Umschlag

Martina Bick schreibt Kriminalromane, Romane und Kurzgeschichten und gibt Anthologien heraus. Sie erhielt verschiedene Preise und Stipendien, unter anderem als Krimistadtschreiberin in Flensburg (Nordfälle-Preis 2001). Als Musikwissenschaftlerin ist sie Mitarbeiterin der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und Referentin der Gleichstellungsbeauftragten.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Wolfgang Zwanzger
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-207-6
Küsten Krimi
Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Für Katharina

Prolog

Die Eiskrusten hatten sich übereinandergeschoben wie Kleiderschichten, die man im Winter unter einem Overall trägt, wo sie sich aufrollen, wenn man sie nicht fest unter einen Gürtel oder in den Hosenbund steckt. Eis, Schlick und Sand waren zu schmutzigen Wülsten erstarrt und bildeten eine bizarre Landschaft, die das ganze Ufer bedeckte. Das Hafenbecken war in der Mitte noch nicht zugefroren. Das salzige Wasser der Nordsee gefriert nur bei tiefsten Temperaturen.

Tagsüber stieg das Thermometer auf minus zehn Grad, aber nachts fiel es auf unter minus zwanzig. So kalt war es noch nie gewesen, so lange er lebte. Es war so eisig in den Ställen, dass die Bauern Heizgeräte aufstellten, damit das Vieh nicht erfror. Tag und Nacht liefen die Generatoren, die die Geräte betrieben. Im ganzen Dorf hing immer ein Brummen in der Luft.

Aber hinter dem Deich war es still. Selbst den Möwen war es zu kalt zum Kreischen. Sie hockten aufgeplustert im Windschatten des Bootshauses und versuchten, Energie zu sparen.

Er hatte das Hafenbecken einmal ganz abgeschritten, als er das blaue Leuchten unter der Eisschicht entdeckte. Es war zu intensiv für diese erfrorene Natur. Es schillerte wie ein Edelstein unter dem kristallinen Eis. Mit seinen dicken, schweren Lederschuhen, die eingefettet waren, wagte er sich ein paar Schritte weit auf die Eisschicht. Sie trug ihn, war aber sehr glatt.

Vorsichtig näherte er sich dem Blau. Es war ein Stück Stoff, das unter dem Eis im Wasser lag. Ein Kleidungsstück, vielleicht eine Jacke. Eine blaue Daunenjacke. Daneben tauchte etwas Weißes, Blasses unter der Eisdecke auf und ab. Als er erkannte, um was es sich handelte, war er mit einem Satz wieder am Ufer und fing an zu laufen.

1

Der leise winselnde Ton, mit dem das Handy ihres Tischnachbarn signalisierte, dass es eine SMS empfangen hatte, erinnerte Anne an das Geräusch von Teddy, dem alten Familienhund, wenn ihm mal wieder jemand auf den Setter-Schweif getreten war. Das Winseln drang durch all das Gerede und Geraune der zahlreichen Kaffeetrinker und -trinkerinnen schmerzlich an ihr Ohr. Ihr Tischnachbar schien es nicht zu bemerken. Er nutzte die kurze Pause in der Tageshetze dazu, in die Zeitung zu schauen, und war ganz in seine Lektüre vertieft.

Anne saß auf einer Bank direkt am Fenster des Cafés und blickte auf die Rathausstraße und auf die hintere Ecke der Petrikirche. Vor ihr stand eine dickwandige weiße Tasse mit einem großen Cappuccino, auf dessen Milchschaumdecke sie extraviel Kakao gestreut hatte. Als sie den ersten Schluck genommen hatte, dachte sie daran, dass er bald schon ausgetrunken sein würde, und es tat ihr bereits jetzt leid, dass das Vergnügen dann vorbei wäre.

Noch ehe die Tasse leer war, sah sie sich schon wieder die Trageriemen ihrer Umhängetasche über den Kopf werfen, die Tasse auf den überquellenden Geschirrwagen stopfen und aus der Tür drängeln, zu ihrem Fahrrad, zurück nach Hause. Wohin auch sonst? In den letzten Wochen hatte sie schon alle Museen abgeklappert. Häufig ging sie auch in die Nachmittagsvorstellungen der Kinos, die dann so angenehm leer waren. Aber so oft gab es keine neuen, sehenswerten Filme in Hamburg, und gute Filme schaute sie sich nicht gern ein zweites Mal an. Womöglich gefielen sie ihr dann nicht mehr. Sie ging auch nicht gern einkaufen, shoppen, Schnäppchen jagen. Sie hatte alles, was sie brauchte, und sie brauchte nicht viel. Das einzige, was ihr fehlte, war eine Aufgabe, und genau die sollte sie im Augenblick nicht haben. Sie sollte sich erholen. Sie hatte ein Burn-out-Syndrom – aber so nannte man das inzwischen ja nicht mehr. Jedenfalls war es keine Krankheit. Burn-out war viel mehr – oder viel weniger, ganz wie man es sehen wollte –, hatte der Arzt ihr erklärt. Auf jeden Fall war sie vom Dienst suspendiert, arbeitslos, vielleicht für immer. Sie war keine Polizistin mehr. Aus und vorbei. Vorbei die Eile, immer drei Schritte ihrer Zeit und sich selbst voraus sein zu müssen. Vorbei der Stress, immer in Bewegung, immer im Dienst zu sein. Vorbei die schlaflosen Nächte, die zu vielen Tabletten und der zu viele Alkohol, um doch noch ein bisschen schlafen zu können. Nicht vorbei aber war dieses Gefühl von Müdigkeit tief in ihr drinnen, von unendlicher Erschöpfung, das wie eine Sandbank, die bei Ebbe aus dem Meer auftauchte, immer größer und größer wurde. Eine bleierne Erschöpfung, ein Satt-und-müde-Sein, das sich einfach nicht wegschlafen ließ. Das ihr schon lange Angst bereitet hatte. Zuerst hatte sie gedacht, es wäre das Älterwerden. Aber da war sie erst dreißig Jahre alt gewesen. Später war sie dann schon fünfunddreißig gewesen, und die Sandbank wurde immer größer.

Wenn es keine Krankheit war, was machte sie dann falsch in ihrem Leben? Schließlich hatte sie tatsächlich einen Fehler begangen. Einen großen, nicht wiedergutzumachenden Fehler, wie ihn nur Polizisten machen können, ausgebrannte, überforderte, übermüdete Kriminalpolizisten im Dauerdienst. Bei einem Einsatz gegen eine Drogenbande hatte sie unangemessen scharf reagiert, mit katastrophalen Folgen. Es hatte eine Anzeige gegen sie gegeben, jede Menge Zeugen. Man konnte den Vorfall nicht vertuschen. Sie wurde suspendiert, es wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt. Wenn die zu dem Ergebnis kommen würde, sie zu entlassen – »vorzeitige Beendigung einer Beamtenstellung auf Lebenszeit« hieß das im Amtsdeutsch –, wäre sie Ende dreißig und hätte nichts gelernt, womit sie zukünftig ihren Lebensunterhalt verdienen könnte.

Der Typ am Tisch neben ihr hatte seine Zeitungslektüre beendet und prüfte nun auf seinem Handy die neuen Nachrichten. Dann tippte er darauf herum, hielt es ans Ohr und meldete sich mit einem kurzen »Ich bin’s«. Seine Stirn zerfurchte sich, seine Miene drückte Gereiztheit aus. Nacheinander stieß er dreimal kurz »Ja« und einmal »Nein« aus. Dann nahm er das Handy vom Ohr, starrte das Display wie einen unbekannten Fremdkörper an und schaltete das Gerät aus. Seine Stirn entspannte sich wieder.

Bei geschäftlichen Telefonaten war man in der Regel höflicher, es musste sich also um ein privates Gespräch gehandelt haben. Ein sehr privates. Vermutlich mit seiner Frau oder Lebensgefährtin. Warum tat man sich das bloß an, dieses Maß an Nähe, das es erlaubte, grenzenlos unhöflich und kurz angebunden miteinander umzugehen?, dachte Anne. Die meisten ihrer Kollegen waren Weltmeister in dieser Art von Kommunikation gewesen. Ungeheuer charmant und einfühlsam, solange sie etwas von einem wollten, und kalt wie die Fische, abweisend und unerreichbar, wenn sie es bekommen hatten. Für gewöhnlich waren doch alle Menschen empfänglich für Freundlichkeit und Charme. Mit ein bisschen davon kam man so viel weiter im Leben.

Aber bei der Polizei stand Freundlichkeit nicht hoch im Kurs. Keiner ihrer Kollegen hatte im Sinn, seiner Kundschaft das Herz aufzuschließen, im Gegenteil. Besonders als Frau musste man sich ein Verhalten dieser Art schnellstens abgewöhnen. Sowohl dem Klientel gegenüber als auch den Kolleginnen und Kollegen. Je länger man bei der Truppe war, desto misstrauischer und unfreundlicher wurde man. Sie alle sahen zu viel Elend und Not, sie erlebten zu viel Gemeinheit und Grausamkeit. Männer wie Frauen bekamen schnell heraus, dass Freundlichkeit und Gutmütigkeit absolut keine Erfolgsrezepte im Polizeidienst waren, und dann legten sie sich einen Panzer zu, einen ruppigen Stil, der von Wachsamkeit und Unverbindlichkeit geprägt war.

Und wie wurde man den jemals wieder los? Selbst jetzt, da sie nicht mehr im Dienst war, war ihr Umgangston immer noch schroff und unfreundlich. Genauso wie ihre Einstellung zu ihren Mitmenschen.

Der kurz angebundene Nachbar legte seine Zeitung sorgfältig zusammen und verstaute sie in seinem Aktenkoffer. Er erhob sich, kontrollierte den Sitz seiner Hose und des makellos weißen Oberhemds und verschwand, ohne sein Geschirr abgeräumt zu haben.

Ein Glücksgefühl durchströmte Anne bei dem Gedanken, dass weder ein solches noch ein ähnliches Exemplar der Spezies Mensch irgendwo auf sie wartete. Während sie die letzten Schlucke ihres Cappuccinos genoss, der schon fast zu sehr abgekühlt war, verbat sie es sich, die beiden SMS zu lesen, die inzwischen auf ihrem Handy eingegangen waren. Sicher nur Werbung ihres Providers, wer sonst sollte sie auf diesem Wege erreichen wollen? Sie war ja fast immer zu Hause, wer etwas von ihr wollte, konnte sie auf dem Festnetz anrufen.

Lieber hing sie ihren Gedanken nach, führte ihre Beobachtungen und Überlegungen weiter. »Man kann sich stets nur auf eine Sache konzentrieren«, hatte irgendein Hirnforscher heute Morgen im Radio verkündet. Na prima, hatte sie gedacht und war unter die Dusche gegangen. Aber galt das nicht nur für Männer? Frauen konnten sich doch ständig auf viele Dinge gleichzeitig konzentrieren.

Als sie das Wasser abgestellt hatte, war der Hirnforscher immer noch auf Sendung gewesen. »Sie meinen Achtsamkeit, wie man sie aus dem Zen kennt?«, hatte der Moderator ihn gefragt.

»Genau. Achtsamkeit ist die wichtigste Methode, unsere körperlichen und seelischen Befindlichkeiten aufzuspüren. Dazu muss man den Blick nach innen richten und aus den automatisierten Gewohnheiten aussteigen. Im japanischen Zen-Buddhismus ist Achtsamkeit ein zentrales Thema.«

Schon in dem Augenblick war ihr der Gedanke gekommen, einfach wegzufahren und alles hinter sich zu lassen, was sie an ihren alten Job erinnerte. Ganz kurz und klar, wie die meisten der Ideen, die ihr ausgeruhtes Hirn früh am Morgen durchkreuzten. Die wichtigsten von ihnen kamen im Laufe des Tages noch einmal zurück. Sie brauchte sie sich nicht aufzuschreiben.

Der Gedanke, aus dem gewohnten Leben auszubrechen, verknüpfte sich sofort mit einem herrlichen Gefühl von Freiheit und Weite, das sich bei ihr in letzter Zeit nur noch bei der Lektüre von guten Romanen eingestellt hatte. Es wirkte wie eine Mischung aus Angeregtheit und Stille, wie früher eine Zigarette oder auch wie der gute Kaffee, den sie gerade getrunken hatte. Vielleicht musste sie wirklich einen Neuanfang wagen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ein anderes Leben, einfacher, langsamer, ohne Job und Terminkalender, ohne PC, Datenbanken und Handy. Anne reloaded, sozusagen. Eine neue Festplatte anschaffen, zurück auf null gehen. Bevor es zu spät und das Leben vorbei war.

Der letzte Schluck Kaffee schmeckte angenehm süß, weil das Kakaopulver sich auf dem Milchschaumrest am Boden gesammelt hatte. Das Café war inzwischen noch voller, der Geräuschpegel noch höher geworden. Es schien Anne, als wäre für eine Weile der Ton ausgefallen gewesen. Nun setzte alles in doppelter Lautstärke wieder ein. Sie brachte ihre Tasse zum Geschirrwagen – er war zwar über und über beladen, aber sie fand noch ein kleines Plätzchen, um sie abzustellen – und schaute im Hinausgehen endlich auf das Handydisplay. Eine SMS von ihrem Provider mit Informationen zu Sonderangeboten und eine SMS von Britt. Britt schrieb – und vernachlässigte dabei wie immer die Rechtschreibung aufs Unerträglichste: »Kannst heuteabend mal rüberkomdm. Ich hab geerbt. Es Gibt sekt b.«

»Gern«, simste Anne mit einem Daumen zurück, während sie zu ihrem Fahrrad ging und mit der anderen Hand den Schlüssel für das Schloss aus der Tasche zog. »Neun Uhr?«

Während sie in der Einbahnstraße in Gegenrichtung ihr Rad auf dem Bürgersteig bis zur Petrikirche schob, hörte sie, wie die SMS einging, die die Verabredung vermutlich noch einmal bestätigte.

2

Der Himmel war strahlend blau und von fast schon sommerlicher Weite. Eine lange Reihe frühblühender Sträucher längs der Autobahn war schier explodiert in der plötzlichen Wärme, die das stabile Hoch »Elfriede« an diesem ersten Wochenende nach Ostern bescherte, und die Autokarawanen der Sonntagsausflügler und Wochenendtouristen schoben sich durch die gelbe und weiße Blütenpracht gen Norden.

Anne kreuzte mit ihrem alten Polo durch den schleppenden Verkehr, der erst nach dem Abzweig der Kieler Autobahn flüssiger wurde. Hinter der Hamburger Stadtgrenze spannte der Himmel sich noch weiter über die staubigen braunen Felder, auf denen noch kaum eine Saat aufgelaufen war. Fast alle Bäume waren noch kahl, auf den Knicks und Wiesen stand das struppige graue Herbstgras vom letzten Jahr und bildete einen auffälligen Kontrast zu dem sonnigen, für die Jahreszeit zu warmen Wetter. Es war der lang ersehnte erste echte Frühlingssonntag.

Die leicht gewellte norddeutsche Geestlandschaft hinter Itzehoe gefiel Anne gut. Sie verstand nicht, warum Britt sich so abfällig darüber geäußert hatte.

»Keine zehn Pferde bringen mich in diese Gegend«, hatte sie bei ihrem Treffen gesagt. »Ich habe nie verstanden, wieso Hilde ausgerechnet dorthin gezogen ist. Nichts als Wind und grüne Deiche, Schafsköttel und endlose Felder. Etwas Unromantischeres als die Nordseeküste gibt es nicht. Ich bin in Heide aufgewachsen, auch schon ein schreckliches Kaff. Als Kind habe ich es immer gehasst, wenn wir die Großeltern hinterm Deich besucht haben. Es hat dort gestunken, und außerdem habe ich kein Wort verstanden, wenn die Erwachsenen sich unterhielten.«

Anne hatte gewusst, wovon Britt sprach. Bei ihren eigenen Besuchen bei den Verwandten in Ostfriesland hatte sie diese auch nicht verstanden, und das Landleben war ihr unglaublich primitiv vorgekommen. Vor allem das Plumpsklosett der Urgroßmutter, über dem stets die Fliegen in Schwärmen kreisten.

Sie hatte trotzdem mit Britt auf ihre Erbschaft angestoßen, auch wenn die Umstände des Todes von Britts Tante Hilde nicht gerade erfreulich waren. Wenige Wochen nach Weihnachten war deren Leiche im fast zugefrorenen Hafenbecken eines Nordseekooges gefunden worden, nicht weit von dem Haus entfernt, in das sie sich vor einigen Jahren aus der Stadt zurückgezogen hatte. Die Polizei ging davon aus, dass es sich um einen Unfall handelte, hatte aber dennoch die Familie befragt, und die Eiderstedter und Hamburger Zeitungen hatten sich alle möglichen abstrusen Geschichten zusammengereimt, wie es zu dem Tod gekommen war. Schließlich war die Untersuchung doch abgeschlossen worden. Entweder war es wirklich ein Unfall gewesen oder – und das glaubten vor allem Britt und ihre Mutter, die Schwester der Toten – Selbstmord. Auch wenn es keinen Abschiedsbrief gab. Zumindest hatte niemand einen gefunden.

»Wer Tante Hilde gekannt hat, der weiß, dass sie nie und nimmer einen Abschiedsbrief verfasst hätte«, hatte Britt gesagt und zum Weinglas gegriffen. »Vermutlich hatte sie einfach keinen Bock mehr aufs Weiterleben und hat einfach Schluss gemacht. Ohne darüber nachzudenken, was sie damit ihren Verwandten antut.«

»Aber nett von ihr, dass sie dir das Haus vererbt hat«, hatte Anne erwidert.

»Wem auch sonst? Sie hatte ja niemanden. Das Dumme ist nur, dass ich es gar nicht haben will. Die blöde alte Bruchbude.«

Hilde hatte das Haus vor einigen Jahren erworben, als sie beschlossen hatte, dem Leben in der Stadt ein für alle Mal den Rücken zu kehren. Sie war Lehrerin an Haupt- und Realschulen gewesen, lange in Hamburg und dann noch ein paar Jahre in Heide, bis sie pensioniert wurde. Ihre schicke Eigentumswohnung in Eppendorf hatte sie verkauft und alle Zelte in Hamburg und Heide abgebrochen.

»Das Haus soll total runtergekommen sein, hat meine Mutter gesagt«, war Britt fortgefahren. »Hilde hat nie etwas dran gemacht. Alles voller Mäuse und Spinnen – nein, keine zehn Pferde kriegen mich dazu, es zu bewohnen. Ich werde es so schnell wie möglich verkaufen, vielmehr das Grundstück, denn das Haus kann man wohl nur noch abreißen.«

»Warst du denn jemals dort?«

Britt hatte den Kopf geschüttelt. »Wir hatten am Ende kaum noch Kontakt. Meine Mutter und ihre Schwester haben sich nie gut vertragen. Hilde war immer so anders. Sie hatte eben studiert, war eher links orientiert und in der Gewerkschaft. Sie tanzte auf allen Hochzeiten. Meine Mutter dagegen hat früh geheiratet, war mit Hingabe Pastorengattin, Hausfrau und Mutter und ist heute noch stolz darauf. Hilde war nie verheiratet. Sie hatte zwar immer irgendwelche Freunde, aber die lernte man nicht kennen. War vielleicht auch besser so. Bei Familienfeiern kam sie stets allein. Sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir für sie alle Spießer waren. Sie hat meine Eltern wegen ihres Familienlebens verachtet, vor allem meinen Vater, weil er Pastor war. Mit der Kirche hatte sie gar nichts am Hut. Und dann kauft sie sich plötzlich selbst in so einer spießigen Gegend ein Haus und zieht aufs Land! Damals dachte ich, jetzt spinnt sie total. Für mich und meine Cousinen war sie immer ein Negativbeispiel. In den letzten Jahren ist sie auch gar nicht mehr bei Familienfeiern erschienen.«

»Ich hätte gern so eine Tante gehabt – bei uns waren alle immer so angepasst.«

»Eine Zeit lang haben wir uns tatsächlich ganz gut verstanden. Als Kind hat sie mir jedes Jahr zum Geburtstag ein Buch geschickt, später lag immer ein großzügiger Schein drin. Geld hatte sie wohl genug. Aber diese Antihaltung unserer Familie gegenüber, die hat mich gekränkt. Ihr angebliches Alternativleben interessierte mich einfach nicht. Wie kam sie dazu, zu glauben, dass sie etwas Besseres wäre? Darum fahre ich jetzt auch nicht hin, um mir dessen Überreste anzusehen, den Gefallen tue ich ihr nicht! Ich habe schon eine Anzeige in einem Immobilienportal geschaltet. Und wenn ich es schaffe, beauftrage ich auch noch einen Makler, ehe Ullrich und ich nächste Woche nach Spanien fliegen. Da haben wir unser schönes Apartment direkt am Strand – was soll ich also mit einer alten Bruchbude am Wattenmeer hinterm Deich, wo der kalte Wind durch alle Ritzen pfeift? Würdest du da etwa hinwollen?«

Anne hatte den Kopf gewiegt. Tatsächlich hatte sie gerade gedacht, dass sie sich das Haus gern einmal ansehen würde.

»Also, meinetwegen gern. Du kannst dort auch wohnen, wenn du Lust hast. Du hast ja jetzt Zeit. Und Miete brauchst du auch nicht zu zahlen. Es wäre sogar praktisch, wenn jemand dort ist, falls sich Käufer melden und das Haus besichtigen wollen. Dann müsste ich nicht die Nachbarn bemühen, die sollen nämlich etwas komisch sein. Aber vielleicht willst du es ja kaufen?«

»Warum nicht?«, lachte Anne. »Allerdings habe ich keinen Cent gespart und noch nie daran gedacht, mir ein Haus zuzulegen. Wozu auch? Aber ich fahre gern mal hin und schaue mich dort um.«

»Den Schlüssel erhältst du bei Familie Petersen in Otteresing. Das ist der einzige Bauernhof im Dorf, sagte man mir. Überleg es dir«, hatte Britt gesagt und damit das Thema gewechselt.

Anne verließ die Autobahn, die bei Heide endete, und gelangte über einen Zubringer auf die Bundesstraße 203, von der aus man über Wesselburen das Eidersperrwerk erreichte. Beeindruckend, die vielen Windräder rechts und links der Straße. Schon von der Autobahn aus hatte sie ein paar wenige gesehen – ihre drehenden Flügel hatten mal einen fröhlichen, mal einen beschaulichen Eindruck gemacht. Hier allerdings waren es nicht nur ein paar wenige, sondern ein ganzer Wald von Windrädern, die eins neben dem anderen auf den Weiden standen. Unmerklich hatte sich der Charakter der Landschaft verändert. Die Wellen des Geestrückens waren verschwunden, das Marschland breitete sich platt und unendlich vor ihr aus. Enorm, wie flach der Boden sein konnte! Und darauf dicht an dicht die Windräder, deren Rotoren sich unterschiedlich schnell drehten. Die reinste Windindustrie! Je länger man hinschaute, desto beunruhigender wurde der Anblick.

Im Wesselburenerkoog wurde die Landschaft noch platter, wenn das denn überhaupt möglich war. Außer dem hohen Deich, an dem sie entlangfuhr, war weit und breit keine einzige Erhebung zu sehen. Die Weiden waren so flach wie die Wasserflächen, aus denen sie gewonnen worden waren. Die Bäume längs der schnurgeraden Landstraße hatte der Wind schief geweht. Eine Mondlandschaft, dachte Anne, während sie auf das Sperrwerk zufuhr, das an der verzweigten Flussmündung der Eider gebaut worden war, um das Hinterland vor dem Meer zu schützen. Jahrhundertelang war hier eine gefährliche Schwachstelle bei Sturmfluten gewesen, bis in den 1970er Jahren das Sperrwerk gebaut worden war. Anne hatte es als Kind mit ihren Eltern besichtigt, ihr erster Ausflug an die Nordsee. Sie hatte sich eine verträumte Strandlandschaft mit Aussichtstürmen ausgemalt, von denen aus man aufs Meer blicken konnte. Aber stattdessen waren da nur diese Betonwülste gewesen, davor kurz geschorenes grünes Gras und über allem ein beißender, kalter Wind, der ihnen den Atem vom Munde weggerissen und die Tränen in die Augen getrieben hatte, sodass sie sich schnell wieder ins Auto gerettet hatten.

Anne parkte auf dem für Touristen zur Besichtigung des Sperrwerks angelegten Parkplatz und stieg die eiserne Treppe auf den Betonwall hinauf.

»Guck mal, Mama, jetzt ist das Wasser da!«, rief ein kleiner Junge und zerrte an der Hand seiner Mutter, die ihn festhielt, damit er ihr nicht davonwehte. Der Wind war genauso stark wie damals, als sie mit ihren Eltern hier gewesen war. Anne wickelte sich fester in ihre Jacke und schlug den Kragen hoch.

»Das ist noch gar nichts«, sagte ein alter Herr mit Schiffermütze zu Mutter und Sohn. Er stand neben dem Drehkreuz, durch das man auf den Deich gehen konnte. Sein Gesicht war von Wind und Wetter gegerbt, und der eigentlich graue Vollbart leuchtete um den Mund herum gelb von Tabakrauch und Nikotin.

Mutter und Sohn nickten ihm zu und machten sich auf den Rückweg zum Parkplatz.

»Bei hartem Westwind kommen die Wellen schon mal den Strand hochgekrochen«, murmelte der Alte, obwohl nur noch Anne in Hörweite war.

»Strand?«, wiederholte sie und stellte sich neben ihn. »Ein Strand ist das hier ja nun wirklich nicht. Und einen Deich hätte ich mir auch irgendwie hübscher vorgestellt. Natürlicher. Das ist doch eine reine Industrieanlage.«

»Jau, so ist das bei uns in Eiderstedt. Alles eingedeicht, feste zu wie Mutters Portemonnaie. Aber unsere Deiche halten, was sie versprechen. Die haben uns schon lange nicht mehr im Stich gelassen. Sandstrand gibt’s weiter oben in St. Peter – da wollen Sie doch sicher hin?«

Anne nickte.

»Baden gehen?«, lachte der Alte und kniff die Augen zu gegen die Sonne. »Ist noch ein büschen kalt. Oder gehören Sie zu diesen Winterbadenden?«

»Ich will zum Tümlauer Koog und mir dort ein Haus ansehen. Direkt am Deich. Kann ich dahin einfach auf dieser Straße weiterfahren?«

Der Alte lachte. »Im Prinzip ja. Aber schneller geht’s über Land. Das dahinten rechts ist Kating, links Garding.« Er deutete auf die Dörfer in der Ferne. »In Garding müssen Sie links abbiegen, dann kommt Tating, und dann fahren Sie noch mal rechts ab.«

Anne bedankte sich und ging zurück zur Treppe.

»Die Deiche im Tümlauer Koog gefallen Ihnen bestimmt besser!«, rief der Alte ihr nach. Er sagte noch etwas, aber der Wind verschlang es.

An der Treppe, die hinunter zum Parkplatz führte, drehte Anne sich noch einmal um und ließ von dieser geschützteren Position aus ihren Blick über das Meer schweifen, das graubraun und träge gegen das Sperrwerk schwappte. Die Luft schmeckte würzig und salzig und strich sanft über ihre Haut, die von der winterlichen Stadtluft rau und ausgetrocknet war. Statt zivilisierter Spatzen und Amseln segelten hier Möwen und Seeschwalben gewagt durch die Lüfte und stießen spitze Schreie aus. Ob jetzt Hochwasser war? Und wie es wohl aussah, wenn das Wasser ablief und den braunen Schlick und den feinen Sand des Meeresbodens freilegte? Ob es hier auch so lehmig und matschig wurde wie im Watt vor Cuxhaven, wo sie vor ein paar Jahren mal an einer Todesfallermittlung auf der Insel Neuwerk, die ja zum Hamburger Stadtbezirk gehörte, beteiligt gewesen war? Erst weit draußen hinter den tiefen Prielen waren sie bei ihrer Geländeerkundung auf feinen Sandboden gestoßen, der unter dem eigenen Gewicht glatt und fest blieb und auf dem es sich so wunderbar leicht und weit gehen ließ. Sie würde es nur erfahren, wenn sie abwartete, bis das Wasser ablief, und sich dann in die matschige Wüstenei hinaustraute. Nicht ungefährlich, wenn man sich nicht auskannte. Vor allem musste man genau wissen, wann das Wasser kam und ging. Sie würde sich erkundigen.

Anne stieg die Treppe hinab und ging zurück zu ihrem Polo, in dem es angenehm windstill und warm war. Sie fuhr die lange, karge Strecke am Deich entlang durchs Katinger Watt, bis die Wegweiser sie über Garding und Tating in den Tümlauer Koog führten.

Sie verstand gleich, warum Britt ihr keine Hausnummer genannt hatte: Es gab hier so wenige Häuser, dass man sie nicht nummerieren musste. Das zweite Haus hinter dem Deich in der Koogstraße sei es, hatte ihre Freundin gesagt.

Da stand es auch schon: ein niedriges, weiß getünchtes Landarbeiterhaus auf einem großen, nicht eingefriedeten Wiesengrundstück. Es sah wirklich ziemlich heruntergekommen aus.

Anne blieb auf der Straße vor dem Grundstück stehen und schaltete den Motor aus. Hier würde ja doch niemand vorbeifahren. Eine Windböe riss ihr die Autotür aus der Hand. Sie stieg aus und ging ein paar Schritte auf das Grundstück zu.

Trotz allem war es ein freundliches Haus. Hätte es ein Gesicht gehabt, hätte es gelächelt. Es gab finstere Häuser, bedrohlich wirkende, düstere. Und es gab unendlich viele kalte, abweisende. Dieses hier war eindeutig ein wohlmeinendes Exemplar. Vermutlich hatte es früher einmal einen dicken Strohhut getragen, ein Reetdach, und hatte damit noch gemütlicher ausgesehen. Jetzt war der Dachstuhl mit grauen Eternitplatten gedeckt, die an der Wetterseite Moos ansetzten. Die Haustür lag zur Straße hin, eine einfache aus Holz mit einem Oberlicht. Rechts und links davon befanden sich zwei kleine, gardinenlose Fenster mit abblätternden Holzrahmen. Hinter der rechten Scheibe leuchteten ein paar bunte Plastikblumen. Auch die weiße Mauerfarbe blätterte an vielen Stellen ab und ließ die Struktur von dunklen Ziegeln zutage treten. Das Grundstück wurde zur Straße weder durch eine Hecke noch einen Gartenzaun begrenzt, die grüne, kurz geschorene Wiese reichte bis zur Fahrbahn. Das Nachbargrundstück rechts schirmte eine hohe Kirschlorbeerhecke ab.

Neugierig umrundete Anne das Haus. Es handelte sich offenbar um ein kleines Landarbeiterhaus, dessen vordere Hälfte zum Wohnen ausgebaut worden war, während die hintere als Scheune diente. Tatsächlich gab es auf der Rückseite eine Tür, die einmal Teil eines größeren Scheunentores gewesen war, das man zugemauert hatte. Links davon befanden sich wieder zwei Fenster. Das Grundstück erstreckte sich hinter dem Haus noch ungefähr zwanzig Meter bis zum Rand eines Feldes. Ein paar alte Bäume standen darauf, vielleicht Apfel- oder Kirschbäume, einer konnte auch eine Esche sein. Oder war es eine Buche? Solange die Bäume noch keine Blätter trugen, konnte Anne sie nicht voneinander unterscheiden. Mit Blättern allerdings meistens auch nicht. Gebüsch und eine Menge Dornengestrüpp wucherten an der rechten Seite, während auf der linken ein paar windschiefe, magere Tannen oder Fichten dem stetigen Seewind zu trotzen versuchten. Auch Büsche und Nadelbäume konnte Anne in ihrem kahlen Zustand nicht sicher identifizieren.

Sie drehte sich um und besah sich das Haus von hinten. Die Sonne kam heraus, schien seitlich aufs Dach und blitzte in den Fensterscheiben. Wo mochte die Küche liegen? Ob sie dort morgens hineinschien?

Auf der anderen Seite der Straße erhob sich der Deich, der ihr in der Tat sehr viel besser gefiel als die Betonwüste und die kurz geschorenen Grünflächen am Eidersperrwerk. Dieser Deich war wesentlich niedriger, seine Grasdecke nicht so glatt und gepflegt. Müsste man die Nordsee dahinter nicht hören? Würde man es nicht riechen, das salzige braune Wasser? Anne verließ das Grundstück, überquerte die Straße und sprintete den Deich hinauf. Hinter ihm lag nicht die Nordsee, nicht einmal das Wattenmeer oder eine Salzwiese. Stattdessen blickte sie nur auf weitere grüne Wiesen und Weiden, genau wie die diesseits des Deichs. Kein Wasser weit und breit. Aber etwa einen Kilometer weiter erhob sich wieder ein Deich.

Otteresing, der nächste Ort, war nur wenige Kilometer von dem alten Häuschen hinter dem Deich entfernt. Es bestand hauptsächlich aus alten Friesenhäusern, deren Haustüren sich in einem Erker unter einem extra Giebel in der Mitte der Gebäude befanden. Die Fenster rechts und links davon wurden von Rosenstöcken eingerahmt. Ihre Dächer waren mit leuchtend roten Ziegeln gedeckt oder mit Reet, mit dicken, puscheligen Polstern, die wie mollige Pelzkappen auf den Häusern saßen. Die Rasenflächen, die den größten Teil der Gärten einnahmen, wurden hier offenbar mit der Nagelschere geschnitten, so ordentlich und gepflegt sahen sie aus. An den Blumenstauden in den Rabatten zeigten sich schon dicke Knospen, Tulpen und Narzissen leuchteten in satten Farben. Der Boden sah fett und schwer aus, die Krume war von dunklem, lehmigem Braun. Niedrige Hecken aus Hainbuchen oder Liguster fassten die Grundstücke ein.

Mitten im Ort lag der unordentliche Bauernhof der Familie Petersen. Anne parkte ihren Polo in der Hofauffahrt zwischen alten Treckern und lehmverschmierten Landmaschinen in fragwürdigem technischen Zustand. Die Gebäude aus rotem Backstein waren großflächig angeordnet und gut erhalten, trotzdem machte der Hof einen verwahrlosten Eindruck.

Anne stieg aus dem Wagen und hielt die Luft an. Der Dunggeruch war so beißend, als hätte sie direkt neben dem Güllewagen geparkt. Mit schnellen Schritten überquerte sie den Hofplatz, der nur teilweise gepflastert war. In dem lehmigen Boden hatten die Landmaschinen tiefe Spuren hinterlassen, die von Sonne und Wind betonhart getrocknet waren.

Nachdem Anne vergeblich nach einer Haustür gesucht hatte, klopfte sie an eine Tür mit gelben Gardinen, die vermutlich in die Küche führte.

Eine ältere Frau kam herbei und trocknete sich an ihrer Schürze die Hände ab. Sie trug ein Haarnetz, unter dem frisch ondulierte, fast weiße Dauerwellen trockneten, die auf dünne blaue Wickler gedreht waren. Stirn und Nase waren blass, aber ihre Wangen waren von einem Netz roter Äderchen durchzogen und gaben ihr ein frisches Aussehen. Ihren Händen sah man ein Leben mit schwerer Arbeit an. Sie waren noch kräftig, aber die Gelenke traten knotig unter der Haut hervor. Die Frau konnte etwa siebzig Jahre alt sein, aber ebenso gut auch fünf Jahre jünger oder älter. Ihre Waden schauten stämmig und gesund unter der Schürze hervor. Die Füße steckten in soliden und frisch geputzten schwarzen Lederschuhen, die bereits wieder dicke Lehmränder trugen.

»Ja, bitte?« Mit einem freundlichen Lächeln musterte sie ihre Besucherin von Kopf bis Fuß und blinzelte dabei gegen die Sonne.

Der Wind, der hinter dem Deich stark und allgegenwärtig war, kreiste im Hof nur als leichte Brise, wirbelte Staubwolken auf und spielte mit Annes Haaren.

Die Bäuerin schien mit ihrer Inspektion zufrieden zu sein. Sie lächelte immer noch, als sie fragte: »Sie sind die Nichte von Hilde, oder? Wollen Sie sich das Haus ansehen?«

»Nein, ich bin Anne Schumacher, eine Freundin von Britt. Also von der Nichte. Ich hätte gern den Schlüssel für das Haus.«

Schweigend drehte Frau Petersen sich um und verschwand im Dunkel der Küche. Die Tür klappte zu, wurde aber gleich wieder geöffnet. »Ich nehme an, dass das seine Richtigkeit hat«, murmelte sie, als sie Anne den Schlüssel reichte. »Mein Sohn ist gerade nicht da, sonst würde er Sie hinbringen.«

»Ich war schon beim Haus. Und es hat ganz bestimmt seine Richtigkeit. Wir können Britt auch gern anrufen.« Anne zückte ihr Handy. »Sie ist allerdings gerade auf dem Weg nach Spanien. Darum kann sie selbst auch nicht kommen.«

»Ist schon gut«, sagte Frau Petersen und lauschte einen Augenblick ins Haus. Etwas zischelte, es hörte sich an, als drohte Wasser auf dem Herd überzukochen. Vielleicht mit Kartoffeln. »Hier kommt ja nichts weg. Nach Hildes Tod haben wir noch gar nicht wieder ins Haus reingeschaut. Wir haben immer drauf aufgepasst, wenn sie mal nicht da war.« Sie machte eine Pause, als hätte sie sich gerade entschlossen, nicht zu viel zu verraten. Aber ehe Anne nachfragen konnte, fuhr sie fort: »Mein Mann ist auch so überraschend gestorben. Das Herz. Das ist jetzt elf Jahre her.«

»Das tut mir leid«, sagte Anne und ärgerte sich über die blöde Redewendung. Wie konnte ihr sein Tod leidtun, wenn sie den Mann doch gar nicht gekannt hatte? Sie ließ den Schlüssel an dem kleinen Holzkeil pendeln, der als Anhänger an einer grauen Paketschnur befestigt war.

»Folkert hat dieses Jahr schon einmal gemäht. Mit seinem neuen Aufsitzrasenmäher.« Frau Petersen zeigte mit dem Kinn auf eine Scheunentür, hinter der sich vermutlich weitere Gerätschaften befanden. »Wenn er noch einmal gebraucht wird, müssen Sie Bescheid sagen. Er kann jederzeit vorbeikommen.«

Anne dankte, verabschiedete sich und drehte sich um.

»Wollen Sie über Nacht bleiben?«, fragte Frau Petersen. »Den Strom haben wir nicht abgestellt, aber das Wasser müssen Sie wieder aufdrehen. Im Bad, wo auch die Wasseruhr ist. Wir wussten ja nicht, dass jemand kommt. Nachts kann es immer noch mal frieren. Geben Sie einfach Bescheid, wenn etwas nicht funktioniert. Folkert kümmert sich dann drum.«

Anne bedankte sich erneut und ging zu ihrem Auto.

Als sie eingestiegen war, stand Frau Petersen immer noch in der Tür und sah ihr nach, bis der alte Polo vom Hof gerollt war.

Ihr war ein bisschen feierlich zumute, als sie den Schlüssel ins Schloss der Haustür steckte und umdrehte. Es war ein modernes Sicherheitsschloss, das sich ganz leicht schließen ließ, so als wäre es ständig in Betrieb. Der Tür merkte man allerdings an, dass sie ein Weilchen nicht bewegt worden war. Sie klemmte fest im Rahmen, sodass Anne sich mit der Schulter dagegenlehnen musste, um sie aufzudrücken. Mit einem schabenden Geräusch schrammte sie über den Fußboden.

Hinter der Tür war es dämmrig. Obwohl das Fenster nicht verhängt war, fiel nur wenig Tageslicht ins Haus. Nachdem Anne den Lichtschalter neben der Tür entdeckt hatte, entpuppte sich der Raum als Wohnküche. Sie war moderner gestaltet als gedacht. Links befand sich die Küchenzeile aus unauffälligem Holzimitat mit Spüle, Herd und diversen Unterschränken. Auch ein Kühlschrank war vorhanden. Etwa in der Mitte des Raumes, gleich neben der Tür, stand ein wunderschönes altes Küchensofa, das mit rotem Plüsch bezogen war, und davor ein massiver Küchentisch, groß genug, um bequem zu sechst an ihm zu sitzen, mit ein paar Stühlen. Die Wand der Sitzecke gegenüber war mit Bücherregalen zugestellt. Viele Fächer waren leer, nur in einigen lagen Papierstapel und Bücher.

Anne ging auf ein Regal zu und überflog rasch ein paar Buchtitel: »Was blüht denn da?«, »Gartenhandbuch«, »Was fliegt denn da?«. In dem Fach darunter standen einige Romane von Raymond Chandler, darunter »Der lange Abschied« und eine Biografie über ihn. Daneben stieß sie auf »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, eine Storm-Biografie und Biografien von Frauen, Schriftstellerinnen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen – eine bunte Mischung.

»Biografien und Krimis, soso«, murmelte Anne und verspürte eine leichte Sympathie für die Verstorbene. Auch sie selbst las gern Biografien. Krimis nicht, schon lange nicht mehr.

In den unteren Fächern lagen Stapel von Papieren, alten Broschüren und Zeitschriften, unter anderem mehrere Ausgaben eines gewissen »Mittelplate«-Newsletters, was auch immer das sein mochte. Das gelbe Telefonbuch für die Region St. Peter-Ording war nicht dicker als ein zusammengefaltetes Küchenhandtuch. Ein paar Landkarten und eine zerfledderte Seekarte lagen unter der »Kleinen Geschichte Eiderstedts«, die im Unterschied zu den anderen Büchern noch ungelesen aussah. Obenauf thronte ein schmales weißes Taschenbuch: »Zen für jeden Tag – Eine kleine Schule der Achtsamkeit«. Der Titel erinnerte Anne an den Hirnforscher, den sie vor Kurzem unter der Dusche stehend im Radio gehört hatte.

Sie holte ihre Wasserflasche und die Kekspackung, die sie an einer Autobahnraststätte gekauft hatte, aus dem Auto, ließ sich auf dem roten Plüschsofa nieder und fing an zu lesen.

Das erste Kapitel war nicht lang, aber in seiner Kürze überzeugend. Nachdem Anne es gelesen hatte, saß sie einige Minuten ruhig da und versuchte, die erste Übung zu machen, die man laut Ratgeber ungefähr ein Jahr lang regelmäßig praktizieren musste, um einigermaßen achtsam zu werden. Sie bestand darin, dem eigenen Atem zu lauschen, ihn aufmerksam zu beobachten und wahrzunehmen. Weiter nichts. Dabei sollte man an nichts denken, nur atmen. Das hörte sich leicht an, war aber nicht so einfach. Nicht einen einzigen Atemzug lang gelang es Anne, an nichts zu denken. In ihrem Kopf sah es aus wie bei Petersens auf dem Hof: alles vollgestellt, allerdings mit Gedanken. Sosehr sie sich auch konzentrierte, immer wieder verlor sie ihren Atem aus dem Fokus und verstrickte sich in die üblichen Alltagsgrübeleien.

Nach ungefähr zehn Minuten gab sie auf. Sie öffnete die Augen und bemerkte plötzlich, dass es im Haus beißend nach Mäusekot roch. Oder war es etwas anderes? Gab es hier wilde Katzen, die ihre Ausscheidungen in dem Gemäuer hinterlassen hatten? Sie stand auf, um ihren Rundgang fortzusetzen, und nahm sich vor, auf weitere Anzeichen von tierischen Mitbewohnern zu achten.

Von der Wohnküche gingen mehrere Türen ab. Eine führte in die Scheune, die bis zum Dachstuhl offen war und voller Gerümpel stand. Auf der einen Seite gab es einen Heuboden, unter dem mit Trockenbauwänden niedrige Räume abgetrennt worden waren: ein schmales Bad mit Toilette, Waschbecken und Duschkabine, das ganz vernünftig aussah und vermutlich vor noch nicht allzu langer Zeit eingebaut worden war. Auf der anderen Seite ein kleines Kämmerchen, in das man aber nur von der Wohnküche aus gelangte. Es handelte sich um das Schlafzimmer, auf einem Doppelbett lagen Decken und Kissen, wie die ehemalige Bewohnerin sie an ihrem letzten Morgen hinterlassen haben mochte. Außerdem gab es einen altmodischen Kleiderschrank und eine Kommode. Das kleine Fenster führte hinaus in den Garten und war mit einem Insektennetz verhängt.

Blieb noch ein letzter Raum, in den man ebenfalls nur von der Küche aus durch eine Tür gleich rechts neben dem Eingang gelangte. Anne drückte die Klinke hinunter – es war noch ein altes Schloss aus Eisen mit aufgesetztem Schlosskasten. Auch dieser Raum, der zur Straße hinausging, war leer. Das Licht fiel dämmrig durch das kleine Fenster, hinter dem die Plastikblumen leuchteten, die Anne von draußen gesehen hatte. Dabei waren die Scheiben von Spinnweben fast blind. Die Wände waren wie überall im Haus weiß gekalkt und kahl. Ein alter Wollteppich lag auf den Holzdielen, die abgeschliffen und gebohnert aussahen.

»Hallo, sind Sie hier? Kann ich reinkommen?«

Anne zuckte zusammen, als sie jemanden vor dem Haus rufen hörte. Sie lief zur Eingangstür, die nur angelehnt war, und öffnete sie weit. Wie schön warm es draußen war! Im Gegensatz dazu war es im Innern des Hauses kalt und klamm, und es roch modrig – ein bisschen zu modrig für ihren Geschmack. Sie trat vor die Tür in die Sonne.

Ein massiger junger Mann, sicher mehr als zehn Jahre jünger als sie – also vielleicht Mitte zwanzig –, stand neben ihrem Auto und lächelte sie verlegen an. Sein blondes Haar lichtete sich bereits über der Stirn. Er trug ein kariertes Flanellhemd in Blautönen, das frisch gewaschen und gebügelt wirkte und perfekt zu seinen himmelblauen Augen passte. Die Jeans dagegen sahen ziemlich schmutzig aus. An den Füßen trug er schwere Arbeitsschuhe mit verstärkenden Schutzkappen an den Spitzen. In seiner Hosentasche steckte ein Zollstock und hinter dem Ohr ein kurzer, dicker Bleistift. Er reichte Anne seine große Pranke, brachte aber nur einen schlappen Händedruck zustande. »Ich bin Folkert. Mutter hat gesagt, ich soll mich mal bei Ihnen melden.«

»Das ist sehr nett, aber ich glaube, ich komme ganz gut allein klar. Vielen Dank, Folkert.«

»Sie sind aus Hamburg, was?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Autokennzeichen«, sagte er, lächelte verschmitzt und zeigte dabei vier sehr kleine weiße Schneidezähne. Er hatte sich einen kurzen Schnurrbart stehen lassen, blond wie das Kopfhaar, und trotzdem wirkte sein Gesicht irgendwie mädchenhaft. Vielleicht wegen seiner sehr roten Lippen. Anne dachte bei seinem Anblick an einen Wikinger, wobei sie freilich nie einen gesehen hatte, nicht einmal als Nachbildung im Museum, falls es so etwas überhaupt gab.

»Ich stelle für Sie das Wasser an«, fuhr Folkert fort, als hätte Anne ihm nicht gerade zu verstehen gegeben, dass sie keine Hilfe benötigte. »Und dann hat Mutti mir das hier für Sie mitgegeben, zum Einstand.« Er drückte ihr einen geflochtenen Korb in die Hand, in dem ein in Alufolie eingewickeltes Päckchen lag, das verräterisch nach einem großen Stück Topfkuchen aussah. Außerdem befanden sich eine Flasche Sekt und ein paar sehr rotbackige Äpfel sowie ein Glas selbst gemachte Marmelade darin.

Wie nett. Gegen so eine Geste konnte man nun wirklich nichts sagen. Anne bedankte sich, ließ Folkert ins Haus eintreten und folgte ihm. Den Korb stellte sie auf den Küchentisch. Als ihr Blick auf das Sofa fiel, sah sie mit Schrecken, dass sie mitten in einem Haufen Mäuseköttel gesessen hatte. Bei genauerer Betrachtung zeigte das Sofa auch reichlich Fraßstellen der kleinen Nager. Argwöhnisch inspizierte sie sämtliche Möbel, während Folkert im Bad verschwand und von dort aus weiter mit ihr sprach.

»Wir haben hier alles zugemacht, als Hilde