Mami 1850 – Ein Paradies für Kinder

Mami –1850–

Ein Paradies für Kinder

Roman von Simon Lisa

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-196-6

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Traurig blickte Katrin Bergmann aus dem Küchenfenster zu ihren auf dem Hof spielenden Kindern. Die sechsjährige Annika, die vierjährige Kim und der kleine Jonas, der gerade zwei Jahre alt geworden war, tollten ausgelassen auf dem Hof herum. Jonas hatte es dabei schwer, mit seinen kurzen Beinchen den beiden größeren Kindern zu folgen.

Ein halbes Jahr war bereits seit Kais tragischem Unfalltod vergangen – und noch immer war die Versicherung nicht bereit, eine Entschädigung zu zahlen, obwohl Kai Bergmann an dem schrecklichen Verkehrsunfall vollkommen unschuldig gewesen war. Die magere Witwen- und Halbwaisenrente, die Katrin nun bezog, reichte kaum zum Leben.

Die junge Mutter war erleichtert, daß die Kinder wieder lachen konnten; wie es in ihr selbst aussah, überspielte sie geschickt. Katrin wollte nicht, daß die Kleinen sahen, wie sehr sie ihren Mann vermißte, und daß sie sich außerdem noch große Sorgen um die Zukunft machte.

Kurz nach der Geburt des kleinen Jonas hatten Kai und Katrin den stillgelegten Bauernhof mit den vielen winzigen Zimmern und den Stallungen gepachtet. Beide wollten, daß ihre Kinder nicht in der lauten Großstadt mit seinen ungesunden Abgasen und der Hektik aufwuchsen.

Die Pacht war günstig, und nach einigen notwendigen Renovierungsarbeiten war der Hof in dem kleinen stadtnahen Dorf Mühlburg bezugsfertig gewesen.

Ohne Lust wandte sich Katrin wieder dem Abwasch zu. Die ganze Familie war so glücklich gewesen, nachdem sie sich in der ungewohnten Umgebung eingelebt hatten – und dann kam der Tag, an dem zwei verlegen wirkende Polizisten vor der Haustür standen.

»Mami, kann ich ein Glas Brause haben?« Unbemerkt war Kim eingetreten. Ihr blondes Engelshaar war zerzaust und das niedliche Gesichtchen vom Spielen an der frischen Luft erhitzt.

»Ich gebe dir lieber ein Glas Milch, das ist gesünder«, gab Katrin lächelnd zurück. Es würde nicht lange dauern, bis auch Annika und Jonas in die Küche gestürmt kämen.

Tatsächlich hatte Katrin gerade ein Glas mit Milch eingegossen, als die beiden anderen die Küchentür öffneten. Annika hatte den Kleinen fürsorglich an die Hand genommen, und geduldig füllte ihre Mutter zwei weitere Gläser.

Nachdem die fröhliche Schar das Haus wieder verlassen hatte, setzte sich Katrin an den Küchentisch und nahm zum wiederholten Mal ihr Kassenbuch hervor. Doch soviel sie auch rechnete, es wurde nicht mehr Geld, das ihr und den Kindern blieb, wenn die laufenden Kosten bezahlt waren.

Jonas brauchte unbedingt neue Schuhe und Hosen; er wuchs so schnell aus allem heraus. Und für die Mädchen mußten dringend Anoraks angeschafft werden.

Niedergeschlagen sah Katrin an sich selbst hinunter. Auch sie benötigte unbedingt neue Jeans und einige Blusen – doch wovon das alles zahlen?

Als ein Wagen auf den Hof fuhr, hob Katrin neugierig den Kopf. Die Kinder schrien aufgeregt durcheinander. Kein Zweifel, es war der Nachbarbauer Ralf Kornelius.

Gleich darauf kam Annika in die Küche gestürmt. »Onkel Ralf ist gekommen!«

Hastig versteckte Katrin das Kassenbuch wieder in der Schublade. Ralf mußte nicht unbedingt wissen, wie sehr sie sich den Kopf über ihre Finanzen zerbrach – er hatte schon genug für sie getan.

Ralf hatte sich schnell mit den Bergmanns angefreundet, sogar bei den Renovierungsarbeiten geholfen. Nach Kais Tod war er für Katrin zu einer tröstenden Stütze geworden, hatte sich um die Beisetzung und die ganze Bürokratie gekümmert.

»Hallo, Katrin.« Ralf war inzwischen eingetreten, den Kopf unter der niedrigen Tür geduckt. »Wie geht es dir?«

Sofort setzte sie ein optimistisches Lächeln auf. »Nun, ganz gut. Möchtest du eine Tasse Kaffe? Ich habe gerade welchen gekocht.«

»Da sage ich nicht nein.« Er setzte sich an den Tisch, umringt von den Kindern. »Was habt ihr denn gerade gespielt?«

»Fangen«, antwortete Kim ernsthaft. »Jonas muß uns kriegen – aber er schafft das nicht.«

Ralf lachte schallend. »Kein Wunder, er hat ja gerade erst laufen gelernt.«

Er nahm den Kleinen auf seinen Schoß. »Laß dich ja nicht von deinen großen Schwestern ärgern. Wenn du größer bist, zeigst du es ihnen aber, nicht wahr?«

Jonas gluckste und nickte verschwörerisch. Dann fragte er mit seiner niedlichen Kleinkinderstimme: »Hast du Bonbons mitgebracht?«

»Bin ich schon jemals ohne Bonbons hergekommen?« Ralf griff in die Seitentasche seiner Jacke und förderte eine Handvoll bunter Drops zutage. »Da, aber nicht darum zanken.«

Er setzte Jonas wieder ab. »Was haltet ihr davon, wenn ihr noch ein wenig draußen spielt, bevor die Sonne untergeht und es zu kühl wird?«

»Na gut.« Murrend zogen die Kinder ab, während Katrin zwei große Kaffeebecher sowie Milchkännchen und Zuckerdose auf den Küchentisch stellte.

Ralf beobachtete skeptisch die hübsche Frau, wie sie den dampfenden Kaffee in die Tassen goß. »Was ist los mit dir?«

Katrin hob erstaunt den Kopf. »Ich weiß gar nicht, was du meinst.«

»O doch, das weißt du sehr genau. Ich kenne dich lange genug, um zu wissen, wenn dich etwas bedrückt. Also, raus mit der Sprache.«

Katrin sah verlegen auf ihre Hände. Sollte sie Ralf doch von ihrer finanziellen Misere erzählen?

Ralf nahm einen Schluck Kaffee. »Denkst du gerade an Kai?«

»Ja… nein«, druckste sie herum. Dann holte sie tief Atem und fuhr fort: »Ich weiß bald nicht mehr, wovon ich alles bezahlen soll.«

»Hat sich die Versicherung noch immer nicht gemeldet?«

Katrin schüttelte heftig den Kopf. »Nein, die stellen sich doch immer auf die Hinterbeine, wenn sie zahlen sollen.«

»Schon, aber das wird denen nichts nützen. Du hast doch gehört, was der Anwalt gesagt hat: Der Unfallgegner hatte die alleinige Schuld, und deshalb muß seine Versicherung zahlen – früher oder später.«

»Mir wäre früher lieber als später«, gab Katrin tonlos zurück. »Ich warte jeden Tag auf den Briefträger, aber…«

»Katrin, ich möchte dir einen Vorschlag machen. Bitte lehne nicht von vornherein ab.«

»Nein, Ralf! Ich werde kein Geld von dir annehmen!«

»Sei doch vernünftig. Mein Hof wirft mehr ab, als ich für mich verbrauchen kann. Ich sehe nicht ein, warum mein Geld ungenutzt auf der Bank liegt, während du jeden Pfennig zehnmal umdrehen mußt.«

Katrin seufzte. »Du weißt, wie ich darüber denke. Ich werde mir weder von dir noch von jemand anderem etwas leihen.«

»Warum kannst du nicht einmal deinen Stolz vergessen?« fragte Ralf resigniert. »Ich würde dir und den Kindern so gerne helfen. Wenn du kein Geld geschenkt habe willst, nimm es als zinsloses Darlehen – und wenn die Versicherung gezahlt hat, gibst du es mir zurück.«

Katrin sprang so heftig auf, daß der Stuhl fast umgekippt wäre. »Und wenn die Versicherung trotz der Aussage des Anwaltes nicht zahlt? Dann stehe ich ewig in deiner Schuld.«

»Du redest, als wäre ich ein Fremder für dich«, gab Ralf sanft zurück. »Wir sind befreundet, hast du das vergessen? Und Freunden hilft man in der Not.«

»Mag sein.« Katrin verschränkte die Arme unter der Brust. »Aber ich will nun mal keine Almosen annehmen.«

Ralf trank seinen restlichen Kaffee aus und stand auf. »Wie du meinst. Wenn du dich anders entscheiden solltest, lasse es mich bitte wissen.«

Katrin fuhr sich durch das dichte Haar. »Entschuldige meine heftigen Worte. Mir ist doch klar, daß du es gut meinst.«

»Wenigstens das hast du begriffen.« Um Ralfs Mund spielte ein nachsichtiges Lächeln. Er beugte sich zu Katrin, die fast einen Kopf kleiner war als er, und hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. »Ich muß jetzt weiter. In ein paar Tagen melde ich mich wieder bei dir. In Ordnung?«

Katrin nickte wortlos und begleitete den Mann hinaus. Sie und die Kinder winkten dem davonfahrende Jeep nach, bis der hinter der nächste Kurve verschwunden war.

»Wann kommt Onkel Ralf wieder?« fragt Jonas mit seinem feinen Stimmchen und ergriff die Hand seiner Mutter. »Onkel Ralfs Bonbons schmecken immer sooo gut.«

Katrin schmunzelte und sah hinunter zu ihrem kleinen Sohn. »Du weißt doch, daß uns Onkel Ralf alle paar Tage besucht.«

Sie blickte ihre Kinder der Reihe nach durchdringend an. »Ich denke, es wird Zeit für die Badewanne, meine Schätzchen.«

»Och nö, noch eine halbe Stunde«, maulte Annika.

»Bitte, bitte«, gab Kim von sich.

Katrin seufzte. »Nun gut, eine halbe Stunde und keine Minute länger.«

Als sie wieder in der stillen Küche war und das Kaffeegeschirr in die Spüle stellte, merkte sie plötzlich, wie einsam sie war. Die Tränen, die ihr dabei über das Gesicht liefen, wischte sie schießlich mit einer unwirschen Handbewegung fort. Die Kinder sollten unter keinen Umständen etwas von ihrem Kummer merken…

*

Auch in den nächsten Tagen kam nicht die erlösende Nachricht der Versicherung. Katrin fiel es zunehmend schwerer, vor den Kindern die unbeschwerte Mama zu spielen. Sowie sie sich unbeobachtet fühlte, verfinsterten sich ihre Gesichtszüge – am schlimmste war es abends, wenn die Kinder im Bett lagen.

Dann fühlte sich Katrin besonders einsam, und oft weinte sie bitterlich. Sie hatte Kai sehr geliebt, und liebte ihn noch immer. Daß er sie so früh verlassen hatte, konnte sie manchmal noch immer nicht begreifen. Warum waren Glück und Unglück so ungerecht verteilt?

Sicher, Ralf Bergmann gab Trost, so gut er es vermochte, doch er konnte Kais Gegenwart natürlich nicht ersetzen. Die Kinder hatten sich schneller damit abgefunden, daß ihr Papa nicht mehr da war – vor allem der kleine Jonas, der das alles noch gar nicht richtig begriff.

An einem dieser einsamen Abende kramte Katrin die Fotoalben hervor, um sich etwas abzulenken. Da waren die Babybilder der Kinder und die Tauffotos. Doch jedesmal, wenn auf einem der glänzenden Farbfotos Kai zu sehen war, gab es Katrin einen Stich.

Wie glücklich er aussah, als er in dem farbbeklecksten Overall vor dem halbrenovierten Bauernhof stand. Schnell klappte Katrin das Album wieder zu. Nein, um sich solche Bilder anzusehen, war es noch viel zu früh.

Fröstelnd zog sie sich ihre Strickjacke enger um die Schultern. Obwohl es tagsüber schon sommerlich warm war, herrschten abends noch ungemütliche Temperaturen. Das Feuer in dem altmodischen Kamin war fast ausgegangen; um noch einmal Holz aufzulegen, war es schon zu spät.

Gegen Abend hatte es angefangen zu regnen, nun klatschten die Tropfen an die kleinen Butzenscheiben des Wohnzimmerfensters.

Katrin trat zu einem der Fenster und schob die Gardine beseite. Der dunkle Hof, der nun von der Lampe über der Haustür erleuchtet wurde, lag still und verlassen da. Katrin seufzte. Wie lange wohl würde sie ihren Kindern dieses Paradies noch erhalten können? Wenn am Jahresende die Pacht für das kommende Jahr fällig wurde und die Versicherung bis dahin nicht gezahlt hatte, würde sie den Hof verlassen und sich mit den Kinder wieder in der Stadt eine winzige Wohnung mieten müssen.

Bei diesem Gedanken erschauerte Katrin. Sie konnte sich ein Leben in einer engen Stadtwohnung nicht mehr vorstellen. Schließlich löschte sie das Licht und ging leise ins Obergeschoß.

Bevor die junge Mutter ihr eigenes Schlafzimmer aufsuchte, öffnete sie nacheinander die Türen der drei kleinen Kinderzimmer. Jedes Kind wurde sorgfältig zugedeckt und bekam ein leichtes Küßchen, bevor sie wieder den Raum auf Zehenspitzen verließ.

Warum gönnte man ihr und den Kleinen nicht wenigstens das Leben auf dem Lande, wenn schon der Ernährer fehlte? Mit dieser bitteren Frage schlief Katrin schließlich ein – und mit der Hoffnung, daß am nächsten Tag der Brief der Versicherung käme…

*