Buchcover

Clara Viebig

Menschen unter Zwang

Roman

Saga

I

Dass Frau Friederike Längnick-Güldenaue einstmals auf einer bäuerlichen Hofstatt, klappernde Holzpantinen an den nackten Füssen — Strümpfe wurden nicht angezogen, wenn es schmutzig war schonte sie die — durch Dungpfützen und Regenlachen gestapft war, das wusste kein Mensch. Das wusste sie selbst nicht mehr. Dazu war es schon allzu lange her; so lange, dass ein Mensch in der Zeit geboren werden und wieder sterben und doch seine vierzig Jahre gelebt haben kann. Sie hatte vergessen, vieles vergessen; nur einiges nicht. Das, was sie nicht vergessen wollte. Tempelhof, das Dorf bei Berlin, woher sie stammte und Johann Längnick geheiratet hatte, wo sie ihren einzigen Sohn Paul geboren und wieder verloren hatte, wo sie geliebt und gehasst, gearbeitet und gegeizt hatte, wo sie reich geworden war, schwer reich durch den Verkauf ihrer Ländereien an die Stadt Berlin, dieses Tempelhof hatte in ihrem Gedächtnis zu existieren aufgehört. Es existierte ja in Wirklichkeit auch nicht mehr. Fort die alten Dorfhäuschen mit den Lauben davor, die Scheunen mit den Storchnestern, die mächtigen breiten Linden im tiefen Sand, der Pfuhl, aus dem am Sommerabend wie wild die Frösche quakten. Sie dachte nicht mehr daran, sie sprach nicht mehr davon, jenes Leben war aus und vorbei, so, als sei es nicht gewesen; nur zuweilen nachts konnte es vorkommen, dass sie, aus einem Traum aufschreckend, schrie: „Johann, anspannen!“ Aber wenn ihr beim Erwachen die Erinnerung an solchen Traum kam, wischte sie sich über die Stirn und machte mit der Hand eine wegscheuchende Bewegung in die Leere ihres Schlafzimmers hinein, das nicht mehr wie einst den ständig haftenbleibenden bäuerlichen Geruch nach Erde und Stall hatte.

Sie hiess jetzt nicht mehr Rike, sondern Friederike, ging in schwarzer Seide, ein schwarzes Spitzendeckelchen auf dem Kopf, damit man die Kahlheit auf ihrem Scheitel nicht sah, nur darum herum die schütteren schneeweissen Haare. Liess sich ‚gnädige Frau‘ nennen und von Leuten, die etwas von ihr wollten, mit ‚von‘ oder ‚Frau Baronin‘ anreden. Es hatte ihr viel Mühe gekostet, so zu werden, wie sie jetzt war: so zu sprechen, so zu essen, so aufzutreten. Hinter verschlossener Tür, ganz allein mit sich und ihrem Verstand, hatte sie fleissig geübt. Geld allein macht es ja nicht, das wusste sie jetzt. Das, was sie als Tempelhofer Bäuerin in ihren mittleren Jahren noch nicht gewesen war, das stellte sie jetzt vor: eine Dame.

Man sprach mit dem grössten Respekt von der alten Schlossherrin auf Güldenaue. Der Respekt war freilich mit etwas Angst gemischt. Die jungen Dienstmädel im Hause sagten: ‚Die Ale sieht ’m bis in a Magen.‘ Auch die Knechte auf dem Hof sagten das. Wenn die Gnädige am Arm ihres Enkelsohns, des Herrn William Längnick, in die Ställe hineinsah, dann duckte sich der Schweizer hinter die Milchkühe, und der Kutscher, der die Pferde striegelte, striegelte nocheinmal so emsig. Sie sah alles, wenn ihre Augen auch halbversunken hinter Hautfalten unter verknitterten Lidern lagen; schwarz und stechend blickten sie: wo bist du gewesen? Wen hast du getroffen? Wer hat aus dem Obstkorb genascht? „Ich sehe alles, ihr macht mir nichts vor!“ Und dann lachte sie, kicherte in sich hinein, bis sie ihren Husten bekam, an dem sie nachts oftmals fast erstickte. Dann riss sie an der Klingel, heisses Zuckerwasser wollte sie. Aber niemand kam. Man hatte es eben nicht gehört, zu fest geschlafen: mochte sie doch ersticken, das alte Gespenst!

Selbst Berta Rotenbücher, die Gutsmamsell, sagte, sie hätte nichts gehört. Und die hätte doch alle Ursache gehabt, aufmerksam zu sein, denn was wäre wohl aus ihr geworden, wenn die Gnädige sie nicht engagiert hätte, als ihr Bräutigam sie verliess und sie mit einem Kinde dasass? Kein Mensch wollte sie mieten — ‚uneheliches Kind, liederlich!‘ Herrn Pastor Kimmel, dem Seelsorger der Gemeinde Güldenaue, war es etwas beklommen gewesen, als er der Gnädigen den Fall vortrug: wer weiss, wie solche Dame sich dazu stellte? Aber die Herrin von Schloss Güldenaue sagte: „Herr Pastor, ich kümmere mich ’nen Dreck drum, was die Leute sagen. Wenn sie gut kocht, kann sie meinetwegen sechs uneheliche Kinder haben.“ ‚’nen Dreck drum‘ — das verblüffte Herrn Pastor Kimmel etwas — aber doch eine gütige Dame, eine barmherzige Dame! Die gnädige Frau von Schloss Güldenaue nahm die Mamsell mit dem unehelichen Kind in Dienst, sie gab ihr dafür aber auch nur die Hälfte des herkömmlichen Gehaltes; der kleine Balg kam ins Waisenhaus.

Auch die Erzieherin von Lore, der Urenkelin auf Schloss Güldenaue, hörte das nächtliche Klingeln. Fräulein Doris Mittler hatte gute Ohren, aber die wollten nicht hören; sie stand sich nicht mit der alten Gnädigen. Die hatte ihr vorgeworfen, sie spekuliere auf eine Heirat mit ihrem Enkelsohn, dem Besitzer von Güldenaue, dem verwitweten Vater der kleinen Lore. Als ob Doris Mittler, diese noch so frische, tüchtige Dreissigerin, es nötig hätte, diesen tatenlosen Neurastheniker zu heiraten! Und doch hatte sie daran gedacht, dachte noch immer daran.

Aber der Schlossherr von Güldenaue, der statt des deutschen ‚Wilhelm‘ William hiess nach dem Wunsch seiner früh verstorbenen Mutter, die Engländerin gewesen war, scheute vor einer zweiten Heirat ängstlich zurück.

‚Schlummerkopp‘ nannte Friederike Längnick ihn, wenn sie ärgerlich war. Recht hatte sie damit. Nun hatte sie soviel errafft mit der Arbeit eines Lebens, in dem sie sich selber kaum etwas gegönnt, wie eine Magd geschafft hatte, selber mit zum Markt gefahren war, das Geld, das der Verkauf ihrer Tempelhofer Ländereien an die Stadt Berlin ihr eingetragen, dann noch durch glückliche Bau- und Grundstückspekulationen schlau vermehrt — und nun genoss er es nicht! War das nicht zum Ärgern? Ach, sein Vater, ihr Paul, ihr einziger Sohn, der hatte es ja auch nicht genossen! Wenn ihr die Gedanken an den kamen, dann zuckte es über ihr Greisenantlitz, das versteinert schien in seinen eingegrabenen Furchen; alter Schmerz machte es lebendig. In seine Blässe, die graugelblich war, wie allzu lange im Schrank verschlossen gewesenes Leinen, stieg ein Rot. Aus den tiefen Falten der Stirn, aus den Runzeln der Wangen sprangen Gram und verbissene Wut.

Was Friederike Längnick mit ihrem Sohn nicht hatte erreichen können, das hatte sie sich mit Pauls Sohn zu erreichen bemüht. Er sollte lernen, viel lernen; sie schickte ihn aufs Gymnasium, sie hielt ihm noch einen Hauslehrer dazu, er sollte besser schreiben und lesen, mehr wissen als sein Vater. Aber er lernte nicht gut. Sie hatte ihn später dann auf Reisen geschickt. Paris, London, Italien, die halbe Welt hatte er kennengelernt; aber er kam genau so zurück, wie er fortgegangen war. Da kaufte sie ihm das Schloss Güldenaue unweit des Städtchens gleichen Namens am Fuss sanft ansteigender bewaldeter Höhen. Das eigentliche Gebirge lag noch fern, man sah dessen Kamm nur aufsteigen in blauem Duft, wenn die Fernsicht gut war. Sie kaufte Güldenaue billig, denn das Gut war ziemlich heruntergewirtschaftet und das Schloss eigentlich nur ein grösseres Landhaus. Da sollte er sich nun betätigen. Aber er hatte wenig Interesse an der Landwirtschaft. Seine Augen blieben gleichgültig; sie blickten auch nicht lebhafter, als die Grossmutter ihm eine Frau ausgesucht hatte, eine hübsche junge Frau.

Friederike Längnick hatte bei ihrer Wahl weniger auf Geld gesehen, zum erstenmal spielte das keine Rolle. Gesund musste sie sein, sehr gesund; es musste einmal frisches neues Blut in die Familie. Die Tempelhofer hatten immer untereinander geheiratet, sie und ihr Johann waren ja auch Geschwisterkinder, und dass das nicht gut tat, das wusste sie jetzt. „Junges frisches Blut, das wird dich aufmöbeln“, sagte sie mit grimmigem Scherz und stiess dem Enkelsohn mit dem Ellbogen in die Seite. Er sah sie stumm, ohne zu lächeln, an. Da fuhr sie auf: „Zum Donnerwetter noch mal, und da sagst du nichts?!“ Sie hatte ihn mit beiden Händen gefasst und gerüttelt: „Wach auf, wach doch endlich mal auf! Hast du nicht alles, was das Herz begehrt: Gut, Schloss, Saat und Ernte — viel Geld — und nun noch ’ne hübsche junge Frau?!“ — — — —

Wie damals vor Jahren die Grossmutter ihn gerüttelt hatte, so rüttelte heute Doris Mittler den Schlossherrn von Güldenaue. Ohne anzuklopfen war sie bei ihm eingetreten, sie durfte das jederzeit. Mit beiden Händen hielt sie seine Schultern gefasst — sie war von gleicher Grösse mit ihm —, sah ihm so, ganz nah, mit klugen, aufmerksamen Blicken ins Gesicht. Vor den Leuten nannten sie sich selbstverständlich ‚Sie‘, hier aber, allein mit ihm in seinem Zimmer, sagte sie ‚Du‘. „Frau Ingeborg Bade will herkommen — hörst du, William? Ich habe eben einen Brief von ihr bekommen. Sie fragt bei mir an — vorsichtshalber, du würdest ja doch nicht antworten —, ob ihr Besuch nächste Woche passen würde?“

„Was meinst du dazu?“ fragte er.

„Meinetwegen kann sie kommen. Soll ich dir den Brief mal vorlesen?“

„Wozu?“

„Sie schreibt so geheimnisvoll: sie müsste in einer über ihr Wohl und Wehe entscheidenden Angelegenheit deinen Rat einholen.“

„Meinen Rat?“ Er zog fast verlegen die Schultern. „Ich habe gar kein Interesse für ihre Angelegenheiten; wahrscheinlich wieder irgendeine ihrer Liebesgeschichten, mit der sie mich behelligen will.“

Doris Mittler lächelte befriedigt: grossen Anteil an der Schwägerin nahm William wirklich nicht! Dann redete sie ihm zu: „Du kannst sie nicht gut abweisen, Willi, sie ist doch die Schwester deiner verstorbenen Frau!“

„Meinetwegen, dann lass sie kommen. Aber das sage ich dir, ich kann mich nicht um sie kümmern, ich habe keine Zeit. Gar keine.“

„Zeit — du hast keine Zeit?!“ Sie lachte unwillkürlich.

Er fuhr unwillig auf: „Habe ich auch nicht. Ich habe Kopfweh!“ In einer schmerzhaften Regung fasste er sich nach der Stirn; dieser Griff war seiner Hand schon eine gewohnte Bewegung. „Immer Kopfweh!“

„Oh, oh“, machte sie bedauernd. Und sie streichelte ihm Stirn und Wange.

Er hielt still, liess sich streicheln und schloss die Augen dabei; die Berührung ihrer Hand tat ihm wohl. „Es wird mir doch noch einmal so gehen wie meinem Vater“, seufzte er. „Immer dieses Kopfweh. Eines Tages werden sie mich auch ins Irrenhaus bringen.“

„Aber William!“ Sie wurde förmlich böse. „Was sind das für strafbar törichte Gedanken! Nimm dich doch zusammen, lass dich nicht so gehen!“

Er stöhnte auf, nahm ihre beiden Hände und legte sein Gesicht hinein.

Sie sah auf ihn nieder. Ihre Stimme wurde weicher, ihre Augen schimmerten feucht: „Armer Mann, wie quälst du dich!“ Heute war es wieder ganz schlimm mit ihm, er hatte seinen melancholischen Tag, da durfte man ihn nicht schelten, sonst wurde er böse, und es gab eine Szene. So klagte sie denn nur: „Du hast mich doch gar nicht lieb! Sonst würdest du so etwas nicht sagen, du tust mir ja weh damit. Du hast doch auch gar keinen Grund, so zu reden.“

„Keinen Grund —?“ Er hob das Gesicht aus ihren Händen und sah sie verstört an. „Wenn dein Vater — ach, vielleicht hat auch schon dein Grossvater und dein Urgrossvater zu viel gesoffen —, wenn dein Vater so getrunken hätte, dass er das Delirium bekam, bei lebendigem Leibe schon tot war, würdest du dann nicht auch Grund genug haben, um dich zu fürchten? Grund genug, wahrhaftig! Und dazu diese Kopfschmerzen, immer elende Kopfschmerzen. Nicht zum Ertragen“, schrie er aufgeregt, schleuderte ihre Hände von sich und rannte durchs Zimmer.

Sie wartete still, bis seine Schritte sich verlangsamten, bis sein unruhiges Hin und Her ganz aufhörte, bis er am Fenster stand und durch die geschlossene Scheibe hinausstarrte.

Es war Frühling, man hörte, dass laut die Vögel sangen. Gezirp, Gezwitscher von vielen, dazwischen ein süsses, warmtönendes Flötenlied. Unten vorm Fenster, mitten auf dem Rasenplatz, den hochstämmige Rosenstöcke im ersten Trieb einrahmten, ein vollerblühtes rundes Bäumchen; es stand wie ein holdes Wunder in seinem rosa Kleid. Und weiterhin noch andere Bäume, die blühen wollten. Und das Grün so grün, und erste Blumen so bunt, und über der des Frühlings sich freuenden Erde der Himmel, so licht und so blau. Und er sah es nicht. Ach, der Arme, dem das alles gehörte, und der doch nichts davon hatte! Doris Mittler warf einen zornigen Blick hinauf zur Zimmerdecke: gerade oben darüber sass sie in ihrem Zimmer, die Alte! Hätte sie es doch für sich behalten, ihm nicht erzählt, was einstmals war! Freilich, was wusste die, was Nerven waren! Leise trat sie hinter den am Fenster Stehenden und legte den Arm um seine Schultern: „Musste sie dir’s erzählen?“

„Warum denn nicht?“ Es klang gereizt. „Nun weiss ich doch, was mit uns Längnicks los ist. Wenn ich doch nur etwas zu arbeiten hätte! Bei der Arbeit vergisst man. Aber ich habe keine — unintelligent, träge.“ Seine Stimme sank, wurde fast tonlos: „Essen, trinken, schlafen — man sollte mich totschlagen.“

Sie war erschrocken, seine Stimme erschütterte sie. Er machte sich Vorwürfe über sein müssiges Leben — war es denn nicht auch schrecklich, so dahinzuleben?! „So nimm dir doch etwas vor“, bat sie herzlich. „Könntest du nicht vielleicht den Inspektor abschaffen?“

Er schüttelte verneinend.

„Dann doch wenigstens den Vogt. Du hast viel zu viel Leute; was läuft hier alles herum. Güldenaue ist nicht gross, eigentlich nur ein Luxusgut. Du könntest es ganz gut allein schaffen. Es würde dir so viel Freude machen, über die Felder zu gehen. Du könntest ja auch reiten.“ Sie klinkte das Fenster auf, stiess die Flügel weit zurück und atmete tief: „Ah, es ist schön, wunderschön, wenn in der Frühe die Lerchen singen! Oder wenn am Abend die Sonne in Korn und Wiesen versinkt. Versucht’s doch mal, ob es dir nicht möglich wäre, dich selbst etwas mehr zu kümmern. Ich könnte dich gut dabei unterstützen, Willi, die Bücher führen, die Löhne auszahlen, die —“

„Ach was, ach was“, unterbrach er sie heftig. „Alles Unsinn. Ich werde Güldenaue verkaufen und nach der Stadt ziehen. Nach Breslau, nach Dresden, vielleicht nach Berlin. In der Stadt ist immer was los, man hat Zerstreuung.“

„Und Lore?“ fragte sie vorwurfsvoll. Um Gottes willen, nur nicht in die Stadt ziehen, dachte sie. Sie hatte noch genug davon, wie er aus Berlin zurückgekommen war im vorigen Winter — vollständig ausgeplündert, geistig und körperlich. Es hatte lange gedauert, bis er sich erholt hatte. Gut, dass sie Lore zum Vorwand nehmen konnte! Und war es denn nicht auch so, hatte der Arzt nicht gesagt, dass für Lore Landluft das Zuträglichste sei? Ihre Mutter war genau so rosig gewesen, niemand hätte gedacht, dass diese blühende junge Frau einer Grippe so wenig standhalten könnte. Hohes Fieber, wenige Tage nur, dann war’s aus gewesen; das Herz zu schwach, es versagte plötzlich. Vielleicht war Lores Herz auch nicht stark. „Willi, denk an Lore! Ach, in die Stadt eingesperrt, was soll da aus dem armen Kind werden?!“

„Ach so, ja, Lore.“ Es klang enttäuscht. Aber doch war William Längnick im Grunde froh, dass aus seiner plötzlich aufgetauchten Idee, Güldenaue zu verkaufen, nicht Wirklichkeit werden konnte. Ach, alles, was er in Angriff nehmen wollte, zerfloss eben in nichts! Er hatte weder in den Händen noch in den Gedanken die Kraft, etwas festzuhalten, geschweige denn auszuführen. Die Grossmutter würde es ja auch gar nicht erlaubt haben. „Ich bin krank“, seufzte er.

Ja, das war er! Sie sah ihn besorgt an: was war es für eine Krankheit? Doktor Schmieder konnte sie ihr nicht nennen. Ach, war es die Krankheit des Degenerierten? Geschlechter wachsen nicht aufwärts, sie wachsen niederwärts; wie bei den Fürsten so bei den Bauern. Und doch hätte Doris Mittler ihn geheiratet, nicht nur seines Reichtums wegen — als seine Witwe würde sie in bester Lebenslage zurückbleiben —, sie hatte ihn auch wirklich lieb, trotz seiner Schwächen. War er nicht wie ein Knabe, der sich an sie schmiegte, wenn ihm ganz bange war? Und geheiratet um Lores willen. Sie fühlte es wohl, man wollte ihr dieses Kind, das sie gehütet, seitdem es seine Mutter verloren hatte, entwinden. Oh, die, die da oben! Unwillkürlich stellte sie sich fester auf ihre Füsse. Aber musste diese Alte, dieses ‚Gespenst von Güldenaue‘, wie das Dienstpersonal sie nannte, denn ewig leben? ‚Des Menschen Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre‘ — diesen Psalm hatte Lore erst kürzlich gelernt —, die Urgrossmutter war ja nun schon weit über achtzig Jahre! Das gab Beruhigung. Wer weiss auch, ob William sich nicht doch noch mit ihr trauen liess? Dann hätte sie alle Rechte. Doris drückte sich enger an ihn, sie legte ihre Wange an die seine: „Mein Guter, du Lieber!“

Er lächelte und legte den Arm um sie: „Du bist gut, Doris — ach ja, wenn ich dich nicht hätte!“

So standen sie eine Weile. Das viele Licht, das die Sonne und der frischgrüne Rasenplatz von draussen hereinsandten, fiel hell auf die zerwühlte Stirn des kaum Vierzigjährigen, auf sein Haar, das an den Schläfen schon ergraute, mitten in sein Gesicht, das so sympathisch war, wenn es einen freundlicheren Ausdruck zeigte. Auch ihr Gesicht war voll beschienen: ein kluges Gesicht, gesund gebräunt, mit klaren braunen Augen. Es war auch klug, dass sie, scheinbar sich unterordnend, jetzt nochmals fragte: „Und an die Bade soll ich also schreiben, dass es dir recht ist, wenn sie kommt?“

„Nein, es ist mir gar nicht recht.“ Er sagte es förmlich kläglich. Seine Augen blinzelten, es zog wie Angst über sein Gesicht: „Sie will mich heiraten!“

„Dann heirate mich doch schon lieber“, sagte sie lachend. Ihr frischer Mund war ganz nahe dem seinen.

„Nein“, sagte er plötzlich voll ungewohnter Energie, „ich habe dich lieb. Heiraten —?! Ich bin dir viel zu dankbar dazu.“