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Inhaltsverzeichnis

1. WAS IST WOHNEN?
2. WAS GIBT DEM WOHNEN DAS MAß?
3. WELCHE MAßNAHMEN FÜHREN ZUM WESENTLICHEN WOHNEN?

„Dichterisch wohnet der Mensch…“

 

Philosophische Reflexionen über das wesentliche Wohnen

von Dr. phil. Christoph Quarch

"Lebst du schon, oder wohnst du noch?" – wem ist nicht noch der Slogan im Ohr, mit dem der schwedische Möbelhersteller IKEA vor einigen Jahren das Image eines Anbieters erhöhter Lebensqualität in den Herzen und Köpfen der Kunden etablieren wollte? – Mit Erfolg offenbar, denn dass der Slogan über die Zeiten hinweg zitierbar geblieben ist, gereicht der PR-Agentur, die ihn schuf, zur Ehre. Dieser Umstand gibt zu denken. Denn der Erfolg der IKEA-Kampagne lässt vermuten, dass sie durchaus den Geist der Zeit getroffen hat: dass es tatsächlich reichlich Menschen gibt, deren Gefühlslage mit ihr angesprochen wurde – Menschen, denen Wohnen allein nicht genug ist, Menschen, die dem zustimmen, was der Slogan untergründig behauptet: Wohnen ist nicht das Wahre. Wohnen allein ist unwesentlich. Es gibt Größeres und Schöneres als das bloße Wohnen: Es gibt das Leben! Solange wir bloß wohnen, sind wir im eigentlichen Leben – wenn man so sagen darf – allem Anschein nach noch nicht angekommen.

Mit einem Wort: Der Erfolg der IKEA-Kampagne gibt Grund zu der Vermutung, es gebe in unseren Breiten ein weit verbreitetes Unbehagen bezüglich des Wohnens– eine Wohnungsnot ganz eigener Couleur: nicht eine quantitative Wohnungsnot, wie sie im Deutschland der fünfziger Jahre herrschte, sondern eine qualitative Wohnungsnot: ein Ungenügen an der Qualität des Wohnens, das sich etwa darin spiegelt, dass mehr und mehr junge Familien Deutschland verlassen und ihr Wohn-Glück im Ausland (zumeist in der Schweiz) suchen – und wer sich das nicht leisten kann, zieht wenigstens aufs Land oder träumt von einem Häuschen in der Toskana. All das gibt zu erkennen: Das Wohnen ist zum Problem geworden. Viele feinere und sensiblere Gemüter fühlen sich nicht mehr heimisch in ihren vier Wänden. Es ist, als seien ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse über das hinausgewachsen, was Wohnen in unseren Breiten zunächst und zumeist ist: über Wohnraum verfügen. So wird sich gewiss mancher finden, dem es wie Nietzsches Zarathustra geht, der schon vor 120 Jahren beim Anblick "einer Reihe neuer Häuser" klagte:

“Was bedeuten diese Häuser? Wahrlich, keine große Seele stellte sie sich hin zum

Gleichnisse! Nahm wohl ein blödes Kind sie aus seiner Spielschachtel? Dass doch

ein anderes Kind sie wieder in seine Schachtel thäte! [...] (1)„

Weiter heißt es dann, dass Zarathustra stehen geblieben sei und nachgedacht habe, bis er endlich sagte: "Es ist Alles kleiner geworden!" – Ist es das? Hat sich unser Wohnen tatsächlich verkleinert? – So sehr, dass es heute als eine Schwundstufe des Lebens erscheint? Und was heißt es, dass das Wohnen kleiner geworden ist? All dies sind Fragen, die sich nur dann beantworten lassen, wenn wir uns eine klare Vorstellung davon verschafft haben, was Wohnen überhaupt ist. Mit dieser Frage tritt die Philosophie auf den Plan – ist sie es doch, die von altersher die berüchtigten "Was ist-Fragen" stellt. Und so wollen wir philosophisch über das Wohnen meditieren – und zwar so, dass wir nach seinem Wesen fragen. Denn nur, wenn wir das Wesen des Wohnens ergründet haben, werden wir eine Perspektive dafür gewinnen, was wesentliches oder wahres Wohnen ist: was dem Wohnen sein Maß gibt, so dass wir wie Zarathustra darüber befinden können, ob ein faktisches Wohnen wesentlich oder unwesentlich, groß oder klein ist. Fragen wir also: Was ist das Wohnen?

1. WAS IST WOHNEN?

Woher soll eine Antwort kommen? Wer wäre so vermessen, dass er von sich behauptete, er verfüge über das Maß allen Wohnens? – Es ist nicht der geringste Verdienst des deutschen Philosophen Martin Heidegger, dass er mit Nachdruck darauf hingewiesen hat, woher wir einen Wink zu erhalten vermögen, wenn wir nach dem Wesen eines Phänomens fragen. In seinem Aufsatz "Bauen, Wohnen, Denken"(2) – an den wir uns im Folgenden über weite Strecken halten werden – sagt er:

"Der Zuspruch über das Wesen einer Sache kommt zu uns aus der Sprache,

vorausgesetzt, dass wir deren eigenes Wesen achten.“(3)