Herzstein-Cover

Der Herzstein

Band 1

Kathi Wallace



Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet,

die mir immer gesagt hat, dass man alles erreichen kann, wenn man es wirklich will.

Du hast Recht gehabt, Mama!


shutterstockFernandoCortes



Erstveröffentlichung:

Keeper of Memories © 2010 Kathleen Wallace

Swimming Kangaroo Books, July 2010, Arlington, Texas

Oktober 2016
Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck, Haselünne
Cover: Sylvia Ludwig / cover-fuer-dich. de
Bildquelle der Cover-Collage: Olena Zaskochenko / Sundraw Photography /
Firstenar / Iakov Kalinin / Triff / S_E / BimXD /
und innen: Fernando Cortes / www.shutterstock. com

ISBN 978-3-95959-038-9

Die Autorin und ihre Bücher

Die amerikanische Autorin Kathi Wallace schreibt Young Adult, sowohl realistische Erzählungen als auch Fantasy. Zum Schreiben fand sie über ihre Liebe zu guten Geschichten, die sie von Kindheit an begleitete. Inzwischen ist ihr das Schreiben ein Bedürfnis, um nicht zu sagen, eine Sucht. Sie steht oft bereits um halb drei Uhr morgens auf, leise, um ihren Mann nicht zu wecken, macht sich einen Kaffee und beginnt zu schreiben. Die Faszination, andere Welten und Leben zu erfinden, macht es ihr unmöglich, jemals mit dem Schreiben aufzuhören. 

Der zweite Band zum vorliegenden Buch erscheint voraussichtlich um 1. Halbjahr 2017.

 

Ebenfalls von Kathi Wallace im Machendel Verlag erschienen:

 

Wallace-Spirit-Girl

 

Spirit Girl

 

Seit dem Tod ihrer Eltern vor wenigen Monaten lebt Mary bei ihrer Tante Janet. Gerade hat sie mit dem attraktiven und sehr netten Nachbarsjungen Steve Freundschaft geschlossen, da teilt Tante Janet ihr mit, dass sie zur Großmutter in das Reservat reisen soll. Janet hat natürlich gute Gründe. Sie arbeitet undercover als FBI-Agentin, und ihre Arbeit wird gerade brandgefährlich.
Mary fühlt ihre Welt zusammenbrechen. Sie kennt weder das Reservat noch ihre Großmutter noch überhaupt ihr eigenes Volk. Sie kann ja noch nicht einmal deren Sprache sprechen. Und für ein New Yorker Mädchen ist ein einsamer Wohnwagen am Ende der Welt wahrlich nicht das Glück dieser Erde.
Zudem ist ihr das Leben in der Prärie mehr als unheimlich. Ihre Großmutter ist so etwas wie eine Hexe, und wie es scheint, gibt es hier tatsächlich Geister.
Dann wird Janet überfallen, und Steve meldet sich nicht mehr am Telefon ... 

 

 

 

www.machandel-verlag.de

Der Machandel Verlag bietet Ihnen ungewöhnliche Fantasy aus verschiedenen Teil-Genres: Romantik-Fantasy, humorvolle Fantasy, klassische Fantasy, Urban Fantasy, Dark Fantasy. Unsere besondere Spezialität sind Kurz-Romane für Jugendliche und Erwachsene. In der Abteilung >Lesesaal< auf unserer Webseite finden Sie Leseproben und Gratis-Kurzgeschichten als pdf-Downloads.


Kapitel 40

Celee lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Den ganzen Tag hatte sie sich schon merkwürdig rastlos gefühlt, völlig ohne jeden Grund. Immer wieder spannte sie ihre neuen, hart erarbeiteten Muskeln an und entspannte sie bewusst wieder, während sie mit den Augen die Schatten verfolgte, die der Mond an die Zimmerdecke malte, aber es half nichts. Der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Mit einem Seufzer drehte sie sich zur Seite.

Sie vermisste Landoral.

Schnell presste sie die Augenlider fest zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, die prompt zu fließen drohten. Noch immer fragte sie sich, wie sie einen Traum oder eine Fantasie gehabt haben konnte, die so verdammt lebensecht war, Koma hin oder her.

Himmel noch mal, sie konnte sich an jedes Detail erinnern, an seinen Geruch, das Gefühl seiner Lippen auf ihrem Mund.

Mit einem erstickten Schrei setzte sie sich auf. Sie würde verrückt, wenn sie weiterhin an ihn dachte. Sie musste lernen, im Hier und Jetzt zu leben, sonst würde sie überhaupt kein Leben haben. Egal, ob Nate nur ihr Freund bleiben oder mehr werden würde, eines hatte er sie auf jeden Fall gelehrt: Wenn sie weiterkommen wollte, musste sie ihre Träume fahren lassen.

Es gab keinen Landoral.

Es gab keine Elfen.

Sie war keine Bewahrerin.

Sie wischte sich die Nässe von den Wangen, stand auf und ging zum Fenster. Dort stand sie mit geschlossenen Augen und atmete tief durch. Sie musste vergessen, was niemals wirklich existiert hatte.

Und was ist mit Sensei? Mit dem, was er dir gesagt hat?, wisperte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf.

„Ich weiß es nicht”, flüsterte sie mit gepresster Stimme zurück.

Sie sah hinab auf den mondbeschienenen Hinterhof. Das Licht würde reichen, dass sie dort einige Schwertübungen machen konnte, wenn sie wollte. Vielleicht würde das erschöpfend genug sein, dass sie endlich schlafen konnte.

Oder vergessen.

Aus dem Augenwinkel sah sie etwas im Mondlicht aufblitzen. Es kam von dem Bettpfosten, der direkt an der Wand stand. Celee tastete nach der Stelle. Unter ihren Fingern konnte sie eine kleine Unebenheit spüren, die nicht zu dem Bettpfosten gehörte. Erstaunt griff sie danach, packte das, was immer es auch war, mit Daumen und Zeigefinger und zog es hoch. Sie brauchte ein paar Augenblicke, bevor sie in dem schwachen Licht erkannte, dass sie eine Kette hielt.

Ihr Herz begann wie rasend zu pochen. Celee beugte sich vor und starrte fasziniert auf die Kette, während sie vorsichtig daran zog, bis die Metallschnur ganz herauskam, und mit ihr ein Anhänger, der zwischen Bettpfosten und Wand verborgen gewesen war.

Ihr Herzstein!

Wie eine mächtige Flutwelle brachen die Erinnerungen über sie herein: Emily, Drow, die Elfen, alles drehte sich wie ein Riesen-Kaleidoskop in ihrem Kopf und drohte sie zu überwältigen.

Sie schrie erstickt auf und warf die Kette fort. Sie rutschte über den Fußboden bis zur gegenüberliegenden Wand. Celee sackte zitternd zusammen, zog die Beine an den Leib und schloss die Augen, um den Stein nicht sehen zu müssen.

Das konnte nicht real sein. Sie hatte die Kette und den Stein doch längst in jenem geistigen Fach verstaut, in dem auch Wunsierth gestrandet war, und alles, was damit zu tun hatte.

Sie rührte sich nicht, blieb zusammengekauert sitzen, die Stirn auf die Knie gepresst, und wartete, ob etwas passierte. Schließlich öffnete sie vorsichtig ein Auge und sah zu der Kette hinüber. Ein wenig Neugier war jetzt doch in ihr erwacht. Wie war die Kette hinter den Bettpfosten gekommen?

Einen Moment überlegte sie, ob sie sie einfach zum Fenster hinauswerfen sollte, um sie loszuwerden, schob aber den Gedanken ganz schnell wieder weg. Dieses verängstigte, rückgratlose Mädchen, das sie einmal gewesen war, würde sie nie wieder werden. Sie war jetzt eine Frau, eine erwachsene Frau. Und Erwachsene liefen nicht einfach vor Schwierigkeiten weg und erlaubten ihnen damit, wie ein Krebsgeschwür in ihrem Leben zu wuchern. Die neue Celee, die durchs Feuer gegangen war, war stark. Sie würde sich von Schwierigkeiten nicht kleinkriegen lassen, egal, ob sie echt oder nur eingebildet waren.

Sie presste die Lippen fest zusammen, ging zu der Kette, hob sie auf und legte sie um. Verdammt noch mal, sie würde das dumme Ding einfach tragen.

Ein rascher Schauder lief über ihre Haut, gefolgt von einer Gänsehaut. Vermutlich war daran nur die rasch kühler werdende Nachtluft schuld, die durch das Fenster hereinkam. Celee entschied, dass sie doch lieber keine nächtlichen Schwertübungen machen würde. Gähnend ging sie zurück zum Bett, legte sich wieder hin und zog die Decke fest um sich.

RUMMS!

Celee fuhr wieder hoch und sah sich verblüfft um. Was war das? Sie horchte angestrengt, ob sich das Geräusch wiederholen würde. Als nichts passierte, zuckte sie mit den Achseln und legte sich wieder hin.

RUMMS!

Da war es schon wieder! Dieses Mal stand Celee auf und stellte sich mitten ins Zimmer. Ein leises Rascheln erklang ... ein leicht kratzendes Geräusch. Sie legte den Kopf zur Seite und versuchte, die Quelle zu orten. Es schien aus dem Schrank zu kommen.

Na klasse! Ihr wurde ganz anders bei dem Gedanken, dass sie vielleicht Ratten im Zimmer hatte. Einen Moment schwankte sie zwischen der Hoffnung, dass ihr hohes Bett eine sichere Zuflucht war, und der Notwendigkeit, am Ende doch nachsehen zu müssen. Allein der Gedanke, eine Ratte könnte sie in die bloßen Beine beißen, war schon widerwärtig.

Sie holte tief Luft. Vielleicht war es ja auch nur eine Katze, die irgendwie hineingekommen war, und sich dann im Schrank eingeschlossen gefunden hatte. Und selbst wenn es eine Ratte war ... Celee schloss kurz die Augen und schluckte ... dann konnte sie da drin bestimmt nicht einfach die ganze Nacht bleiben. Sie würde ohnehin keinen Schlaf kriegen, wenn sie die ganze Zeit darüber nachdenken musste, ob vielleicht eine Horde von Killerratten in ihrem Schrank lauerte und sie fressen wollte.

Reiß dich zusammen, du dummes Mädchen. Celee schnappte sich einen Wäschekorb, fest entschlossen, was immer auch in ihrem Schrank steckt, damit einzufangen und es dann draußen auszusetzen. Dann zögerte sie nicht mehr lange und öffnete die Tür.

Der Korb fiel ihr aus den erstarrten Händen und machte ein leicht quietschendes Geräusch, als er von ihr wegrollte. Celee stand wie eine Salzsäule da und starrte in den Schrank. In ihren Ohren toste es, und ihr Herz veranstaltete ein Trommelfeuer. Sie fühlte, wie ihr schwindelig wurde, und hielt sich am Türknauf des Schrankes fest, um nicht umzukippen.

Anstelle der ordentlichen Reihe von Kleiderbügeln mit Blusen, Rächen und Jacken, die normalerweise dort hingen, sah Celee eine mondbeschienene Lichtung in einem schrecklich vertraut scheinenden Wald. Und mitten darin stand Landoral und sah sie an.

„Geh weg!”, stöhnte sie auf und wankte rückwärts. „Du bist nicht real, geh weg, lass mich in Ruhe!”

Sie fühlte die Bettkante in ihren Kniekehlen und sackte darauf zusammen, den Blick immer noch wie festgenagelt an dem Gespenst hängend. Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Nein, nicht ganz genauso. Um seinen Mund waren dünne Linien erschienen, und er wirkte dünner. Und ihm fehlte ein Arm.

Sie hörte keinen Laut aus dem Schrank, nichts von dem, was eine Nacht auf Wunsierth kennzeichnete, kein Grillengezirpe, kein wehender Wind. Von den Geräuschen her war es immer noch einfach nur ein Schrank.

Landoral sah sie fragend an, und Celee begriff, dass er sie ja nicht in ihrem eigenen Körper gesehen hatte, als sie sich zum ersten Mal sahen. Er wusste überhaupt nicht, wie sie wirklich aussah.

Aber wie hat er mich dann gefunden?

Sie stand wieder auf und ging zurück zum Schrank. Einen Moment blieb sie dort stehen, schwankte zwischen dem Wunsch, die Tür einfach zuzuschlagen, oder hineinzugehen. Landoral stand immer noch reglos. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen.

Der Herzstein auf ihrer Brust brannte wie Feuer. Die Zeit schien sich unendlich zu dehnen. Glaube daran!, hörte sie Senseis Stimme. Celee schüttelte den Kopf. Sie war sich nicht sicher, ob sie stark genug war, einfach vorwärts zu gehen.

Landoral nickte und lächelte traurig. Dann hob er eine Hand zum Abschiedsgruß und begann sich abzuwenden.

Celee sprang hinein.

Ein Ausdruck großer Freude flog über Landorals Gesicht.

Als Celee die Grenze zwischen dem Schrank und dem Wald überquerte, hörte sie schlagartig die vertraute Geräuschkulisse Wunsierths. Grillenzirpen, das Rascheln des Windes und den Ruf einer Eule. Sie schluchzte vor Freude, als sie fühlte, wie er sie in seinen verbliebenen Arm nahm und sein Gesicht in ihren Haaren vergrub. Tief sog sie den unvergleichlichen Duft des Mannes ein, den sie liebte, und der ihr Kosenamen zuflüsterte, leicht gedämpft durch die Fülle ihrer Haare.

Sie trat einen Schritt zurück, um sein Gesicht in dem dämmerigen Licht besser sehen zu können. Die leichte Brise tat ihr Bestes, um die Tränen zu trocknen, die ihr die Wangen herabliefen. Mit zitternden Fingern zog sie die Konturen seines Kiefers nach. Rasendes Verlangen ergriff sie, seine Lippen auf den ihren zu spüren. Sie verknotete ihre Finger in seinem Haar und zog seinen Kopf zu sich herab. Als ihre Lippen sich trafen, schoss es wie ein Blitzschlag durch sie, und sie bekam weiche Knie. Ein Gefühl, das sie nur zu gut kannte. Unterschwellig fühlte sie Dankbarkeit dafür, dass, auch wenn ihr Körper ein anderer war, der Effekt, den Landoral auf sie hatte, gleich geblieben war.

„Meine Liebe, mein Herz”, hörte sie ihn leise sagen, „Ich hatte Angst, dass ich dich niemals wiedersehen würde. Wenn du nicht die Kraft gefunden hättest, deinen Herzstein noch einmal zu tragen ...”

Celee machte sich los. Zweifel wanden sich wie Würmer durch ihre Gedanken. „Wie kann ich sicher sein, das dies hier ...” – sie machte eine Handbewegung, die Landoral und den ganzen Wald um sie herum umfasste – „tatsächlich real ist? Ich hatte einen Unfall. Die Ärzte haben mir gesagt, dass ich mir das alles nur eingebildet habe, dass es nur ein Traum war. Es könnte genauso gut sein, dass ich jetzt wirklich verrückt werde.”

Landoral packte ihre Hand. Sein Blick bohrte sich förmlich in sie, voll absoluter Sicherheit. Seine Stimme war leise, erklang tief in seiner Kehle. „Trau dir selbst, Celee. Trau dir selbst. Du bist stark geworden, nicht nur hier in Wunsierth, auch in deiner Heimat, auf der Erde. Suche die Wahrheit in dir selbst.”

Seine Worte brannten genauso stark in ihr wie der Herzstein, der auf ihrer Brust aufflammte.

Dann war Celee sich sicher. Es gab mehr zwischen Himmel und Erde, als menschliches Wissen erklären konnte. Sie brauchte weder Logik noch Erklärungen. Sie wusste es einfach.

Mit einem erstickten Schrei akzeptierte sie diese Erkenntnis und lehnte sich an ihn, vor Erleichterung weinend. Erleichterung, dass sie nicht länger zu zweifeln brauchte, Erleichterung, dass er Wirklichkeit war, das alles, was sie von Wunsierth kannte und schätzte, real war. Plötzlich bot ihr die Zukunft unendlich viele Möglichkeiten. Sie sehnte sich danach, Emily wiederzusehen, mit Eliaron und Ysidrial zu reden ... Sie zuckte zusammen und schnappte nach Luft.

„Drow.”

Bis zu diesem Augenblick war alles nur ein Traum gewesen. Ein Traum, der sowohl wundervoll als auch schrecklich gewesen war. Und solange es nur ein Traum gewesen war, hatte sie kein Problem gehabt. Nichts, das sie in Ordnung bringen musste. Trauer, ja, auch Einsamkeit. Aber nicht das Wissen, dass irgendwo etwas schrecklich Böses lauerte, das alles bedrohte, was sie nun als real erkannt hatte und wertschätzte. Aber jetzt ... jetzt war auch dieses Böse Realität, und die Bedrohung war beinahe mehr, als sie aushalten konnte.

Landoral neigte leicht den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Er lebt.”

Celee stöhnte auf. Drow. Dass so viel Böses in einem Lebewesen sein konnte, war beinahe unbegreiflich, und doch wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass es so war. Und sie war die Einzige, die es aufhalten konnte.

Ein Teil von ihr wollte davor zurückschrecken, weglaufen, auch wenn das bedeutete, dass sie auf Landoral und alles andere, was sie gerade erst wiedergefunden hatte, verzichten musste. Aber es gab keine sichere Zuflucht. Irgendwann würde das Böse seinen Weg von Wunsierth zur Erde finden.

Sie warf einen letzten Blick über ihre Schulter, sah die undeutlichen Umrisse der Schranktür, durch die sie gekommen war. Sie hatte die Wahl. Aber das ist eigentlich keine echte Wahl, oder? Sie sah nach unten, sah, dass ihre Hände sich verkrampft hatten, dass ihre Knöchel weißlich schimmerten. Sie merkte, dass sich ihre Nägel tief in ihre Handflächen gegraben hatten, und öffnete langsam ihre Hände. Dann holte sie tief Luft, hob den Kopf wieder und lächelte Landoral zittrig an.

„Worauf warten wir dann noch?”

ENDE

 

Kapitel 1

 

Der Elf schlich mit gespanntem Bogen durch die Höhle. Er mied die Nähe der Höhlenwände, die sich feucht und schleimglatt über ihn erhoben. Der glitschige Boden strahlte pure Bosheit aus. Unter seinen Füßen knirschten Knochen, und kleine Steinchen sprangen zur Seite, um in unermesslich tiefen Abgründen zu verschwinden. Hastig duckte er sich unter den dunklen Schwingen der Kreaturen, die aus dem Dunkel herabstießen, doch nicht schnell genug, ihre Klauen hinterließen blutige Striemen auf seiner Haut.

Das war allerdings nicht seine größte Sorge. Lodindrial suchte verzweifelt, ob sich ihm irgendwo ein Ausweg aus diesem Labyrinth bot, in das die Höhle sich verwandelt hatte. Was früher das geräumige, luftige Heim der Drachen gewesen war, hatte sich in eine deprimierende Schlangengrube voll Orks und Goblins verwandelt, die schlimmsten Feinde der Elfen.

Seit Tagen suchte der Elf schon vergeblich nach einem Ausweg, und so langsam wurden ihm Zeit und Kräfte knapp. Jeder Schritt schien ihn tiefer in den Berg geführt zu haben. Nicht mehr lange, und seine Jäger würden ihn finden.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Noch in der Drehung riss er seinen Bogen hoch. Mehr als ein Dutzend Orks jagten brüllend und mit ihren klobigen Speeren fuchtelnd auf ihn zu. Die Todesangst verlieh Lodindrial noch ein letztes Mal Kraft. Pfeil um Pfeil fand seinen Weg aus dem Köcher auf seinen Bogen, einer nach dem anderen fielen die Orks, von diesen Pfeilen durchbohrt, bis die Hand des Elfs ins Leere griff. Mit einem wütenden Fauchen schleuderte Lodindrial den jetzt nutzlosen Bogen auf den nächstbesten Ork. Dann zog er seine beiden Kurzschwerter, schwang sie hoch, so dass die Klingen wie Mondsicheln aufblitzten, und rief mit kristallklarer Stimme: „Für das Elfenreich!“

Im nächsten Moment waren die brüllenden, geifernden Orks bereits über ihm. Lodindrials Klinge entfesselte Ströme von Blut, während er hieb, stich und parierte, bis er seine Arme kaum noch fühlte. Aber er hatte keine Chance. Es waren einfach zu viele Gegner. Lodindrial wusste, dass diese Höhle sein Grab sein würde, ein dunkles Grab, ein bitterer letzter Ruheplatz für ein Kind des Lichts. Vor ihm hob ein weiterer Ork seine Klinge, und Lodindrial erkannte, dass diese Klinge seinen Seelennamen trug. Er schloss die Augen und sandte ein lautloses Gebet an die Göttin des Lichtes, die seine Seele in Empfang nehmen würde. Das war’s. Jetzt erwartete ihn nur noch der Todeshieb. Er ...

 

Die Hand, die sich auf Celees Schulter legte, riss sie abrupt aus der Welt ihres Computerspiels. Sie quiekte erschrocken und griff hastig nach den Kopfhörern, die sich prompt in ihren Haaren verhedderten. Ihre Brille verrutschte aus Sympathie gleich mit. Irritiert sah sie sich um, noch so im Spielmodus, dass sie halb erwartete, von Monstern umgeben zu sein. Aber da waren keine Monster, nur ihr Boss mit verrutschter Krawatte und Flecken auf dem Hemd, die eindeutig von seinem Mittagessen stammten. Er grinste ein wenig spöttisch ob ihrer Reaktion und fragte: „Na, was spielst du denn da?“

Celee holte tief Luft. Dann rückte sie ihre Brille gerade, zog vorsichtig den Kopfhörer aus den Haaren und versuchte, ihr wild klopfendes Herz mit ein paar beruhigenden Gedanken wieder zu normalisieren. Todd Breman lehnte sich über sie und holte mit dem Arm aus. Wollte er sie etwa schlagen? Entgeistert versuchte Celee, sich zur Seite zu drücken. Aber seine Hand landete nur vor ihrem Bildschirm. Sein Zeigefinger beschrieb einen zittrigen Kreis vor dem eingefrorenen Bild des Gemetzels. „Ist das eins von diesen Spielen, wo du Leute abschießen musst?“, fragte er mit einer kleinen Fontäne von Spucketropfen. „Genau das, was ich liebe!“

Celee versuchte, ihr Gesicht unauffällig trockenzuwischen. Vergebliche Liebesmüh. Zum einen kam sofort die nächste Spucke-Fontäne, und zum anderen hätte der Mann es vermutlich nicht einmal gemerkt, wenn sie einen Scheuerlappen geholt und den ganzen Raum gewischt hätte, so fasziniert starrte er auf das Bild. Zwei andere Angestellte, die gerade vorbeigingen, warfen einen neugierigen Blick durch die offene Bürotür. Celee wäre liebend gerne im Boden versunken. Oder, besser noch, sie hätte liebend gerne ihren Boss im Boden versinken sehen.

Irgendwie muss ich den Kerl herauskomplimentieren, dachte sie. Sie hob den Arm, sah betont auf ihre Uhr. „Todd, ich habe immer noch 45 Minuten Mittagspause übrig.“ Ihre Stimme klang piepsig und schüchtern. Celee hätte sich selbst treten können. Als ob das auf ihn Eindruck machen würde. Vielleicht sollte sie mal einen Konversations-Kurs machen, um sich besser ausdrücken zu lernen? So in der Art: „Lass uns Tacheles reden. Meine Zeit ist kostbar. Wenn du sie verschwendest, kostet dich das 19,95 die Stunde!“ Sie zwang ihre Gedanken, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.

Breman hatte seine Hand zurückgezogen und stand jetzt in seiner üblichen Ich-bin-der-Boss-hier-Haltung vor ihr. „Also, kleines Fräulein, hör mal gut zu. Ich kriege da ein paar sehr wichtige Leute zu einem Meeting.“. Er hob die Augenbrauen, um sich aufzuplustern, und senkte gleichzeitig verschwörerisch die Stimme. „Voorhees, weißt du! Die finanzieren Filme. Geld, richtig großes Geld!“ Er hielt inne, überlegte, während sein Blick zur Decke wanderte.

Celee nickte unbehaglich. Es hatte wohl keinen Sinn, ihn noch einmal daran zu erinnern, dass sie auch einen Namen hatte. Was das anging, schien er eine regelrechte Denkblockade zu haben.

Breman zog seinen Hosenbund hoch. „Wie auch immer, ich brauche jemanden, der den Konferenzraum im dritten Stock vorbereitet, du weißt schon, Kaffee und so Zeug.“ Er stierte wieder auf ihren Bildschirm, wo jetzt der Bildschirmschoner angesprungen war und eine fröhliche Elfenhorde auf einer Wiese zeigte. „Und weil du ja offensichtlich gerade nichts zu tun hast, dachte ich, du kannst das übernehmen.“

Nichts zu tun? Celee starrte ihren Boss an. Einen Moment wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrem Spiel. Mit der Visage würde Breman einen guten Ork abgeben. Celee stellte sich vor, wie sie ihn zum Kampf fordern würde ...

Die grazile Elfenkriegerin steht furchtlos vor dem schweinsgesichtigen Ork. „Sag meinen Namen!“, ruft sie. „Wie lautet mein Name?“

Breman knurrt wütend, wagt aber keinen Angriff, als sie ihr Schwert zieht und ihn hart anstarrt.

Sie hört vage Musik im Hintergrund spielen, während sie sich vorstellt, wie er beim ersten Schwertschlag aufquiekt wie ein Schwein und zu seinen Brüdern zurück flieht. Natürlich wird sie ihm großzügig erlauben, zu entkommen, er ist es nicht wert, das Schwert mit seinem, Blut zu besudeln. Sie schaut lachend hinter ihm her, sieht, wie sein speckiger Hintern in der Polyesterhose wabbelt ...

Celee zuckte zusammen, als Todds Finger direkt vor ihrer Nase schnalzten. Ein Geruch nach Schinken und Senf stieg von ihnen auf, vermutlich sein Mittagessen. Ughh, dachte sie und erweiterte umgehend die Liste seiner Untaten um Kannibalismus.

„Erde an Raumschiff, Erde an Raumschiff! He, komm zurück in die Realität, kleines Fräulein! Du wart anscheinend gerade ziemlich weit weg.“ Breman verzog den Mund. „Hör zu, ich treff dich in fünfzehn Minuten im Konferenzraum. Das sollte reichen, damit du in der Zwischenzeit wieder normal wirst.“

Mit einer Handbewegung, die sie als Todd Bremans typischer Patentwink klassifizierte, fügte er in bühnenreifem Flüsterton hinzu: „Kannst ja vorher noch mal für kleine Mädchen gehen und dein Haar in Ordnung bringen und so.“

Unwillkürlich griff Celee nach ihren braunen Haarsträhnen, die wie immer gerade herab lose auf ihre Schultern fielen. „Aber ... Herr Breman ... ich meine, Todd ...“ Ihre Stimme versickerte, während sie ihm hinterhersah, als er mit gewichtigen Schritten auf den Flur zurückstampfte, um Ausschau nach seinem nächsten Opfer zu halten. Sie stieß frustriert den Atem aus und schlug mit beiden Fäusten auf ihren Arbeitstisch. Warum zum Teufel war sie auch so ein Weichei? Warum ließ sie sich immer herumschubsen, warum konnte sie nicht einfach klar und deutlich sagen, was sie wollte? Innerlich vor Wut kochend wandte sie sich wieder ihrem Laptop zu.

Ein kurzes Antippen der Leertaste, und ihre Passwortabfrage erschien. Mit spitzen Zeigefinger gab Celee das Wort „Elfen“ ein. Die friedliche Szene verschwand vom Bildschirm und wurde von höhnisch lachenden, blutige Schwerter schwingenden Orks ersetzt, die gegen Lodindrials Körper traten und mit seinem abgeschlagenen Kopf Fußball spielten. War ja nicht anders zu erwarten gewesen. Mit einem Seufzer tippte Celee auf die Escape- Taste, beendete das Spiel und fuhr den Laptop herunter. Während sie ihn sorgfältig wieder in seine gepolsterte Tasche steckte, wanderten ihre Gedanken noch einmal ab. Genüsslich malte sie sich einen alternativen Verlauf des Zusammentreffens mit ihrem Boss als Ork aus. Dieses Mal erlaubte sie ihm nicht, zu entkommen. Dieses Mal stellte sie sich vor, wie ihr Schwert sich in seinen Magen bohrte, wie die ganze Fäulnis in seinem Inneren als stinkendes Gas entströmte und er selbst wie ein angestochener Ballon durch die Luft gewirbelt wurde.

Als sie von ihrem Schreibtisch aufstand, grinste sie breit.

„Wenn du nach dem Kerl immer noch so fröhlich sein kannst, bist du eindeutig ein besserer Mensch als ich.“

Verblüfft wandte Celee sich zu der Frau um, die über die halbhohe Trennwand zwischen ihren Schreibtischen sah.

„Kleines Fräulein!“, ahmte die Frau Todd spöttisch nach. Sie wollte noch mehr sagen, doch da klingelte ihr Telefon, und sie tauchte wieder hinter die Trennwand ab.

Celee senkte den Kopf etwas, um ihr Lächeln zu verbergen. Die Kollegin war echt nett. Und sie nahm nie ein Blatt vor den Mund. Verdammt, wie hieß die Frau noch mal? Ach ja, das war Amelia. Wenn sie selbst bloß etwas von der abhätte ...

Hatte sie aber nicht. Celee fühlte sich dumm und dämlich. Warum war ihr ganzes Leben bloß so frustrierend? Nie klappte etwas so, wie sie es wollte. Ihr Leben war sterbenslangweilig. Sie hatte eine blöde Arbeit und einen noch blöderen Boss. Und sie hatte noch nicht einmal einen Freund. Mit einem Seufzer schloss sie die Augen und erlaubte sich noch einmal einen kurzen Ausflug in die Welt ihrer Fantasie.

Sie wanderte durch einen tiefgrünen Wald. Vereinzelt tauchten Sonnenstrahlen durch das dichte Geäst und tauchten das Unterholz in smaragdgrünes Licht. Celee raffte ihr langes Seidengewand und ging langsam von Baum zu Baum weiter. Es war, als ob der Wald einhüllte wie ein behaglicher Mantel. Mit jedem Schritt brachen hinter ihr Blumen aus der Erde, und die Knospen der Büsche, die sie berührte, öffneten sich zu strahlenden Blüten. Ein vergänglicher Zauber, geboren aus der Freude des Augenblicks. Celee lachte auf, fühlte sich lebendig und in Harmonie mit ihrer Umgebung wie nie in ihrer realen Existenz. Selbst die Luft war lebendiger, frischer, duftender, wie eine herrliche Essenz, die sie zu genießen wusste.

Doch der Zauber hielt nicht an. Von einem Moment zum anderen wurde die Luft frostig, bekam das Sonnenlicht einen matten grauen Ton. Wind kam auf, wehte die Haarsträhnen in ihr Gesicht, und für einen Moment konnte sie nichts sehen. Im nächsten Augenblick erfüllten schreckliche Schmerzensschreie die Luft.

Verzweifelt versuchte Celee, die Haare vor ihrem Gesicht wegzuschieben. Sie wollte wegrennen, aber das Gewand, das eben noch so federleicht erschien, zog sie nun mit seinem Gewicht fast zu Boden und wollte sie zu Fall bringen. Etwas schien in der Nähe zu lauern, etwas, dass sie verfolgen, reißen und verletzen wollte ... Celee sackte in sich zusammen, begann vor Angst zu weinen ... Plötzlich war da eine Stimme. Jemand rief ...

„Celee? Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut?“

Celee öffnete die Augen. Einen Moment fehlte ihr jede Orientierung. Sie tastete nach hinten, fühlte erleichtert ihren Schreibtisch, ließ sich dagegen sinken, damit das schwere Metall sie wieder mit der Wirklichkeit verbinden konnte. Ihre Haut war kalt und klamm, ihr Herz raste. Mein Gott, was zur Hölle war das? Mit zitternden Fingern schob sie sich die Haarsträhnen hinter die Ohren, halb erwartend, dass sie sich sträuben und versuchen würden, sich um ihren Kopf zu wickeln und sie zu ersticken. Schaudernd blickte sie zu Amelia auf, die vor ihr stand und sie besorgt ansah. „Mir ... mir war nur einen Moment schwindelig. Jetzt geht es mir wieder gut. Wirklich!“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Vermutlich sollte ich besser mittags etwas essen, statt nur mit dem dämlichen Computer zu spielen.“

Amelia schien nicht überzeugt.

Celee stemmte sich schwerfällig hoch und streckte beide Arme aus. „Sieh doch, es ist wirklich alles in Ordnung. Meine Hände zittern nicht mehr.“ Einen Moment versagte ihr die Stimme, dann fuhr sie fort: „Ehrlich, Amelia, es ist alles wieder in Ordnung. Ich ... ich sollte wohl besser zusehen, dass ich zu diesem Konferenzraum komme und ihn für Breman fertigmache.“

Amelia legte den Kopf schief, musterte sie noch einen Moment und lächelte dann. „Dann lass mich dir aber helfen, den Konferenzraum für dieses alte Arsch ...“ – ihre Hand flog zum Mund – „ upps, für Todd fertigzumachen.“

Celee lächelte schwach, erleichtert, dass Amelia nicht darauf bestand, das Thema auszuwalzen. „Vielen Dank, aber ich glaube, ein paar Kaffeetassen und Zuckerstückchen schaffe ich gerade noch alleine.“

Amelia ignorierte ihren Einwand, nahm Celee in den Arm und ging mit ihr zusammen zum Aufzug. Celee lauschte der vertrauten Geräuschkulisse des Großraumbüros, klingelnde Telefone, Stimmen, klappernde Türen, summende Computer, und versuchte sich daran festzuhalten, um nicht wieder in die virtuelle Welt abzugleiten. „Ich bin eine Idiotin“, murmelte sie. „Nächstes Mal werde ich mindestens einen Apfel essen, bevor ich mit einem Computerspiel anfange. Vermutlich war ich schlicht unterzuckert.“ Erleichtert durch diese Selbst-Diagnose schenkte sie Amelia ein Lächeln, als sie zum Aufzug kamen.

Der Aufzug wirkte geradezu pompös, verglichen mit dem Büro. Auf beiden Seiten der glattpolierten Tür standen hohe Topfpflanzen Wache. Ihre glänzendgrünen Blätter schwankten leicht im Luftzug der Klimaanlage. Der Aufzug selbst war so klinisch rein, das seine Türen wie Spiegel wirkten. Celee konnte sie beide deutlich nebeneinander stehen sehen, die Verzerrungen waren minimal. Abschätzig registrierte sie ihre zu breiten, etwas wabbeligen Hüften und schürzte die Lippen. Miese Form, dachte, sie, passt zum Rest. Fett, Fett, und, welch eine Überraschung, noch mehr Fett! Sie seufzte und wandte den Blick ab.

„Celee“, begann Amelia zögernd, „Ich weiß, dass wir beide uns nicht besonders gut kennen ... ich meine, du bist ja erst seit drei Monaten hier ... aber du scheinst eine richtig nette Person zu sein, und ich ...“ – sie zögerte und beendete dann ihren Satz eilig: „...ich würde es hassen, wenn du deinen Job hier verlierst.“ Sie sah verlegen weg und drückte den Rufknopf für den Aufzug.

Celee hörte ein Klicken und dann das mechanische Summen der Aufzugkabine, die zu ihnen herabsank. Ein wenig neugierig wartete sie darauf, dass Amelia ihr eine Erklärung gab.

Amelia holte tief Luft, sah sich rasch um und fragte dann leise: „Nimmst du Drogen?“

Vor Verblüffung blieb Celee der Mund offen stehen. „Drogen? Ich dachte, du würdest etwas zu meiner Spiel-Leidenschaft sagen!“ Sie musste unwillkürlich lachen, erst ein leises Kichern, das aber schnell zu einem herzhaften, lauten Lachen anschwoll, bis ihr zum Schluss fast die Tränen kamen und sie sich an der Aufzugtüre abstützen musste. Die Türen zeigten prompt ihre Fingerabdrücke, und irgendwie kam ihr der Gedanke, dass sie vermutlich die erste Person seit dem Bau des Hauses überhaupt war, die es gewagt hatte, diese makellosen Flächen zu verunzieren.

Amelia wirkte sichtlich alarmiert und wollte ihren Arm packen, aber Celee winkte nur ab, während sie versuchte, sich möglichst rasch zu beruhigen. Sie versuchte es mit tiefen Atemzügen, und als der Aufzug anhielt und die Türen sich öffneten, hatte sie sich soweit beruhigt. „Tut mir leid“, presste sie hervor, während sie sich die Lachtränen von den Wangen wischte.

„Du benimmst dich reichlich verrückt“, sagte Amelia leise und drängte sie in den Aufzug. Kaum dass sie beide drinnen waren, drückte sie einen Knopf, dass die Türen sich sofort schlossen und keine dritte Person mitfahren konnte. Dann packte sie Celees Kopf mit beiden Händen und sah sie an. „Celee, das ist nicht in Ordnung, dass du geistig so abwesend bist. Das ist überhaupt nicht in Ordnung.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hör zu, das ist mehr als nur zu niedriger Blutzucker. Wie immer du es nennst, es ist nicht normal. Vorhin, als Breman an deinem Schreibtisch stand ...“ Sie hielt inne, suchte nach Worten. „Celee, er hat dir mit dem Finger ins Gesicht geschnippt, und du hast es nicht einmal gemerkt. Du warst total weg.“ Erneut schüttelte sie hilflos den Kopf. „Und danach ... als Breman weggegangen war ... ich habe gedacht, du wirst ohnmächtig, Mädchen!“

Erschöpft lehnte Celee ihren Kopf an die Aufzugwand und starrte die Kabinendecke an. „Amelia, ich ... Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich einfach die Kontrolle über mich verliere.“

Der Aufzug gab mit einem leisen Klingen zu verstehen, dass sie im dritten Stock angekommen waren, und die Tür öffnete sich. Amelia nahm Celees Arm, zog sie aus dem Aufzug heraus und bugsierte sie in die nächste Damentoilette. Dort sah sie sich rasch um, vergewisserte sich, dass sie alleine im Raum waren und fragte dann besorgt: „Okay, Drogen können wir also streichen. Aber was ist es dann? Hast du Depressionen? Beziehungsprobleme? Nun rede schon! Kann ich dir irgendwie helfen?“

Bei dem Gedanken, es könne einen Mann in ihrem Leben geben, konnte Celee sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen. „Kein Liebesleben existent zur Zeit.“ Sie starrte Amelia an und kaute unschlüssig auf ihrer Unterlippe herum.

„Was ist?“, fragte Amelia beunruhigt.

„Na ja ... Ich frage mich, warum du mir überhaupt helfen willst. Ich meine, wir kennen uns doch kaum.“ Celee merkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Musste sie immer so blamabel direkt sein? Sie wandte den Blick ab und starrte zu Boden.

Amelias Stimme klang weich, besänftigend. „Du hast Recht. Wir kennen uns kaum. Es ist nur ... du erinnerst mich an meine kleine Schwester. Die ist auch etwas schräg drauf. Oh“, fügte sie hastig hinzu, „Fass das bitte nicht als Beleidigung auf. Du schwebst halt genauso in höheren Regionen wie meine kleine Schwester. Lass mich raten. Du liest am liebsten Fantasy, richtig? Und weil ich gesehen habe, womit du deine Pausen verbringst, wenn du dich eigentlich etwas ausruhen und stärken solltest, weiß ich, dass du auch am liebsten Fantasy-Spiele zockst. Genau wie meine Schwester. Und du bist genauso scheu wie sie. Wenn ich dich sehe, dann sehe ich sie, und wenn Kristin in Schwierigkeiten wäre ...“ Amelia zuckte mit den Achseln. „Ich wünsche mir nur, dass sie dann auch einen netten Menschen findet, der sich um sie kümmert. Sieh es mal so, ich füll einfach mein Karma-Guthaben beim Universum auf und hoffe, dass sich das irgendwann und irgendwo für Kristin auszahlt.“

Celee sah vorsichtig wieder hoch und nickte. So ganz konnte sie es nicht glauben, dass sich jemand Fremdes tatsächlich für sie interessierte. Andererseits ... „Du hast Recht. Ich liebe Fantasy in jeder Fasson. Und wenn ich spiele, oder sogar wenn ich nur lese, dann erlebe ich die Szenarios förmlich mit, spiel sie in meinem Kopf durch ... und bei sowas hat mich Breman vorhin aufgestört, gerade als ich mich vorgestellt habe, er wäre ein Schwein, dass ich aufspießen wollte.“ Bei dem Gedanken an diese Szene musste sie grinsen.

Amelia kicherte. „Kann ich mir vorstellen.“

Celle wurde rasch wieder ernst. „In der letzten Zeit hat sich aber irgendwas verändert. Irgendwie ist mir diese ganze Sache außer Kontrolle geraten, und meine Fantasie spielt mir Streiche. Denn ganzen letzten Monat habe ich das schon bemerkt. Ich verliere jedes Zeitgefühl, wenn ich in Gedanken eine Szene durchspiele, und wenn ich dann wieder im Hier und Jetzt auftauche, ist womöglich eine ganze Stunde rum, und ich merke das nur, weil mein Essen kalt geworden ist oder weil die Cola, in der gerade vorher noch Eiswürfel schwammen, plötzlich zimmerwarm ist.“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich stelle mir einfach nur vor, woanders zu sein, jemand anderes zu sein, und prompt verliere ich jedes Gefühl für die Gegenwart. Aber so wie heute war das vorher noch nie ...“ Ihre Stimme war immer leiser geworden.

Amelia überlegte. „Celee, bist du dir darüber im Klaren, dass diese Symptome durchaus auch zu einer ernsthaften Erkrankung passen könnten, so etwas wie zum Beispiel ein Gehirntumor? Hast du dich schon mal untersuchen lassen in letzter Zeit?“

Celee schob sich, ohne zu antworten, zum Waschbecken rüber und drehte den Kaltwasserhahn auf. Ihr Kopf war heiß, sie sehnte sich danach, ihr Gesicht in kaltem Wasser zu baden. Der Wasserstrahl schoss in das Becken und verschwand in einer Spirale im Ausfluss. Sie sah auf das wirbelnde Muster und spürte, wie sie sich bereits bei dem bloßen Anblick entspannte. Das sprudelnde Wasser schien das entfernte Echo eines Liedes in sich zu tragen, ein Echo, das sie lockte, sie verführen wollte ... wozu? Die Tropfen schienen sie wie silberner Regen anzuspringen. Jemand rief sie ... Sie schloss die Augen, konzentrierte sich, versuchte, die Worte zu verstehen.

Jemand schüttelte sie heftig. Celee öffnete die Augen. Amelia stand mit leichenblassem Gesicht vor ihr. „Celee! Ich versuche seit fünf Minuten, eine Reaktion von dir zu kriegen! Du hast auf nichts reagiert, nicht auf Rufen und nicht auf Schütteln!“

Celee starrte die verängstigte junge Frau an. Fünf Minuten? Aber das konnte unmöglich wahr sein. Dann erinnerte sie sich an die kalten Mahlzeiten in ihrem Appartement, und vor allem auch die Episode vorhin im Büro. Doch, es war vermutlich wahr. Sie fühlte kalte Furcht in sich hochsteigen. Was war nur mit ihr los? Sprachlos starrte sie Amelia an.

Die war inzwischen zu einem Entschluss gekommen. „Wir diskutieren nicht länger. Du bist krank, definitiv, du musst nach Hause gehen. Und sieh zu, dass du so schnell wie möglich einen Termin bei deinem Doktor kriegst und sich untersuchen lässt. Das ist einfach nicht normal!“ Sie drängte Celee zur Tür. „Hol deine Siebensachen aus dem Schreibtisch und verschwinde. Ich kläre das mit Breman für dich.“ Ein maliziöses Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich glaube, ich erzähl ihm einfach, du hättest deine Periode gekriegt. So richtig schlimm, mit Krämpfen und allem Drum und Dran. So was packt der nicht mal mit der Kneifzange an. Damit sollten wir beide mindestens eine Woche Ruhe vor ihm haben. Ich kümmere mich um den Konferenzraum. Und du machst hinne. Wenn dich hier jemand dabei erwischt, wenn du gerade wieder mal im Traumland verschwindest, bist du mit Sicherheit gefeuert.“ Einen Moment kaute sie unentschlossen auf ihrer Unterlippe. „Kannst du wirklich alleine nach Hause gehen? Soll ich nicht doch lieber mitkommen? Nur um sicher zu gehen, dass du heile ankommst ...“

„Nein, nein, schon gut, ich schaffe das, bestimmt!“ Celee hob beschwichtigend die Hände. „Ehrlich, Amelia, ich bin durchaus noch imstande, alleine heil und wohlbehalten nach Hause zu kommen. Vielen Dank für das Angebot, aber das ist nun wirklich nicht nötig.“

Amelia wirkte nicht überzeugt.

„Ehrlich, ich schaff das. Ich muss nur zur Abwechslung mal darauf achten, was ich mache, und nicht tagträumen. Und sobald ich Zuhause bin, rufe ich den Doktor an und lasse mir einen Termin geben. Versprochen.“ Celee lächelte verkrampft. „Ist vermutlich überhaupt nichts Schlimmes, eher so etwas wie Vitaminmangel oder so. Da wird schon nichts passieren.“

 

Dieses Mal ging Celee zum Aufzug voran. Amelia folgte ihr mit einem immer noch zweifelnden Gesichtsausdruck. Celee drückte den Knopf. Offensichtlich hatte in der Zwischenzeit niemand den Aufzug benutzt, denn die Türen öffneten sich sofort.

„Danke, Amelia, Danke für alles. Dafür, dass du mich zum Lachen gebracht hast, nachdem Breman mich an meinem Schreibtisch heimgesucht hat, und dafür, dass du mir Rückendeckung gibst.“ Einen Moment sah Celee verlegen zu Boden, bevor sie leise fortfuhr: „Aber am meisten danke ich dir dafür, dass du mir eine richtige Freundin sein willst. Ich ... ich habe hier noch nicht viele Freunde.“ Mit einem schmalen Lächeln entfloh sie in den Aufzug, während Amelia ihr sichtlich besorgt hinterhersah.

Als die Türen endlich geschlossen und sie in dem sterilen Kasten alleine war, umspült von geradezu abschreckend süßlicher Musik, griff Celee dankbar nach der Haltestange an der Aufzugwand. Sie klammerte sich daran fest, als ob diese Stange sie retten konnte, sie in der realen Welt verankern konnte. Unschlüssig kaute sie auf ihrer Lippe. Was zum Teufel war bloß mit ihr los, dass sie so einfach jeden Bezug zur Realität verlor? Seit wann ging das überhaupt so? Sie versuchte zu rekonstruieren, wann diese merkwürdigen Episoden angefangen hatten. Klar, sie war immer schon eine Tagträumerin gewesen, ganz wie sie es Amelia gesagt hatte. Aber das hier hatte eine andere, deutlich gefährlichere Qualität. Das schleuderte sie ohne jede Warnung aus der Realität. Celee erschauderte bei dem Gedanken, was passieren konnte, wenn ihr das mitten auf einer der belebten New Yorker Straßen passierte.

Die Kabine kam zum Stillstand, und Celee verließ sie fast fluchtartig. Sie holte schleunigst ihre Siebensachen und verließ das Gebäude, bevor jemand Fragen stellen konnte.

 

Kapitel 2

Als die Appartementtür hinter ihr ins Schloss fiel, lehnte Celee sich erleichtert für einen Moment zurück und wartete darauf, dass sich das übliche ich-komme-nach-Hause-und-fühle-mich- wohl-Gefühl einstellte. Keine Chance. Sie seufzte. „Das war dann wohl auch nichts, hm? Heute ist echt nicht mein Tag.“ Sie stellte ihren Laptop auf den Garderobentisch. Wenigstens war ihre Wohnung eine Wohltat für ihre Augen, etwas, an dem sie sich immer wieder freuen konnte. Celee liebte die hohen Altbau-Decken, die Stuckverzierungen und die warmen, einladenden Farben, die sie bereits im Flur empfingen. „Na schön“, sagte sie laut, während sie aus ihren Schuhen schlüpfte, „dann wollen wir mal.“ Sie steuerte direkt ins Wohnzimmer zum Telefon. Der versprochene Arzttermin wollte arrangiert werden.

Erstaunlicherweise bot ihr die Sprechstundenhilfe noch einem Termin für den gleichen Tag an, am späten Nachmittag. Celee sagte sofort zu. Dann legte sie den Hörer auf und warf einen Blick auf die Uhr. Zeit genug, um noch einen Happen zu essen, bevor sie los musste. Sie ging durch das Esszimmer in Richtung Küche, eine Hand auf dem seidenglatten Holz des alten Eichentisches. Alles in dieser Wohnung war gemütlich und alt, alles, bis auf die Küche, wie sie bei ihrem Einzug begeistert festgestellt hatte. Die war ultramodern, mit Mikrowelle und Geschirrspüler, obwohl der für eine einzelne Person wirklich ein überflüssiger Luxus war.

Nach einem kurzen Blick in Regal und Kühlschrank entschied sie sich für Erdnussbuttersandwiches. Nach ihrem Arzttermin würde voraussichtlich noch Zeit genug bleiben, dass sie sich etwas Richtiges zu essen kaufen konnte. Bei dem Gedanken an einen knackigen Salat und ein frisch auf dem Balkon gegrilltes, saftiges Steak lief ihr das Wasser förmlich im Mund zusammen. Ja, sie würde auf jeden Fall einkaufen gehen.

Mit dem Sandwich in der Hand ging sie zurück in das Wohnzimmer. Vielleicht sollte sie den Brief ihrer Großtante Emily noch einmal lesen.

Aus einem kleinen Mahagonikästchen, das auf dem Tisch hinter dem Sofa stand, holte sie ein fettfleckiges, ziemlich zerknülltes Papier hervor. Dann machte sie es sich auf dem Sofa bequem, strich das Papier auf ihrem Oberschenkel glatt und begann erneut zu lesen.

 

Meine liebste Celee,