehen, als nur die Berge.

»Ich liebe die Berge aber«, hatte der Geistliche argumentiert. »Und ich kann mich nirgendwo besser entspannen.«

Max war unerbittlich geblieben und erinnerte seinen Bruder an den Brief, der vor ein paar Tagen gekommen war.

»Pastor Lehmann hat dich schon so oft eingeladen«, sagte der Polizist. »Jetzt wird’s aber wirklich Zeit, daß du ihn mal besuchst. Sollst mal seh’n, so ein Urlaub wird dir bestimmt Abwechslung und Freude bringen.«

Dieses Argument hatte schließlich den Ausschlag gegeben, und so hatte er den Nachtzug genommen und sollte nun in ein paar Stunden sein Ziel erreichen.

Das lag ihm hohen Norden, hieß Hoppenstedt und war ein kleines Dorf in der Lüneburger Heide, wo Heinrich Lehmann als Pastor tätig war. Der Bergpfarrer hatte seinen evangelischen Kollegen vor ein paar Jahren auf einer ökumenischen Veranstaltung kennengelernt. Die beiden Geistlichen waren sich sofort sympathisch gewesen, in vielen Fragen der Ökumene stimmten sie überein, und Sebastian erinnerte sich noch oft an die Abende, an denen sie oft bis in die Nacht hinein zusammengesessen und diskutiert hatten.

Jetzt sah man Pfarrer Trenker nicht sofort an, daß er ein Mann Gottes war. Er trug legere Freizeitkleidung, und lediglich das kleine Kreuz, das am Revers seines Jacketts steckte, wies auf seinen Beruf hin. Doch das hing am Haken neben dem Fenster, und niemand vermutete in dem attraktiven Mann einen Priester. Auch nicht die elegant gekleidete Frau, die in Frankfurt zustieg.

Sie zog einen Koffer hinter sich ins Abteil, und Sebastian sprang sofort auf, um ihr behilflich zu sein.

»Das hätte ich ja nicht zu hoffen gewagt«, sagte sie, als er das schwere Stück in das Gepäcknetz gehievt hatte. »Ein richtiger Kavalier!«

Schmunzelnd nahm der Geistliche wieder Platz. Er stellte sich ihr mit seinem Namen vor, die Dame hieß Eleonore Weißhaupt.

»Wohin fahren Sie denn?« wollte sie wissen.

Sebastian erklärte es ihr.

»Tatsächlich? Das ist aber schade«, war ihre Reaktion. »Ich fahre bis Hannover. Da muß ich leider aussteigen.«

Dabei betonte sie ihr Bedauern...

Der Bergpfarrer schaute wieder aus dem Fenster, während die Mitreisende in ihrer Handtasche kramte.

»Möchten Sie?« fragte sie und hielt ihm eine Packung Kekse hin.

»Sehr freundlich«, bedankte er sich. »Im Moment net.«

»Na, macht ja nichts. Vielleicht später.«

Er spürte, daß sie ihn eingehend betrachtete.

»Ich habe schon an Ihrem Dialekt gemerkt, daß Sie aus Bayern kommen«, stellte Eleonore fest. »München ist eine wunderbare Stadt.«

»Ich wohn’ gar net in München«, erwiderte er freundlich.

Sie schien enttäuscht. Wahrscheinlich beurteilte sie ihn nach seinem Aussehen und vermutete in ihm einen Sportler, Schauspieler oder sonst einen Prominenten.

In der nächsten Stunde bestritt die Frau den Großteil der Unterhaltung, fand in Sebastian aber einen geduldigen Zuhörer, und so erfuhr er fast ihre ganze Lebensgeschichte.

Sie stammte ursprünglich aus Hannover, lebte nun schon seit zwanzig Jahren in Frankfurt. Dort war sie verheiratet gewesen, bis ihr Mann verstarb. Seitdem bemühte sie sich das Vermögen auszugeben, das er ihr hinterlassen hatte...

»Aber so richtig Spaß macht das Leben auch nicht, wenn man ganz alleine ist«, meinte sie und schaute den Geistlichen schmachtend an. »Als Frau sehnt man sich doch nach einer starken Schulter, an die man sich lehnen kann.«

Sebastian lächelte.

»Bei Ihrem Aussehen dürfte es doch keine Schwierigkeit sein, einen Mann zu finden.«

»Ach«, winkte sie ab, »die wollen doch alle bloß mein Geld. Meine Sehnsüchte und Wünsche interessieren sie nicht.«

»Wenn Sie auch gleich jedem von Ihrem Reichtum erzählen, müssen S’ sich net wundern«, gab Sebastian zu bedenken.