Carrie Cassidy liegt die Welt zu Füßen: Sie ist Anfang dreißig, arbeitet für eine angesehene irische Modefirma und lebt in einem begehrten Stadtteil Dublins. Doch seit dem tragischen Tod ihrer Eltern fühlt sie sich wie betäubt. Ihre Welt steht still, weder auf ihren Beruf noch auf die Liebe kann sie sich richtig einlassen. Als Carrie durch Zufall auf eine rätselhafte Geschichte aus der Vergangenheit ihrer Mutter Sylvie stößt, beschließt sie, der Sache auf den Grund zu gehen. Was ist damals im Sommer 1980 wirklich passiert? Carrie beginnt, den Nachlass ihrer Eltern zu sichten, und kehrt zurück an die Orte, die sie seit deren Tod gemieden hat: in ihr Elternhaus in Dublin und nach Willow Hill, das Familienanwesen in Cork im Süden Irlands. Doch statt Antworten zu finden, tun sich immer mehr Ungereimtheiten auf. Schnell wird klar, dass Carrie an ein Geheimnis zu rühren scheint, das jemand um jeden Preis verborgen wissen will. Für sie ist es jetzt an der Zeit, sich ihren Dämonen zu stellen und Vertrauen zu fassen – und Hilfe ausgerechnet von dem Mann anzunehmen, den sie zurückgewiesen hat.

Zoë Miller, geboren in Dublin, arbeitete als freie Journalistin und veröffentlichte Kurzgeschichten, für die sie auch ausgezeichnet wurde. 2009 erschien ihr erster Roman. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Dublin.

ZOË MILLER

Das Geheimnis jener Tage

ROMAN

Aus dem Englischen von Peter Knecht

Insel Verlag

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel A Question of Betrayal bei Hachette Books Ireland, Dublin, a division of Hachette UK Ltd., London. All rights reserved.

Umschlagfoto: Vince Bevan/Millennium/plainpicure

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 01. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4496.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2017

Copyright © Zoë Miller 2015

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eISBN 978-3-458-74915-8

www.insel-verlag.de

In Liebe den drei Sternen gewidmet, die mein Leben erhellen –

Cruz, Tom und Lexi

Mögt ihr immer so hell strahlen!

Erstes Kapitel

September 1980

Sie hat nicht vor, jemandem das Leben zu retten, als sie an diesem Abend das Haus verlässt. Sie ist vierundzwanzig und hat alle Hände voll zu tun, sich selbst zu retten. Doch am Ende tut sie beides.

In der kleinen Bucht, die versteckt zwischen zwei Landzungen liegt, sucht sie Zuflucht. Jeden Abend, wenn das Licht weicher wird und eine Art Flaute eintritt, als hielte die Welt den Atem an, bevor der Tag in den milden Abend hinübergleitet, sitzt sie dort einsam in den Dünen. Sie verbirgt ihren Schmerz hinter einer Maske von Gleichmut und blickt auf das weite, von einem endlosen Himmel überspannte Meer, das sich vor ihr kräuselt, und auf das Dünengras, das in der Brise über den Sand tanzt.

Und sie hört Musik. Hinter den Dünen stehen verstreut ein paar Bungalows und Wohnwagen. In den Sommermonaten sind die meisten von Familien bewohnt, aber jetzt, wo die Kinder wieder zur Schule gehen müssen, sind sie verlassen. Bis auf einen. In dem großen Haus am Ende des Fahrwegs, etwas abseits von den anderen, ist noch jemand. Angeblich gehört es jemandem aus dem Ausland. Von dort hat sie an den letzten drei Abenden Klaviermusik gehört. Die Töne sind voller Leben, ein glitzernder, sprudelnder Strom, der durch die stille Luft tanzt wie Wasser über Steine. Die Musik tröstet ihr Herz und erfüllt sie mit etwas, von dem sie gedacht hat, sie würde es nie mehr empfinden – Hoffnung. Es fällt ihr plötzlich leicht, sich vorzustellen, dass alles wieder gut wird, dass ihr noch alles offensteht.

Sie würde am liebsten für immer hier sitzen und zuhören. Es ist ein heimlicher Luxus, den sie sich leistet: Hier in den Dünen kann sie dem ganzen heillosen Elend ihres Lebens, das nur noch ein einziger Scherbenhaufen ist, für eine Weile entkommen.

Als sie die Schuhe sieht, ist sie überrascht, denn normalerweise hat sie die Bucht für sich allein. Sie stehen oberhalb der Hochwasserlinie aus Seetang und Treibholz: graue Sportschuhe mit weißen Schnürsenkeln. Als sie näher kommt, sieht sie in einem der Schuhe einen zusammengefalteten Zettel. Er steckt zwischen den Schnürsenkeln, sodass der Wind ihn nicht wegwehen kann. Ihr Magen krampft sich zusammen, und ein ungutes Gefühl beschleicht sie. Ihre eigenen Sorgen sind plötzlich vergessen.

Mit zitternden Fingern nimmt sie den Zettel und faltet ihn auseinander. Schwarz gekritzelt eine Unterschrift: Luis. Darüber drei kurze Sätze in krakeliger Schrift, in einer fremden Sprache, vermutlich Französisch. Sie versteht nur das, was in der letzten Zeile steht: Pardonnez-moi.

Verzeihung? Wofür? Sie blickt auf, sucht den Horizont ab. Zuerst verschwimmt alles vor ihren Augen, doch dann entdeckt sie eine einsame Gestalt, kaum auszumachen in dem grauen Gewoge des Meeres, eine Gestalt, die zielstrebig gegen die Strömung der Flut hinausschreitet, immer dem fernen Horizont zu.

Sie hält den Atem an, und dann rennt sie los, so schnell sie kann, über den Strand, ins seichte Wasser. Es spritzt, durchnässt ihre Jeans, macht sie kalt und schwer. Doch sie kämpft sich vorwärts mit aller Kraft. Der Mann ist groß und blond und trägt ein graues T-Shirt. Das Wasser geht ihm schon bis zur Taille, jeden Moment kann er nach vorn kippen. Ihr reicht es gerade bis zur Hüfte, mit den nassen Kleidern kommt sie nur langsam voran.

»Hey!«, schreit sie gegen den Wind, »warten Sie! Warten Sie! Bleiben Sie stehen!« Sie ringt nach Luft und fuchtelt hilflos mit den Armen.

Er geht unbeirrt weiter, ist mittlerweile bis zur Brust im Wasser. Ihr ist eiskalt und eine schleichende Angst hat sie ergriffen, aber da kommt ihr eine Idee: »Hilfe!«, ruft sie. »Helfen Sie mir, bitte!«

Ihr Herzschlag setzt einen Moment aus, als er stehen bleibt, den Kopf leicht gekippt. »Hilfe!«, schreit sie noch einmal. »Sie müssen mir helfen!«

Er dreht sich um. Er ist nicht weit weg von ihr, aber sein Gesicht ist ausdruckslos. Als würde er sie gar nicht richtig sehen, als wäre er in eine andere Welt entrückt.

»Hier bin ich«, ruft sie. »Luis?«

Er bewegt sich nicht. Er befindet sich nahe an der Stelle, wo der Grund steil abfällt – ein Schritt über die Kante, und er wäre verloren. Oder der Rippstrom erfasst ihn und reißt ihn mit. Sie kämpft sich weiter durchs Wasser, das gegen ihre Brust schwappt; sie muss achtgeben, dass sie in der Strömung nicht den Halt verliert.

»Hier bin ich«, ruft sie.

»Gehen Sie weg!«, ruft er zurück.

»Ich kann nicht. Sie müssen mir helfen. Kommen Sie, bitte.«

»Nein. Verschwinden Sie.«

»Bitte, helfen Sie mir!«, schreit sie. Eine Welle zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie stößt einen spitzen Schrei aus, als sie nach hinten gerissen wird und das Wasser über ihr zusammenschlägt. Sie schluckt Salzwasser, prustet, schnappt nach Luft und rudert mit den Armen, dann findet sie wieder festen Halt unter den Füßen. Als sie aufschaut, sieht sie, dass er umgekehrt ist und durch die Wellen zum Land hin strebt.

»Wo sind Sie?«, ruft er. »Sagen Sie etwas, ich muss Sie hören.«

Sie zappelt und schlägt hektisch im Wasser um sich. »Hier! Machen Sie schnell!«

Er wendet sich ihr zu, und erst jetzt erkennt sie, dass seine Augen, die auf sie gerichtet sind, sie nicht sehen. Der Mann ist blind. Sie ruft weiter und spritzt und prustet, während sie sich langsam rückwärts zum Land hin bewegt und ihn so ins Sichere lockt. Schließlich erreicht er sie, die Arme ausgestreckt. Sie greift nach ihm, legt einen Arm um seine Hüfte und hält ihn fest.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?« Er tätschelt ihren Kopf.

»Ja, danke. Ich danke Ihnen.« Sie klappert mit den Zähnen vor Kälte, sie bringt die Worte kaum hervor. Die Wellen brechen gegen ihre Körper, aber sie haben jetzt festen Halt, sodass die Strömung ihnen nichts anhaben kann.

»Was sollte das?«, fragt sie. Sie redet unnatürlich laut, um das Tosen des Meeres zu übertönen.

»Nach was sah es denn aus?«

Sie kann seinen Akzent nicht einordnen. Nicht deutsch, aber so ähnlich. Was macht der Mann hier im Süden von Cork? Wie ist er in diese Bucht gekommen? Ein reichlich weit abgelegener Ort, dieser verlassene Strand bei Kinsale.

»Das war ganz schön dumm von Ihnen, da rauszugehen«, sagt sie. »Die Strömung ist gefährlich.«

»Ich wollte, dass sie mich hinunterzieht.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

Der Gegensatz zwischen dem großgewachsenen, so lebendig wirkenden jungen Mann mit dem sensiblen, klugen Gesicht und dem lockigen blonden Haar, der da neben ihr steht, und der Eiseskälte des leblosen Bildes, das sie vor ihrem inneren Auge sieht, ist so massiv, dass es ihr das Herz zusammenkrampft. Was hat ihn dazu getrieben? Sie selbst kennt auch düstere Stunden, leere Tage, an denen sie sich dazu zwingen muss, zu lächeln, sodass niemand, nicht einmal ihr Ehemann, ihr ansieht, dass sie im Innern weint, sie kennt lange Nächte, in denen sie Fluten von Tränen mit Gewalt zurückdrängt, aber sie hat nie daran gedacht, alldem ein Ende zu setzen. Wie könnte sie? Sie hat gesehen, wie unerbittlich der Tod ist, und seine grausame Endgültigkeit erlebt.

»Was wissen Sie davon, was ich will?«, sagt er. »Sie kennen mich nicht, Sie wissen nicht das Geringste von mir.«

In seinem angespannten Gesicht ist etwas, das sie tief berührt. »Sie haben recht.« Sie seufzt leise. »Ich weiß es nicht. Danke, dass Sie mir geholfen haben.« Sie hakt einen Finger in eine Gürtelschlaufe seiner Jeans ein und hofft, sie kann ihn so davon abhalten, wieder hinauszugehen.

»Es war dumm von Ihnen, mir nachzulaufen«, sagt er.

»Ich habe versucht, Sie zu retten. Stattdessen haben Sie mich gerettet.«

Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie er den Kopf schüttelt. »Sie haben mir keine Wahl gelassen. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte ich es jetzt hinter mir. Sie sind schuld, dass ich noch da bin.«

»Gut«, sagt sie, »das Leben jedes Menschen ist kostbar. Und Sie denken offenbar genauso, sonst wären Sie nicht umgekehrt, um mir zu helfen.«

Eine Weile lang ist es still bis auf das Tosen der Brandung, das Rauschen der Wellen und die Schreie der Möwen.

»Wir können nicht ewig hier stehen.« Sie fasst ihn am Arm. »Kommen Sie, wir müssen raus aus dem kalten Wasser.«

»Nein«, sagt er, und sein Gesicht wird noch härter. »Ich wollte das nicht. Sie hätten mich in Ruhe lassen sollen.«

»Sie können von Glück reden, dass ich zufällig vorbeigekommen bin.« Sie lässt sich ihre Angst nicht anmerken und versucht es jetzt auf eine andere Art. »Kommen Sie mit – Sie werden mich ohnehin nicht los.«

»Wohin soll ich denn? Da ist nichts«, sagt er.

»Unsinn. Wie können Sie so reden?« Eigentlich möchte sie ihm sagen, er solle sich einfach nur umschauen. Die leicht verschleierte Atmosphäre des frühen Abends hat etwas so sanft Beruhigendes, die langsam kreisenden Möwen vor einem rosa-grauen Himmel, die Eleganz der Vögel, die so dicht über die Wellen fliegen, dass man ihre Schatten auf der ungeheuren Fläche zerknitterter grauer Seide dahinhuschen sieht. Aber sie erkennt, wie vergeblich ihre Worte wären. Er ist in einer düsteren Welt gefangen. Sie steht da, zitternd vor Kälte und Schrecken, an ihn geklammert in dem kalt strudelnden Wasser. Sie bemüht sich, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Luis? Sie heißen doch Luis, nicht?«

Er nickt.

»Vielleicht ist das alles ganz falsch, was ich sage … Ich bin nicht besonders gut in solchen Situationen.« Es hat dramatische Momente in ihrem Leben gegeben, vor allem in letzter Zeit, aber so etwas noch nicht. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie verzweifelt Sie sein müssen.« Sie bemüht sich, ganz sanft zu sprechen, obwohl ihre Zähne klappern.

»Versuchen Sie nicht, mir zu erklären, wie ich mich fühle.«

»Okay. Aber, schauen Sie, die Dinge ändern sich, Gefühle kommen und gehen. Jeder hat mal verzweifelte rabenschwarze Momente, aber auch die gehen vorbei.«

»Und wenn sie nicht vorbeigehen?«

»Alles verändert sich, nichts bleibt, wie es ist. Es gibt immer Hoffnung, es gibt immer etwas, für das es sich lohnt zu leben, und wenn es noch so unscheinbar ist.«

Sie hat das in ihrem eigenen Leben bestätigt gefunden. Selbst wenn alles aussichtslos scheint und noch so viele Hoffnungen und Wünsche enttäuscht werden, so ist doch immer eine Stimme in ihrem Kopf, die ihr ganz leise zuredet, nicht aufzugeben, ihr versichert, dass sich alles zum Guten wenden wird. Jeden Tag bemüht sie sich, etwas zu finden, das sie zum Lächeln bringt, eine kleine Freude, die ihr neue Kraft gibt und sie tröstet, und wenn es nur der Anblick der letzten Rose des Sommers ist. Jeden Abend sitzt sie in den Dünen, nimmt die Schönheit der Natur in sich auf, genießt die Musik, die durch die Luft perlt.

»Gibt es wirklich nichts, das Sie zurücklassen würden? Niemanden, der Sie vermissen würde, wenn Sie nicht mehr da wären?« Sie blickt umher, hinüber zu den Landzungen, sucht die kleine Bucht ab nach jemandem, der ihr zu Hilfe kommen könnte, aber da ist niemand, natürlich nicht: Eben diese Ruhe ist der wichtigste Grund, warum sie hierherkommt. Sie denkt an all die Dinge, die ihr Trost spenden im Dunkel der Nacht, aber es ist gut möglich, dass sie für Luis keinerlei Nutzen haben, schließlich weiß sie nicht, vor welchen Dämonen er auf der Flucht ist.

»Und selbst wenn es niemanden gäbe, wollen Sie denn wirklich nie wieder die Sonne auf Ihrem Gesicht spüren oder den Wind in Ihren Haaren?«, fragt sie. »Eine salzige Brise schmecken, eine saftige reife Erdbeere … oder den Kuss einer Frau? Oder den Duft einer Blume riechen oder frisch gemähtes Gras?«

Da sagt er etwas, das sie überrascht: »Sie haben eine hübsche Stimme.«

»Finden Sie?« Es verwirrt sie, dass er sich in so einem Moment, in dem es für ihn um Leben und Tod geht, Gedanken über ihre Stimme macht.

»Ja, sie klingt sanft und irisch. Außer wenn Sie mich anschreien.«

»Ich habe Sie angeschrien, weil mir kalt ist und weil Sie mich böse machen. Es ist so schön hier, aber Sie wollen ihr Leben wegwerfen, ohne jede Rücksicht auf die Gefühle anderer Leute.«

»Langsamer. Sie sprechen zu schnell.«

Er möchte, dass sie weiterspricht. Er hat sich nicht losgerissen, er hat nicht versucht, wieder hinauszugehen ins tiefe Wasser, wo die Strömung stark ist. Sie hofft, er findet ein kleines bisschen Trost in der Berührung ihres Arms und im Klang ihrer Stimme, auch wenn sie lauter falsche Dinge sagt.

»Sagen Sie … sagen Sie mir, wie es aussieht. Das Meer. Beschreiben Sie es, damit ich es mir vorstellen kann.«

Ihr ist bewusst, dass sie ihn nicht bevormunden darf, indem sie die spektakuläre Szene weniger prächtig darstellt, als sie wirklich ist, nur weil er sie nicht sehen kann. Und so schildert sie ihm die Farben, die ungeheure Weite, wie sich der Himmel mit seinen bunten Schlieren in dem zerknitterten Wasser spiegelt, die kreisenden Möwen, die Vögel, die im Tiefflug über den Wellen dahinflitzen. Er hört schweigend zu; sie stellt sich vor, wie er sich im Geist ein Bild macht.

Als sie fertig ist, tritt Stille ein, dann sagt er leise: »Danke. So wie Sie es beschreiben, klingt es … wunderschön.«

»Es ist wirklich so. Ich komme jeden Abend hierher, sitze in den Dünen und höre der Musik zu.«

Er horcht auf und wendet ihr sein Gesicht zu. »Was für Musik?«

»Klaviermusik.« Ihre Stimme zittert, so kalt ist ihr. Sie bringt die Worte kaum hervor, aber sie sieht, dass er gespannt zuhört. »Sie kommt aus einem der Häuser auf der Landzunge. Sie ist bezaubernd. Genauso schön wie das Meer und der Himmel. Sie versetzt mich immer in eine hoffnungsvolle Stimmung. Sie sollten diese Musik auch einmal hören, Luis. Es würde Ihnen guttun.«

Nach kurzem Schweigen sagt er: »Sie sind vollkommen ausgekühlt.«

»Das versuche ich Ihnen schon die ganze Zeit klarzumachen. Sie übrigens auch. Können wir jetzt endlich rausgehen? Bitte, Luis.«

»Wie heißen Sie?

»Wie ich heiße

»Ist das so eine abwegige Frage? Sie kennen meinen Namen, wieso sollte ich Ihren nicht erfahren?«

»Es ist …« Sie zögert. Ich weiß kaum etwas von Ihnen, und mir wäre es lieber, wenn Sie von mir gar nichts wüssten. Sie holt tief Luft. »Wenn es unbedingt sein muss: Ich heiße Sylvie.«

»Ein hübscher Name. Sie haben gar keinen Grund, ihn zu verschweigen. Im Gegenteil. Erzählen Sie mehr von dieser Musik, Sylvie, und wie sie auf Sie wirkt.«

Tropfnass und unterkühlt, wie sie ist, bemüht sie sich um einen möglichst unbefangenen Ton, als sie ihm beschreibt, wie die Musik klingt und welche Freude sie in ihr auslöst. Zu ihrer Erleichterung geht er mit ihr, als sie sich in Richtung Strand in Bewegung setzt, aber sie lässt ihn nicht los, für den Fall, dass er seine Meinung ändert.

Sie würde ihm so gern die Wahrheit sagen und sich den Kummer von der Seele reden, aber sie versteckt sich hinter der Maske eines lächelnden Gesichts, obwohl er sie gar nicht sehen kann. Sie kann ihm nicht sagen, dass die Musik in ihr wundes Herz fließt wie lebenspendendes Wasser in eine Wüste, sie für eine Weile all die traurigen Momente vergessen lässt, die ihren Schlaf stören, und dass sie diese lähmende Angst vertreibt, die seit der düsteren Wendung, die ihr Leben genommen hat, von ihr Besitz ergriffen hat.

Zweites Kapitel

Carrie Cassidy schaute mit fasziniertem Staunen auf das winzige schlafende Gesicht ihres Patenkinds Lucy: Unglaublich, wie friedvoll es war, einfach so dazusitzen mit einem Baby im Arm. Sie konnte ganz sie selbst sein, ohne sich vor irgendjemandem verantworten zu müssen, so als wäre sie zu Hause in ihren eigenen vier Wänden im Faith Crescent. Neugeborene Babys erwarten nicht von einem, dass man klug ist oder unterhaltsam oder dass man irgendwelche Erklärungen abgibt. Sie vertrauen einem vorbehaltlos, und man muss nichts weiter tun, als dasitzen, sie in den Armen halten und das warme Gewicht spüren und die unfassbar weiche Haut ihres Gesichts streicheln. Sie wissen nicht, wie zermürbt man sich mit dreißig fühlen kann.

Eine Stimme durchbrach die Stille. »Du siehst aus, als wolltest du schon mal üben.«

Carrie zuckte zusammen. Die winzig kleine Hand des Säuglings öffnete sich im Reflex, seidig zarte Fingerchen streckten sich zu einem fünfzackigen Stern. Carrie blickte auf und sah einen Schatten der Besorgnis über das Gesicht ihrer Tante Evelyn huschen.

Evelyn Sullivan fingerte an ihrer Perlenkette. Sie sah sehr schick aus in dem aquamarinblauen Taftkleid, das Carrie ihr besorgt hatte. Es war von Jade, der Firma, bei der Carrie angestellt war.

»Entschuldige«, sagte sie, »das war gedankenlos von mir … Ich kann einfach meine große Klappe nicht halten.«

»Ist schon okay.« Carrie zuckte die Achseln und lächelte gezwungen.

Ihre Tante beugte sich vertraulich vor und berührte leicht ihren Arm. »Wie geht es dir denn? Ich meine: Bist du über die Sache mit Mark hinweg?«

Es wurde plötzlich ganz still um sie herum, als sein Name in Carries Kopf einschlug und eine Lawine schmerzhafter Bilder auslöste. Ihre Tante setzte sich auf einen Stuhl neben ihr und sah sie freundlich aufmerksam an. Carries Herz raste. Wie es ihr ging? Sie konnte die Inhaltslosigkeit des Lebens, das sie führte, nicht in Worte fassen, sie ging täglich zur Arbeit und dann nach Hause, aber immer befand sie sich in einer Art luftleerem Raum. Manchmal wurde ihr schwindlig, als ob der Boden unter ihr schwankte, sei es die Straße während der Mittagspause oder der Teppichboden in ihrem Büro. Das Einzige, was ihr im Moment solide und sinnvoll vorkam, war dieses kleine Bündel, das so vertrauensvoll in ihren Armen ruhte. Selbst wenn sie imstande gewesen wäre, zu beschreiben, wie sie sich fühlte, wäre dieser Aprilnachmittag nicht der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Die ganze zahlreiche Verwandtschaft der Sullivans war in einem Hotel im Süden von Dublin zusammengekommen, um Evelyns neue Enkelin Lucy in der Welt willkommen zu heißen und ihre Taufe zu feiern.

»Mir geht es gut«, log sie und drückte Lucy an sich wie ein warmes tröstendes Kissen. »Ich denke, ich bin gerade noch mal davongekommen. Heiraten und Kinderkriegen ist nichts für mich.«

Ihre Tante lächelte. »Mach dich nicht schlechter, als du bist, Carrie. Du wärst eine wunderbare Mutter.« Sie sprach hastig weiter, als fürchtete sie, ihre Worte hätten die Sache nur noch schlimmer gemacht. »Es muss eben der richtige Mann sein. Ehe und Kinder sind was Schönes, aber selbst bei Partnern, die sich wirklich lieben, kann es Phasen geben, in denen die Hölle los ist, darum sollte man schon sehr sicher sein.«

Ohne es zu wollen hatte Evelyn genau den wunden Punkt getroffen. Man muss sicher sein, dass es der Richtige ist. Aber das allein genügt nicht. Der Blick ihrer Tante streifte Carries linke Hand, und ihr wurde wieder einmal schmerzhaft bewusst, wie leicht ihr Mittelfinger sich anfühlte ohne den Ring. Sie spürte ihn manchmal und tastete mit dem Daumen danach. Wenn sie wieder einmal vergaß, dass der Ring in einer mit schwarzem Samt ausgekleideten Schachtel ganz unten in ihrem Nachtkästchen begraben lag.

»Es kommt, wie es kommen muss. Ich möchte nur, dass du glücklich wirst, ob du dich nun so oder anders entscheidest. Das hätte dir auch deine Mama gewünscht … und dein Papa.« Ihre Stimme verlor sich. »Manchmal denke ich … Wenn nur Sylvie und John noch da wären, sie wären so stolz auf dich. Aber jetzt geht schon wieder meine große Klappe mit mir durch …«

Carrie warf ihrer Tante jenes eigentümliche Lächeln zu, hinter dem sie oft ihre Trauer verbarg, wenn die Rede auf ihre Eltern kam. »Ach, komm, heute ist ein Festtag für dich und die ganze Familie. Wir feiern ein neues Leben. Was passiert ist, lässt sich sowieso nicht ändern.«

»Ja, das weiß ich, aber ich hab dich gern, Carrie. Wir alle lieben dich, du gehörst zur Familie, und du bist uns wichtig, das darfst du nie vergessen. Du bist genauso meine Tochter wie Fiona. Glaub nie, du wärst allein auf der Welt.«

Carrie grinste. »Wie könnte ich das glauben, wenn ich die ganze Zeit diese ganze Horde um mich habe, die mich ständig daran erinnert, wo ich hingehöre?« Sie blickte auf die lebhafte Versammlung in dem Saal, die weißen und rosa Ballons, die durch die parfümgeschwängerte Luft trieben, die Tische, auf denen Weingläser und Teller mit Überresten des Desserts standen. Sie befand sich im Schoß ihrer Familie, unter Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen. Sie war im Großen und Ganzen sehr froh darum, mit dieser lärmenden liebenswerten Bande verwandt zu sein, auch wenn sie ihr manchmal auf die Nerven ging.

Die Sullivans. Schon der Name war eine Macht. Ihr Großvater Jack Sullivan aus Cork hatte in den 1960er Jahren das Baustoffunternehmen gegründet, das jetzt von seinen Söhnen Sean und Andrew geleitet wurde. Diese hatten sich mit ihren Ehefrauen Evelyn und Clare in der Nachbarschaft von Willow Hill, dem Stammsitz der Sullivans in Cork, niedergelassen und in nicht einmal zehn Jahren sieben äußerst lebhafte und umtriebige Kinder in die Welt gesetzt. Carrie war das einzige Kind von Jack Sullivans geliebter Tochter Sylvie und deren Ehemann John Cassidy. Carrie wuchs in einer Vorstadtsiedlung von Dublin auf, verbrachte jedoch viele Ferientage ihrer Kindheit zusammen mit der Schar ihrer Cousins und Cousinen auf dem Land in der freien Natur rund um das weitläufige Haus ihrer Großmutter. Die Großeltern starben, als sie ein Teenager war, die Enkel verstreuten sich und lebten jetzt teils in Cork, teils in Dublin, London und Amerika, aber der Zusammenhalt der Familie war immer noch eng, und sie waren alle zusammengekommen, um Lucys Taufe zu feiern.

»Da ist ja Fiona«, sagte Evelyn.

Carrie beobachtete ihre Cousine, die sich durchs Gewühl kleiner Kinder schlängelte, und nahm mit Bewunderung das besondere Strahlen junger Mütterlichkeit auf ihrem Gesicht wahr. Auch sie trug ein Kleid von Jade, ein Modell in duftigem Rosa, das Carrie ihr empfohlen hatte. Fiona strich unwillkürlich mit der Hand über ihren Bauch, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie noch nicht wieder so rank und schlank war wie vor ihrer Schwangerschaft, und Carrie spürte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, sie zu beruhigen und ihr zu sagen, dass sie schöner war als je zuvor.

»Wie geht’s meinem Engelchen?«, fragte Fiona und streichelte Lucys zartes Bäckchen.

»Sie ist so ein Schatz«, sagte Carrie. »Ich könnte den ganzen Tag so mit ihr hier sitzen.«

Fiona lachte. »Das ist ein Angebot.«

»Ich lasse euch beide jetzt mal allein weiter über Babypflege fachsimpeln.« Evelyn stand auf, und Fiona setzte sich auf die Armlehne von Carries Sessel.

»Danke, dass du Lucys Patin geworden bist«, sagte sie. »Darüber bin ich sehr froh.«

»Blödsinn. Es ist mir eine Ehre. Und ich habe fest damit gerechnet, dass du mich fragen würdest, schließlich war ich deine Trauzeugin.«

Sie verstummte kurz, damit beschäftigt, die Erinnerung an die Hochzeit von Sam und Fiona zu verdrängen. Sie hatte Mark bei deren Trauung zum ersten Mal gesehen, Sams Trauzeugen, groß und schlank, mit den rabenschwarzen Haaren und den grauen Augen unter dichten, dunklen Wimpern, und später erst erfahren, dass er ein guter Freund von Sam war und nach einem längeren Aufenthalt in Singapur wieder in Dublin arbeitete.

Sie erfuhr an dem Abend noch alles Mögliche andere über ihn und später noch weit privatere Dinge …

Carrie blinzelte.

»Was ich eigentlich meinte:«, sagte Fiona sanft, »Ich kann mir denken, dass es dir nicht ganz leichtfällt, in so fröhlicher Stimmung mit uns zu feiern, nach allem, was passiert ist …«

Carrie wusste, dass sie vor Fiona nicht die unverwundbare Heldin zu spielen brauchte. Sie schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Na ja, heute ist ein besonderer Tag, und mein Patenkind ist so schön und lieb und süß, dass ich ganz hingerissen bin. Sie ist so vollkommen entspannt, dass ihre Stimmung ansteckend wirkt.«

Sie blickten beide auf das schlafende Baby. »Und außerdem« – Carrie grinste – »würden meine Cousins mir das nie durchgehen lassen, dass ich hier mit Leichenbittermiene herumsitze.«

»Nie und nimmer.« Fiona lachte. »Die würden dich schon aufheitern.«

Fiona hatte drei jüngere Brüder, und Carrie war für sie fast wie eine Schwester. Während der langen Ferien, die sie als Kinder gemeinsam in Cork verbrachten, hatten die beiden immer eng zusammengehalten gegen die vereinte Macht der Jungs in der Familie. Ihre Freundschaft hatte die Kinderjahre überdauert, und in der Zeit, als Carrie sich nach dem Tod ihrer Eltern allein durchs Leben schlagen musste, war Fiona immer für sie da gewesen.

»Wir müssen um sieben hier raus«, fuhr Fiona fort. »Sam und ich gehen dann mit Lucy nach Hause, aber ein paar von den anderen treffen sich anschließend an der Bar und feiern noch ein bisschen weiter. Vielleicht hast du ja auch Lust?«

Sam und ich. Fiona verwendete diese Worte, ohne darüber nachzudenken, so selbstverständlich gehörten sie und Sam zusammen, eine Einheit, die nun auch noch das Baby umfasste.

»Ich nehme dir jetzt das kleine Schoßtierchen ab«, sagte Fiona und streckte die Arme nach Lucy aus. »Sie hat sicher Hunger und braucht eine frische Windel.«

Carrie hob das Baby hoch und gab es Fiona. Die Stelle, wo es weich und warm gelegen hatte, fühlte sich kalt und leer an. Wie um das Vakuum zu füllen, das sie empfand, zog Carrie ihr Smartphone hervor, loggte sich bei Twitter ein und postete einen Bericht über das wunderschöne Familienfest, das sie erlebte. Wenigstens musste sie sich keine Gedanken darüber machen, ob Mark ihr bei Twitter oder anderen sozialen Medien folgte. Obwohl er bei Bizz, einem weltweit aktiven Internetunternehmen arbeitete, hatte er sich immer standhaft geweigert, sich auf einer dieser Plattformen anzumelden, um andere Leute an irgendwelchen Einzelheiten seines täglichen Lebens »teilhaben« zu lassen.

Sie hörte im Geist seine amüsierte Stimme, als säße er auf dem Sofa neben ihr. »Du bist süchtig nach dem Zeug. Ich will nur hoffen, dass du nichts von uns beiden ausplauderst.«

»O doch, natürlich tue ich das«, hatte sie gescherzt. »Die Nachrichten von unserem wilden Sexleben finden reißenden Absatz. Meine Follower sind alle ganz neidisch.«

»Ich kann diesen Social-Media-Mist nicht ausstehen«, hatte er gesagt und ihr das Smartphone weggenommen, bevor er seine Arme um sie schlang, »aber das, was du über unser Sexleben sagst, gefällt mir.«

In einem schwachen Moment war sie einmal nahe dran gewesen, ihm zu gestehen, dass die sozialen Medien für sie nach dem Tod ihrer Eltern ein sehr praktisches Mittel gewesen waren, mit der Welt in Verbindung zu bleiben. Auch wenn sie nur alberne Kommentare zu Fernsehsendungen und andere Belanglosigkeiten mit irgendwelchen Leuten austauschte, so kam doch wenigstens ein Kontakt zustande, jemand warf ihr eine Art Rettungsleine zu, und sie fühlte sich nicht mehr so allein. Und es war leicht gewesen, in der Anonymität eines Tweets eine fröhliche und sorgenfreie Carrie zu geben, während sie sich eigentlich leer und ausgelaugt fühlte und dunkle Ringe um die Augen hatte. Aber sie hatte den Moment verstreichen lassen und, statt es ihm zu sagen, die Augen geschlossen, sich an ihn geschmiegt und seinen Kuss erwidert.

Später sah sie Fiona und Sam dabei zu, wie sie gemeinsam all die Babysachen einsammelten, die Geschenke und Glückwunschkarten und alles andere hinaus zum Auto trugen. Nachdem sie noch einmal die Runde gemacht und sich von allen Gästen verabschiedet hatten, hob Sam die kleine schlafende Lucy in ihren Autositz, legte seinen Arm um Fionas Taille, und dann gingen sie. Carrie fühlte sich merkwürdig leer, als sie weg waren, und beschloss, sich für eine Weile unter die jungen Leute an der Bar zu mischen.

Aber es zeigte sich bald, dass das keine gute Idee war. Natürlich hatten alle von ihrer geplatzten Verlobung gehört. Fionas Brüder waren da, zwei von ihnen zusammen mit ihren Freundinnen, dazu noch weitere Cousins, alle in einer geräumigen Nische der Bar. Sie lächelten fast ein bisschen zu strahlend, nahmen ihr den Mantel ab und rückten zusammen, um ihr Platz zu machen. Shane, der in London arbeitete und übers Wochenende nach Hause gekommen war, bestellte ihr einen Mojito; sie sehe viel zu nüchtern aus, bemerkte er.

»Ich bin schließlich die Patin«, sagte sie.

»Ein Grund mehr, so richtig einen draufzumachen. Für Patinnen gilt: Erst keine Arbeit, dann das Vergnügen.« Er zwinkerte ihr zu.

Später begleitete Shane sie zum Taxi. »Das war schön blöd von ihm, dass er dich hat gehen lassen«, sagte er ruhig. »Ich dachte eigentlich, Mark wäre ein ganz vernünftiger Kerl.«

»Ist er auch.« Der Wind fühlte sich eisig an nach der Wärme im Hotel. »Aber letztlich hatte er keine Wahl. Es war meine Entscheidung, Schluss zu machen.«

»Wir alle wünschen uns, dass du am Ende glücklich wirst, Carrie«, sagte er. »Was immer das genau bedeutet. Du hast es verdient nach allem, was du durchgemacht hast.«

»Danke, Shane.« Sie umarmte ihn und stieg in das Taxi.

Die Sullivans waren die einzigen Menschen auf der Welt, die so mit ihr reden durften. Für alle anderen, die sich herausnahmen, auch nur eine Andeutung von Mitgefühl zu äußern, hatte sie nur zornig funkelnde Blicke übrig, begleitet von einer brüsken Kopfbewegung, die ihr dunkles, welliges Haar nach hinten fliegen ließ.

Als das Taxi vom Parkplatz auf die Straße abbog, dachte sie an das leere Haus, das sie erwartete. Sie würde es genauso antreffen, wie sie es am Morgen verlassen hatte, kalt und leer, ohne Leben. Kein Mark würde da sein, um noch ein Glas Wein mit ihr zu trinken, mit ihr zu reden und zu lachen und die Fotos von Lucy anzuschauen, die sie gemacht hatte. Kein Mark, der ihr sagen würde, wie schön sie war, wenn er ihr das cremeweiße Seidenkleid auszog oder ihr Haar löste, das auf der Seite von einer glitzernden Spange gehalten wurde, sodass es weich über ihre linke Schulter fiel. Kein Mark, an den sie sich kuscheln, um den sie ihre langen Beine schlingen würde, wenn sie sich langsam und lustvoll liebten, und mit dem sie sich dann freundlich, schläfrig streiten würde, wer von beiden am nächsten Tag das Frühstück machen, wer aus dem Haus gehen würde, um frische Milch, knusprige Brötchen und Sonntagszeitungen einzukaufen. Es war erstaunlich, wie man sich an die trivialsten Details eines gemeinsamen Lebens gewöhnte und wie bitter man sie vermissen konnte.

Carries Haus stand eingezwängt zwischen anderen Reihenhäusern in einer halbkreisförmigen Sackgasse. »Ein kleines Juwel« hatte der Makler es genannt, was bedeutete, dass es winzig und beengt war, aber Carrie hatte vom ersten Moment an, als sie es betrat, gewusst, dass es wie für sie geschaffen war, auch wenn sie das Bücherregal nur im Flur unterbringen konnte und die Garderobe ein Verschlag unter der Treppe war. Die soliden Backsteinmauern schienen sie zu umhüllen, hielten sie fest und sicher in ihrer Umarmung. Auf der Rückseite grenzte das Haus an eine große hundert Jahre alte Kirche, die hinter der Mauer, die den kleinen Garten abschloss, aufragte. Carrie gewöhnte sich schnell an das Geläute der Glocken vom Kirchturm und auch an die Vögel, die zu dem Futterkasten auf ihrem kleinen Stückchen Rasen kamen.

Die Straße war still und dunkel, als das Taxi in den Faith Crescent einbog, nur schwach drang hie und da Licht durch die Vorhänge an den Fenstern. Aber ihr gemütliches Häuschen sah nicht so aus, wie sie es am Morgen verlassen hatte: Das Blaulicht der Alarmanlage blinkte hektisch. Es war allerdings kein Alarm zu hören. Das lag daran, dass der Kasten, der an der Fassade unter der Dachtraufe angebracht war, seit einem Sturm im Winter schief hing. Was nutzte es, eine Alarmanlage einzuschalten, wenn das Ding keinen Ton von sich gab? Typisch für jene unentschlossene Halbherzigkeit in allen Dingen, die jetzt ihr Leben bestimmte. Sie hatte sich vorgenommen, jemanden vom Reparaturdienst zu bestellen. Es war eines der letzten Dinge, die Mark ihr empfohlen hatte, bevor er gegangen war, aber in ihrem ganzen Elend der letzten Wochen hatte sie sich nicht darum gekümmert – wie um so vieles andere auch.

»Ist das Ihr Haus?«, fragte der Fahrer.

»Ja.« Sie kramte hektisch nach ihrem Handy. Ein scheußliches Gefühl stieg aus ihrer Magengrube auf.

»Sieht so aus, als wäre Ihr Alarm ausgelöst worden. Nur komisch, dass man nichts hört.«

»Die Sirene ist kaputt«, sagte sie. »Ich wollte sie längst reparieren lassen.«

»Ich warte so lange, bis Sie nachgesehen haben, ob im Haus alles in Ordnung ist.«

»Ja, danke.« Sie überlegte, ob sie ihn bitten konnte, sie zu begleiten, aber wahrscheinlich verboten ihm das die Sicherheitsbestimmungen oder sonst irgendwelche geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln. Immerhin stieg er aus und stand am Straßenrand bereit für den Fall, dass sie ihn brauchte. Sie ließ die Haustür offen stehen, während sie im Flur den Code eingab, um den Alarm abzuschalten. Sie sah sich in dem Zimmer an der Vorderseite um, dann in der Küche und überprüfte die Hintertür.

Alles in bester Ordnung. Nichts deutete darauf hin, dass jemand hier eingedrungen war.

Sie ging zurück in den Flur. »Ich gehe jetzt im oberen Stockwerk nachsehen«, rief sie dem Taxifahrer draußen zu. Wenn da oben jemand lauerte, sollte er wissen, dass sie nicht allein war.

»Machen Sie das. Ich warte, bis Sie Entwarnung geben.« Offenbar dachte er ähnlich wie sie, denn er redete auffallend laut.

Auch oben war es still. Unheimlich still. Sie warf einen Blick auf das Bett mit der makellos glattgestrichenen Decke, sie öffnete den Kleiderschrank und die Schubladen der Kommode: nirgends etwas Ungewöhnliches, alles war dort, wo es hingehörte. Sie stand einen Moment still da und versuchte konzentriert, sich darüber klar zu werden, was genau sie beunruhigte, aber sie kam nicht darauf. Also ging sie wieder nach unten zu dem Taxifahrer und sagte ihm, dass es ein Fehlalarm war.

»Freut mich, aber Sie sollten das Ding reparieren lassen«, sagte er und stieg wieder in sein Auto. Carrie ging zurück ins Haus und schloss die Tür. Im Wohnzimmer machte sie den Fernseher an, um die Stille zu vertreiben. Als sie am Kamin vorbeiging, fiel ihr Blick auf das gerahmte Bild ihrer Eltern, das dort auf dem Sims stand. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich, aber jetzt fühlte sie sich nur wie ein blasses Abbild der vor Leben sprühenden dunkelhaarigen Sylvie mit den blauen Augen, die da in die Welt hinaus lächelte. Neben Sylvie stand Carries Vater John, ein sanfter Riese mit klugen, freundlichen Augen und grauen Schläfen, die ihm ein distinguiertes Aussehen verliehen.

Das Foto war an ihrem neunundzwanzigsten Hochzeitstag aufgenommen worden, den die drei in einem Sternerestaurant in der Innenstadt gefeiert hatten. Bald darauf waren Sylvie und John zu ihrer ersten großen Reise aufgebrochen und wenige Wochen später bei einem Flugzeugabsturz in Südamerika ums Leben gekommen.

Immer wieder musste Carrie an eines der letzten Gespräche denken, das sie nur wenige Tage vor der Abreise ihrer Eltern mit ihrer Mutter geführt hatte. Sie rätselte herum, was sie ihr damals wohl hatte mitteilen wollen; einerseits war sie überzeugt, dass es etwas sehr Wichtiges gewesen sein musste, andererseits sagte sie sich, dass sie dem Ganzen möglicherweise eine viel zu große Bedeutung beimaß, nur weil zufällig kurze Zeit später dieses schreckliche Unglück passiert war.

»Wir haben unser Testament gemacht«, hatte ihre Mutter gesagt. »Es liegt unterschrieben und versiegelt beim Notar. Eine Kopie davon habe ich zu den anderen Papieren in dem Aktenschrank in Johns Arbeitszimmer gelegt.«

»Euer Testament? Warum das denn, Mama? Ihr beide werdet mindestens achtzig oder neunzig Jahre alt. Wieso sagst du mir das?«

»Sicher, wir werden steinalt, wir werden noch im Rollstuhl in der ganzen Welt herumreisen und dich mit unseren Schrullen in den Wahnsinn treiben.« Ihre Mutter lachte. »Aber es ist trotzdem vernünftig, ein Testament zu machen, einfach, weil es den Hinterbliebenen eine Menge Scherereien erspart. Wir hätten es schon längst tun sollen.«

»Ja, kann sein«, sagte Carrie. »Aber es ist irgendwie unheimlich, wenn du darüber redest.«

Die Mutter streichelte lächelnd ihren Arm. »Kein Grund zur Aufregung, Carrie. Was sein muss, muss sein. Und da ist noch etwas, worüber ich mit dir reden muss, etwas Persönliches, aber das kann warten, bis wir wieder zu Hause sind.«

»Das klingt ja sehr geheimnisvoll.«

Die blauen Augen ihrer Mutter, die sonst immer so lebhaft und fröhlich war, hatten sich verschleiert, und sie wirkte beinahe traurig.

»Es ist eine etwas schwierige Sache und vertraulich, aber ich möchte, dass du es erfährst, nur für den Fall … Man weiß ja nie, was passieren wird.« Sie blinzelte und nahm sich zusammen. »Es ist eine alte Geschichte, es hat also keine Eile. Wir reden darüber, wenn wir wieder zu Hause sind. Siehst du, ich habe gar keinen Zweifel daran, dass wir zurückkommen. Bist du jetzt beruhigt?«

Auch an den Tag der Abreise musste Carrie oft denken, an die Hektik der letzten Vorbereitungen und Besorgungen, die neuen Koffer, die nebeneinander aufgereiht im Flur standen, an ihre Mutter, die die Stunden bis zum großen Moment zählte und ganz fiebrig vor Aufregung die Punkte auf ihrer Liste abhakte, die noch zu erledigen waren. Und sie, die coole, weltkluge Carrie, hatte gelacht und gesagt, sie würden ja schon bald wiederkommen, noch ehe sie recht bemerkt hätten, dass sie weg waren. Und dann der Abschied, letzte – letzte – Umarmungen und Küsse, bevor sie aus der Tür des Hauses in der Waldron Avenue zu dem wartenden Taxi nach draußen hasteten mit ihrem nagelneuen Gepäck. Carrie stand auf der Eingangstreppe, die Hand ihrer Mutter winkte aus dem Fenster des Taxis bis ans Ende der Straße. Und immer wenn Carrie an diese winkende Hand dachte, war ihr, als müsste sie dem Taxi nachrennen, es einholen, die warme Hand ihrer Mutter fassen und an ihr Gesicht drücken.

Carrie hatte ihnen einen Reisegutschein zum Hochzeitstag geschenkt. Auch sie selbst stand damals im Begriff, zu neuen Ufern aufzubrechen: Sie hatte ihr Studium abgeschlossen und wollte, bevor sie ins Berufsleben einstieg, eine Auszeit nehmen, um zusammen mit Fiona auf Reisen zu gehen. Sie hatte ihre Eltern gedrängt, sich an ihr ein Beispiel zu nehmen, einmal in ihrem Leben etwas Abenteuerliches zu unternehmen, solange sie noch fit genug waren.

War es unter diesen Umständen verwunderlich, wenn Carrie sich mitschuldig am Tod ihrer Eltern fühlte?

Drittes Kapitel

September 1980

Sie ist nicht darauf aus, sich in fremdes Leid zu verstricken, sie hat genügend eigene Sorgen, aber sie kann sich nicht dagegen wehren, in seine tragische Geschichte hineingezogen zu werden.

Als sie das Ufer erreichen, zittert Luis vor Kälte, und auch sie ist bis auf die Knochen durchgefroren. Es ist ein milder Septemberabend, doch der Wind frischt auf, und ihre nassen Kleider sind eisig. Sie führt ihn zu der Stelle, wo sie seine Schuhe gefunden hat. Sie sind von einer dünnen Schicht Sand bedeckt. Daneben sieht sie jetzt auch, halb vergraben im Sand, den zusammengeklappten weißen Blindenstock liegen. Sie stellt sich vor, wie jemand, der vergebens nach Luis gesucht hätte, diese Gegenstände hier gefunden hätte, und ihr Herz krampft sich zusammen.

»Alles okay mit Ihnen?«, fragt sie.

»Nein«, sagt er.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie weiß nicht, was sie jetzt tun soll. »Kann ich irgendjemanden verständigen?«

Der Schock, dass dieser junge Mann drauf und dran war, sich direkt vor ihren Augen das Leben zu nehmen, droht sie zu überwältigen, wie flüssiges Eis breitet er sich durch alle Fasern ihres Körpers aus, von ihrem Magen ins Herz und bis in die Fingerspitzen. Sie atmet tief durch, um die Panik zu unterdrücken. Auch Luis keucht heftig, den Oberkörper nach vorn gebeugt, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich. Sie weiß nicht, wie er hierhergekommen ist und wie er, wohin auch immer, zurückkommen soll. Muss sie ihn nach Hause bringen? Wird er bereits von jemandem vermisst? Sie hat Angst, dass er wieder ins Wasser geht, wenn sie ihn allein lässt. Sie drückt ihre tropfnassen Haare etwas aus, bindet sie zu einem Knoten und zupft an ihrer Bluse, damit sie nicht so an ihrer Haut klebt.

Er setzt sich in den Sand, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Handflächen. »Nein, niemanden.«

Sie lässt sich neben ihm nieder und legt vorsichtig den Arm um seine Taille. Er wehrt sie nicht ab, und sie hält ihn fest.

»Wollten Sie wirklich so aus der Welt verschwinden?«

»Ja. Aber dann habe ich Sie um Hilfe rufen hören, und …« Er schüttelt den Kopf. »Können wir ein paar Minuten einfach so sitzen bleiben?«

»Natürlich«, sagt sie. Sie scheint etwas richtig zu machen, und das erfüllt sie mit einem Gefühl von Dankbarkeit.

»Erzählen Sie was von sich«, sagt er. »Ihre Stimme ist so schön sanft.«

»Außer wenn ich Sie anschreie«, scherzt sie. »Was wollen Sie wissen?«

»Wer sind Sie? Wo wohnen Sie? Was machen Sie?«

Sie überlegt fieberhaft, wie viel sie von sich preisgeben soll. Sie holt tief Luft. »Ich heiße Sylvie Cassidy und bin von hier, aus Willow Hill. Seit zwei Jahren lebe ich in Dublin. Ich arbeite dort als Lehrerin, aber ich habe mich für eine Weile beurlauben lassen, weil ich mich um meine Mutter kümmern will, die eine schwere Operation hinter sich hat.«

»Das ist freundlich von Ihnen. Offenbar ist Ihr Herz genauso weich wie Ihre Stimme.«

»Sie ist meine Mutter. Ich bin froh, wenn ich ihr helfen kann.«

»Ja, Mütter sind was Besonderes.« Ein längeres Schweigen tritt ein. Seine Hände sind unruhig, immer wieder verkrampfen sich die Finger, als kämpfte er innerlich mit sich selbst. Sie wartet, lehnt sich leicht an ihn, damit er spürt, dass sie bei ihm ist.

Endlich hebt er den Kopf. »Ich habe meine Mutter verloren.«

Sie ist sich nicht sicher, wie gut sein Englisch ist. Möglicherweise, so redet sie sich ein, meint er, er habe den Kontakt zu seiner Mutter verloren oder sie sprächen nicht mehr miteinander. In diesem Fall gäbe es immer Hoffnung auf eine Versöhnung. Aber er klingt so traurig, dass sie eher annehmen muss, die Mutter ist gestorben.

»Das tut mir leid«, sagt sie. »Das muss schlimm für Sie sein.«

»Ich saß mit ihr im Auto, als es passierte. Ich habe keine Erinnerung an den Unfall. Ich bin vier Tage später im Krankenhaus aufgewacht und konnte nicht mehr sehen.«

Die wenigen nüchternen Worte, die seine Tragödie umreißen, treffen sie wie ein Schlag. »Luis.« Sie fasst seine Hand. »Wie schrecklich. Wann ist das passiert?«

»Anfang vorigen Jahres. Ich kann nicht … « Er drückt ihre Hand so stark, dass es weh tut. »Ich will nicht, dass Sie Mitleid mit mir haben, das könnte ich nicht ertragen.«

»Haben Sie keine Angehörigen mehr?« Bestimmt hatte er Verwandte und Freunde. Und irgendjemand muss doch Anteil genommen haben an seinem Leid, oder nicht?

»Nur meinen Vater. Er ist ein gebrochener Mann. Wir sprechen nicht miteinander. Manchmal packt mich eine rasende Wut, dann schreie ich herum und zertrümmere Sachen. Dann wieder bleibe ich manchmal den ganzen Tag im Bett. Ich mache nicht auf, wenn einer meiner Freunde mich besuchen will – es ist besser so. Manche haben den Kontakt abgebrochen, sie wissen nicht, was sie mit mir reden sollen, es ist ihnen unangenehm. Mein Vater arbeitet viel, um sich abzulenken. Er hätte damals bei uns sein sollen. Wenn er am Steuer gesessen hätte, wäre der Unfall nicht passiert.«

Zwei Männer von Trauer und Leid ausgehöhlt, unfähig, sich einander zu öffnen.

»Sie können nicht wissen, was geschehen wäre, wenn Ihr Vater da gewesen wäre. Immerhin haben Sie beide noch einander. Es ist mir nicht ganz fremd, was Sie durchmachen.«

»Was können Sie davon schon wissen?«, fragt er plötzlich zornig.

»Ich habe auch geliebte Menschen verloren. Ich weiß, wie es ist, wenn einem das Herz in lauter kleine Stückchen zerbricht.« Ihre Stimme klingt belegt. Sie hat Angst, zu viel zu sagen, darum wechselt sie das Thema. »Weiß Ihr Vater, dass Sie Schluss machen wollten?«

»Nein. Wenn er es wüsste, hätte er versucht, mich aufzuhalten.«

»Dann liebt er Sie also. Sie sind ihm wichtig. Und ich bin auch für Sie da. Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn.«

»Wollen Sie über Ihre Mutter reden?«

»Nein.«

»Woher kommen Sie? Sie sind kein Ire.«

»Aus der Schweiz. Aus Genf ursprünglich, aber jetzt wohnen wir in Luzern.«

»Sie sprechen sehr gut Englisch.«

Sein Akzent klingt sehr schön, sie könnte ihm stundenlang zuhören, aber sie wird sich hüten, ihm das zu sagen.

»Meine Großmutter war Engländerin. Wir sprechen in der Familie neben Französisch und Deutsch auch Englisch.«

»Und wie kommen Sie hierher nach Cork?« Behutsam tastet sie sich vorwärts.

»Mit meinem Vater. Er ist Wissenschaftler und hat im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Klinik in Cork zu tun.«

»Nur Sie beide?«

»Ja. An den meisten Tagen arbeitet mein Vater in der Klinik. Wir haben eine Haushälterin, die immer bis Nachmittag da ist. Sie kocht und putzt und besorgt alle nötigen Dinge. Um sechs kommt dann mein Vater nach Hause. Wir sind jetzt seit zwei Wochen hier und werden noch zwei Wochen bleiben. Mein Vater dachte, es würde uns guttun, am Meer zu wohnen, wegen der frischen Luft, und er mag das Geräusch der Wellen.«

»Sie wohnen also nahe am Strand?«

»Ja, es ist nur ein kurzer Spaziergang bis zum Meer.«

»Wohnen Sie etwa in dem großen Haus hinter uns? Am Ende des Fahrwegs?«

»Ja, das kann stimmen.«