7

Doktor Freiberg wartete bereits auf sie. »Miss Anne, wir haben da einen älteren Herrn, der möchte mit Ihnen Schach spielen.«

»Aber Doktor Freiberg, ich bin doch keine Animateurin, die man zum Spielen mieten kann. Ich betreue gern Menschen, die mich brauchen, aber doch nicht, um Schach zu spielen.«

»Machen Sie bitte eine Ausnahme, Anne, der Herr ist sehr einflussreich, und es wäre von Vorteil für uns, ihn bei guter Laune zu halten.«

»Ausnahmen sollten bei unserer Arbeit nicht gemacht werden, Doktor Freiberg.«

»Bitte Anne, ich würde Sie nicht drängen, wenn es nicht wichtig wäre.«

»Na schön, aber nur einmal. Wer ist der Herr, und wo finde ich ihn?«

»Er bewohnt die Grand-Luxe-Suite und wartet dort auf Sie.«

»Auch das noch. Lassen Sie ihm ausrichten, dass ich bereit bin, im Spielsalon mit ihm Schach zu spielen, dort, wo auch andere Passagiere spielen, aber nicht in seiner Luxussuite.«

»Er verlässt die Suite nie, weil er inkognito reisen will. Er geht höchstens einmal auf seinem kleinen Privatdeck spazieren.«

»Woher kennt er mich überhaupt, wenn er seine Suite nie verlässt?«

»Das müssten Sie ihn schon selbst fragen. Bitte, Anne, spielen Sie doch ein paar Partien mit ihm.«

Anne seufzte. Auf was habe ich mich da eigentlich eingelassen, fragte sie sich, ich will alte, kranke und hilfsbedürftige Menschen pflegen und nicht als Animateurin auftreten. Davon gibt es auf dem Schiff schließlich eine ganze Menge, auf die diese Berufsbezeichnung passt.

Sie sah Doktor Freiberg unschlüssig an. »Wissen Sie, ich habe nicht vor, hier als Freizeitbegleitung von irgendwelchen Personen zu arbeiten. Ich bin eine Pflegerin, und das möchte ich auch bleiben.«

»Selbstverständlich, Anne, das weiß ich doch. Aber ist es nicht auch die Aufgabe einer Pflegerin, einem alten Menschen zu helfen, seine Einsamkeit zu überwinden?«

»Unter gewissen Umständen schon.«

»Und was wären solche Umstände?«

»Eine Einsamkeit, die aus einer Not heraus oder durch Krankheit oder aus Verzweiflung entstanden ist, aber nicht aus einer selbst gewünschten Isoliertheit heraus.«

»Da haben Sie natürlich recht, Anne, trotzdem, bitte machen Sie eine Ausnahme, Paul bringt Sie hin.« Er deutete auf einen Steward, der neben der Tür zum Warteraum stand. »Paul bleibt auch im Foyer und wartet dann auf Sie.«

»Ach, glauben Sie, dass ich Schutz brauche? Doktor Freiberg, glauben Sie mir, ich weiß mich zu wehren.«

»Bitte, Anne«, jetzt lachte der Arzt über das ganze Gesicht, »daran würde ich nie zweifeln. Nein, meine Liebe, der Steward begleitet Sie, weil dieses Deck für fremde Personen nicht zugänglich ist.«

*

Paul hielt ihr die Tür auf, und Anne folgte ihm durch lange Gänge, fuhr mit ihm im Lift mehrere Etagen hoch und folgte ihm noch einmal über Flure, durch Säle und über Treppen. Hoch oben, wo das breite Schiff schmal und sehr elegant wurde, musste Paul sich vor einem Wachmann ausweisen und Anne vorstellen. Dann durften sie eine andere, kleine Welt betreten, eine Welt, in der der Luxus zu Hause war. Paul übergab Anne einem Pagen, der sie in einen Salon von beeindruckender Eleganz führte. Drei Seiten des Raumes bestanden aus Fenstern mit einem unbeschreiblichen Blick auf das Meer und die Decks unterhalb der Luxussuite. Die Einrichtung war ganz in Weiß gehalten, blühende Blumen in riesigen Kübeln gaben dem Ganzen Farbe. Eine breite Glastür führte auf ein Sonnendeck, dem weiße Markisen Schutz gaben.

In einer Ecke des Salons stand ein Spieltisch mit aufgestellten Schachfiguren. Anne ging hin und bewunderte die einzigartig geschnitzten Figuren. Sie nahm einen Springer in die Hand und besah ihn sich. Wenn der aus Elfenbein ist, dann kann dieser reiche Typ gleich einmal Ärger mit mir kriegen, dachte sie und fuhr erschrocken zusammen, als hinter ihr jemand sagte: »Es sind Rinderknochen, Madame, ich bin ein Freund der Elefanten und nicht ihr Jäger.«

Anne drehte sich überrascht um und lächelte den fremden Mann an. »Sie sind wunderschön geschnitzt, diese Rinderknochen.«

»Und sie sind sehr wertvoll, denn es gibt sie nur einmal, und sie sind sehr alt. Guten Tag, ich bin Andrew. Nett, Sie zu sehen, Madame.«

»Guten Tag, Mister Andrew, ich bin Anne-Sophie Wedel, Sie können Anne zu mir sagen.«

»Sehr erfreut, Miss Anne. Bitte nehmen Sie Platz.«

Anne setzte sich an den Spieltisch. Sympathisch ist er ja, dachte sie, und irgendwie kenne ich ihn, aber woher? Mister Andrew nahm ihr gegenüber Platz und sah sie prüfend an. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«

Anne lächelte. »Ich hatte, um ehrlich zu sein, überhaupt keine Lust auf diesen Spielnachmittag, Mister Andrew. Es gehört nämlich nicht zu meinen Aufgaben, irgendwo mit irgendeinem Menschen zu spielen. Ich bin eine Pflegerin und keine Spielerin.«

»Ich weiß, Miss Anne.«

»Und trotzdem haben Sie mich herbestellt?«

»Ich habe Sie hergebeten, nicht bestellt.«

»Doktor Freiberg hat diese Bitte als sehr ernsthaft empfunden.«

»Doktor Freiberg war noch nie ein guter Diplomat.«

Anne sah ihr Gegenüber kritisch an. Er kannte also den Schiffsarzt. Für sein Alter, überlegte sie, sieht er noch sehr gut aus. Groß, sportlich und braun gebrannt, dazu das volle weiße Haar und die hellwachen blauen Augen, nur im Gesicht haben die Jahre ihre Falten hinterlassen, und die Hände sind die eines alten Mannes.

»Kontrolle bestanden?«, lachte Mister Andrew sie an.

Anne fühlte sich ertappt und errötete. »Wollen wir nicht mit dem Spiel beginnen?«

»Warum so eilig, Miss Anne?«

»Um hierherzukommen, musste ich eine alte Lady allein lassen, die sich vor einer Stunde den Arm gebrochen hat und nun mit ihren Schmerzen und mit vielen traurigen Gedanken allein in ihrer Kabine liegt.«

»Gehört das Trösten auch zu Ihren Aufgaben?«

»Selbstverständlich, das ist oft wichtiger als das Wechseln von Verbänden oder die Spazierfahrt mit dem Rollstuhl.«

»Da haben Sie sicher recht. Ich werde darauf zurückkommen, wenn ich Hilfe brauche.«

»Sollten wir nicht endlich mit dem Spiel anfangen, ich habe der Lady versprochen, heute noch einmal nach ihr zu sehen.«

»Der Tag ist noch lang, Miss Anne, und ich will gar nicht mit Ihnen Schach spielen.«

»Sondern?«

»Ich will Sie kennenlernen und mich mit Ihnen unterhalten.«

»Gibt es sonst niemanden hier, mit dem Sie sich unterhalten könnten? Das Schiff ist voller netter Leute, Mister Andrew.«

»Ich weiß, und der Gedanke, mit mehr als tausend Menschen dieses Schiff zu teilen, flößt mir Grauen ein.«

»Es ist ein schönes, ein sicheres Schiff, und fürs Grauen gibt es keinen Grund. Sind Sie öfter auf so einem Schiff unterwegs, Mister Andrew?«

»Mehrmals im Jahr.«

»Und immer von diesem Luxus umgeben?«

»Und immer verdammt einsam hier oben zwischen Himmel und Wasser.«

»Und warum? Ich meine, warum so allein oder einsam, wie Sie das nennen?«

»Wer kommt schon, wenn ich ihn um einen Besuch bitte?«

»Ich bin gekommen! Aber weshalb sollten die Leute auch zu Ihnen kommen? Wenn Sie Kontakte suchen, dann müssen Sie sich schon selbst auf den Weg machen und nicht darauf warten, dass andere kommen.«

»Ach, Sie haben ja keine Ahnung, Miss.«

»Nein, ich habe keine Ahnung, also sagen Sie es mir.«

»Ich bin Andrew Wilhelm Möller.«

»Ja, und? Im Hamburger Telefonbuch gibt es seitenweise den Namen Möller. Sind Sie einer davon?«

Jetzt brach der alte Mann in ein lautes Lachen aus. »Sie haben tatsächlich keine Ahnung, meine liebe Miss?«

»Nein, woher auch. Sind Sie so bedeutsam, dass ich Sie kennen müsste? Sie sind mir nicht unbekannt, zugegeben, irgendwo habe ich Ihr Gesicht schon einmal gesehen, aber fragen Sie mich nicht, wo.«

Andrew W. Möller stand auf, holte eine Broschüre aus einem Schrank und reichte sie Anne.

Verblüfft sah sie das Umschlagfoto an. Oben darüber stand Andrew W. Möller und unter dem Foto ›Reeder‹.

»In Wirklichkeit sehen Sie aber viel besser aus als auf dem Foto«, war das Erste, was sie sagte. Dann errötete sie und bat um Entschuldigung.

»Wofür? Für das netteste Kompliment, das ich in den letzten zwanzig Jahren bekommen habe?«

»Nein, dafür, dass ich nicht wusste, dass Sie der Eigner dieses Schiffes und aller anderen sind, die unter Ihrer Familienflagge fahren«, erklärte sie zurückhaltend.

»Schon gut. Ich dachte, Sie hätten mit den Papieren zum Dienstantritt auch diese Broschüre erhalten.«

»Ja, die habe ich bekommen, aber Zeit zum Hineinschauen hatte ich nicht. Das Foto allerdings hatte ich verschwommen in Erinnerung.«

»Verschwommen«, entrüstete sich der Reeder lachend, »das ist ein starkes Stück.«

Anne versuchte, ihre Befangenheit abzustreifen, es gelang ihr aber nicht ganz. Was will dieser fremde Mann von mir, dieser introvertierte Millionär? Schachspielen will der ganz bestimmt nicht.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee, einen Cognac, einen frisch gepressten Orangensaft?«

»Danke, ich möchte nichts. Spielen wir jetzt noch Schach oder nicht? Dann würde ich mich lieber wieder meiner Arbeit zuwenden.«

»Warum wollen Sie schon gehen?«

»Ich denke, Doktor Freiberg hat noch andere Patienten auf seiner Liste, die auf mich warten.«

»Das glaube ich nicht. Ich habe bestellen lassen, dass ich den gesamten Nachmittag und Abend mit Ihnen Schach spielen möchte.«

»Bitte, Mister Möller …«

»Andrew bitte …«

»Also gut, Mister Andrew, haben Sie Erbarmen mit mir, ich habe seit meiner Kindheit, als mein Vater oft mit mir gespielt hat, niemals wieder Schach gespielt, ich kann mich nur noch mit Mühe an die einzelnen Züge erinnern, und jetzt wollen Sie mit mir stundenlang ein Spiel spielen, von dem ich keine Ahnung mehr habe?«

»Schach verlernt man nicht.«

»Da bin ich anderer Ansicht.«

»Wenn Sie jetzt gehen, werden Sie nochmal wiederkommen?«

»Wenn Sie mich nett darum bitten, gern.«

»Na klar, kein Befehl, ich weiß. Aber ich habe noch eine andere Bitte, Miss Anne, kein Mensch auf diesem Schiff weiß, wer ich wirklich bin. Ausgenommen der Kapitän und meine persönlichen Mitarbeiter – und jetzt Sie, Miss Anne. Ich möchte, dass das so bleibt, bitte.«

»Warum eigentlich ich?«

»Das erzähle ich Ihnen ein andermal, falls Sie wiederkommen.«

»Ist das eine kleine Form von Erpressung, Mister Andrew?«

»Selbstverständlich. Ich bin immer und grundsätzlich auf der sicheren Seite.«

»Sie appellieren an meine Neugier?«

»Aber ja.«

»Das ist unfair.«

»Was und wer auf der Welt ist schon fair?«

»Männer wie Sie, dachte ich.«

Sein lautes Lachen begleitete sie, als Anne die Grand-Luxe-Suite verließ.

*

Draußen im Foyer wartete Paul auf sie. Als der Steward sie zurück zum Hospital begleiten wollte, schüttelte Anne den Kopf. »Ich muss zuerst sehen, wie es Lady MacAdleston geht. Würden Sie mich zu ihr bringen?«

»Gern, natürlich. Aber erwartet Doktor Freiberg Sie nicht?«

»Nein, und wenn er mich braucht, funkt er mich an.«

»Dann nehmen wir jetzt den Lift dort drüben, der bringt Sie direkt zum richtigen Deck.«

»Danke. Sie kennen sich ja zum Glück sehr gut aus. Fahren Sie schon lange auf der ›M. S. Victoria?‹«

»Das dritte Jahr jetzt.«

»Und, wie ist das so?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, ist es in Ordnung mit der Bezahlung, mit den Vorgesetzten, mit den Dienstplänen, so mit dem ganzen Leben hier auf dem Schiff?«

»Wir können nicht klagen.«

Anne merkte, dass er sich nicht ausfragen lassen wollte, und schwieg. Ich werde schon noch erfahren, ob der Schiffseigner großzügig ist, wenn es um die Angestellten geht, dachte sie. Auf mich wirkte er sympathisch, aber erste Eindrücke können auch gewaltig täuschen. Ich werde auf jeden Fall vorsichtig sein, nahm sie sich fest vor. Und dabei weiß ich überhaupt nicht, was dieser Mann ausgerechnet von mir will.

8

Caroline MacAdleston schlief, als Anne ihre Suite betrat. So schaute sie nur nach, ob die Lady und vor allem der gebrochene Ellenbogen gut gelagert waren, und verließ die Kabine wieder. Langsam ging sie zum Hospital zurück. Vor dem Restaurant vom B-Deck traf sie Ruth, die gerade ein paar Gästen einen Weg erklärte. Als sie Anne sah, winkte sie ihr zu. »Komm, wir gönnen uns einen Drink in der Bar, ich habe gerade einen Augenblick Zeit.«

»Wir sind übermorgen in New York, wie wird es dann mit den Landausflügen der Passagiere?«, fragte Anne die Stewardess.

»Dann wird vor allem das Schiff leer«, lachte Ruth, »eine herrliche Gelegenheit, faul zu sein.«

»Ehrlich?«

»Nein, natürlich nicht. Wenn die Passagiere an Land sind, werden Reinigungsarbeiten und Reparaturen durchgeführt, die sonst die Gäste stören würden.«

»Aber gehen denn alle an Land?«

»Nein. Es gibt immer Passagiere, die kennen diese Ausflüge schon und genießen lieber einen ruhigen Tag auf dem Schiff.«

»Hm, ich werde wahrscheinlich einige Gäste begleiten müssen.«

»Ja, damit musst du rechnen. Auf dem Schiff fühlen sich die meisten sicher und geborgen, aber an Land, da fühlen sie sich oft fremd und sind beunruhigt. Da wünschen sich viele die gleiche Betreuung, die sie vom Schiff her gewohnt sind. Kennst du New York?«

»Ja. Ich war als Kind öfter dort.«

»Dann solltest du dich schlau machen. Die Stadt verändert sich laufend. Lass dir vom Reisebüro unten im C-Deck Stadtführer, Karten und Preislisten geben, damit du einigermaßen Bescheid weißt.«

»Preislisten?«

»Ja, für Taxikosten, Restaurants, Museen und andere Sehenswürdigkeiten. Die Passagiere verlassen sich auf dich.«

»Aber ich bin doch keine Reiseführerin. Ich helfe den älteren Gästen, in Busse und Bahnen zu steigen, Treppen zu erklimmen und Aussichtspunkte zu erreichen, aber doch nicht Restaurants auszusuchen und Besichtigungstouren zu organisieren.«

»Du wirst nicht drum herumkommen, auch Gaststätten und Touren für Stadtbesichtigungen vorzuschlagen.«

»Aber das mag ich überhaupt nicht, Ruth.«

»Man wird dich nicht fragen, was du magst und was nicht.«

»Eigentlich habe ich mir meine Arbeit einfach anders vorgestellt.«

»Aber du hast auch die Chance, viel zu erleben und zu sehen. Die Ausflüge an Land beginnen ja erst in New York. Denk mal, danach kommen Washington und Virginia-Beach und Charleston. Und dann im Süden Cape Canaveral und Miami und die Florida Keys. Traumhaft schön, sag ich dir. Und das ist alles umsonst für dich.«

»Hm, ich weiß nicht, ob es das ist, was ich will.«

»Na, deine Leute zum Betreuen hast du trotzdem dabei.«

Anne lachte. »Ja, da hast du eigentlich recht. Aber vor New York habe ich trotzdem Angst.«

»Brauchst du nicht zu haben.« Jetzt lachte Ruth, sie hatte die neue Freundin tatsächlich etwas reingelegt. »Mach dir keine Sorgen«, tröstete sie, »am Pier stehen Busse, und da steigst du ein, und dann fährst du los, und mit dir fahren die, die du so ein bisschen betreuen sollst. Aber denk auch daran, keiner der Reisenden will vor dem anderen als schwach und hilfsbedürftig gelten. Da werden sogar Lahme zu Gentlemen und spielen sich als Helden auf, damit musst du rechnen.«

»Schäm dich, so zu reden«, meinte Anne und wandte sich dem Orangensaft zu, den der Kellner ihr reichte.

»Na, Anne, ist doch wahr. Hier wollen noch Greise als Eroberer auftreten und uralte Ladys als Showgirls. Hier auf dem Schiff ist eben alles ein bisschen anders als im normalen Leben. Anders, weil es eine Menge Geld kostet.«

»So sehe ich das aber nicht«, Anne schüttelte leicht verärgert den Kopf.

»Und wie siehst du es dann?«

»Hier gönnen sich Leute, die schwer gearbeitet haben, eine Erholung, hier wollen Menschen, die sonst kaum aus ihren vier Wänden herauskommen, ein Stückchen Welt kennenlernen, hier genießen ein paar Leute, die jahrelang dafür gespart haben, den Höhepunkt ihres Lebens.«

»Na ja, wenn du das so sehen willst, ich habe andere Erfahrungen gemacht.«

Annes Pager piepste, und Doktor Freiberg bat sie, ins Hospital zu kommen. Sie trank schnell den Orangensaft aus, winkte Ruth zu: »Bis zum nächsten Mal«, und lief hinüber zum Lift, mit dem sie das Hospital am schnellsten erreichen konnte.

»Ich dachte, Sie seien noch bei unserem Inkognito-Gast in der Luxussuite«, empfing sie Doktor Freiberg sichtlich neugierig. »Was wollte der denn von Ihnen? Nur Schach spielen?«

»Nein, wir haben nicht gespielt. Wir haben uns etwas unterhalten, und dann bin ich wieder gegangen.«

»Einfach so?«

»Einfach so! Ich habe ihm gesagt, dass ich eine Alten- und Krankenpflegerin sei und keine Unterhalterin und dass ich seit meiner Kindheit nicht mehr Schach gespielt habe.«

Doktor Freiberg brach in schallendes Lachen aus. »Einfach so? Unglaublich. Dem Mann gehören mehrere Schiffe, und Sie sagen einfach so ›Nein, danke‹?«

»Der Mann ist kein Pflegefall, Doktor Freiberg, und wenn er sich amüsieren will, dann steht ihm eine ganze Reihe von Möglichkeiten auf diesem Schiff zur Verfügung.«

»Haben Sie ihm das etwa auch gesagt?«

»Nein, dazu hatte ich keinen Grund, denn mit mir hat er sich ernsthaft unterhalten, das ist etwas anderes. Aber trotzdem, eine Unterhalterin bin ich nicht. Wenn er Probleme mit den Beinen hat, werde ich ihn gern stützen, und wenn er Probleme mit den Augen hat, werde ich ihm gern vorlesen, wenn er aber Probleme mit der Langeweile hat, dann muss er allein damit fertigwerden.«

»Na, bravo. Das nenne ich eine konsequente Einstellung. Und worüber haben Sie sich ernsthaft unterhalten? Etwa über seine Milliarden?«

»Wird das ein Verhör, Doktor Freiberg?«

»Miss Anne, es gehört zu den Aufgaben eines Schiffsarztes, die Passagiere zu kennen.«

»Alle eintausendfünfhundert?«

»Nein, aber die Reisenden in den Luxuskabinen auf jeden Fall. Denn wenn denen etwas passiert, muss die Hilfe perfekt und sofort erfolgen. Und erfolgreich muss sie natürlich auch sein.«

»Höre ich da etwas von Klassenunterschieden?«

»Miss Anne, wer bezahlt Ihren Lohn, Ihre Unterkunft, Ihre Mahlzeiten auf diesem Schiff? Die jungen Leute von den Innenkabinen im untersten Deck, die auf eine möglichst günstige Weise die Welt kennenlernen möchten, oder die Passagiere in den Luxuskabinen, die ein Vermögen ausgeben, weil sie nicht wissen, wohin sie mit dem Geld sollen?«

»Tut mir leid, Doktor, aber mit Ihrer Rechenweise kann ich nicht umgehen. Mich bezahlt der Reeder für eine Arbeit, die keinen Unterschied zwischen Innenkabinen, Außenkabinen und Luxussuiten kennt.«

»Und woher hat der Reeder das Geld für die Löhne, meine liebe Miss Anne?«

Anne schüttelte den Kopf.

Den Argumenten des Arztes war sie nicht gewachsen. Außerdem wurde es Zeit, dass sie sich um Lady MacAdleston kümmerte. Die alte Dame war sicherlich längst wach und wartete auf sie.

»Tut mir leid, Doktor, aber Ihren Argumenten bin ich nicht gewachsen, und jetzt muss ich zu Lady MacAdleston, die längst auf mich wartet.«

»Schon gut, Anne, aber über den Inkognito-Gast da oben reden wir noch.«

»Da gibt es nichts zu reden, Doktor.«

»Wir werden sehen.« Mit einem Kopfnicken entließ er Anne. So leicht kommt sie mir nicht davon, nahm er sich vor. Ich kenne diesen Reisenden, es wird hier immer geredet. Gesehen habe ich ihn nie, aber ich weiß, dass er oft auf diesem Schiff reist, zwei- bis dreimal im Jahr bestimmt. Und immer hüllt er sich in Schweigen, kommt bei Nacht und Nebel an Bord, versteckt sich im Luxus, macht seine Reisen und verschwindet bei Nacht und Nebel wieder. Und keiner weiß, wer er ist. Aber jetzt gibt es endlich eine Person, die ihn persönlich kennt und die will mir nichts sagen? Das kommt ja gar nicht infrage. Ich werde sie schon dazu bringen, mir zu erzählen, wer da oben sein Vermögen vor allen geheim hält. Und wenn ich eine Liaison mit ihr eingehen muss.

*

Anne hatte das Gespräch mit dem Arzt schon vergessen, als sie die Kabine von Lady MacAdleston erreichte. Die alte Dame saß auf der Kante ihres Bettes und versuchte aufzustehen, hatte aber Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, und ließ sich gerade wieder zurückfallen.

»Lady Caroline, nicht allein, ich bin schon da«, rief Anne ihr besorgt zu.

»Ach, Anne, man ist so unbeholfen mit einem Arm. Ich müsste einmal ins Bad, aber ich muss gestehen, ich habe Angst davor.«

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Anne half ihr in die Hausschuhe, stützte sie beim Aufstehen und beim Gehen und führte sie behutsam in das elegante Bad. »Wie kam es denn, dass Sie vorhin gefallen sind?«

»Mir ist der Deckel von einer Cremetube heruntergefallen, und als ich ihn suchte, bin ich darauf ausgerutscht, und schon lag ich auf meinem rechten Arm. So ein Blödsinn aber auch.«

»Ach, Lady Caroline, das kann doch jedem passieren.«

»Na, ich weiß nicht. Man wird so steif und unbeweglich, wenn man alt ist. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so unsicher und eingeschränkt sein würde.«

Anne half ihr, auf der Toilette Platz zu nehmen, und verließ das Bad. »Ich warte vor der Tür, Sie brauchen nur zu rufen.«

»Danke, Anne.«

Später fragte Anne die alte Dame: »Was möchten Sie machen, Lady Caroline? Möchten Sie sich ankleiden und im Restaurant das Abendessen einnehmen oder lieber in der Kabine bleiben? Ich könnte Ihnen auch da helfen, denn mit der linken Hand zu essen, wird zuerst schwierig sein.«

»Was raten Sie mir? Ich will mich auf keinen Fall verstecken, und ich werde diesen Arm nicht zum Anlass nehmen, mich zu verkriechen.«

Anne brauchte nicht zu überlegen. »Ich rate Ihnen, heute Abend in der Kabine zu bleiben, aber wenn der Arm morgen durch einen Gips stabilisiert ist, sollten Sie ruhig wieder die Annehmlichkeiten des Schiffes genießen.«

Die Lady sah die Pflegerin prüfend an. »Genießen? Das hat sich wohl erledigt, meine liebe Anne.«

»Aber ich bitte Sie, ich werde Ihnen das ganze Schiff zeigen, zum Glück können Sie gehen, und ich verspreche Ihnen jeden Tag Ausflüge auf unserem Luxusliner, der immer Neues bietet.« Meine Güte, dachte sie, was verspreche ich denn da. Ich kenne das Schiff selbst kaum.

Aber egal, Hauptsache, die Lady zieht sich nicht in ihre Suite zurück.

Lady Caroline sah Anne dankbar an. »Ich wünschte, Sie wären immer da, wenn ich Hilfe brauche.«

»Aber Lady Caroline, jetzt bin ich ja da, und in ein paar Tagen werden Sie froh sein, ohne Begleitung zu leben. So eine ständige Pflegerin kann auch sehr lästig sein.« Sie lächelte die alte Dame an und dachte: Wer weiß, wie sie auftritt, wenn sie wieder zu Hause und die Herrin im Schloss ist. Und Anne dachte an die schwierigen Stunden mit der Mutter, als die noch geistig gesund, aber unglücklich und verzweifelt nach dem Tod des Vaters nichts mehr mit sich anzufangen wusste.

»Manchmal habe ich den Eindruck, Sie kennen mich besser, als ich mich selbst kenne«, sagte Caroline leise vor sich hin und versuchte, einen goldenen Ring vom rechten Ringfinger abzuziehen. Anne sah ihr einen Augenblick zu. »Soll ich Ihnen helfen?«

»Hm, es ist mein Trauring, und ich trage ihn seit über fünfzig Jahren, aber jetzt ist meine Hand so geschwollen, dass er wehtut.«

»Ich werde Ihnen ein kleines Seifenbad machen, das tut der Hand gut, und der Ring lässt sich leichter abstreifen.«

Nach einigen Minuten versuchte die Lady wiederum vergeblich, den Ring zu lösen. Erst als Anne die Hand massierte und den Ringfinger mit einer Creme einrieb, konnten sie den Ring abstreifen. Im Finger blieb eine dicke Kerbe zurück, und die Lady sah mit Tränen in den Augen auf das Gold in ihrer Hand.

»Seit fünfundfünfzig Jahren habe ich ihn jetzt zum ersten Mal abgenommen, aber ehrlich, Miss Anne, es tut gut, ihn los zu sein.« Sie lächelte Anne an. »Nicht wie Sie jetzt glauben, eine Last abzustreifen oder meine Erinnerungen. Nein, nein, die Erinnerungen bleiben, die guten wie die schlechten, nur meinem Finger haben wir Erleichterung verschafft, das meine ich damit.«

Anne lachte: »Ich weiß, was Sie meinen, so ein kleiner Ring kann auch zur Last werden, ich meine für den Finger, nicht für die Lady.«

Jetzt lachte die alte Dame auch, hielt sich aber gleich die andere Hand vor den Mund und meinte: »Verzeihung, ich sollte mich nicht so gehen lassen.«

Anne nickte. »Befreiung ist Befreiung, ganz egal wovon … Und jetzt bestellen wir das Abendessen, und ich helfe Ihnen dabei, mein Funkgerät stelle ich so lange einfach ab.«

9

Als Lady Caroline und Anne das Abendessen eingenommen hatten, half Anne der alten Dame wieder ins Bett, und als Anne gehen wollte, bat die Lady lächelnd: »Bitte Anne, ich habe da so eine ganz bestimmte Gewohnheit, wenn ich den Tag beschließe.«

»Ja? Und worin besteht die Gewohnheit?«

Die Lady lächelte etwas verschmitzt. »Es gibt da in meinem kleinen Kühlschrank eine große Flasche schottischen Whisky, die kleinen Fläschchen habe ich gleich entfernen lassen, und diese Flasche enthält meinen Schlaftrunk.«

Anne überlegte einen Augenblick. Die Lady hatte eine Spritze gegen die Schmerzen bekommen. Vertrug sich dieses Mittel mit Alkohol? Da sie keinen Fehler machen wollte, stellte sie ihr Funkgerät wieder an, um den Arzt zu fragen. Aber bevor sie ein Wort sagen konnte, schalt der Arzt mit ihr. »Warum haben Sie Ihren Pager abgestellt. Ich wollte dringend mit Ihnen sprechen, und Sie waren nicht zu erreichen. Wo soll man auf so einem Schiff denn da mit der Suche nach einer Mitarbeiterin anfangen? Ich muss mich auf Sie verlassen können.«

Anne, einen Augenblick sprachlos, wusste natürlich, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und entschuldigte sich sofort. »Es tut mit leid, Doktor Freiberg, aber ich sagte doch, dass ich Lady MacAdleston helfen wollte, und bei ihr bin ich bis jetzt gewesen.«

»Na ja, das war ja wohl eine gründliche Hilfe, leider haben wir nicht für alle Patienten diese Zeit, merken Sie sich das. Und warum sind Sie jetzt noch immer dort?«

»Die Dame hat mich gebeten, ihr den gewohnten abendlichen Whisky zu geben, und ich weiß nun nicht, ob sich der Alkohol mit dem Schmerzmittel verträgt, das Sie ihr gespritzt haben.«

»Das ist fünf Stunden her, und es war ein leichtes Mittel. Wie geht es ihr jetzt?«

»Lady MacAdleston hat gegessen und liegt jetzt wieder im Bett. Sie fühlt sich gut und möchte nicht auf ihren gewohnten Schlaftrunk verzichten.«

»Dann geben Sie ihn ihr, aber in Maßen, und dann kommen Sie so schnell wie möglich zu mir, ich muss mit Ihnen sprechen.«

»Ich bin in zehn Minuten im Hospital.«

Anne schaltete das Gerät ab und ging an den kleinen Kühlschrank. Dort standen vier große, ansehnliche Whiskyflaschen zwischen einigen kleinen Flaschen mit Mineralwasser. Alle anderen Flaschen, die eigentlich für die Passagiere bestimmt waren, lagen in einem Korb außerhalb des Schrankes. Anne dachte: Da hat aber jemand gut vorgesorgt. Dann fragte sie: »Lady Caroline, wie möchten Sie denn Ihren Whisky trinken?«

»Ach Anne, das ist eine Wissenschaft für sich. Bringen Sie mir die angebrochene Flasche, ein Glas von der großen Sorte, die Schale mit dem Eis und eine Flasche mit Wasser ans Bett, das Mischen übernehme ich selbst.«

Und Anne beobachtete, wie die Lady mit ziemlicher Großzügigkeit Whisky in das Glas gab, dann ein Stück Eis hinzufügte und noch etwas Mineralwasser vermengte. Na ja, dachte sie, man kann ihn eigentlich dann auch pur trinken. Sie sagte aber nichts, brachte die Flaschen und die Eisschale zurück und nickte der Lady zu. »Wohl bekomm’s, Lady Caroline.«

»Sind Sie jetzt schockiert?«, fragte die alte Dame lächelnd, »keine Sorge, ich nehme meinen Schlafdrink seit Jahren in unveränderter Form, und er bekommt mir glänzend.«

Anne nickte. »Ich glaube Ihnen das, die alte Queen Mum hatte eine ganz ähnliche Gewohnheit, erzählt man sich, und sie ist damit uralt geworden.«

»Nein, nein«, schüttelte Lady Caroline den Kopf, »ich glaube, die schluckte ihren Gin nach jedem Essen, ich bin da viel disziplinierter.«

Anne legte ihr lächelnd die Hand auf den gesunden Arm.

»Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Ich freue mich, wenn es Ihnen schmeckt, denn es ist sehr wichtig, dass Sie sich wohlfühlen.«

Die Lady nahm einen Schluck. »Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten, Anne.«

»Doktor Freiberg hat mich ins Hospital zurückbeordert.«

»Ja, ich weiß. Dann vielleicht morgen?«

»Ganz bestimmt. Ich komme in meiner freien Stunde zu Ihnen, dann kann uns niemand stören.«

»Aber ich will Ihnen nicht das bisschen Freizeit stehlen, das Sie hier haben.«

»Ich komme gern, eine Unterhaltung mit Ihnen wäre mir ein Vergnügen.«

Die alte Dame nickte dankbar. »Das Vergnügen wird ganz auf meiner Seite sein.«

*

Und Anne dachte: Himmel, worauf habe ich mich da wieder eingelassen. Warum wollen alle ausgerechnet mit mir reden? Der Reeder, der Doktor und nun auch noch die Lady. Was wollen die von mir? Gesellschaft, na die gibt es doch zur Genüge auf dem Schiff. Lady Caroline kann ich ja verstehen, die hat Schmerzen und ist nicht gerade glücklich mit dem gebrochenen Ellenbogen, aber der Doktor, dem fliegen die Frauen nur so zu, und der Reeder? Der ist selbst schuld an seiner Einsamkeit. Warum versteckt er sich? Hat er Angst, die Leute könnten ihn für irgendwelche Schäden haftbar machen oder auf sein Vermögen spekulieren?

Anne hatte das Hospital erreicht. Alles war still, und die Praxisräume waren dunkel. Na, mit Arbeit wartet hier niemand auf mich, dachte sie und wollte gerade wieder zurück auf den Gang gehen, als Doktor Freiberg aus der Dunkelheit auftauchte.

»Na, da sind Sie ja endlich, Anne. Wo waren Sie nur die ganze Zeit?«

»Ich habe mich um die verletzte Lady gekümmert. Sie ist ziemlich hilflos, und man muss sie beim Essen, beim An- und Umkleiden und ins Bad begleiten. Vor allem vor dem Bad hat sie richtige Angst.«

»Hm, kann man ja verstehen, trotzdem, wenn sie morgen den Gips bekommt, wird sie sich sicherer fühlen, und dann können Sie sich auch wieder um andere Passagiere kümmern.«

»Hier scheint ja alles ruhig zu sein. Keine Patienten? Keine Hilferufe von irgendwoher?« Anne sah sich lächelnd um, »dann kann ich mich ja auf einen frühen Feierabend freuen.«

Doktor Freiberg schüttelte den Kopf. »Anne, ich würde mich gern und in aller Ruhe noch etwas mit Ihnen unterhalten, denn übermorgen beginnen die Ausflüge, dann haben wir abends alle Hände voll zu tun: verstauchte Knöchel, Blasen an den Füßen, verdorbene Mägen und jede Menge Angstneurosen, was glauben Sie, was dann hier los ist.«

»Angstneurosen? Wieso denn das?«

»Angst vor dem hektischen Verkehr, Angst, sich zu verlaufen und das Schiff zu verpassen, Angst vor dem schlechten Ruf mancher Stadtteile und vor Überfällen und Taschendieben. Glauben Sie mir, ich kenne New York, und ich kenne die Passagiere, es gibt nichts, was es nicht gibt. Und deshalb wollte ich Sie heute Abend zu einem Glas Wein einladen, um die Ruhe vor dem Sturm zu genießen.«

»Danke, aber es sollte nicht zu spät werden, die Lady ist eine Frühaufsteherin und kann sich allein nicht ankleiden.«

»Versprochen«, aber als der Arzt den Weg zu seiner Kabine einschlug, blieb Anne stehen.

»Doktor Freiberg, ein Glas Wein trinke ich gern mit Ihnen, aber bitte an der frischen Luft. Ich war den ganzen Tag unter Deck, ich möchte jetzt wenigstens noch ein bisschen frische Luft genießen.«

»Aber die Klimaanlage in meiner Kabine funktioniert auf das Beste.«

»Danke, aber sie kann mir nicht den Sternenhimmel und die frische Brise auf Deck ersetzen.«

Was fällt dem Doktor ein, dachte Anne leicht entrüstet. Warum sollen wir in der engen Kabine hocken, obwohl uns Hunderte von Liegestühlen auf windgeschützten Decks zur Verfügung stehen.

»Anne, ich wollte mich mit Ihnen unterhalten und nicht zum Mittelpunkt einer neugierigen Gesellschaft werden. Sie wissen doch, wenn ich irgendwo auftauche, haben wir sofort eine Schar von Passagieren rund um uns.«

Schade, dachte Anne, dem kann ich nicht widersprechen. Da hat er recht. Aber warum diese Heimlichtuerei, was haben wir zu besprechen, was andere nicht hören dürfen? Sie gab nach. »Na schön, gehen wir in die Kabine. Aber nur für eine Stunde.«

»Einverstanden«, und schon ging Doktor Freiberg voraus, hielt ihr die Türen auf den Gängen auf und schloss schließlich die Tür zu seiner Kabine auf. Verblüfft sah Anne, dass er die Kabine in ein elegantes Kabinett verwandelt hatte. Überall standen brennende Kerzen, sein Bett war mit einer schweren Felldecke überzogen, und auf einem Tisch standen Gläser, Konfekt, Gebäck und diverse Flaschen. Anne schüttelte den Kopf. »Doktor Freiberg, warum dieser Aufwand. Es ist wunderschön, aber wir hätten uns auch bei weniger Aufwand unterhalten können.«

»Ach, Anne, ich habe so selten Gelegenheit, eine Dame hierher einzuladen, gönnen Sie mir den kleinen Aufwand, Hauptsache ist doch, Sie fühlen sich hier wohl. Und noch etwas: Als wir uns kennenlernten, haben wir vereinbart, dass ich, wenn wir allein sind, der Franz für Sie bin. Warum also immer dieses ›Doktor Freiberg‹?«

»Es fällt mir schwer, die Unterschiede zwischen gemeinsamer Arbeit und gemeinsamen Gesprächen zu beachten. Ich möchte lieber beim ›Doktor‹ bleiben, wenn’s recht ist.«

»Aber das ist schade, wir wären viel vertrauter, wenn wir die förmlichen Anreden wegließen. Kommen Sie und fühlen Sie sich einfach wohl bei mir.«

Na ja, dachte Anne, so ganz wohl ist mir bei diesem Aufwand nun nicht mehr. Aber höflich setzte sie sich in den Sessel, den der Arzt ihr anbot, und schaute sich in der Kabine um. »Schön haben Sie es hier, richtig gemütlich.«

»Ich bewohne diese Kabine nun schon seit zwei Jahren, weil ich immer mit diesem Schiff unterwegs bin, da muss man sich so ein kleines Zuhause schon persönlich gestalten, um sich wohlzufühlen.« Er zeigte auf eine Anzahl von Flaschen und auf einen kleinen Kühlschrank. »Was möchten Sie trinken? Der Barkeeper hat mich gut versorgt.«

»Ich würde gern einen Campari mit Orangensaft und ohne Eis trinken, wenn Sie so etwas haben.«

»Aber gern.« Der Arzt holte die Flaschen aus dem Kühlschrank und mixte den Drink für Anne. Er selbst nahm einen Whisky on the Rocks und setzte sich ihr gegenüber. »Ich finde, wir sollten endlich einmal auf Ihre erste Kreuzfahrt und die damit verbundene neue Arbeit für Sie anstoßen. Wie fühlen Sie sich, sind Sie zufrieden, gefällt Ihnen das ganz Drum und Dran?«

»Danke für die Nachfrage. Nachdem ich mich jetzt einigermaßen auf dem Schiff zurechtfinde, macht die Arbeit Spaß. Ich komme mit interessanten Leuten zusammen, ich habe genügend Zeit, mich um jeden Einzelnen zu kümmern, und selbst mit schlecht gelaunten Typen habe ich keine Probleme.«

»Das kommt, weil Sie selbst ein Mensch ohne Launen sind. Sie sind ein positiv denkender Mensch, das sieht man Ihnen an.«

»Na ja«, protestierte Anne, »Launen habe ich schon, aber ich zeige sie nicht.«

»Wie sind Sie denn mit unserem First-class-Passagier oben in der Luxussuite zurechtgekommen? War er launisch?«

»Aber nein. Der Herr ist achtzig Jahre alt, da weiß man aus Erfahrung, dass Launen das Leben nur erschweren.«

»Erstaunlich, dass der alte Herr nie einen Arzt braucht.«

»Er macht einen sehr gesunden Eindruck, er sieht aus, als ob er täglich Sport treibt, und er hat Dienstboten, die sich um ihn kümmern.«

»Trotzdem, in diesem Alter ist der Körper nicht mehr voll funktionsfähig. Da braucht man Medikamente, die den Kreislauf, die Verdauung, den Herzrhythmus und die Knochen unterstützen.«

»Doktor Freiberg, was wollen Sie eigentlich? Soll ich Diagnosen stellen und den alten Herrn ausfragen? Mir ist schon heute Nachmittag aufgefallen, dass Sie überaus interessiert an dem Befinden dieses Herrn sind.«

»Miss Anne, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Dieser Herr scheint unser wichtigster Passagier zu sein. Jedenfalls, was die finanzielle Seite betrifft. Ich möchte vorbereitet sein, wenn ihm etwas passiert. Ich muss vorbereitet sein! Ich habe die Verantwortung für alle Passagiere, auch für die, die vielleicht einen Schiffsarzt für nicht kompetent genug halten. Ich bitte Sie sehr, mir zu helfen, denn Sie haben anscheinend sein Vertrauen gewonnen.«

»Und genau dieses Vertrauen werde ich nicht benutzen, um den alten Herrn nach seinen Wehwehchen zu fragen. Wenn er Hilfe braucht, wird er Sie rufen, aber er wird mir ganz bestimmt nicht verraten, ob er Probleme mit seinem Magen hat oder Schlafstörungen.«

»Ich hatte mehr Kooperation erwartet, liebste Anne.« Er stand auf, um ihr Glas erneut zu füllen. Aber Anne schüttelte den Kopf. »Danke, ich möchte kein zweites Glas.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist fast Mitternacht, ich denke, es ist Zeit fürs Bett.«

»Aber ich bitte Sie, der Abend hat doch gerade erst angefangen. Ich habe mich so sehr auf ein paar gemütliche Stunden mit Ihnen gefreut. Endlich sind wir einmal allein, ungestört von Funkrufen und Patienten mit Bauchweh, weil sie zu viel gegessen haben. Sie dürfen jetzt noch nicht gehen.« Ohne noch einmal zu fragen, nahm er Annes Glas und füllte es ein zweites Mal. »Prost, meine Liebe, ich bin sehr froh, mit Ihnen plaudern zu dürfen, wer weiß, wann wir wieder einmal so einen ruhigen Abend haben.« Er rückte mit seinem Sessel neben Anne und streichelte ihren Arm. »Nicht böse sein, ich bin doch auch nur ein Mensch, und zwar einer, der höchst ungern immer allein ist.«

Anne wollte mit ihrem Sessel zur Seite rutschen, aber erstens war dafür kein Platz und zweitens fand sie es albern. Wenn er zudringlich würde, wusste sie sich zu wehren, aber sie war sicher, dass er seine Grenzen kannte. Doch als seine Hand ihre Schulter berührte und dabei wie aus Versehen ihre Brust streifte, nahm sie diese Hand und legte sie auf die Sessellehne zurück. »Bitte, mein lieber Doktor Freiberg, wir wollen doch eine gewisse Distanz beibehalten.« Dann stand sie auf. »Danke für diesen spontanen Abend. Wir sehen uns dann morgen früh beim Meeting im Hospital.«

Der Arzt wollte protestieren, sah dann aber ein, dass Anne nicht zu bewegen war, länger zu bleiben. »Ich werde Sie zu Ihrer Kabine begleiten, das darf doch erlaubt sein.«

»Bitte, wenn Sie das möchten? Ich erinnere Sie aber daran, dass meine Kabine direkt gegenüber liegt und der Gang nur zwei Meter breit ist.«

»Ja, ja, natürlich.« Er stand auf, öffnete seine Tür und blieb dann in der Öffnung stehen, so dass Anne Mühe hatte, neben ihm hindurchzukommen. Und ganz versehentlich streifte seine Hand noch einmal ihre Brust, als er höflich sagte: »Bitte sehr, nach Ihnen, liebste Anne.«

10

Noch vor dem Meeting am nächsten Morgen ging Anne in die Kabine von Lady MacAdleston, um nach der alten Dame zu sehen. Die Lady war schon wach und sehr froh, dass Anne sie ins Bad begleitete und danach wieder ins Bett brachte.

»Bitte bleiben Sie liegen, Lady Caroline. Ich bin in einer halben Stunde zurück, dann helfe ich Ihnen beim Ankleiden, und danach bringe ich Sie zum Arzt, damit er den Arm eingipsen kann. Dann haben Sie keine Schmerzen mehr, und der Ellenbogen kommt zur Ruhe.«

»Danke, Miss Anne, ich werde auf Sie warten.« Sie lächelte ihr zu. »Etwas anderes bleibt mir ja auch gar nicht übrig.«

Als Anne zum Meeting kam, hatte Doktor Freiberg die beiden anderen Pflegerinnen bereits eingeteilt, und Anne stellte verärgert fest, dass er die kleine Rena, die kaum praktische Erfahrungen im Umgang mit älteren Menschen hatte, für die Arbeit bei Lady MacAdleston ausgewählt hatte. Als sie protestieren wollte, erwiderte er schroff: »Sie müssen mir schon die Arbeitseinteilung überlassen, Miss Anne. Ich möchte Sie bitten, heute Vormittag den Instrumentenschrank zu säubern.«

Aha, dachte Anne wütend, das ist die Strafe für die Abfuhr von gestern Abend. Die Rache des kleinen Mannes! Na warte, ich kann auch anders. Aber bevor sie überlegen konnte, wie sie die Arbeitseinteilung des Arztes umgehen könnte, kam die junge Rena zurück. »Die Miss wollte nicht, dass ich mich um sie kümmere, erklärte sie weinend. Sie hat mich wieder weggeschickt. Ich solle mir stattdessen auf ihre Kosten ein Frühstück im Restaurant bestellen. Ich sei doch noch viel zu unerfahren für diese Tätigkeit.«

Anne konnte ein lautes Lachen gerade noch unterdrücken. Die Rena sieht aber auch wirklich wie ein Schulmädchen aus, dachte sie. Trotz der weißen Kittelschürze und dem gestärkten Häubchen in den Haaren wirkt sie wie ein Mädchen von vierzehn Jahren. Wortlos drehte Anne sich um und begann den Instrumentenschrank auszuräumen.

Der Arzt, einen Augenblick sprachlos, hatte sich schnell gefasst. »Kommen Sie mit, Rena, die Sache bringe ich persönlich in Ordnung.« Beide verließen die Praxisräume, und Anne begann den Schrank zu säubern. Dummerweise bin ich auf den Arzt angewiesen, dachte sie. Immerhin ist er hier mein Vorgesetzter, aber irgendein kleiner Racheplan wird mir schon noch einfallen.

Der Schrank war in einem sehr schlechten Zustand. Die Glasplatten, auf denen die Instrumente ausgebreitet lagen, waren genau so staubig wie die Instrumente selbst, und Anne besorgte sich als Erstes eine Schüssel mit Desinfektionslauge, in die sie alle Geräte hineinlegte. Wenige Minuten später kamen Doktor Freiberg, die kleine Rena und – Anne konnte einen empörten Ausruf kaum unterdrücken – Lady Caro-line im Rollstuhl in die Praxis. Die Lady in Nachthemd und Morgenmantel, ungekämmt, ungeschminkt und mit nackten Füssen. Der Arzt persönlich schob den Rollstuhl vor sich her. Dem Assistenzarzt rief er zu: »Machen Sie den Gips fertig«, und Anne befahl er: »Richten Sie den Röntgenapparat her, ich möchte noch ein paar Aufnahmen machen.«

Als Anne die alte Dame empört ansah, zwinkerte die ihr zu und sagte laut: »Er hat mich einfach entführt. So, wie ich war.« Anne hätte am liebsten laut gelacht, sagte aber stattdessen sehr empört: »Ja, es gibt Leute, die können sich nicht in die Lage älterer Menschen hineinversetzen, vor allem nicht in die Lage wohlhabender Damen, die ein geordnetes Leben gewohnt sind. Lady MacAdleston, wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie erst einmal kämmen, es wird zu Ihrem Wohlbefinden beitragen, wenn Sie sich gepflegt wissen.«

Die alte Dame lächelte Anne an. »Sie sind eine gute Pflegerin, Anne, ich werde mir überlegen, ob ich Sie nicht überreden kann, mich in Zukunft zu begleiten.«

»Es wäre mir ein Vergnügen, Lady MacAdleston.« Die beiden Frauen zwinkerten sich zu, wohl wissend, dass der Arzt jedes ihrer Worte gehört hatte.

*

Nachdem Doktor Freiberg den Arm von Lady Caroline gerichtet, eingegipst und verbunden hatte, bekam sie noch ein leichtes Schmerzmittel, und als er dann Rena befahl, die Lady in ihre Suite zurückzufahren und ihr beim Ankleiden zu helfen, protestierte die Dame ganz energisch. »Doktor, ich wünsche von Miss Anne betreut zu werden. Sollte das nicht möglich sein, sehe ich mich gezwungen, den Kapitän von Ihrem unsensiblen Verhalten zu unterrichten. Ich habe Anspruch darauf, von einer erfahrenen Pflegerin betreut zu werden, und ich bestehe darauf.«

Doktor Freiberg, dem man die Verärgerung deutlich ansah, entgegnete: »Madame, Sie müssen es schon mir überlassen, wen ich für welche Aufgaben einteile. Heute ist Schwester Rena für die Betreuung pflegebedürftiger Passagiere an der Reihe. Ich kann keine Ausnahmen machen.«

»Dann bitte ich die junge Dame, mich zum Kapitän zu fahren, und dann wollen wir mal sehen, wie der Kapitän mit den Wünschen sehr gut zahlender Passagiere umgeht. Sonst werde ich in New York das Schiff wechseln. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihre Reederei über so einen Wechsel, der natürlich auch in der Presse nicht unerwähnt bleiben wird, nicht sehr erfreut sein dürfte.«

Doktor Freiberg, hochrot im Gesicht, sah die Lady verblüfft an. »Aber Madame, das Ganze ist doch ein Missverständnis. Wenn Sie darauf bestehen, von Miss Anne betreut zu werden, dann werde ich das auch berücksichtigen. Nur im Augenblick, und ich bitte um Ihr Verständnis, ist es mir nicht möglich, meinen Arbeitsplan zu ändern. Bitte erlauben Sie, dass Schwester Rena Sie zurückbringt, Miss Anne kommt dann zu Ihnen, sobald es ihre Zeit erlaubt.«

»Wann wird das sein?«

»In einer Stunde etwa.«

»Gut. Damit Sie Ihr Gesicht nicht verlieren« – sie sagte das laut und deutlich –, »werde ich jetzt in meine Suite zurückkehren und gemeinsam mit Schwester Rena ein Frühstück für uns bestellen. Wir werden zusammen essen, und sobald Miss Anne bei uns eintrifft, steht Schwester Rena wieder zu Ihrer Verfügung.«

»Aber verehrte Lady MacAdleston, Schwester Rena soll nicht mit Ihnen frühstücken, sie soll Ihnen im Bad und beim Ankleiden helfen.«

»Und genau das will ich nicht. Ich habe Hunger, ich will jetzt etwas essen, und dabei kann mir die Schwester behilflich sein. Oder haben Sie sich schon einmal ein Brötchen mit der linken Hand geschmiert oder ein weiches Ei einhändig aufgeschlagen und ausgelöffelt? Und wenn wir schon einmal dabei sind, dann soll Schwester Rena auch etwas von dem Frühstücksgenuss haben. Und jetzt schieben Sie mich in meine Kabine, bevor ich richtig wütend werde.«

*

Rena drehte den Rollstuhl um und schob ihn hinaus auf den Gang, Anne bückte sich tief hinein in den Instrumentenschrank, um ihr Lachen zu verstecken, und Doktor Freiberg verließ das Hospital mit versteinertem Gesicht.

»Meine Güte«, seufzte der Assistenzarzt, »was für resolute Passagiere es gibt.«

»Ich sag’s dir, mit Geld kannste sogar die Reiseroute eines Schiffes ändern«, lachte Mona, die zweite Schwester. »Mit dem Chef ist nicht gut Kirschen essen, wenn es nicht nach seinem Willen geht. Warum hat er bloß die arme Rena für die Betreuung dieser resoluten alten Dame eingesetzt. Rena hatte doch noch nie so eine Aufgabe gehabt, sie hat doch immer hier gearbeitet.«

»Weiß ich auch nicht«, versicherte der Arzt. »Aber der Chef ist bereits den ganzen Morgen schlechter Laune, das fing schon beim Meeting an. Wer weiß, was dem über die Leber gelaufen ist.«

Das war ich, dachte Anne und lächelte vor sich hin. Dann räumte sie den Instrumentenschrank wieder ein, verschloss ihn sorgfältig, damit kein Fremder an die Geräte kam, und zog ihren weißen Kittel aus. »Ich geh dann mal«, nickte sie den beiden zu. »Mein Pager ist an, wenn etwas ist, könnt ihr mich ja rufen.«