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Brigitta D‘Orazio

Der Duft von Zitronen

Roman

LangenMüller

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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2009 by Edition Tosca in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH

Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © Thinkstockphoto

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8295-8

Für meine Hamburger Familie:

Christa, Christine und Michael, Ulrike und Thorsten.
Danke, dass ihr immer für mich und die Kinder da seid.

Prolog

Seit Jahrhunderten wachte der alte Turm über die Menschen an der göttlichen Küste. Einst war er von den Normannen erbaut worden, zum Schutz gegen die plündernden und mordenden Sarazenen aus Nordafrika, die keine Gnade kannten; die Männer, Frauen und Kinder verschleppten und auf den Sklavenmärkten verkauften. Sie hinterließen verbrannte Erde – und viel später erst den einen oder anderen weit geschwungenen Hausbogen oder Zwillingsfenster in maurischem Stil.

Die trutzigsten Zeitzeugen ihrer Angriffe auf das christliche Abendland aber sind die wehrhaften hohen Sarazenentürme, die bis heute an vielen italienischen Küstenstreifen stehen.

Dieser eine Turm vor Amalfi besitzt eine Besonderheit, die nichts mit Architektur oder der Wahl des Natursteins zu tun hat. Sie existiert nur in den Köpfen der Amalfitaner, einem Volk von Fischern und Seefahrern, das seine eigenen Traditionen geschaffen hat.

Die Frau und der Mann, die in dieser Vollmondnacht an duftenden Rosmarinsträuchern und Macchiagewächsen über den steilen, gewundenen Pfad zum Turm hochgingen, kannten das Geheimnis. Obwohl sie keine Einheimischen waren, hat man es ihnen erzählt, als letztes Mittel, um für zwei andere Menschen das Glück herbeizuführen.

Als sie den Turm erreichten, stellten sie fest, dass er aus der Nähe viel größer und trutziger war, als es im Vorbeifahren schien. Ein Frösteln überlief die Frau und sie schaute an der runden Mauer nach oben.

Der Mann drückte ihr beruhigend die Hand. Dann trat er an einen Steinhaufen, der wie zufällig neben dem Eingang lag, zählte die Steine ab, hob den siebten von links hoch und brachte einen Schlüssel zutage. Er öffnete das Vorhängeschloss, das die Amalfitaner zum Schutz vor Fremden angebracht hatten, und trat hinein. Er blieb nur kurz drinnen, ließ seine Taschenlampe aufflackern, deren Strahl kaum das Dämmerlicht durchbrechen konnte. Dann kam er schnell wieder heraus, so als sei ihm jetzt auch unheimlich zumute.

Schnell entfernten sich beide und duckten sich hinter einem Lorbeergebüsch. Kurz darauf kam eine junge Frau den Weg hinauf, sah sich suchend um, entdeckte die offen stehende Tür und betrat nach einigem Zögern den Turm. Etwa eine halbe Stunde verging, bis ihr ein Mann nachfolgte. Er wähnte sich offenbar allein, denn auch er zögerte. Seine Augen suchten die Umgebung ab, so als spürte er, dass er beobachtet wurde. Endlich verschwand auch er im Turm.

Hinter dem Gebüsch kicherten die Frau und der Mann plötzlich wie zwei Kinder, denen ein Streich gelungen war, dann küssten sie sich, dann lachten sie wieder.

»Fast hätte er uns gesehen«, sagte die Frau.

»Wir haben es gerade noch geschafft«, erwiderte er.

Noch einmal eilte er zum Turm, stellte einen Weidenkorb hinein, legte ein paar Decken ab und hängte das Vorhängeschloss wieder ein. Dann kam er zurück.

»Was war in dem Korb?«, fragte sie.

»Rotwein, Brot, Käse und Salami. Sie sollen ja nicht verhungern.«

»Du denkst an alles. Meinst du wirklich, es wird funktionieren?«

»Immerhin hat es bei vielen anderen auch schon funktioniert.«

Die Frau stieß einen anerkennenden Laut aus. »Ein bisschen verrückt ist das ja. Trotzdem: Gut gemacht.«

Der Mann richtete sich voller Stolz auf. Von dieser Frau gelobt zu werden grenzte an einen Ritterschlag.

Dann gingen sie fort, Hand in Hand.

1

»Moment noch!«, rief Carolina und wischte sich mit der freien Hand einen Sahnefleck von der Stirn. »Bin gleich fertig.«

Ihre Tante Annette stand in der Tür zur Backstube – groß, hager und mit zwei Zornesfalten auf der Stirn. »Das Lokal ist voll, und im Garten stehen die Leute Schlange. Wir haben den ersten schönen Sonnentag, mitten im April. So etwas will ausgenutzt sein.« Sie warf einen missbilligenden Blick auf die Arbeitsplatte. »Du musst bedienen, Kind, du kannst nicht nur deinen Schokoladenträumen nachhängen. Sonst können wir demnächst unser Geschäft zumachen.«

Carolina seufzte leise. Sie hatte gehofft, noch ein wenig Zeit für ihre neueste Kreation zu haben: Sahnetrüffel mit einem Hauch von Eierlikör. Außerdem hatten sie gestern die Kokoskugeln restlos ausverkauft. Zwar zu einem Sonderpreis, der kaum die Kosten deckte, aber immerhin. Außerdem mussten die Kunden nach und nach zu Pralinenliebhabern erzogen werden. Irgendwann würden sie damit auch gut verdienen.

Carolina war gern Konditorin, aber sie liebte es, Pralinen herzustellen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie überhaupt nichts anderes gemacht, als den lieben langen Tag lang und gern auch die halbe Nacht kleine süße Spezialitäten zu erschaffen. Doch das waren, wie Annette ganz richtig sagte, Träume, und die Wirklichkeit stellte andere Anforderungen. Das Café Sonnenschein musste Gewinn abwerfen, wenn sie beide davon leben wollten, und das bedeutete für Carolina: täglich viele Kuchen backen, köstliche Torten erschaffen und Bleche voller Plätzchen aus dem Ofen holen. Außerdem natürlich die Gäste bedienen.

Carolina stellte das Tablett mit den Sahnetrüffeln beiseite, drehte sich um und lachte ihre Tante an. »Nicht böse sein, ich geh ja schon.«

Zwei Minuten später eilte sie von Tisch zu Tisch. Unter ihrer Schürze trug sie eine weite Bluse und einen flatternden Glockenrock, der vielleicht vor zwanzig Jahren modern gewesen war. Carolina kümmerte das nicht. Mit Mode hatte sie nie viel im Sinn gehabt. Wie reizvoll gerade diese etwas altmodische Kleidung an ihr wirkte, fiel ihr selbst gar nicht auf. Sie nahm Bestellungen auf, servierte Kännchen mit heißem Kaffee, dazu Schwarzwälder Kirsch und Nusstorte, nahm sich bei den Stammgästen ein, zwei Minuten Zeit für einen kleinen Plausch und verbreitete mit ihrem einmaligen Lachen rundherum gute Laune.

Manche Leute behaupteten ja, das Café sei nach ihr benannt, weil Carolina wie ein Sonnenschein durchs Leben ging. Das norddeutsche, meist graue und nasskalte Wetter konnte unmöglich bei der Namensgebung eine Rolle gespielt haben. Niemand erlebte Carolina je anders als fröhlich, niemand ahnte, dass sich hinter ihrem Lachen eine große, tiefe Traurigkeit verbarg. Carolina hatte sich im Griff. Nur manchmal konnte man hinter ihre Fassade schauen. So wie jetzt, als sie in den Garten kam und die kleine Familie am Tisch unter der alten Eiche entdeckte. Sie kannte die Leute nicht, trotzdem traf sie der Anblick mitten ins Herz. Mutter, Vater und eine Tochter von fünf, höchstens sechs Jahren. Die Mutter war mit ihren hellblonden Haaren und den klaren Augen eine nordische Schönheit, der Vater wirkte südländisch, die Tochter hatte von beiden Elternteilen das Beste geerbt.

Carolina blieb stehen und musste schlucken. Das Kuchentablett zitterte in ihrer Hand, ihre Augen begannen zu schwimmen. Diese Frau sieht Mama so ähnlich, dachte sie. Und der Mann – ob mein Vater damals wohl so ausgesehen hat? Sie hatte nie ein Foto von ihrem Vater gesehen und eigene Erinnerungen an ihn besaß sie nicht. Dafür war sie zu klein gewesen. Alles, was Carolina wusste, war, dass er Italiener war und dass er die kleine Familie kurz nach Carolinas erstem Geburtstag verlassen hatte, um zurück in seine Heimat zu kehren. Seitdem wurde von ihm nicht mehr geredet. Es war, als hätte es ihn nie gegeben.

Carolina unterdrückte das Zittern in ihren Händen, aber sie konnte noch nicht den Blick von der kleinen Familie lösen, die so glücklich wirkte, so vollkommen mit sich und der Welt im Reinen. Das Mädchen, fand sie, hatte nicht viel mit ihr gemein. Es war sehr dünn und blass, während Carolinas Haut als Kontrast zu ihren hellen Haaren einen leichten Bronzeton hatte. Außerdem war sie schon immer ein wenig füllig gewesen. Trotzdem – so hätte ihre eigene Familie sein können, wenn Papa nicht verschwunden wäre, wenn Mama nicht einige Jahre später diese schrecklichen Kopfschmerzen bekommen hätte, die nicht mehr weggingen und an denen sie schließlich starb.

Carolina, damals sieben Jahre alt, verstand das nicht. Sie hatte auch manchmal Kopfschmerzen, besonders wenn sie zu viel Schokolade naschte. Aber daran starb man doch nicht. Was ein Hirntumor war, begriff sie nicht. Nur dass ihr Leben plötzlich ein anderes war, das wurde ihr schnell klar. Sie musste zu Tante Annette ziehen, Mamas älterer Schwester, die so groß und streng und still war und niemals lachte.

»Pack deine Sachen«, sagte sie nach der Beerdigung, bei der Carolina die ganze Zeit geweint hatte. Weil Mama tot war und weil Tante Annette an ihr zog und ihr dabei fast die Hand zerquetschte. »Alles, was in einen Koffer geht. Du kommst jetzt mit zu mir.«

Es war eine lange Fahrt von Hamburg in den Norden, jedenfalls kam sie Carolina sehr lang vor. Sie schlief darüber ein und träumte, ihre Mama würde ihr einen Zitronenkuchen backen. Das hatte Mama wirklich manchmal getan, und als Carolina später unsanft wach gerüttelt wurde, hatte sie noch den süßherben Geschmack auf der Zunge und der Duft kitzelte ihre Nase. Sie musste niesen.

»Fang bloß nicht wieder an zu heulen«, sagte Tante Annette, schnappte sich den Koffer und überließ es Carolina, ob sie ihr folgen wollte oder nicht. Sie sah hoch an der grauen Fassade, kletterte aus dem Auto, ging durch die Haustür, die steile Treppe hoch in eine Wohnung, die dunkel war.

Die Tante wies mit dem Zeigefinger in Richtung Schlafzimmer. »Du schläfst in meinem Bett, ich nehme das Sofa.«

Carolina fürchtete sich in dem großen Bett, fürchtete sich vor dem riesigen dunklen Schrank und vor der grau gewordenen Tapete. Sie kroch ganz tief unter die Decke, immer noch mit dem Geschmack von Zitronenkuchen im Mund. Mitten in der Nacht wachte sie von einem bösen Traum auf. Jemand hatte sie mit Erde zugedeckt, bis sie gar keine Luft mehr bekam. Carolina schluchzte vor Angst, aber sie traute sich auch nicht, nach nebenan zu der strengen Tante zu gehen. So ging es viele Nächte lang und das Kind gewöhnte sich an, seinen Kummer für sich zu behalten.

Später erinnerte sie sich nicht mehr an diese erste Zeit. Nur, dass ihr die Farben fehlten, das wusste sie noch. Irgendwie war alles grau bei Tante Annette, die Einrichtung, das Leben, die Stimmung.

Unten im Haus gab es ein Café, in dem die Tante Blechkuchen und Kaffee anbot. Es kamen nie viele Gäste. Carolina dachte, dass die Leute sich auch vor dem Grau fürchteten.

Erst mit der Zeit fanden Tante und Nichte einen Weg zueinander. Es begann damit, dass Carolina um ein eigenes Zimmer bettelte. »Die kleine Kammer, bitte, bitte, liebe Tante.« Und sie wollte sie selbst einrichten.

»Für so einen Schnickschnack habe ich kein Geld.«

Aber Carolina ließ nicht locker und schließlich setzte sie sich durch. Sie durfte sich die wenigen Möbel selbst aussuchen und sie wählte ein knallrotes Bett mit hellblauer Bettwäsche, einen rosafarbenen Schrank und einen grünen Schreibtisch, an dem sie ihre Hausaufgaben machte. Mit den Farben wurde auch das Leben ein wenig leichter. Die Tante entdeckte, dass sie selbst auch ein Herz besaß, und das Kind fand irgendwann sein Lachen wieder. Aber niemals verlor Carolina ihre tief sitzende Unsicherheit. Bei allem, was sie tat, fürchtete sie sich vor einer neuen Katastrophe in ihrem Leben, und die Angst, sie könnte schuld daran sein, ließ sie niemals ganz los.

Als Carolina die Schule abgeschlossen hatte, zog sie nach Hamburg und machte eine Konditorlehre. Sie wollte nun ihr Leben selbst gestalten, aber sie merkte bald, dass dieser Schritt noch zu groß war für sie. Sie hielt die Einsamkeit kaum aus und in der Backstube machte sie aus Unsicherheit so viele Fehler, dass sie davon überzeugt war, sie würde niemals ihre Gesellenprüfung schaffen. Zu ihrer Überraschung ließ ihr Meister sie dann trotzdem bestehen. Er war im Grunde ein gutmütiger Mensch und sein junges Lehrmädchen tat ihm leid.

»Wenn du mal kein Nervenbündel bist, hast du was drauf«, sagte er und klopfte ihr so fest auf die Schulter, dass sie fast in die Knie ging.

Kurz war Carolina dann doch versucht, ihren eigenen Weg zu gehen, aber sie merkte auch, dass ihr Annette fehlte. Die Tante war nun mal die einzige Familie, die sie noch hatte, und in Hamburg fühlte sie sich schrecklich allein. So kehrte sie zurück, mietete sich eine eigene Wohnung im selben Haus und arbeitete mit in dem Café, dem sie als Erstes den Namen Sonnenschein verpasste.

»Das klingt albern«, protestierte Annette und wies auf die dunklen Regenwolken, die schwer und prall gefüllt am Himmel hingen.

Aber Carolina ließ sich nicht beirren, malte die grauen Wände orangerot wie der Sonnenuntergang und strahlend blau wie das Meer an und tauschte nach und nach das alte Mobiliar gegen helle freundliche Möbel um. Sofort war das Café wie verwandelt.

»Jetzt schlägt dein italienisches Erbe durch«, behauptete Annette, war aber nicht bereit, auch nur ein Wort mehr zu verraten.

Carolina versuchte oft, die Tante nach ihrem Vater auszufragen. Aber viel mehr als seine Nationalität erfuhr sie nie. »Er ist verschwunden, als du gerade ein Jahr alt warst«, sagte Annette und ihre Stimme bebte vor Zorn. »Das ist alles, was du wissen musst. Ein solcher Mann ist es nicht wert, dass man sich über ihn den Kopf zerbricht. Außerdem ...«

»Was?«

»Nichts. Hör auf, mir Löcher in den Bauch zu fragen, und kümmere dich um den Streuselkuchen.«

Carolina schwieg dann, aber die Fragen in ihrem Herzen verstummten nie. Hat er mich geliebt? Denkt er heute manchmal noch an mich? Weiß er überhaupt, dass Mama schon lange tot ist? Ahnt er, wie sehr ich mich nach ihm sehne? Dann überfiel sie die Sehnsucht nach einem Vater, den sie nicht kannte, nach einer Heimat, die ihr fremd war und sie doch zu locken schien. Sie stellte sich vor, wie sie am Meer entlang spazieren würde, Arm in Arm mit ihrem Vater. Carolina war nur ein Mal an der Ostsee gewesen, an einem kalten windigen Tag, und es hatte ihr nicht gefallen. Das Meer ihrer Träume war nicht grau, sondern türkisblau, der Wind wehte warm aus Afrika herbei und nachts funkelten die Sterne heller als irgendwo sonst.

»Carolina!« Die Stimme ihrer Tante holte sie mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück. »Willst du vielleicht endlich die Gäste bedienen? Die sind nicht hier, um deine Schönheit zu bewundern.«

Carolina fuhr zusammen, blickte sich um, sah viele Augenpaare auf sich gerichtet und wurde tiefrot. Sie zauberte ihr Lachen hervor, bediente die kleine Familie und gab dem Mädchen eine besonders große Portion Schlagsahne auf sein Stück Schokoladentorte.

»Sag Dankeschön, Carina«, meinte die Mutter.

Oh Gott, dachte Carolina. Ihr Name klingt wie meiner. Aber sie riss sich zusammen und wandte sich den nächsten Gästen zu.

2

Es dauerte eine Weile, bis Carolina zum letzten Tisch im Garten vordrang, aber der Mann, der dort ganz allein saß, schien es nicht besonders eilig zu haben. Sie schätzte ihn auf Mitte sechzig, ein paar Jahre älter also als Annette, aber mit seiner kleinen Statur, dem kugelrunden Bauch und dem freundlichen Zwinkern in den Augen hatte er ansonsten nichts mit ihrer strengen, hageren Tante gemein.

»Oh«, sagte er, als sie etwas atemlos bei ihm ankam. »Das wäre doch nicht eilig gewesen. Sie haben doch genug zu tun. Ich hätte auch warten können, bis die andere Dame für mich Zeit hat.«

Schau an, dachte Carolina amüsiert. Annette hat einen heimlichen Verehrer. Der Mann tat ihr jetzt schon leid. Soweit sie informiert war, hatte Annette vor ungefähr dreißig Jahren mit der Liebe abgeschlossen. »Ist doch alles dummes Zeug«, hatte sie einmal zu Carolina gesagt. »Aufregung, Herzklopfen, ein paar schöne Momente und dann? Nichts als Ärger, Verrat und einsame Tränen.« Als sie Carolinas Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie schnell hinzu: »Ich rede selbstverständlich nicht von mir selbst. Glaub bloß nicht, dass du mir jetzt ein bitteres Geheimnis entlockt hast. Und für dich ist das sowieso etwas anderes, Herzchen. Du bist jung, du darfst noch an die große Liebe glauben.«

Soo jung, dachte Carolina jetzt, bin ich mit knapp dreißig auch nicht mehr. Aber die große Liebe? Wann sollte das sein?

»Entschuldigung.« Carolina senkte den Blick. Sie war mit ihren Gedanken abgeschweift. Sie wandte sich dem Gast zu:

»Was darf es sein?«

Der dicke kleine Mann schaute sie freundlich an: »Hm, was empfehlen Sie mir? Ich muss ein bisschen auf meine Linie achten, wissen Sie?«

Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Vielleicht die Kirschtorte? Ich habe sie mit einem ganz leichten Biskuitboden gemacht und mit wenig Zucker. Die Kirschen stammen von einem Obstbauern aus der Gegend.«

»Klingt wunderbar. Und ohne Sahne, bitte. Sie haben nicht zufällig auch Filterkaffee?« In seinem Blick lag nur wenig Hoffnung.

Carolina fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt, ließ sich aber nichts anmerken. »Selbstverständlich.«

In dem Gesicht war ein Strahlen. »Das ist ja wunderbar. Heutzutage kriegt man ja überall nur noch diese italienischen Sachen. Beim Espresso hat man nur einen halben Schluck im Mund, Cappuccino ist mir viel zu schaumig und diese Latte Macchiato, also das ist doch eher was für Kinder, nicht wahr?«

»Ganz Ihrer Meinung«, erwiderte Carolina und dachte: Wenn das bloß nicht Luca hört. Luca Brioni führte das Eiscafé Dolomiti schräg gegenüber in der schmalen Fußgängerzone und beschwerte sich im Schnitt zwei Mal in der Woche darüber, dass Carolina und Annette ihm mit ihren deutschen Angeboten die Kunden wegschnappten. Obwohl, wenn sie es recht bedachte, erschien Luca neuerdings nicht mehr mit diesem mürrischen Gesicht, sondern hatte so ein Funkeln in den Augen, das Annette schon die Bemerkung entlockt hatte: »Pass bloß auf, unser stadtbekannter Casanova hat es auf dich abgesehen.«

Seitdem schaute Carolina genauer hin. Und tatsächlich. Luca schenkte ihr bei jeder Gelegenheit sein Verführerlächeln, zwinkerte ihr zu und warf ihr Luftküsse hinterher.

Sie musste zugeben, er sah blendend aus. Ein blonder Italiener mit hellen Augen und blasser Haut. Eher ungewöhnlich. Aber er stammte aus Südtirol, und dort waren bekanntlich nicht alle Einwohner fest davon überzeugt, wirklich Italiener zu sein.

»Vielleicht will er dich erst gefügig machen und dann in den Konkurs treiben«, meinte Annette düster. Sie hatte grundsätzlich eine schlechte Meinung über Italiener. Als Kind hatte sie Carolina sogar verboten, sich im Dolomiti mal ein Eis zu holen.

Carolina lachte sie aus. »Ach Tantchen, sei nicht immer so negativ.«

»Wir werden es ja erleben. Aber ich an deiner Stelle würde ihm nicht über den Weg trauen.«

Davon mal abgesehen, mischte sich Annette nicht in Carolinas Liebesleben ein.

Was gibt es da auch schon einzumischen, dachte Carolina jetzt und bahnte sich ihren Weg zurück ins Café. Ihre letzte Beziehung lag schon ein paar Jahre zurück und war alles andere als glücklich gewesen. Der junge Schauspieler hatte sie mit jeder schlanken und dunkelhaarigen Schönheit betrogen, die ihm begegnet war. Das hatte Carolina, von Natur aus blond und mit fraulichen Formen gesegnet, leider erst erfahren, als eines dieser Models mit endlos langen Beinen ihn endgültig erobert hatte. Seitdem neigte Carolina in depressiven Momenten dazu, die Meinung ihrer Tante über die Liebe zu teilen.

War Luca der Mann, der ihr den Glauben an die Liebe zurückgeben konnte? Carolina hatte da so ihre Zweifel. Sie mochte den jungen Italiener, mochte sein Lachen, das ähnlich groß wie ihr eigenes war, und fühlte sich entspannt, wenn er in ihrer Nähe war. Aber genau das gab ihr zu denken. Wo blieb das rasende Herzklopfen? Wo die quälende Sehnsucht? Wo nur der brennende Wunsch, ganz nah bei diesem Mann zu sein? Oder war dies am Ende nur eine Illusion? Möglicherweise musste sie sich von ihrem kindlichen Traum von Liebe verabschieden und sich endlich wie eine erwachsene Frau benehmen. Vernünftig eben und abgeklärt.

»Kirschtorte und ein Kännchen!«, rief sie jetzt Annette zu und fügte, aus einer plötzlichen Eingebung heraus, hinzu: »Kannst du es bitte dem Herrn im roten Pulli bringen? Er sitzt ganz hinten. Ich muss schnell nach dem Sandkuchen schauen.«

Annette nickte. »Geht in Ordnung.« Sie holte die Kirschtorte aus der Kuchentheke, schnitt ein großzügig bemessenes Stück ab und goss frisch aufgebrühten Kaffee in ein Kännchen mit Blumenmuster. Carolina sah ihr nach, wie sie durch den Garten ging, den Gast bediente, kurz noch stehen blieb und dem Mann zuhörte.

»Hugo Müller!«, stieß Annette entsetzt aus, als sie wieder bei Carolina war. »Wie kann jemand nur Hugo Müller heißen!«

»Ich finde, der Name ist doch in Ordnung.«

»Ach wirklich? Ich würde nicht mal meinen Hund so nennen.«

»Der heißt ja auch schon Streusel, und an seiner Stelle wäre ich deshalb chronisch beleidigt.«

Annette lachte. »Er sah halt so krümelig aus, als er mir zugelaufen ist. Aber dieser Hugo Müller ist außerdem Finanzbeamter. Pensioniert. Langweiliger geht es nicht mehr. Oh Gott!« Sie schüttelte sich, als hätte der arme Mann zusätzlich eine ansteckende Krankheit.

Carolina bewunderte ihn insgeheim für seine Aufrichtigkeit. Es gehört schon etwas dazu, bei dem abweisenden Gesicht ihrer Tante so viele Informationen von sich weiterzugeben.

»Und was macht der Sandkuchen?«, fragte Annette und klang extrem geschäftstüchtig.

»Ist fertig.« Carolina warf einen Blick nach draußen. »Ich glaube, der Garten leert sich langsam.«

»Kein Wunder, es wird gleich regnen. Ein ganzer Sonnentag im April wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.«

Tatsächlich brach wenige Minuten später ein Unwetter los. Die meisten Gäste waren schon weg, einige retteten sich samt ihrer Teller und Tassen ins Café, wo es bald richtig eng war.

Hugo Müller stellte sich in die Nähe der Theke und somit in die Nähe von Annette und aß seine Kirschtorte mit auffälliger Langsamkeit. Carolina beobachtete amüsiert, wie ihre Tante zunächst geistesabwesend, dann zunehmend nervös immer wieder zu diesem Gast blickte.

»Vielleicht ist er ja gar nicht pensioniert«, raunte sie ihrer Nichte zu. »Was, wenn er vom Finanzamt ist und uns überprüfen will?«

Carolina schüttelte energisch den Kopf. »Indem er Kirschtorte isst? Ach was, Tantchen. Dann hätte er dir doch nicht seinen Beruf verraten.«

Annette wiegte den Kopf hin und her. »Stimmt auch wieder. Aber was will er dann?«

»Tja, ich denke, darauf musst du schon von selbst kommen.«

»Sei nicht albern, Carolina. Für so etwas bin ich zu alt. Außerdem ist der Mann mindestens einen halben Kopf kleiner als ich.«

Inwiefern das ein Hinderungsgrund sein sollte, mochte Carolina nicht einsehen. Seit wann hielten sich Gefühle an vernünftige Überlegungen oder gar an Äußerlichkeiten wie Körpermaße?

Bevor sie antworten konnte, wurde sie von Annette schmerzhaft in die Seite gestoßen. »Das scheint heute der Tag der rätselhaften Männer zu sein. Oder hast du den da draußen schon einmal gesehen?«

Carolina kniff die Augen zusammen, um durch die nassen Scheiben etwas zu erkennen, ging dann bis nach vorn zur Auslage und sah hinaus. Direkt gegenüber, keine zehn Meter entfernt, stand ein Mann unter dem Vordach des Juweliers Wuttke und starrte angestrengt zu ihr herüber. Oder täuschte sie sich? Hatte er nur Schutz vor dem Regen gesucht und blickte ganz zufällig in ihre Richtung? Sie versuchte, ihn besser zu erkennen. Der Mann war groß gewachsen und sportlich durchtrainiert, das dunkle nasse Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Sein Blick war ernst, seine Mundwinkel waren streng nach unten gezogen.

Wenn er nicht so düster dreinschauen würde, könnte er richtig gut aussehen, sinnierte Carolina, und auf einmal war es da, dieses starke Herzklopfen, an das sie doch nicht mehr so recht glauben wollte. Sie verspürte den brennenden Wunsch, hinaus in den Regen zu laufen, sich neben den Fremden zu stellen.

»Und bei der Gelegenheit Wuttkes neue Eheringe anzuschauen?« Annette war neben sie getreten und Carolina hatte ihre Gedanken laut ausgesprochen.

»Herzchen, bist du sicher, dass du nicht von den Weinbrandbohnen genascht hast?«

Es war stadtbekannt, dass Carolina schon von einem Fingerhut voll Alkohol betrunken wurde. Sie vertrug absolut keinen Alkohol.

»Wer der Mann wohl ist«, sagte sie, um von sich abzulenken.

»Vielleicht ein Spion.« Annette runzelte die Stirn. »Gut möglich, dass er mit dem dicken Mann unter einer Decke steckt. Die wollen uns irgendwie an den Kragen, Carolina. Das spüre ich.«

Wie nah Annette Eichborn mit ihrem Verdacht der Wahrheit kam, konnte keine der beiden Frauen zu diesem Zeitpunkt ahnen.

3

Julian Schell schüttelte sich den Regen aus dem Kragen und sah noch einmal zum Café Sonnenschein hinüber. Seine Auftraggeber hatten ihm nichts von dem Lokal gesagt, und aus einem unerfindlichen Grund störte ihn das. Es wirkte so heimelig und einladend, dass er sich plötzlich wie ein Schuft vorkam.

Das Gebäude stünde so gut wie leer, hatte es geheißen. Julian hasste es, mit falschen Informationen arbeiten zu müssen. Einen Moment lang war er versucht, alles abzubrechen. Sollten sich andere hier die Finger verbrennen. Dann verspürte er plötzlich den Wunsch hinüberzulaufen. Bei einer Tasse heißen Kaffees und einem großen Stück Kuchen konnte er warten, bis das Gewitter nachließ. Und diese junge Frau da drüben, blond und mit dunklen, irgendwie rätselhaft blickenden Augen, könnte ihm vielleicht dabei Gesellschaft leisten.

Sie hatte die Stirn gerunzelt, das hatte er sogar durch den Regenschleier genau erkennen können. Und doch sah sie aus wie ein Mensch, der lachen konnte. Und wie eine Frau, die nicht eisern Kalorien zählte, sondern den Genuss liebte und fähig war, einen glücklichen Moment ganz auszukosten.

Sein nachdenklicher Blick verfing sich in ihrem, kam nicht wieder los, und es war, als dringe Zärtlichkeit in sein Innerstes.

Um Himmels willen! Julian zwang sich wegzuschauen. Der Wunsch, ins Café zu gehen, verschwand augenblicklich. Er wandte sich ab und marschierte mit großen energischen Schritten ungeachtet des noch immer prasselnden Regens davon.

Das fehlte noch, dass er romantische Gefühle entwickelte! Für so etwas war in seinem Leben kein Platz. Wie hatte Kerstin, seine letzte Freundin, es formuliert? Ach ja, jetzt fiel es ihm wieder ein: »Wo andere Leute ein Herz haben, hast du einen kleinen handlichen Tresor. Und den Schlüssel dazu hast du schon vor Jahren in der Elbe versenkt.«

Er hatte gelacht und sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn ihre Worte trafen. Mochte ja sein, dass er nicht zu den Männern gehörte, die Frauen Blumen schenkten, mit ihnen im Mondschein spazieren gingen oder sie mit einem Kurztrip nach Paris oder New York überraschten. Dafür hatte er – weiß Gott – keine Zeit. Aber er war auch kein gefühlskalter Eisblock. Er hatte Kerstin gemocht, sehr sogar. Nur gesagt hatte er ihr das wohl nie. Aber was wusste sie schon von seinem Leben? Als Tochter eines Hamburger Reeders hatte sie noch nie irgendwelche Kämpfe ausfechten müssen. Alles war ihr in den Schoß gefallen.

Er dagegen, Dr. Julian Schell, demnächst Partner in der angesehenen Anwaltskanzlei Frentzen & Klaas, er hatte sich alles erkämpfen müssen. Von Anfang an. Genauer gesagt, von dem Tag an, an dem er als Fünfjähriger ins Waisenhaus kam. Seine Mutter hatte ihn einfach dort abgegeben, weil sie mit ihren Freunden nach Spanien an die Costa del Sol ziehen wollte. Sie suchte das leichte Leben und ertrug nicht mehr die Verantwortung für dieses Kind. Martina Schell tauchte nicht wieder auf. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt.

Julian beschleunigte seinen Schritt. Wo, verdammt!, hatte er in diesem Kaff seinen Wagen geparkt? Alles nur Fußgängerzone, natürlich. Er war gezwungen gewesen, irgendwo am Ortseingang zu Fuß weiterzugehen. Unter blauem Himmel war es dann ein schöner Spaziergang zu seinem Ziel geworden, aber jetzt tropfte ihm der Regen auf die Schultern und die Häuser sahen irgendwie alle gleich aus. Er bog um eine Ecke, hoffte, es sei die richtige, und spürte, wie ihn die Erinnerung an seine Kindheit einholte. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren, das wusste er aus Erfahrung.

Er war einer der Kleinsten und Schwächsten gewesen, und er hatte viel aushalten müssen. Die großen Jungs schikanierten ihn, irgendwann hörte er auf, die Prügel zu zählen, die er kassierte. Weil er sein Bett nicht richtig gemacht hatte, weil er die Toilette nicht ordentlich geputzt hatte, weil er sein Essen nicht an andere abgeben wollte, weil, weil, weil ... Er begriff, dass er immer Prügel beziehen würde, egal, wie sehr er sich anstrengte, alles richtig zu machen. Und er lernte rasch dazu, wurde wendig und schnell, wusste seine Fäuste zu gebrauchen, wehrte sich und rächte sich.

Eine sichtbare Erinnerung an diese Kämpfe behielt Julian ein Leben lang: Einer seiner Feinde hatte ihm einmal eine tiefe Schnittwunde verpasst. Seitdem zog sich eine lange gezackte Narbe von Julians Mundwinkel bis zum Kinn. Mit den Jahren war diese Narbe blass geworden, und nur, wenn Julian sich aufregte, nahm sie eine rote Farbe an. Er hatte vor Jahren versucht, sich einen Bart wachsen zulassen, aber die Narbe blieb sichtbar und wirkte inmitten des Bartes noch auffälliger. So rasierte Julian sein Kinn wieder glatt und inzwischen trug er die Narbe mit einem gewissen Stolz. Sie erinnerte ihn daran, dass er sich zu wehren gewusst hatte, und auch daran, dass sich sein Schicksal bald nach diesem Kampf gewendet hatte.

Er war plötzlich nicht mehr der Jüngste und Kleinste, andere kamen, die sich besser als Opfer eigneten. Dass Julian nun nicht selbst bei dem bösen Spiel mitmachte, hatte er allein Marie zu verdanken. Sie war die einzige Betreuerin, die er wirklich liebte. Jünger als die anderen, manchmal überfordert, aber immer voller Zuneigung für ihre Schützlinge. Sie brachte Julian ihre eigenen Wertmaßstäbe bei und erzog ihn zu einem anständigen Jungen. Körperlich hielt er sich zwar fit, denn in seiner Welt musste er auf alles vorbereitet sein, aber er setzte seine Kräfte niemals zu falschen Zwecken ein und niemals gegen Schwächere.

Als Marie kündigte, um zu heiraten, empfand er diesen Verlust schlimmer als den seiner Mutter, an die er sich kaum noch erinnerte. Für ihn war es wie ein Verrat. Mit Marie ging die Wärme, die sie als einziger Mensch ihm gegeben hatte.

Damals war Julian elf und er zog sich zum Weinen auf den Dachboden zurück. Niemand sollte seine Schwäche sehen, die anderen hätten ihn nur ausgelacht. Danach erlaubte sich Julian keine Gefühle mehr. Sie machten ihn nur traurig und schwach und er wollte stark sein. Stark genug, um aufs Gymnasium zu gehen, stark genug für ein Jurastudium. Oh ja, er hatte alles geschafft, was er sich vorgenommen hatte. Kein anderer aus dem Waisenhaus war so weit gekommen wie er.

Auf einem Gebiet aber verleugnete er nie seine Herkunft. Drei Mal in der Woche ging Julian ins Fitnessstudio, außerdem hatte er vor Jahren eine Kampfsportart für sich ausgewählt. Bewusst hatte er sich gegen das eher auf Verteidigung ausgerichtete Karate und für das angriffsfreudigere Taekwondo entschieden. Ein Kämpfer blieb ein Kämpfer, selbst wenn er nur einen Sport betrieb. Manchmal spürte er die irritierten Blicke seiner Klienten, für die ein sportlich durchtrainierter Mann nicht in das Bild eines erfolgreichen Anwalts passte. Auch die Seniorpartner seiner Kanzlei, Johannes Frentzen und Friedrich Klaas, hatten gewisse Vorbehalte gegen seine äußere Erscheinung. Aber Julians Instinkt, sich durchs Leben kämpfen zu müssen, war in diesem Punkt stärker als sein Wunsch, sich anzupassen. Keiner der Menschen, mit denen er täglich zu tun hatte, ahnte, was wirklich in ihm vorging. Keiner hatte durchstehen müssen, was Julian schon in frühester Kindheit durchgestanden und mit viel Durchsetzungsvermögen überlebt hatte.

Und nun warf ihm ein verwöhntes Mädchen wie Kerstin vor, er habe kein Herz.

»Ich weiß, dass du eine schwierige Kindheit hattest, Julian«, hatte sie gesagt. »Aber irgendwann musst du das doch auch mal hinter dir lassen. Du musst dich endlich dem Leben öffnen.«

Da er nicht gewusst hatte, was er darauf erwidern sollte, schwieg er. Er fürchtete sich vor einer Liebeserklärung von ihr, die ihn nur noch hilfloser gemacht hätte. Das Schweigen war schließlich drückend geworden.

Kerstin hatte lange und tief geseufzt. »Hoffentlich findest du mal eine Frau, die du lieben kannst«, hatte sie mit einem traurigen Ausdruck in den Augen hinzugefügt.

Dann war sie gegangen und er hatte die ganze Nacht lang ratlos die weiße Wand seines Schlafzimmers angestarrt, nicht begreifend, was er schon wieder falsch gemacht hatte.

Die nächste Straße erstreckte sich vor ihm genauso farblos wie die vorherige. Die Blumen auf den Balkonen ließen die Köpfe hängen, kein Mensch war zu sehen, überall waren die Gardinen zugezogen. Julian spürte geradezu körperlich eine Feindseligkeit, die keinen logischen Grund hatte und wohl nur in seinem Kopf existierte. Er lief weiter, bis er endlich ein Kaufhaus wiedererkannte. Von dort aus waren es nur noch fünfzig Meter bis zu seinem Auto. Erleichtert schloss er auf und ließ sich auf den Ledersitz fallen. Ausnahmsweise war es ihm egal, dass das kostbare Leder nass wurde.

Bevor er den Motor startete, dachte er noch einen Moment an die junge Frau im Café. Er musste sie vergessen. Je eher, desto besser. Bei diesem Auftrag konnte er keine Komplikationen gebrauchen. Wenn er alles zur Zufriedenheit seiner Kunden erledigte, dann rückte sein großer Traum in greifbare Nähe. In diesem Traum betrat er morgens das hohe Bürogebäude in der Hamburger City Nord, und an dem großen blanken Messingschild am Haupteingang stand »Anwaltskanzlei Frentzen, Klaas & Schell.«

Der Mann ging fort. Er rannte sogar. Carolina presste ihr Gesicht an die kühle Fensterscheibe und sah ihm nach. Er verschwand um die Hausecke beim Dolomiti und auf einmal wirkte der Tag noch grauer als zuvor. Lange stand sie da und starrte in den Regen.

Hinter ihr tauschten sich die Gäste über diesen ungemütlichen Frühling aus und über das Rheuma, das sie dabei wieder so plagte. Ganz in ihrer Nähe hastete Annette durchs Lokal, aber Carolina blieb, wo sie war, fühlte sich wie gelähmt und gleichzeitig so lebendig wie noch nie.

»Solltest du dich von der Salzsäule zurück in ein Lebewesen verwandeln, wäre es gut, wenn du kurz die Kaffeemaschine übernehmen könntest.« Annette Eichborn schüttelte ihre Nichte leicht an der Schulter. »Ich muss kurz rüber zu Müllers und Servietten kaufen. Die sind schon wieder aus.«

Endlich löste sich Carolina aus ihrer Starre, nickte Annette zu und kehrte an ihre Arbeit zurück. Sie kochte Kaffee, servierte frisch gebackenen Bienenstich und überredete zwei Stammgäste, ihre neuesten Pralinen zu probieren. Hugo Müller brachte sie noch ein Stück gedeckten Apfelkuchen und ein junges verliebtes Pärchen bekam von ihr die Sahne in Herzform auf die Tortenstücke gespritzt. Im Café Sonnenschein ging es an diesem Samstagnachmittag zu wie immer. Es war gemütlich, der Regen draußen störte niemanden mehr, Kuchen, Torten und Schokoladenträume schmeckten köstlich. Nur eines fehlte, obwohl das vielen Gästen gar nicht auffiel. Jene aber, die fast jeden Tag hierherkamen, gingen mit einem besorgten Kopfschütteln nach Hause. Carolinas großes Lachen war erloschen. Ganz plötzlich, kurz nachdem das Gewitter losgebrochen war. Und hatte sie nicht irgendwie abwesend gewirkt? So als sei sie mit ihren Gedanken ganz woanders, obwohl man ihr gerade stolz erzählt hatte, die Enkelin habe ihr Abitur geschafft. Obwohl man doch gerade so von der Arthrose in der Hüfte geplagt wurde. Sonst hatte sie immer ein Ohr für alles.

Merkwürdig. Hoffentlich war mit Carolina alles in Ordnung.

Als letzter Gast machte kurz vor sieben Uhr abends Hugo Müller Anstalten zu gehen. Er wirkte nach der Kirschtorte, dem gedeckten Apfelkuchen, nach dem Bienenstich und zuletzt einem Stück Sandkuchen noch ein bisschen runder als zuvor, aber auch sehr zufrieden.

»Liebe Frau Eichborn, es war mir ein außerordentliches Vergnügen, bei Ihnen zu speisen.« Er reichte Annette die Hand und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sie zu ergreifen. Aber sie ließ sie so schnell wieder los, als hätte sie damit irgendein Einverständnis gezeigt.

»Ich darf doch wiederkommen?«, fragte er.

»Wenn es nur der Kuchen ist.«

»Wunderbar.« Hugo Müller strahlte, als habe sie ihn mit einem warmen Lächeln eingeladen, von nun an seine Tage bei ihr zu verbringen.

Annette schien ungeduldig. »Auf Wiedersehen«, brummte sie, ließ ihn dann einfach stehen und ging nach hinten in die Backstube.

Wäre Carolina nicht so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, hätte sie darüber lachen können. So aber ließ sie Hugo Müller nur hinaus und nickte ihm freundlich zu. Zwei Minuten später kam Annette wieder nach vorn.

»Ist er weg?«

»Ja.«

»Gott sei Dank. Aber ich fürchte, der wird wirklich wiederkommen. Hat wohl keinen Zweck, ihm Lokalverbot zu geben.«

Carolina zog es vor zu schweigen.

»So wie ich den kenne«, fuhr Annette fort, »lässt er sich von nichts abhalten«. Sie stieß einen Laut aus, der wie ein Seufzen klang. »Ich hole jetzt Streusel zum Gassigehen, du machst zu, ja?«

»Geht klar.«

Misstrauisch suchte ihre Tante mit den Augen die Fußgängerzone ab.

»Was ist denn los?«, fragte Carolina.

»Der Mann wird mir hoffentlich nicht draußen auflauern.«

»Warum sollte er?«

»Keine Ahnung, aber wer sich so mit Kuchen vollstopft, führt etwas im Schilde.«

Carolina verzog den Mund zu einem Lächeln. »Unsinn. Ich glaube eher, du leidest unter Verfolgungswahn.«

»Möglich«, erwiderte Annette. »Aber mein Instinkt trügt mich selten.«

Dann verschwand sie nach oben und betrat kurz darauf mit Streusel die Straße. Der Hund war eine Mischung aus Chihuahua und Zwergspitz oder auch Yorkshire-Terrier. Er war ein winziges braun-schwarz-weißes Wesen, das ausgerechnet das Herz einer angeblich so herzlosen Frau wie Annette Eichborn eroberte. Bei Streusel und Carolinas Tante war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Nur selten gab es Unstimmigkeiten zwischen ihnen. Zum Beispiel bei schlechtem Wetter. Obwohl Annette ihm ein winziges knallrotes Regencape umgelegt hatte, empfand Streusel es offensichtlich als Zumutung, bei dem Wetter heute hinaus zu müssen. Er ließ ein herzzerreißendes Jaulen erklingen.

Zum ersten Mal, seit der fremde Mann sie so durcheinandergebracht hatte, konnte Carolina wieder lachen. Ihre große Tante und der winzige Hund in dem leuchtenden Cape waren aber auch wirklich ein lustiger Anblick. Carolina fragte sich, warum Annette in diesem Fall eigentlich ihre Vorliebe für gedeckte Farben vergessen hatte. Vielleicht, so dachte sie, entwickelt Annette am Ende doch noch ein wenig Modebewusstsein. Wenigstens für Streusel. Auch wenn der kleine Hund das vermutlich nicht zu würdigen wusste.

Ebenso wenig war Streusel bewusst, dass er das einzige Lebewesen war, dem Annette Eichborn offen ihre Zuneigung zeigte. Wenn sie den Mischling an ihre Brust drückte, dann war Carolina regelrecht eifersüchtig. Sie schalt sich selbst einen Dummkopf, aber ihre Gefühle waren stärker. Wie sehr hatte sie sich als Kind eine Umarmung gewünscht, doch über ein Schulterklopfen war Annette nie hinausgekommen. Was hab ich ihr bloß getan?, hatte sich Carolina in solchen Momenten gefragt. Bin ich schuld an irgendetwas?

Einen Moment lang schaute sie noch Annette hinterher, dann wandte sie sich vom Fenster ab. Sie wollte zurück in die Backstube, um sich endlich den Sahne-Eierlikör-Trüffeln zu widmen, wurde jedoch vom Klingeln ihres Handys aufgehalten. Sie kramte es aus der Schürzentasche hervor und schaute auf die fremde Nummer auf dem Display.

»Eichborn, Café Sonnenschein.«

»Hallo, hier ist Simone.«

»Wer bitte?« Carolina kannte niemanden mit diesem Namen.

»Simone Brauer, 8b, weißt du nicht mehr? Ich war deine beste Schulfreundin.«

»Ich wüsste wirklich nicht ...«

Auf einmal sah Carolina eine dünne, hellblonde und blauäugige Vierzehnjährige vor sich, Schwarm sämtlicher Jungs der Realschule und Mittelpunkt einer Mädchenclique, zu der sie selbst nie gehört hatte. Eine beste Schulfreundin hatte sie damals nicht gehabt, schon gar nicht dieses ebenso elfenhafte wie arrogante Wesen, das durch jemanden wie Carolina hindurchsah, als sei diese Luft.

»Hallo, Simone«, sagte sie dennoch freundlich. »Wie geht es dir?«

»Sehr gut, danke«, kam es zurück. »Ich werde heiraten. Und zwar in meiner alten Heimat. Ich finde, am wichtigsten Tag in meinen Leben sollte ich zu meinen Wurzeln zurückkehren.«

Carolina fragte sich insgeheim, was das mit ihr zu tun hatte, erkundigte sich aber höflich: »Wo wohnst du denn jetzt?«

»In Hamburg natürlich«, erwiderte Simone und betonte den Namen der Hansestadt, als wäre es der einzig angemessene Ort für sie. »Mein Verlobter ist hier Teehändler.«

»Das freut mich«, sagte Carolina vage, die immer noch nicht begriff, was sie mit alledem zu schaffen hatte. Im Geiste konnte sie Annettes Kommentar hören: Die eingebildete Pute will mit einer Prunkhochzeit vor uns armen Provinzlern doch nur angeben.

Endlich kam Simone zur Sache und ihre nächsten Worte ließen Carolinas Herz schneller schlagen. »Hör mal, kannst du auch Hochzeitstorten backen? Ich will die größte, die du hinkriegst. Mindestens fünfstöckig. Natürlich könnte ich hier in Hamburg Frédéric beauftragen. Er ist ein wahrer Künstler und alle unsere Freunde sind seine Kunden. Aber ich möchte etwas Besonderes. Etwas, das aus dem Rahmen fällt. Passend zu unserem großen Tag. Und ich glaube, du bist genau die Richtige dafür. Ich weiß noch, dass du damals immer sehr fantasievolle Bilder gemalt hast.«

Da weiß sie mehr als ich, überlegte Carolina. Sie selbst konnte sich nur an einen Stapel misslungener Aquarelle erinnern, die ihre Zeichenlehrerin mit gequältem Ausdruck betrachtet hatte. Über eine Drei minus in Kunst war Carolina nie hinausgekommen.

Sie verbot sich weitere Erinnerungen und sagte: »Klar, kein Problem.« Auf so einen Auftrag wartete sie seit Jahren. Kreativität hatte schließlich nichts mit Zeichnen zu tun! Und jetzt sollte ihr Traum endlich in Erfüllung gehen? Wahnsinn! Außerdem hatte sie eine gute Ausbildung genossen. Ihr alter Meister wäre stolz auf sie gewesen.

Aber schon im nächsten Moment fing sie an zu zweifeln. Um Gottes willen! Das würde sie niemals schaffen. Gut, sie war als Tortenbäckerin inzwischen routiniert, und bei ihren geliebten Pralinen wusste sie, dass sie ihr immer gelingen. Aber eine fünfstöckige Hochzeitstorte? Die hatte sie noch nie gemacht.

Carolina öffnete schon den Mund, um Simone zu raten, sich eine andere Konditorei zu suchen, als diese sagte: »Es muss aber schnell gehen. Wir heiraten schon nächste Woche.«

»Das schaffe ich schon«, erwiderte Carolina, während sich auf ihrem Gesicht rote Flecken bildeten. Gut, dass Simone das nicht sehen konnte.

»Wunderbar, ich verlass mich auf dich.«

Im Nachhinein sollte Carolina erfahren, dass ihre Zweifel diesmal durchaus berechtigt waren, denn ihrem Meisterwerk stand ein trauriges Schicksal bevor.

4

In den folgenden Tagen musste Annette Eichborn das Café praktisch allein führen. Carolina ließ sich kaum noch außerhalb der Backstube sehen. Sie rührte Teig, schlug Sahne, buk Biskuitböden, bereitete luftige Cremes, probierte aus, überlegte sich Motive. Sie war, kurz gesagt, ganz in ihrem Element. Alle Unsicherheit war wie durch ein Wunder von ihr abgefallen. Von dem, was draußen vorging, bekam sie kaum etwas mit. Ein paar Mal beschwerte sich Annette über den neuen Gast namens Hugo Müller, immer war ihr Ton dabei abfällig. »Wenn der so weiterisst, weiß ich nicht, was dann geschieht.«

Carolina steckte sich eine mehlige Haarsträhne unter die Haube und sagte nichts, wartete nur einen Herzschlag lang, ob Annette auch einen anderen Mann erwähnen würde, einen großen dunkelhaarigen mit diesem strengen Zug um den Mund. Nein, kein Wort.

Schnell konzentrierte sich Carolina wieder ganz auf ihre schwierige Arbeit. Aber kurz darauf wurde sie schon wieder abgelenkt.

Ihr Handy klingelte, und als Carolina Simones Nummer erkannte, hielt sie das Gerät automatisch ein Stück vom Ohr ab und seufzte lautlos. Die schrille Stimme der Braut hallte durch die Backstube bis in den Gastraum. Zum Glück war es früh am Morgen und das Café Sonnenschein war noch geschlossen.

»Nein, nein, nein!«, keifte Simone. »Ich will keine Teebeutel aus Buttercreme, nur weil mein Verlobter Teehändler ist. Und ich will auch keine Variationen von meinem Lebensweg auf fünf Etagen. Am Ende modellierst du noch einen Marzipantrecker und ein paar Schokoladenkühe, nur weil ich mal mit dem Kalli vom Overbeckhof zusammen war.«

Auf die Idee war Carolina noch gar nicht gekommen, fand sie jedoch reizvoll. Andererseits wurde es höchste Zeit, auf die Wünsche ihrer Kundin zu hören, anstatt die eigene Kreativität auszuleben. Schon in zwei Tagen sollte Hochzeit gefeiert werden, und bisher hatte Carolina nur die fünf Tortenböden fertig, einer kleiner als der andere, und jeder symbolisierte die Lebensabschnitte im protestantischen Norden der Republik: Geburt, Konfirmation, Hochzeit, Kinderreichtum und schließlich Tod.

»Tod? Spinnst du? Willst du mich auf meiner Hochzeit umbringen?« Simones Stimme wurde leise vor Entsetzen. Carolina hatte mal wieder ihre Gedanken laut ausgesprochen und sagte jetzt schnell: »Das ist doch eine alte Tradition und ich dachte, du kennst die Symbolik. Schließlich hast du doch auf einer fünfstöckigen Torte bestanden.«

»Ha! Weil sie halt so schön hoch ist. Aber ich bin ja nicht abergläubisch. Also bitte, Carolina, fällt dir nicht irgendetwas Romantisches ein? So mit Herzen und Blumenmuster?«

»Herzen und Blumenmuster.« Sie war überhaupt nicht einverstanden, aber sie zwang sich zu einem resignierten »Okay«.

»Wunderbar, und bitte ganz viel Buttercreme und besonders viel Marzipan. Mein Heiner stammt aus Lübeck, weißt du. Er liebt Marzipan über alles.«

»Wie schön«, sagte Carolina schwach. »Soll ich Kaffeebohnen im Kuchen verstecken?«

»Was?«

»Es ist ein alter Brauch, zwei Kaffeebohnen einzubacken, eine geröstete und eine ungeröstete. Wer die geröstete Bohne in seinem Tortenstück findet, wird sich bald verloben, wer die ungeröstete erwischt, bleibt für immer ledig.«

Einen Moment lang schien Simone von der Frage überfordert zu sein, dann erwiderte sie: »Also gut, aber richte es bitte so ein, dass weder Heiner noch ich diese verflixte ungeröstete Bohne erwischen. Das wäre ziemlich peinlich.«

»Kein Problem«, versprach Carolina, legte auf und machte sich wieder an die Arbeit. Der Tortenständer und die fünf Böden warteten darauf, in ein Meisterwerk verwandelt zu werden.

»Ein ziemlich langweiliges Meisterwerk«, murmelte Carolina entmutigt vor sich hin und begann, Butter und Puderzucker hell und cremig zu rühren. Schließlich vergaß sie ihre Träume von einer originellen, einmaligen Torte und ging ganz in ihrer Arbeit auf. Ob langweilig oder nicht, dieses Prachtstück sollte sämtliche Hochzeitsgäste zum Staunen bringen.

Ihre Tante Annette musste daher auch in den folgenden zwei Tagen allein im Café arbeiten, aber ausnahmsweise beschwerte sie sich nicht. »Wenn diese Torte ein Erfolg wird, bekommst du vielleicht noch mehr Aufträge dieser Art«, meinte sie. »Wir können zusätzliche Einnahmen gebrauchen. Guck dich mal im Lokal um. Bis auf die beiden alten Schwestern Elvers und den dicken Mann ist kein Mensch da.«

»Heute ist Donnerstag, Annette. Da müssen die meisten Leute arbeiten. Aber es ist doch nett, dass Herr Müller uns wieder beehrt.« Sie lachte ihr großes Lachen. Es machte ihr Spaß, die Tante ein wenig zu necken. Schließlich kam es nicht oft vor, dass die hagere, strenge Frau einen Verehrer hatte.

»Hugo Müller geht mir auf die Nerven. Außerdem glaube ich immer noch, dass er uns ausspionieren will. Genau wie dieser andere Kerl, der Samstag das Café beobachtet hat.«

Carolina dachte an den fremden, dunkelhaarigen Mann, der draußen im Regen gestanden hatte. Ihr Lachen erlosch. Ein kurzer Moment hatte genügt, und ihr Herz war aus dem Takt geraten. Hör auf damit!, rief sie sich selbst zur Ordnung. Er war nur ein Fremder und du wirst ihn nie wiedersehen.