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Jens Gieseke, Andrea Bahr

Die Staatssicherheit und die Grünen

JENS GIESEKE, ANDREA BAHR

Die Staatssicherheit
und die Grünen

Zwischen SED-Westpolitik
und Ost-West-Kontakten

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Oktober 2016

eISBN 978-3-86284-359-6

Inhalt

Vorwort des Bundesvorstandes von Bündnis 90 / Die Grünen

I.

Einleitung

 

Fragestellung

 

Vorgehensweise

 

Quellenlage und Methodenprobleme

 

Zu rechtlichen Fragen der Darstellung

 

Forschungsstand

 

Danksagung

II.

Die SED, das MfS und die Grünen: Eine politische Geschichte 1979–1989

II.1.

Eine neue Partei: Störfaktor oder Bündnispartner? (1979–1983)

 

Die Grünen in der Friedensbewegung

 

Bruch der Koalition und Neuwahlen 1982/83 – Die Grünen werden wichtig

 

»Alexanderplatzaktion« und Honecker-Treffen (Mai–November 1983)

II.2.

SED-Dialogpolitik und grüne Doppelstrategie (Ende 1983 – Herbst 1987)

 

Scheitern der Friedensbewegung, Verhaftungen, scharfe Abgrenzung

 

Honeckers »Koalition der Vernunft« und die Grünen

 

DDR-Anerkennung und grüner Antirevisionismus – Die SED-Politik der positiven Stärkung 1984–1987

 

Die Aufhebung des Einreiseverbots und die Paradoxien der Dialogpolitik

 

Das MfS nach der Aufhebung der Einreisesperre

II.3.

Die Grünen im deutsch-deutschen Kommunikationsraum (1984–1987)

 

»Wir sind grüner Ast an einem grünen Baum« – Die sehr kurze Geschichte der Sektion DDR der Grünen

 

Die grünen Ost-West-Aktivisten im Netzwerk der DDR-Opposition

 

Jenseits von DDR-Freunden und Ost-West-Aktivisten – Mittelströmung, Partei-Mainstream, Basiskontakte

II.4.

Rollback und Agonie der SED-Herrschaft (1987–1989)

III.

Die geheimdienstlichen Ressourcen des MfS gegen die Grünen

III.1.

Beteiligte Diensteinheiten und ihre Zielrichtungen

 

Operative Diensteinheiten

 

Diensteinheiten für strategische Anleitung und politische Beratung

 

Auftragnehmende und exekutive Diensteinheiten

III.2.

Annäherungen an das operative Netz – Die Ressourcen der Informationsgewinnung des MfS

 

SIRA – Eine quantitative Analyse

 

Die Quellen der Hauptverwaltung A

 

Politische Schwerpunkte und Konjunkturen der Rekrutierung

 

Empfänger von Eingangsinformationen

III.3.

Fallstudien

 

Dirk Schneider (1975–1989)

 

»Dr. Zeitz« (1968–1989)

 

Doris und George Pumphrey (1983–1989)

 

Der Dritte im Bunde – »Doktor« (1988/89)

 

Klaus Croissant (1981–1989) und Brigitte Heinrich (1982–1987)

 

»Urban« – Ein Fotograf wird auf die Grünen angesetzt (1983/84)

 

Exkurs: Gert Bastian – Zur Geschichte eines Verdachts

III.4.

Das Netz der MfS-Abwehrdiensteinheiten

 

IM »Amir«

 

IM »Silvia«

 

IM »Andrea«

 

IM »Martin«

 

Der Doppelagent »Messias«

 

Das IM-Netz innerhalb der DDR

III.5.

Funkaufklärung und technische Überwachung

IV.

Die Grünen in der MfS-Berichterstattung an die Staats- und Parteiführung

IV.1.

Umfang und Empfängerkreis der Berichte

 

Zu den Informationskanälen des MfS für die Parteiführung

IV.2.

Konjunkturen der Berichterstattung zu den Grünen

 

Parteigründung und Friedensbewegung

 

Vertiefte Beobachtung nach dem Einzug in den Bundestag

 

Politikbeobachtung in einem schwieriger werdenden Umfeld

IV.3.

Jenseits von Bonn – Berichte über Oppositionskontakte und die Alternative Liste

IV.4.

Für wen interessierte sich das MfS? – Eine Personenrecherche

V.

Die Einreisepolitik des MfS gegenüber Grünen und AL-Mitgliedern

V.1.

Einreiseverbote im Umgang mit »Polit-Prominenz«

V.2.

Die mäandernde Praxis der Einreiseverbote

V.3.

Wenn Grüne einreisen …

V.4.

Resümee

VI.

»Covert action« in Spätsozialismus und Kaltem Krieg

VI.1.

Zur Theorie der »covert action«

VI.2.

Klaus Croissant und Brigitte Heinrich – Eine exemplarische Erkundung

VI.3.

HV A-Operationen in der Friedensbewegung

VI.4.

Die Dialogpolitik Honeckers, die innerparteiliche Formierung der Grünen und aktive MfS-Maßnahmen

VI.5.

Dirk Schneider als Einflussagent

VI.6.

Das MfS als imaginierter und realer Akteur – Versuch einer »operativen Kombination« 1985/86

VI.7.

Grüne und ausgereiste DDR-Oppositionelle – Die Aktion »Falle«

VII.

Ein spezielles Zielobjekt: Die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz Berlin

VIII.

Resümee

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

Personenregister

Über die Autoren

Vorwort des Bundesvorstandes von Bündnis 90/Die Grünen

von Michael Kellner, politischer Bundesgeschäftsführer

Mehr als 25 Jahre sind seit der friedlichen Revolution in der DDR vergangen. Ist die DDR nicht inzwischen ausgeforscht? Die Bundesstiftung Aufarbeitung fragt unter dem provokativen Titel »Die DDR als Chance« sogar, ob dieser Staat nach 7000 Buchtiteln nicht überforscht sei. Auch in der Debatte um die Zukunft des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen wurde die Meinung vertreten, dass gerade bezogen auf das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nichts Neues mehr zu erwarten sei.

Also doch schon – im Sinne von Karl Valentin – alles gesagt und geschrieben, aber noch nicht von allen? Die von Jens Gieseke und Andrea Bahr vorgelegte Studie gibt eine eindrucksvolle Antwort auf diese Frage. Sie meidet bewusst die Attitüde sensationeller neuer Enttarnungen und weist aus, wo sie an frühere Ausarbeitungen zu diesem Thema anknüpft. So gelingt ihr eben doch etwas Neues, nämlich ein möglichst umfassender Überblick über das Verhältnis von Stasi und Grünen. Zwangsläufig leistet sie dabei noch mehr, nämlich eine Analyse der Beziehungen der Partei Die Grünen sowohl zur Regierung als auch zur Opposition in der DDR.

Lange geisterte eine »Stasi-Fraktion« im Deutschen Bundestag durch die Medien. Deswegen fertigte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen im Auftrag des Parlamentes 2013 ein Gutachten über den tatsächlichen Einfluss des MfS auf die Abgeordneten an. Dieses Gutachten legte bei unserer Partei wegen der Spezifika einer neuen, personell rotierenden Partei nahe, eine eigene, tiefergehende Untersuchung anzustellen. Dies haben wir als unsere Verpflichtung gegenüber der Transparenz und der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte empfunden. Wir haben uns gefreut, dass mit Jens Gieseke sowohl ein ausgewiesener Experte der DDR-Forschung als auch ein Kenner grüner Strukturen und Diskussionsprozesse bereit war, diese Aufgabe zu übernehmen.

Die Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen zum Verhalten gegenüber Staat und Gesellschaft der DDR waren heftig. Die Spanne reichte von mutiger, bedingungsloser Unterstützung der Opposition bis zu bedingungsloser Unterwerfung unter die Vorgaben Ost-Berlins. Die Stasi hat versucht, Einfluss auf die Entwicklung der Grünen zu nehmen, doch sie hat es nicht geschafft. Das Gutachten zeigt bemerkenswert, in welchem Maße es innerhalb der SED und der Stasi einen Dissens zum Umgang mit den Grünen gab.

Die grüne Haltung, einerseits den Machtanspruch der SED durch direkte Unterstützung für Oppositionelle in der DDR anzugreifen, doch andererseits die grüne Bereitschaft, die westdeutschen Sonderstrukturen zur innerdeutschen Frage abzuschaffen, führte in der DDR zu einem widersprüchlichen Umgang mit den Grünen. Als einzige im Bundestag vertretene Partei hatten alle (!) Mitglieder der Grünen zwischenzeitlich Einreiseverbot in die DDR. Doch zugleich musste die Stasi vor und nach Aufhebung der Einreisesperren ohnmächtig zuschauen, wie umfangreiches Material von Grünen zwischen West und Ost geschmuggelt wurde. Zugleich wird detailliert nachgezeichnet, dass alle wichtigen Entscheidungen im Osten von der Staatsspitze getroffen wurden, d. h. in Person von Erich Honecker. Schließlich waren die Grünen als neue politische Kraft für die DDR-Oberen nicht weniger irritierend und unberechenbar als für den etablierten Politikbetrieb im Westen.

Der wachsende zeitliche Abstand ändert nichts daran, dass es sich um eines der spannendsten, aber auch kontroversesten Kapitel unserer Parteigeschichte handelt. Nicht alles dabei liest sich rühmlich, manchen bitteren Verrat findet man darin, doch die Stasi selber musste zu den Akten nehmen: »Unter großen Teilen der Parteimitglieder bestehe die Meinung, die DDR sei ein ›totalitäres System‹, das keinen Freiraum für Individualität zulasse.«

I.

Einleitung

Fragestellung

Diese Studie widmet sich dem Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) auf die Partei »Die Grünen« in den 1980er-Jahren. Der Bundesverband und die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen beauftragten die Autoren mit diesem Gutachten, nachdem der Bericht des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) an den Deutschen Bundestag zu möglichen Verbindungen oder Anwerbungen von Abgeordneten des westdeutschen Parlaments als Spione und Agenten der DDR veröffentlicht worden war. Die Grünen waren erst seit 1983 im Bundestag vertreten und stellten nur eine kleine Fraktion, deren Umfeld nicht Gegenstand des BStU-Berichts war. Deshalb sahen sich die Führungsgremien von Bündnis 90/Die Grünen veranlasst, noch einmal eine breiter angelegte Erkundung des gesamten Feldes in Auftrag zu geben; nachdem bereits in den frühen neunziger Jahren Armin Mitter, Stefan Wolle und Carlo Jordan wichtige erste Befunde für die Partei aus dem gerade geöffneten Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde erarbeitet hatten und in den folgenden Jahren einige weitere Zeitzeugen und Forscher Erkundungen auf diesem Feld angestellt hatten.1

Wir haben das Anliegen zunächst mit einer gewissen Skepsis entgegengenommen: Erwartete die Partei eine Welle neuer Enthüllungen über Stasi-Agenten in den Reihen der Grünen, oder – umgekehrt – eine Reinwaschung grüner Politik in den achtziger Jahren von dem Vorwurf einer zu großen Nähe zum Kommunismus sowjetischer Prägung? Oder ging es gar um den Versuch, die zeitgenössischen Konflikte in der grünen Deutschlandpolitik oder die Gegensätze zwischen »Realos« und »Fundis« (die mittlerweile zu erheblichen Teilen zur PDS/Linkspartei abgewandert waren) nun mit dem Arsenal der Geschichtswissenschaft nachträglich noch einmal auszutragen?

Nach unserer Erfahrung war – entgegen einer gelegentlich immer noch anzutreffenden Erwartungshaltung in der Öffentlichkeit – das Potenzial für tiefgreifende Enthüllungen aus dem Archiv der Staatssicherheit nach nunmehr 25 Jahren intensivster Nutzung weitgehend erschöpft. Auch auf dem Feld der Westarbeit des MfS war nach mehreren Wellen der Strafverfolgung, einer Vielzahl von journalistischen Aktenrecherchen sowie ersten wissenschaftlichen Studien ein gewisser Sättigungsgrad erreicht, was die Entdeckung von Fällen anbelangt, in denen die MfS-Überlieferung eine Agententätigkeit dokumentiert.

Ein zeithistorisch angemessenes Vorgehen kann sich also nicht auf das »IM-Zählen« und die Ergründung von Einzelfällen beschränken. Wir standen vor der Aufgabe, die MfS-Tätigkeit gegen die Grünen stärker in die Entwicklungsgeschichte der Staatssicherheit und in die politischen Rahmenbedingungen der deutsch-deutschen Beziehungen im letzten Jahrzehnt der Existenz des SED-Regimes insgesamt einzubetten. Darüber hinaus galt es zu bewerten, wie tief der DDR-Geheimdienst in die Reihen der Grünen eingedrungen ist, welchen Nutzen seine Erkundungen für die DDR-Politik brachten und wo er den Kurs der Partei manipulieren konnte. Dahinter steht also eine Einordnung dieser speziellen Beziehung in die Politik- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik der achtziger Jahre und ihre deutsch-deutschen Bezüge, die sich mittlerweile von einer Fortschreibung der zeitgenössischen Deutungskonflikte zu einer stärker einordnenden Historisierung fortentwickelt hat.2 In diesem Kontext hat sich die Historiografie auch intensiver mit dem linken und grün-alternativen Milieu sowie der Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre in der politischen Landschaft Westdeutschlands befasst.3

Die Studie konzentriert sich auf die Aktivitäten des Bundesverbandes der Grünen (Vorstand, Bundesdelegiertenkonferenzen, Bundeshauptausschuss, einschlägige Bundesarbeitsgemeinschaften) seit der Parteigründung sowie auf die Arbeit der Bundestagsfraktionen von 1983 bis 1990. Die Landes- und Kreisverbände (oder gar die gesamte Mitgliedschaft) konnten im Rahmen dieser Studie nicht einer flächendeckenden Überprüfung unterzogen werden. Konkrete Anhaltspunkte und Schwerpunkte aus diesen mittleren und unteren Ebenen sind aber in den jeweiligen Untersuchungsabschnitten behandelt. Eine besondere Stellung nimmt schließlich die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) in West-Berlin ein. Die Staatssicherheit bearbeitete sie weit intensiver als jeden westdeutschen Landesverband der Grünen und in einigen Hinsichten selbst als die Bundesebene der Partei. Ihr ist deshalb ein eigener Abschnitt gewidmet, in dem allerdings keine erschöpfende Analyse der AL vorgenommen werden konnte, sondern die Sonderstellung anhand einiger exemplarischer Vorgänge beleuchtet wird. Gerade hier liegt das Feld für weiterführende Forschungen im Kontext des besonderen »Biotops« West-Berlin und seines Umlandes hinter der Mauer offen.

Vorgehensweise

Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte des MfS stehen unter einem methodischen Paradox:

Es liegt nahe, die Frage nach der Wirkungsmacht des Geheimdienstes durch einen Blick auf seinen Apparat und dessen Tätigkeit zu beantworten. Dazu verleiten auch die Aktenberge und ihre Geheimnisse. Tatsächlich aber war die Wirkung oder Nichtwirkung mindestens ebenso stark abhängig von politischen Rahmenbedingungen, denn das MfS war oft nicht der wichtigste und schon gar kein autonomer Akteur. Bereits die bloße Entscheidung des Geheimdienstes, sich überhaupt mit einer westdeutschen Partei wie den Grünen zu befassen, beruhte auf politischen Vorannahmen, die er mit der SED-Parteiführung teilte, und Aufträgen, die er von dieser erhielt. Unter den Bedingungen der achtziger Jahre, zumal auf einem Feld, das extrem öffentlichkeitswirksam und relevant für die deutsch-deutschen Beziehungen war, hatte sich das MfS zudem ständig auch im Detail über die politischen Maßgaben und die daraus resultierenden nachrichtendienstlichen und geheimpolizeilichen Schritte mit der Parteiführung abzustimmen. Fragen des deutsch-deutschen Verhältnisses waren in der DDR »Chefsache«, und deshalb gab die Linie in aller Regel Erich Honecker persönlich oder jemand aus seinem engsten Umfeld vor.

Die Untersuchung beginnt deshalb mit einer politischen Geschichte der MfS-Strategien und daraus resultierenden Aktivitäten (Kapitel II) in Bezug auf die Grünen. Und die Politik der DDR war bei näherem Hinsehen ausgesprochen wechselvoll und in sich widersprüchlich. Sie hatte ja auch die Ziele der staatlichen Anerkennung, der ökonomischen Stabilisierung durch westliche Unterstützung oder der Bündnispolitik in der westdeutschen Linken im Blick. Aus dieser Politik ergaben sich immer wieder Spannungen mit den hergebrachten Maximen der Staatssicherheit, die dem Auftrag folgten, die Sicherheit der DDR durch die Androhung oder tatsächliche Anwendung von Repression zu garantieren. Es geht also darum, die spezifische Rolle des MfS nicht isoliert, sondern im Akteursgeflecht der SED-Außen- und -Innenpolitik zu analysieren.

Hierzu gehört auch eine Analyse der Akteure auf westlicher Seite und ihrer Einschätzung durch SED und MfS. Ziel dieser Studie ist es nicht, eine weitere Abhandlung über die gut untersuchte grüne Deutschlandpolitik beizusteuern oder gar eine »Schiedsrichterrolle« in den erbitterten retrospektiven Deutungskämpfen darum einzunehmen. Gleichwohl lässt sich das Handeln der DDR-Institutionen ohne einen Blick auf die inneren Strömungen der Grünen nicht verstehen.

Die Politik der DDR gegenüber der Bundesrepublik und damit auch den Grünen durchlief im Laufe der achtziger Jahre mehrere Phasen und war generell durch eine schrittweise Einschränkung der Handlungsoptionen der SED geprägt: Die erste Phase erstreckte sich von der Gründung der Grünen bis zum Scheitern der Politik der DDR (und der Sowjetunion) gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses im November 1983. Die zweite Phase war von der sogenannten Dialogpolitik Honeckers gegenüber den westdeutschen Parteien geprägt, wobei Teile der Grünen aufgrund ihrer »interventionistischen« Ambitionen und engen Kontakte in die DDR einen ständigen Störfaktor darstellten. In der dritten Phase, nach dem Honecker-Besuch im September 1987 in Bonn sowie unter dem Druck der Reformpolitik in der Sowjetunion und der inneren Systemkrise, erlebte die SED einen akuten Verlust an Handlungsoptionen.

Auf der Grundlage einer solchen politischen Geschichte der MfS-Strategien wird in den folgenden Kapiteln das geheimdienstliche Handeln untersucht. Dabei werden die Handlungsebenen wie Rekrutierung und Informantentätigkeit, Auswertung und Politikberatung sowie aktive Einflussnahme unterschieden.

Zunächst werden die arbeitsteiligen Strukturen innerhalb des MfS, die sich vornehmlich mit den Grünen befassten, kurz skizziert und die personellen und technischen Ressourcen genauer beleuchtet (Kapitel III): Dies betrifft das Informantennetz der Auslandsspionage und der Abwehrdiensteinheiten sowie die Strategien und Ressourcen der technischen Spionage, insbesondere das Abhören von Telefonverbindungen. In diesem Kontext werden das Gesamtnetz und seine Entwicklung bewertet und wichtige Informationsquellen des MfS porträtiert.

Im nächsten Schritt wird die Informationsfunktion des Geheimdienstes gegenüber der politischen Führung betrachtet, also jene Berichte, die an Erich Honecker sowie die außenpolitischen Steuerungsinstanzen geliefert wurden (Kapitel IV). Bei dieser »finished intelligence«, also den von Hinweisen auf die Quellen bereinigten und analytisch zusammengefassten Spionageergebnissen für die »Endabnehmer«, geht es zum einen um die Konjunkturen der Berichterstattung über die achtziger Jahre hinweg, zum anderen um eine Einschätzung der Interpretationsmuster, Schwerpunkte und Leerstellen in der MfS-Wahrnehmung der Grünen als politischem Akteur. Dabei wird der Vergleich zu anderen Informationsressourcen der DDR gezogen, aber auch zu der westlichen Medienberichterstattung über die Partei. Hier wird auch beleuchtet, welche Parteiebenen und -gliederungen sowie welchen grünen Politikerinnen und Politikern das Interesse des MfS galt.

Mit einem eigenen Abschnitt (Kapitel V) wird dann das wichtigste Instrument der SED-Politik im Umgang mit grünen Politikerinnen und Politikern analysiert, das auch zeitgenössisch im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stand – nämlich die Einreisepolitik und -praxis. Diese wurden in einer Serie von Entscheidungen der MfS-Führung und Honeckers persönlich letztlich durch die für die Passkontrollen zuständige Linie VI sowie die für Observationen zuständige Linie VIII konzipiert und umgesetzt. Wie kein zweiter Faktor bestimmte diese Genehmigungspolitik die Handlungsmöglichkeiten von Grünen gegenüber den DDR-Akteuren und insbesondere in Hinblick auf die Kontakte zu Oppositionellen und Basisgruppen.

Das schwierigste und in seiner Wirkung potenziell brisanteste Feld folgt in Kapitel VI: die Frage nach der »covert action«, also der verdeckten Einflussnahme des MfS auf grüne Politik. Da die Akten einiger Topquellen fehlen, bei denen es sich aufdrängt, dass sie nicht nur Informationen sammelten, sondern als Einflussagenten auch direkte politische Aufträge des MfS erfüllten, bleiben hier besonders empfindliche »weiße Flecken« zu beklagen. Gleichwohl wird versucht, zu einer begründeten Einschätzung über die Möglichkeiten und Grenzen dieses speziellen Handlungsfeldes zu kommen.

Schließlich wird die Darstellung mit dem erwähnten Überblick über die besondere Rolle der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz in West-Berlin abgeschlossen (Kapitel VII). Die AL genoss stets besondere Aufmerksamkeit des MfS, insbesondere von den auf die innere Überwachung und Verfolgung in der DDR gerichteten Dienstzweigen.

Quellenlage und Methodenprobleme

Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten wissenschaftlicher Redlichkeit, zu Beginn einer solchen Studie Grenzen und Lücken der Materialüberlieferung darzulegen. Deswegen sei auch hier hervorgehoben, was für alle Untersuchungen zur Westarbeit der DDR-Staatssicherheit gilt: Der Quellenbestand der Hauptverwaltung A (HV A) ist bis auf eine bescheidene Zahl von Akten verloren. Die wichtigste Diensteinheit in Bezug auf die Grünen, die HV A-Abteilung II (Politische Organisationen etc. der Bundesrepublik), sowie die nachgeordneten Abteilungen XV der Bezirksverwaltungen, insbesondere der Bezirksverwaltung Berlin, haben nur einen minimalen Teil ihrer Unterlagen hinterlassen. Hier waren die wichtigsten Agenten und Spione des MfS angesiedelt, und hier wurden die Vorgänge gegen prominente Grüne geführt. Die Tatsache, dass diese Vorgänge nicht überliefert sind, hat massive Konsequenzen: Weder zu diesen Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) noch zu den dort »bearbeiteten« Zielobjekten und -personen lassen sich auch nur annähernd erschöpfende Aussagen treffen. Eine wesentliche Ausnahme bilden die zu mehr als der Hälfte überlieferten HV A-Informationsberichte an die Parteiführung, die auch einige Berichte zu den Grünen enthalten.

Einen gewissen Ausgleich ermöglicht der Bestand der Linie Auslandsspionage (Abteilung XV) der Bezirksverwaltung Leipzig (der als einziger vom örtlichen Bürgerkomitee vor der Ablieferung an das Auflösungskommando der HV A in Ost-Berlin bewahrt wurde). Zusammen mit Bruchstücken aus anderen Beständen lassen diese Akten einige Schlüsse auf den Wandel der generellen Ausrichtung der Auslandsspionage zu.

Hinzu kommen die bekannten und oftmals schlagzeilenträchtigen Fragmente der Auslandsspionage: Die Informationsdatenbank SIRA (System der Informationsrecherche der Aufklärung) liefert für die Zeit von 1969 bis 1987 einen detaillierten Überblick über alle eingehenden Informationen und daraus erstellten Berichte. Die von mehreren Geheimdiensten gefilterte und unter dem Decknamen »Rosenholz« des Bundesamtes für Verfassungsschutz bekannt gewordene Verfilmung der HV A-Personen- und Vorgangskartei (F 16/F 22) mit Stand 1988 ermöglicht es, Verbindungen zwischen den in SIRA verzeichneten Registriernummern und »Klarnamen« von angeworbenen Agenten oder anderweitig als Informationslieferanten kontaktierten Personen herzustellen.

Die ausgewerteten Quellen erlauben – trotz der benannten Lücken – einen Erkenntnisgewinn in Hinblick auf die sonst strikt geheim gehaltenen »Quellen und Methoden« des MfS, der über alles hinausgeht, was man über Spionage im Kalten Krieg weiß. Die Datenbanken und Informationsberichte ermöglichen zwar keine Auskunft über Motive und Absichten individueller Agenten und Kontaktpersonen sowie nur eingeschränkte Einblicke in den Charakter ihrer (wissentlichen oder unwissentlichen) Zuarbeit. Aber sie ergeben ein relativ dichtes Bild von den Konjunkturen der Werbungserfolge, der politischen Zusammensetzung der Zuträger und den Wissensständen und Sichtweisen der HV A in Bezug auf die Grünen (wie auch aller anderen Akteure des bundesrepublikanischen Politikbetriebs).

Auch im Aktenbestand der Hauptabteilung III (Funkaufklärung), der sogenannten Abwehrdiensteinheiten, hier insbesondere der Linien XX und XXII, sowie der Linien VI (Grenzkontrollen, Tourismus) und VIII (Observationen, Ermittlungen) gibt es Lücken, die vor allem dem Umstand geschuldet sind, dass diese Diensteinheiten im Herbst 1989 bemüht waren, die Unterlagen aus den unmittelbar zurückliegenden Jahren verschwinden zu lassen. Trotzdem erweisen sich insbesondere die Akten der Linie XX des MfS als extrem materialreich. Die Linie XX war unter anderem auf die Oppositionsgruppen in der DDR fokussiert und deckte somit ein wichtiges Handlungsfeld grüner Kontakte in die DDR ab. Allein die Sachakten (Sachstandsberichte, zusammenfassende Analysen, Ad-Hoc-Meldungen, interner Schriftverkehr etc.) enthalten Hunderte von Meldungen zu den Kontakten von Grünen in die DDR.

Ebenfalls ergiebig sind die Akten der Linie XXII, die nominell für »Terrorabwehr« zuständig war, tatsächlich aber das gesamte Feld des westdeutschen (und internationalen) Linksradikalismus und seine personellen und organisatorischen Ausläufer ins grün-alternative Milieu der achtziger Jahre im Blick hatte, bis hin etwa zur Redaktion der tageszeitung. Diese Überlieferung hat aus mehreren Gründen herausgehobene Bedeutung: Zum einen, weil ein erheblicher Teil grüner Politikerinnen und Politiker aus der K-Gruppenszene der siebziger Jahre stammte, in einigen Fällen auch direkt aus dem (früheren) Umfeld des bundesrepublikanischen Linksterrorismus; zum anderen, weil die Linie XXII ihr Handlungsfeld, zumindest für diesen speziellen gesellschaftlichen Ausschnitt, originär im »Operationsgebiet« begriff und hier ein relativ hoher Überlieferungsgrad besteht, der auch viele Meldungen aus der HV A einschließt. Hier ergeben sich also zumindest punktuell tiefe Einblicke in die Ziele, Einflussmöglichkeiten und Arbeitstechniken der Staatssicherheit.

Einen weiteren wichtigen, geradezu überbordenden Aktenbestand liefert die Linie VI des MfS. Sie hatte in Bezug auf die Grünen den Charakter einer »auftragnehmenden« Diensteinheit, die die Anweisungen der Ministeriums- und Parteispitze sowie der operativen Diensteinheiten in Hinblick auf Ein- und Durchreisen umsetzte. Aufgrund des Stellenwerts der Einreisepolitik gegenüber den Grünen agierte die Linie VI allerdings in einem eminent wichtigen Handlungsraum. Dies gilt ebenso für die Linie VIII, die immer dann zum Zuge kam, wenn es Grünen gewährt wurde, das Gebiet der DDR zu betreten und sich dort zu bewegen, sei es zu touristischen Ausflügen, sei es zu Treffen mit DDR-Oppositionellen, sei es zu Gesprächen mit offiziellen Repräsentanten der DDR. Und schließlich spielte in diesem Kontext die Funkaufklärung (Linie III) eine wichtige Rolle, weil dort Telefongespräche von den Abhörstandorten des MfS aufgefangen und in vielen Hundert Mitschriften fixiert wurden. Dies betraf alle Gespräche über die Richtfunkstrecken zwischen dem Bundesgebiet und West-Berlin, aber auch einen Teil der im Großraum Bonn geführten Telefonate, die von der Ständigen Vertretung der DDR und den anderen Horchposten in Bonn, Köln und Düsseldorf aus belauscht wurden.

Zusätzlich kompliziert wird die Quellenlage dadurch, dass auch der hochgradig geheimniskrämerische Politikstil der SED-Parteispitze zu erheblichen Lücken in der Überlieferung zu ihren Entscheidungsprozessen geführt hat. Hier haben die Archivare des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee (ZK) der SED gründlich gefiltert. Schon zuvor hat Erich Honecker selbst Akten vernichten lassen. Dies betraf die deutsch-deutsche Sonderpolitik der achtziger Jahre: Nach der Absetzung des zuständigen Abteilungsleiters bzw. ZK-Sekretärs Herbert Häber hat Honecker wesentliche Teile der von Häber erstellten, ausführlichen Gesprächsnotizen mit Bonner Gesprächspartnern vernichten lassen. Dank aufwendiger Recherchen haben Historiker viele Dokumente hierzu mittlerweile entdeckt und Wesentliches als Editionen publiziert.4 Aber auch in Bezug auf die Grünen bleiben hier Fragen offen. So finden sich, um das wichtigste Feld herauszugreifen, so gut wie keine Belege für die Gespräche zwischen Generalsekretär Erich Honecker und Minister Erich Mielke, obwohl ganz offenkundig ist, dass sie alle wesentlichen Entscheidungen zum Umgang mit den Grünen im direkten Austausch getroffen haben. Noch viel mehr gilt dies für die sowjetische Überlieferung über die Wahrnehmung der Grünen, die an einigen Punkten außerordentlich wichtig für das Verhalten der DDR und des MfS gewesen sein muss. Dies betrifft die Akten der internationalen Abteilung des KPdSU-Zentralkomitees und natürlich der Ersten Hauptverwaltung des KGB selbst.

Neben den Lücken in der MfS- und der SED-Überlieferung gehört es zu den empfindlichen Leerstellen der Quellenlandschaft, dass die Aktivitäten westlicher Geheimdienste so gut wie gar nicht mit Archivmaterial ergründet werden können. Es ist davon auszugehen, dass westliche Geheimdienste sich intensiv mit den Grünen beschäftigten und bei ihnen auch Informanten führten. Konkret sichtbar werden diese Aktivitäten, wo das MfS eine Doppelagententätigkeit der von ihm angeworbenen Informanten feststellte oder sogar initiiert hatte. Die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder waren, das ist aus verschiedenen zeitgenössischen Sachverhalten erkennbar, intensiv gegen die Grünen aktiv, weil diese – etwa im Rahmen der Friedensbewegung – mit politischen Kräften zusammenarbeiteten, die als »linksextremistisch« eingestuft worden waren, oder weil sie selbst als Träger einer verfassungsfeindlichen Programmatik galten. So war etwa die für unser Thema besonders wichtige Alternative Liste in West-Berlin mindestens bis zu ihrem Eintritt in den rot-grünen Senat 1989 der Ausforschung durch das dortige Landesamt ausgesetzt.5 Inwiefern in diesem Zusammenhang der Verfassungsschutz und die Strafverfolgungsbehörden auch Erkenntnisse über die Aktivitäten des MfS und etwaige Verbindungen von grünen Aktivisten zu diesem gesammelt haben, muss allerdings mit wenigen Ausnahmen offen bleiben.

Über die Ausforschung durch andere westliche Geheimdienste kann man nur mutmaßen.

Wie der NSA-Skandal in jüngerer Zeit wieder in Erinnerung rief, kann man davon ausgehen, dass US-Geheimdienste alle »anti-amerikanischen« Aktivitäten schon damals intensiv ausforschten. Allerdings ist diese Überwachung nur in Umrissen nachzuvollziehen.6 Mit dieser Lücke muss die historiografische Bearbeitung des Themas leben. Ebenso wichtig wie die tatsächlichen Vorgänge der Ausforschung auf diesem Gebiet war ihr Stellenwert auf der Ebene des Diskurses innerhalb der Grünen und der linken Szene der Bundesrepublik. Dort gehörte die Unterstellung oder Mutmaßung, hinter diesem oder jenem Vorgang stecke »die CIA«, zum ständigen rhetorischen Inventar. Es ist deshalb nicht überraschend, dass uns ein ehemaliger führender Parteifunktionär die öffentliche Verwendung seiner Stasi-Unterlagen mit der Begründung untersagte, dass von einem »wissenschaftlichen Gutachten erst dann die Rede sein« könne, »wenn die Akten des bundesdeutschen Geheimdienstes ebenfalls untersucht würden«.7 Der Vorwurf, »CIA-Agent« zu sein, spielte natürlich auch für die DDR-Staatssicherheit und ihre Bonner oder West-Berliner Konfidenten in Hinblick auf »feindlich-negative« führende Grüne eine Rolle. Solche Mutmaßungen waren eine wichtige Legitimation im Feindbilddenken des MfS, obwohl sie in aller Regel nicht mit sachlicher Substanz unterfüttert werden konnten.

Lücken in der Überlieferung sind in der Geschichtswissenschaft normal. In der Beschäftigung mit dem Gegenstand dieser Studie hat sich allerdings die geradezu überbordende Fülle an Material als mindestens ebenso großes Methodenproblem entpuppt, denn als Forscher möchte man sich nicht unwillkürlich zum Gefangenen dieser Unwuchten der MfS-Überlieferung machen. Die Höhe der Aktenberge drängt den Analytiker unwillkürlich zur Schwerpunktsetzung. Der Wust an MfS-Unterlagen verleitet dazu, deren Sichtweise unkritisch zu übernehmen und den Blick für den Entstehungszusammenhang in einer Nachrichtendienst- bzw. Geheimpolizeibürokratie zu verlieren. Die folgende Untersuchung versucht, die notwendige quellenkritische Distanz herzustellen und sich von eingeschliffenen Denkkategorien der »Stasiologie« so gut es geht zu lösen, sofern sie offenkundig an Engführungen und Kurzschlüssen leiden.

In aller Regel verbergen sich die Absichten und Prioritäten der Geheimpolizisten und -agenten, die gegen Grüne operierten, hinter dem Modus einer entpersönlichten, auf hierarchische Konformität getrimmten Sprache und Darstellungsweise. Dies macht es unmöglich, zu erkennen, ob etwa ein leitender Offizier über eine aus dem Büro Honeckers eintreffende Weisung froh oder unfroh war, ob er sie befolgt hat, aber lieber hintertrieben hätte, was er von seinen grünen Beobachtungsobjekten hielt und was er tat, um seine Präferenzen in die Praxis umzusetzen. Es ist gleichwohl notwendig, diese Handlungskalküle bestimmter Diensteinheiten und ihrer Mitarbeiter, Agentenführer usw. bis ins Detail zu rekonstruieren, um die einzelnen Papiere aus den höheren oder niederen Hierarchiestufen zu verstehen und einordnen zu können.

Hinzu kommt, dass das MfS alles tat, um Niederlagen, Fehlschläge oder Zweifel an der Strategie im Umgang mit westdeutschen Politikakteuren zu kaschieren. Dies verleitet uns heute, die Erfolgsrhetorik für bare Münze zu nehmen, obgleich doch gerade in der hier behandelten Phase die DDR und ihr Gewaltapparat zunehmend in Schwierigkeiten gerieten. Umso wichtiger ist es, zwischen den Zeilen zu lesen und aus anderen Quellen bekannte Fakten heranzuziehen. Eine solche kritische Methodik der Quellenkunde steckt bis heute in den Kinderschuhen, ist allerdings kürzlich für einen Teilbestand, die Telefonabhörprotokolle der Linie III (Funkaufklärung) und der Abteilung 26 (Telefonkontrolle) des MfS, die auch für diese Studie von immenser Bedeutung waren, erstmals systematisch und beispielgebend angewandt worden.8

Besonders relevant ist die Quellenkritik in Hinblick auf die scheinbar eindeutig zu beantwortende Frage, ob jemand für das MfS im Geheimen tätig war und was das konkret bedeutete. Zu Personen, die von der HV A als »Inoffizielle Mitarbeiter« geführt wurden, gibt es in der Regel keine Personal- und Arbeitsakten. Und selbst wenn, gibt es nur wenig Möglichkeiten, sich ein auf alternativen Quellen beruhendes eigenständiges Gesamtbild zu machen. Seit 1990 hat sich aber eine Interpretationspraxis herausgebildet, die Erfordernissen der Strafverfolgung, der öffentlichen Verurteilung oder der Entscheidung über eine Entlassung entsprach. Es ging darum, eine klare Aussage nach dem Muster »Die Person X war IM« zu gewinnen und darauf ein politisches, strafrechtliches oder moralisches Urteil zu bauen. Diese Praxis ist historiografisch unzulänglich und wird weder den konkreten Einzelfällen noch dem Wirken der Staatssicherheit insgesamt gerecht. Kein Mensch ist nur IM. Eigentlich notwendig wäre eine umfassende Bewertung und Typisierung von Formen des Kontakts und der Kooperation mit der Staatssicherheit als Teil des politischen und persönlichen Gesamtverhaltens der als IM tätigen Personen.9 Die geheimdienstbürokratische Kategorisierung, auf die die »Stasi-Forschung« so viel Wert legt, lässt für sich genommen wenige Rückschlüsse zu.

Was hier versucht wird, ist sich auch sprachlich von dem Stasi-eigenen Begriff »Inoffizieller Mitarbeiter« zu lösen, der eine Gleichstellung mit den hauptamtlichen Mitarbeitern suggeriert und eine Einheitlichkeit des Verhaltens nach Richtlinienkategorien unterstellt, die von der Vielfalt der tatsächlichen Verhaltensweisen wenig erkennen lässt. Hier werden deshalb bevorzugt Begriffe verwendet, die dem tatsächlichen Charakter der Kooperation gerechter werden, wie Informant, Agent oder auch Gesprächspartner, weil wir uns die MfS-eigenen Kategorisierungen nicht unwillkürlich zu eigen machen wollen.

Mit einem solchen Vorgehen gewinnt man eine gewisse Souveränität gegenüber dem Risiko, die Weltsicht des MfS unabsichtlich und mit umgekehrten Vorzeichen zu reproduzieren, indem man überall Einblick, Macht und Einfluss der Geheimpolizei zu erkennen meint. Der Preis dafür ist, dass sich die Aufstellung von Listen aller »West-IM« bei den Grünen oder die Schlussfolgerung, weil jemand auf einer Karteikarte als »IM« verzeichnet sei, müsse er auch stets und vorrangig die Interessen des MfS innerhalb der Grünen vertreten haben, als unzulässige Kurzschlüsse verbieten.

Unter methodischen Gesichtspunkten ist schließlich auf die Restriktionen hinzuweisen, die sich aus der Praxis der Stasi-Unterlagen-Behörde in Hinblick auf die Recherche in Findmitteln ergeben. So war es uns wie allen externen Forschern nicht möglich, selbst im Sachaktenerschließungsprogramm der Behörde (SAE) nach Stichworten zu recherchieren oder systematisch die Bestandsverzeichnisse einschlägiger Diensteinheiten, etwa der Abteilung 5 der Hauptabteilung XX, zu prüfen. Hinzu kommt, dass dieses SAE-Programm erhebliche Mängel aufweist, so dass Rechercheergebnisse der Auskunftsabteilung, die sich nur darauf stützen, oft lückenhaft oder geradezu zufällig sind.10 Ein anderes wohlbekanntes Hindernis bei der Auslegung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ist die Neigung der Behörde, Einsichten in angefragte Akten (oder Teile von ihnen) zu verweigern oder vom BStU recherchierte Akten stillschweigend zurückzuhalten, weil sie vermeintlich keinen Bezug zum Antragsthema haben. Die Auskunftsabteilung des BStU hat die daraus resultierenden Lücken nach einer Erläuterung durch uns eingesehen und eine zweite Phase der Akteneinsicht eingeleitet, die sich von Umfang und Relevanz her als mindestens ebenso ertragreich erwiesen hat wie die erste. So war es uns zum Beispiel möglich, die Jahresarbeitspläne relevanter Diensteinheiten durchzuarbeiten, auch wenn sich im Ergebnis herausstellte, dass die Grünen oder die Alternative Liste dort keine oder eine untergeordnete Rolle spielten – auch dies war für uns eine wesentliche Erkenntnis. Besonders wertvoll war, dass die Behörde uns den direkten Zugang zur SIRA-Datenbank gewährt hat und damit die elektronische Auswertung anstelle eines Papierausdrucks von rund 3000 Einzelmeldungen (einschließlich dann notwendiger Anonymisierung der personenbezogenen Einträge) ermöglichte.

Wiewohl der MfS-Aktenbestand den meisten Raum in unseren Recherchen einnahm, erwiesen sich Gegenüberlieferungen mit fortschreitenden Erkundungen als immer wichtiger. Dazu gehörten Akten des SED-Parteiarchivs, des Archivs Grünes Gedächtnis (AGG), die Erinnerungen vieler Beteiligter, die einschlägigen Jahrgänge der Zeitschriften Kommune, Stachlige Argumente und Arbeiterkampf, unzählige zeitgenössische Presseartikel und vieles andere mehr. An Grenzen stießen wir bei den Auskünften bundesdeutscher Behörden. Der Generalbundesanwalt konnte uns (sehr ergiebige) Auskünfte zu Fällen von verurteilten Spionen geben, nicht jedoch zu den Ermittlungsverfahren (insbesondere nach 1990), die ohne Verurteilung, also zum Beispiel durch Strafbefehl oder per Einstellung gegen Geldbuße, endeten. Vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) und Verfassungsschutz erhielten wir keine inhaltlich weiterführenden Auskünfte.

Da Zeitgeschichte nach der berühmten Definition von Hans Rothfels durch die Zeitgenossenschaft der handelnden Akteure mit den Historikern geprägt ist, konnten wir auch mit vielen von ihnen persönlich sprechen oder telefonieren. Jeder und jede von ihnen waren erfüllt von dem Drang (und die meisten mit genügend Erfahrung in der öffentlichen Selbstdarstellung), uns »ihre Version« der Geschichte nahe zu bringen – und alle werden sie wohl auf die eine oder andere Weise enttäuscht sein, was wir daraus gemacht haben. Wir sind dankbar für alle Gespräche, weil sie uns halfen, manches Rätsel zu lösen, uns in die Atmosphäre der Zeit hineinzuversetzen und Akten zu finden, auf die wir oder die Stasi-Unterlagen-Behörde niemals gestoßen wären. Unsere Gesprächspartner waren (in alphabetischer Reihenfolge) Lukas Beckmann, Milan Horáček, Roland Jahn, Wilhelm Knabe, Christine Muscheler, Gerd Poppe, Ulrike Poppe, Lothar Probst, Gertrud Schilling, Jürgen Schnappertz, Antje Vollmer und Elisabeth Weber. Noch einige mehr haben eingewilligt, sie ohne die Anonymisierungsvorgaben des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in unserer Darstellung zu nennen, und uns schriftliche Auskünfte gegeben. Einige haben dies aus sehr unterschiedlichen Gründen abgelehnt und wir haben diesen Wunsch im Rahmen der rechtlichen Vorgaben respektiert. Der Versuch einer Kontaktaufnahme mit einem der damals maßgeblich mit den Grünen befassten MfS-Offiziere endete mit einem, immerhin aufschlussreichen, Telefonat.

Zu rechtlichen Fragen der Darstellung

Persönlichkeitsrechtliche Grenzen der Darstellung haben wir an zwei Punkten zu beachten: Personen der Zeitgeschichte haben nach geltendem Recht die Möglichkeit, der Verwendung von Informationen aus Stasi-Unterlagen zu widersprechen, sofern dies ihre Persönlichkeitsrechte verletzt (zum Beispiel bei abgehörten Telefonaten oder Informantenberichten aus ihrer Privatsphäre). Wir mussten daher an einigen Punkten auf solche Details verzichten bzw. diese anonym verwenden.11

Gravierender ist die Situation bei der Nennung von Informantentätigkeiten für das MfS. Hier gibt es einerseits ein starkes Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit, andererseits gibt es Ansprüche auf Anonymisierung zum Beispiel in solchen Fällen, wo eine Haftstrafe verbüßt wurde. Umstritten sind jene Fälle, in denen das MfS eindeutig jemanden als Informanten verzeichnete, aber aus den Akten nicht klar erkennbar ist, ob der- oder diejenige wissentlich mit dem MfS sprach. Wir haben uns bemüht, diesen Fällen durch präzise Formulierungen und gegebenenfalls durch Pseudonymisierungen gerecht zu werden.

Forschungsstand

Die Beeinflussung grüner Politik durch die DDR im Allgemeinen und die Staatssicherheit im Besonderen war praktisch seit dem Moment der Aktenöffnung Gegenstand einer intensiven öffentlichen Debatte, angefangen mit den Enttarnungen prominenter Grüner als Zuträger des MfS.12

Früh haben sich auch die Grünen selbst um wissenschaftliche Aufklärung bemüht, beginnend mit dem bereits erwähnten, unveröffentlicht gebliebenen Gutachten von Stefan Wolle, Armin Mitter und Carlo Jordan von 1994. Des Weiteren liegt eine ausführliche Dokumentation zur Deutschlandpolitik der Grünen und dem Wirken Dirk Schneiders vor sowie ein Protokoll einer Diskussionsveranstaltung, bei der viele Protagonisten ausführlich ihre Sicht der Dinge darlegten.13 Hinzu kommen die Arbeiten des früheren Bundesvorstandssprechers und Bundestagsabgeordneten Wilhelm Knabe, der erstmals Analysen von »Rosenholz« und SIRA für die Grünen durchgeführt hat und eine Fülle von grundlegenden Befunden herausarbeiten konnte, auf denen diese Studie aufbaut. Im weiteren Sinne in diesen Kontext gehört auch das Gutachten des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zum Deutschen Bundestag, in dem auch die Grünen behandelt werden.14

Ansatzpunkte für weitere Recherchen ergaben sich auch aus dem öffentlich stark debattierten Buch von Hubertus Knabe über die »unterwanderte« Bundesrepublik, das allerdings einige methodische Mängel aufweist. Die titelgebende weitreichende These hat sich deshalb in der weiteren Forschung als nicht haltbar erwiesen.15 Hier sei besonders auf die Arbeiten von Udo Baron zu den Grünen in der Friedensbewegung, von Regina Wick zur Deutschlandpolitik der Grünen sowie Saskia Richter über Petra Kelly und Gert Bastian verwiesen. Ihre Befunde waren eine wichtige Grundlage für unsere Recherchen und konnten durch diese bestätigt und erweitert werden.16