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Alexandre Dumas

 

 

So sey es!

 

 

Impressum

Covergestaltung: Olga Repp

Digitalisierung: Gunter Pirntke






2017 andersseitig.de


ISBN

9783961182749 (ePub)

9783961182756 (mobi)


andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


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(mehr unter Impressum-Kontakt)

 

Inhalt

Impressum

Vorwort an den Leser.

Erster Teil

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

Zweiter Teil.

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

Dritter Teil.

I.

II.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

Vierter Teil.

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

S c h l u s s.

 

Vorwort an den Leser.

 

Es ist eine sonderbare Geschichte, die dem geneigten Leser erzählt werden soll; sie ist von einem Manne geschrieben, der außer dieser Geschichte nie etwas geschrieben hat.

Es ist ein Abschnitt seines Lebens, oder vielmehr sein ganzes Leben.

Das Leben des Menschen ist nicht nach der Anzahl der von ihm durchlebten Jahre zu messen, sondern nach den Minuten, in denen sein Herz geschlagen hat.

Mancher Greis, der im Alter von achtzig Jahren stirbt, hat in der Wirklichkeit nur ein Jahr, einen Monat, einen Tag gelebt.

Leben ist glücklich sein oder leiden.

Man lasse vor einem sterbenden alle durchlebten Tage vorüberziehen, er wird nur die anerkennen, die ihm mit lächelnden Munde oder tränenfeuchten Augen erscheinen.

Die übrigen ....

Solche Tage hat er verlebt, aber nicht gelebt.

 

Am längsten gelebt hat der Mensch, der am meisten erfahren und empfunden hat.

 

***

 

Ich hatte einen Freund.

Es ist bekannt wie weit man den Namen Freund auszudehnen pflegt.

In unserer konventionellen Sprache bedeutet ein Freund nicht immer einen Genossen, einen Kameraden, ein Freund heißt oft nichts als ein Bekannter.

Für uns soll dieses Wort weder einen Genossen noch einen Kameraden, sondern einen angenehmen lieben Bekannten bedeuten.

Wir werden ihn nur mit dem Namen Max bezeichnen, die weibliche Hauptperson aber Edmée nennen.

Ich hatte Max auf einer Jagdpartie im Park von Campiegne zu der Zeit, wo der Herzog von Orleans das Lager befehligte, kennen gelernt.

 

Es war im Jahre 1836, ich schrieb damals den Caligula zu Corneille.

Max war ein Schulkamerad des Herzogs von Orleans, und etwa zehn Jahre jünger als ich.

Er war ein feingebildeter junger Mann von fünf- bis sechsundzwanzig Jahren, von vornehmen Manieren und Gentleman vom Kopf bis zur Zehe.

Ich entlehne den Engländern diesen uns mangelnden Ausdruck, um genau zu bezeichnen was ich sagen will.

Ohne reich zu seyn, hatte er einiges Vermögen ohne schön zu seyn, war er einnehmend; ohne gelehrt zu seyn, hatte er viel gelernt; ohne Maler zu seyn, war er Künstler und zeichnete unglaublich schnell und treffend die Züge eines Gesichtes oder die Umrisse einer Landschaft.

 

Er war ein großer Freund von Reisen. Er kannte England, Deutschland, Italien, Griechenland, Konstantinopel.

Während der fünf oder sechs Jagden, die wir mit dem Herzoge von Orleans machten, gewannen wir einander lieb, wir wählten unsere Plätze neben einander.

So war’s auch bei Tische, wo wir uns nach Belieben setzen konnten; ein Blick genügte, um uns gegenseitig zu nähern, und während der ganzen Mahlzeit berührten sich unsere Stuhle und wir plauderten nach Herzenslust.

Er gehörte zu den wenigen Menschen, die geistreich sind ohne es zu ahnen.

Seine Nachbarschaft war mir daher höchst angenehm: auf der Jagd, weil er vorsichtig, bei Tische, weil er unterhaltend war.

Ich glaube, dass er mir ebenfalls sehr zugetan war.

 

Wir hatten Übrigens vieles mit einander gemein; wir spielten nicht, rauchten nicht und tranken nur Wasser.

Er sagte mir sehr oft:

»Wenn Sie einmal eine Reise machen, so zeigen Sie mir’s an, wir reisen zusammen.«

 

***

 

Im Jahre 1838 reiste ich nach Italien und ich hörte nichts von Max. Im Jahre 1842 erfuhr ich in Florenz den Tod des Herzogs von Orleans: ich reiste mit Extrapost nach Paris zurück und kam eben noch zur rechten Zeit an, um dem Trauergottesdienst in der Notredamekirche beizuwohnen und mich dem Leichenzuge nach Dreux anzuschließen.

 

Die erste Person, die ich in der Kirche bemerkte, war Max.

Er gab mir durch einen Wink zu verstehen, dass neben ihm auf den stufenweise erhöhten Bänken ein Platz leer sey.

Ich stieg zu ihm hinauf; wir begrüßten uns mit Tränen und setzten uns schweigend Hand in Hand neben einander.

Wir hatten offenbar ganz gleiche Gedanken: wir dachten in der schwarz ausgeschlagenen Kirche an die Zeit zurück, wo wir neben einander an der Tafel des unglücklichen Prinzen gesessen.

Wir wechselten nur wenige Worte während der Trauerfeierlichkeit.

»Sie gehen doch mit nach Dreux?«

»Ja.«

»Wir können ja mit einander gehen.«

»Sehr gern.«

Wir begaben uns nach Dreux und blieben bis zur Beisetzung der Leiche bei dem Sarge.

 

Die Freundschaft und innige Zuneigung, die wir beide fast in gleichem Maße einem Dritten widmeten — ich will nicht sagen einem Prinzen, denn für uns, die wir mit dem Ehrgeiz nichts zu tun hatten, war der Herzog von Orleans kein Prinz — diese Freundschaft für einen Dritten knüpfte die unsrige fester; es war als ob wir uns den Antheil, der dem erlauchten Toten nicht mehr gewidmet werden konnte, gegenseitig zuwendeten.

Wir begaben uns zusammen nach Paris zurück, und als wir schieden, sagte er zum zweiten oder dritten Male:

»Wenn Sie eine Reise machen, so schreiben Sie mir.«

»Aber wo sind Sie zu finden?« fragte ich.

Er gab mir die Adresse seiner Mutter.

»Dort,« antwortete er, »weiß man wo ich bin.«

 

 

***

Im Jahre 1846, nämlich zehn Jahre nach der Zeit, wo ich Max zum ersten Male gesehen hatte, entschloss ich mich, eine Reise nach Spanien und Afrika zu machen.

Ich schrieb an Max: »Wollen Sie die Reise mitmachen?«

Den Brief schickte ich an die angegebene Adresse.

Zwei Tage nachher erhielt ich folgende Antwort:

Unmöglich, lieber Freund. Meine Mutter liegt im Sterben. Beten Sie für mich.

Max.«

 

Ich reiste ab. Die Reise dauerte sechs Monate. Nach meiner Rückkehr übergab man mir alle in meiner Abwesenheit eingelaufenen Briefe.

Alle Briefe, deren Schriftzüge mir unbekannt waren, warf ich ungelesen in’s Feuer.

Unter den bekannten Schriftzügen war ein Brief von Max.

Ich erbrach den Brief hastig; er enthielt nur folgende Worte:

 

Meine Mutter ist tot. Beklagen Sie mich.

Max«

 

***

 

Das Schloss, welches die Mutter meines Freundes bewohnt hatte, lag in der Picrardie, unweit La Fére.

Ich reiste noch denselben Tag ab, um Max zu trösten, wenigstens zu begrüßen.

In La Fére nahm ich einen Wagen und fuhr nach dem Schloss Friéres.

 

Das Schloss wurde mir von weitem von meinem Kutscher gezeigt. Es stand am Abhange eines schön bewaldeten Hügels, welchem große freie Rasenplätze ein parkartiges Aussehen gaben.

Alle Fenster waren geschlossen. Ich vermutete, dass Max abwesend sey, aber ich setzte doch meinen Weg fort, ich wollte wenigstens Gewissheit haben.

Vor dem Gittertor ließ ich anhalten. Ein alter Diener erschien, um mich einzulassen.

Ich sage Diener und nicht Bedienter; die alten Diener werden in Frankreich immer seltener, in zwanzig Jahren wird es nur noch Bediente, aber keine Diener mehr geben.

Der erscheinende Diener gehörte zu dem Stamme, welcher sagt: »Unsere gute Dame« und »Unser junger Herr.«

Ich fragte nach Max.

Der Diener schüttelte den Kopf.

»Drei Monate nach dem Tode unserer guten Dame,« sagte er, »ist unser junger Herr auf Reisen gegangen.«

»Wo ist er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wann wird er wieder kommen?«

»Das kann ich auch nicht sagen.«

Ich nahm mein Federmesser aus der Tasche, schnitt ein Kreuz in die Mauer und schrieb darunter: Amen!

»Wenn euer Herr zurückkommt,« sagte ich zu dem alten Diener, »so saget ihm, ein Freund von ihm sey hier gewesen, und zeiget ihm das.«

»Wollen Sie mir Ihren Namen nicht sagen?«

»Das ist nicht nötig, er wird mich leicht erkennen.«

Ich reiste ab.

***

Ich sah Max nicht wieder. Ich erkundigte mich oft nach ihm bei gemeinsamen Freunden, aber Niemand wusste was aus ihm geworden war. Der am besten unterrichtete meinte, er sey in Amerika.

 

Vor vierzehn Tagen erhielt ich aus Martinique ein großes Parket.

Ich erbrach es mit begreiflicher Neugierde. Es war ein Manuskript.

Im ersten Augenblicke erschrak ich, denn ich glaubte nicht zu Manuskripten, die über den atlantischen Ozean kamen, verurteilt zu seyn.

 

Ich war im Begriffe es wegzuwerfen, als meine Aufmerksamkeit durch den Titel gefesselt wurde.

Es war ein Kreuz und darunter stand das Wort Amen!

Ich erkannte nun auch die Schriftzüge.

»O, es ist von Max!« sagte ich.

Und ich las, was ich dem Leser mitteilen will.

 

 

Erster Teil

I.

Amen!

kreuz.jpg

Insel Martinique. Port-Royal. 7.November 1856.

 

Sobald als es mir gestattet ist. ein Lebenszeichen zu geben« fühle ich das Bedürfnis mich Ihnen anzuvertrauen, lieber Freund, und Ihnen die Ereignisse zu erzählen, die mich hierher geführt haben.

Der Tod der Person, die am meisten Ursache hatte, mein Stillschweigen zu wünschen, erlaubt mir Ihnen Dinge zu erzählen, die bei Lebzeiten dieser Person in das undurchdringlichste Geheimnis gehüllt bleiben mussten.

 

Die letzten Nachrichten, welche Sie unmittelbar von mir erhielten, war der Brief, worin ich Ihnen schrieb:

»Meine Mutter ist tot, beklagen Sie mich!«

Da meine Mittheilungen wahrscheinlich nur von Ihnen gelesen werden, so erlauben Sie mir, dass ich von meiner Wenigkeit ganz offen rede.

Ob es Vertrauen zu Ihnen, ob es Eigendünkel von mir ist, das weiß ich nicht, aber es scheint mir, dass ich für Sie in Bezug auf die Anatomie des Herzens etwa dasselbe tun werde, was ein Mann der Wissenschaft für einen Arzt tun würde, wenn er zu ihm sagt:

»Ich habe an einer schmerzhaften innerlichen Krankheit gelitten; jetzt bin ich genesen; secriren Sie mich lebendig, damit Sie die Spuren der Krankheit sehen.«

Vide manus, vide pedes, vide latus!

 

Aber um mich wohl zu verstehen, lieber Freund, müssen Sie mich genau kennen lernen.

Meine einzige Wissenschaft ist, wie ich glaube, die Selbstkenntnis, und hierin habe ich die Vorschrift des Weisen befolgt.

 

Als ich Sie zum ersten Male in Compiégne sah, war ich fünfundzwanzig Jahre alt; ich bin im Jahre 1811 geboren. Als ich Sie zum letzten Male in Dreux sah, war ich einunddreißig; als ich meine Mutter verlor, fünfunddreißig.

 

Meine Mutter war mir alles. Mein Vater hatte als Oberst eines Uhlanenregimentes den russischen Feldzug mitgemacht. Meine Mutter, die mich jeden Morgen in meiner Wiege küsste, benetzte eines Morgens meine Wangen mit Tränen.

Mein Vater war bei Smolensk gefallen. Sie war Witwe, ich war eine Waise. Ich war der einzige Sohn« sie lebte nur für mich.

 

Meine Mutter war eine hochgebildete, zumal feinfühlende Frau; sie beschloss daher, meine erste Erziehung, die wichtigste, welche die Blüten treibt, aus denen einst die Früchte reifen sollen, keiner fremden Person anzuvertrauen.

Sie konnte mich ohne fremde Beihilfe lesen, schreiben und rechnen lehren; sie konnte mich in den Anfangsgründen der Geschichte, Geographie und Musik, sowie im Zeichnen unterrichten.

In dieser letzteren Kunst war sie die Schülerin ihres Oheims Prudhon, dessen Wert man nach seinem Tode anerkannt hat, nachdem er bei seinen Lebzeiten mit Mangel und Elend gekämpft.

Die erste Erinnerung, die ich von meiner Mutter habe, zeigt sie mir als eine sehr schöne schwarzgekleidete Frau.

Sie war dreißig Jahre alt, als mein Vater starb; sie war seit zehn Jahren vermählt, eine ältere Schwester war gestorben.

Ich erinnere mich nicht, sie ein einziges Mal lachen gesehen oder gehört zu haben; aber sie lächelte, wenn sie mich küsste oder mir einen Verweis gab. Es blieb mir überlassen, dieses doppelte Lächeln zu unterscheiden.

 

Meine Mutter war sehr religiös, nicht vor den Leuten, sondern im Herzen. Sie lehrte mich zumal Ehrerbietung vor den symbolischen Dingen. Ich glaube nie laut in einer Kirche gesprochen zu haben, nie ohne mich zu verneigen an einem Kreuz vorübergegangen zu seyn.

Diese Verehrung für die Symbole des Glaubens zog mir oft Neckereien von meinen Gespielen zu; ich antwortete nicht darauf.

 

Hinsichtlich der Priester stand es mir frei, sie nach ihren Handlungen zu beurteilen, wie alle anderen Menschen. Nach der Ansicht meiner Mutter war der Priester kein mit besonderen Vorrechten ausgerüstetes Wesen, sondern ein Mann, der größere Verpflichtungen hat als andere Menschen und dieselben gewissenhaft halten muss. Den Priester, der seine Pflichten nicht erfüllt, stellte sie in gleichen Rang mit dem Kaufmann« der seine Verbindlichkeiten nicht erfüllt; nur mit dein Unterschiede, dass der Letztere nur fallire, der Erstere aber völlig Bankerott mache.

 

Sie kennen das Schloss Frières, lieber Freund, Sie sind da gewesen, und der Titel dieses Manuskriptes beweist Ihnen, dass ich Ihre Handschrift erkannt habe.

 

Das Schloss ist im siebzehnten Jahrhundert erbaut worden und die Bäume des Parks sind ebenso alt.

Ich verlebte dort meine Kindheit bis zum zwölften Jahre.«

Nie sagte meine Mutter zu mir: »Max, Du musst arbeiten;« sie wartete immer, dass ich sie darum bat.

»Was willst Du machen? fragte sie mich dann.«

Und fast immer wählte ich selbst die Lektion, die ich zu nehmen wünschte.

Meine Mutter hatte mich gewöhnt, meine Arbeitsstunden als Erholungsstunden zu betrachten; sie marterte mich nicht mit mechanischem Auswendiglernen, sie lehrte mich Geschichte, Geographie, Musik; sie erzählte mir eine historische Begebenheit oder schilderte mir ein Land.

 

Was sie mir gesagt hatte, blieb tief in meinem Gedächtnisse haften; was sie mir erzählt hatte, wiederholte ich ihr den folgenden Tag.

Sie spielte mir eine Melodie auf dem Klavier vor und in den meisten Fällen konnte ich am andern Morgen dieselbe Melodie spielen.

So gingen wir vom Einfachen zum Zusammengesetzten über. Die Schwierigkeiten, die natürlich nicht ausblieben, wurden nach meinen Kräften so gut verteilt, dass ich sie nicht für Schwierigkeiten hielt und sie überwand, ohne sie gesehen zu hoben.

Das Zeichnen lernte ich ohne Unterricht; meine Mutter gab mir, als ich noch ein Kind war, einen Bleistift in die Hand und forderte mich auf zu kopieren.

»Was soll ich denn kopieren?« fragte ich.

»Alles was Du siehst, jenen Baum, jenen Hund, jenes Huhn.«

»Ich kann’s nicht.«

»Versuch’s nur.«

Ich versuchte es; die ersten Versuche waren abgeschmackt; nach und nach aber begann der Block eine Form anzunehmen, der Embryo erschien, die Umrisse wurden bemerkbar, dann die Schatten, endlich die Perspektive. Ich erinnere mich, dass Sie sich über die Leichtigkeit, mit der ich eine Skizze entwerfe, gewundert haben.

»Wer hat Ihnen Unterricht im Zeichnen gegeben?« fragten Sie mich einst.

»Niemand,« antwortete ich.

Wie undankbar war ich! Ich hatte ja zwei geduldige, zärtliche Lehrerinnen gehabt: meine Mutter und die Natur.

Nie habe ich die den Kindern sonst gewöhnlich eigene Furchtsamkeit gekannt; Tag und Nacht waren mir ganz gleichgültig; ich betrachtete einen Friedhof mit Ehrerbietung, aber nie mit Furcht.

 

Kurz, ich habe nie gewusst was Furcht oder Schrecken war. Ich war schon früh gewöhnt gewesen, sowohl im Dunkeln als am Tage im Park umherzulaufen, und so war ich mit jedem nächtlichen Geräusch vertraut geworden. Das abendliche Leben und Treiben der Tierwelt war mir genau bekannt; ich wusste den Flug der Nachtschwalbe von dem Fluge anderer Vögel, den leisen Tritt des Fuchses von dem des Hundes zu unterscheiden; ich kannte den Gesang des Rotkehlchens wie des Finken oder Hänflings.

 

Sie sagten oft zu mir: »Warum schreiben Sie nicht? Warum machen Sie keine Gedichte?« Ich antwortete Ihnen dann naiv oder stolz, wie Sie wollen: »Weil ich in Versen nie schreiben würde wie Hugo, in Prosa nicht wie Chateaubriand.«

Aber an Poesie fehlte es mir keineswegs, lieber Freund, ich wusste ihr nur keine Form zu geben; ich hatte das Herz und nicht die Hand; ich fühlte, aber ich trug Bedenken, meinen Gefühlen einen Ausdruck zu geben.

Sie sehen, dass ich mich endlich dazu entschlossen habe, denn ich sende Ihnen an zweihundertdreißig Seiten von einer Handschrift; ich habe nur zu spät angefangen.

Als ich mein zwölftes Jahr erreicht hatte, sah meine Mutter ein, dass es Zeit sey, mich der Leitung von Männern zu übergeben.

Die Erziehung konnte nach ihrer Meinung nur in Paris vollendet werden, und da sie mich nicht verlassen wollte, entschloss sie sich, ihren Wohnsitz in die Hauptstadt zu verlegen.

 

Sie gab mich in das College Henri IV. und mietete sich in der Nähe ein, um mich an meinen freien Tagen bei sich haben zu können.

Ich blieb sieben Jahre im College und hatte in dieser ganzen Zeit — ein vielleicht beispielloser Fall — nicht ein einziges Mal Arrest.

Ich wusste, dass meine Mutter mich erwartete.

Wenn die Ferien begannen, so flüchtete ich mit meiner Mutter nach Frières.

O! wie groß war meine Freude, wenn ich alle Freunde meiner Kindheit, Hausgeräte, Hunde, Bäume, Bäche wiedersah!

Schon früh hatte mir meine Mutter eine Flinte, mich selbst aber dem Waldhüter, einem gewandten, vorsichtigen Manne, in die Hände gegeben. Sie wissen, dass er einen ziemlich guten Jäger aus mir gemacht hat.

 

Im Collège Henri IV. machte ich, wie Sie wissen, die Bekanntschaft des unglücklichen Herzogs von Orleans, bei welchem wir uns zuerst sahen.

Das Jahr 1830 kam; sein Vater wurde König, er selbst Kronprinz; ich gehörte zu seinen vertrauten Freunden: er ließ mich kommen und fragte mich was er für mich thun könne.

Ich gestand ihm aufrichtig, ich sey allen ehrgeizigen Bestrebungen von jeher fremd geblieben, ich sey immer ein Glückskind gewesen; warum sollte ich auf der einmal betretenen Bahn des Glückes nicht bleiben?

Ich dankte ihm übrigens für seine Güte und sagte, dass ich meine Mutter in Rath nehmen würde.

Ich begab mich nach Hause und erzählte meiner Mutter, was vorgegangen war.

»Nun« was hast Du beschlossen?« fragte sie.

»Nichts liebe Mutter; was rätst Du mir?«

»Ich werde vielleicht eine sonderbare Sprache führen, erwiderte sie; »aber ich will nach meinem Gefühl und Gewissen mit Dir sprechen.«

 

In dem Tone meiner Mutter lag eine gewisse Feierlichkeit, an welche sie mich nicht gewöhnt hatte.

Ich sah sie an. Sie lächelte.

»Bis jetzt,« begann sie, »bin ich deine Mutter, dein weiblicher Mentor gewesen; ich will jetzt mit Dir reden, als ob ich dein Vater wäre.«

Ich fasste ihre beiden Hände und küsste sie.

»Sprich, liebe Mutter,« sagte ich.

Sie stand vor mir, ich hatte meinen Kopf auf die Hand gestützt, mein Blick war zu Boden gesenkt. Ich lauschte auf ihre Stimme, die mir von oben zu kommen schien, wie die Stimme Gottes.

»Max,« sagte sie, »ich weiß, dass man in unseren sozialen Verhältnissen die Wahl eines Berufes für notwendig hält. Ich bin nur ein schwaches Geschöpf und vermag keine Meinung, und wäre sie auch irrig, zu widerlegen; aber ich glaube, dass jeder redlich denkende Mann sich vor Allem bestreben muss das Böse zu vermeiden, das Gute zu tun. Wir besitzen ein ganz unabhängiges Vermögen, eine jährliche Rente von vierzigtausend Francs; von heute an trete ich Dir vierundzwanzigtausend ab und behalte sechzehntausend für mich.«

»Mutter, ich kann es nicht annehmen —«

»Es ist genug für mich. Ein junger Mann, der vierundzwanzigtausend Livres Renten hat, muss übrigens immer in der Lage seyn, einem Freunde mit tausend oder fünfzehnhundert aus der Verlegenheit zu helfen. Wenn ich einmal tausend oder fünfzehnhundert Franks brauche, so werde ich mich an Dich wenden«

Ich schüttelte den Kopf, aber ich wagte nicht die Augen aufzuschlagen.

Meine Augen waren mit Tränen gefüllt.

 

»Dein künftiger Beruf,« fuhr sie fort, »ist keineswegs Sache der Berechnung, sondern der freien Wahl. Wenn Du ein großes Talent hättest, so würde ich sagen: werde ein Maler oder Dichter, oder vielmehr Du würdest es seyn, ohne dass ich Dirs sage. Wenn Du ein kaltes Herz und einen scharfen durchdringenden Verstand hättest, so würde ich Dir sagen: wähle die diplomatische Laufbahn. Wenn jetzt Krieg wäre, so würde ich Dir raten, Soldat zu werden. Du hast ein gutes Herz und einen klaren Verstand; ich sage Dir also ganz einfach: Bleibe was Du bist, lebe für Dich. — Es gibt wenige Berufsarten, in denen man nicht einen Diensteid ablegen muss. Ich kenne Dich: Du wärst deinen Eid halten; wenn ein Regierungswechsel stattfindet, wirst Du deine Entlassung nehmen und deine Laufbahn ist abgebrochen. — Mit vierzigtausend Livres Renten —« Ich fuhr auf, aber meine Mutter setzte hinzu: »Du wirst sie einst haben. Ein Mann, der sein Geld gut zu verwenden weiß, ist kein unnützes Mitglied der Gesellschaft. Du wirst auf Reisen gehen; die Reisen dienen zur Vollendung der wahren Bildung. Ich weiß es wohl, dass es mir wehe tun wird, Dich zu verlassen« aber ich selbst werde Dir raten, Dich von mir zu trennen. Wer ein unabhängiges Vermögen besitzt und von der Regierung eine Anstellung erbittet oder annimmt, entzieht diese Anstellung irgend einem armen Teufel« der sie braucht. Der Mann, welcher den Dir angebotenen Platz erhält, kann vielleicht seine Familie dadurch glücklich machen. Wenn wieder eine Revolution ausbrechen sollte und Du glaubst, dass deine Klugheit, Beredsamkeit oder Biederkeit dem Vaterlande nützlich seyn könne, so wähle wohl deine Partei, um sie nie zu verleugnen oder zu verraten, und biete dem Vaterlande deine Kraft und Redegabe an. Wenn Frankreich vom Feinde bedroht werden sollte, so biete deinen Arm und dein Leben an, ohne an mich zu denken: ich bin ja nur deine zweite Mutter, das Vaterland hat die ersten Ansprüche an Dich. Der grundsatzlose verderbte Mensch muss durch irgend eine strenge Pflicht geleitet werden., der Biedermann schafft sich selbst die Pflicht, sie braucht ihm nicht aufgelegt zu werden. Übrigens ziehe die Sache in Erwägung, Du hast Zeit dazu. Denke über meine Worte nach: ich gebe Dir ja nur einen Rath und keinen Befehl.

Ich küsste meiner Mutter die Hände mit aufrichtiger Dankbarkeit, und am folgenden Tage dankte ich dem Herzog von Orleans für seine Güte, erklärte ihm aber zugleich, dass ich für keinen Beruf eine entschiedene Neigung fühlte und daher frei und unabhängig zu bleiben wünschte.

 

Der Prinz, der so viele Gesuche zurückweisen musste, war anfangs erstaunt über diese ablehnende Antwort; aber nach kurzem Besinnen erwiderte er:

»Bei Ihrem Charakter haben Sie vielleicht Recht; ich bitte daher nur noch um die Fortdauer Ihrer Freundschaft.«

Dann setzte er mit dem Ihnen bekannten freundlichen Lächeln hinzu:

»Natürlich, so lange ich derselben würdig bin.«

 

 

II.

Ich lag bis zum einundzwanzigsten Jahre meinen Studien ob und im Jahre 1832 ging ich auf Reisen.

Jede Reise, die ich unternahm, machte mich mit den Sprachen der verschiedenen Länder bekannt. Das Englische und Deutsche hatte ich schon im College gelernt und ich lernte diese Sprachen sehr geläufig sprechen. Das Italienische hatte ich unter der Anleitung meiner Mutter gelernt.

Sie sprach zuerst von Reisen. Ich würde es nicht gewagt haben, sie um ihre Einwilligung zu bitten; aber sie vertrat, wie sie mir einst gesagt, von Zeit zu Zeit Vatersstelle bei mir, um sich der mütterlichen Schwächen zu entledigen.

Nach jeder Reise brachte ich bald in Paris, bald zu Frières sechs Wochen bei ihr zu.

Während eines solchen kurzen Aufenthaltes lernten wir uns kennen. Ich hatte versucht, den Rath meiner Mutter so viel als möglich zu befolgen. Mit meiner Jahresrente von vierundzwanzigtausend Francs war ich reich. Dazu kam noch, dass meine Mutter nicht nur alle kostspieligen Liebhabereien befriedigte, sondern mir auch ihre Börse öffnete, wenn etwas Gutes zu tun war, wozu meine Mittel nicht ausreichten.

 

Ich legte ihr von allem Rechenschaft ab.

»Machst Du Andere zuweilen glücklich?« fragte mich meine Mutter.

»So viel als ich kann,« antwortete ich.

»Bist Du selbst glücklich?«

»Ja, Mutter.«

»Langweilst Du Dich?«

»O nein, nie.«

»Nun, dann geht ja Alles gut,« sagte sie und schloss mich in ihre Arme.

In einem einzigen Punkte war sie streng: sie hatte mir das Versprechen abgenommen, nicht zu spielen, und ich hatte mein Versprechen gehalten, ohne dass ich mir den mindesten Zwang angetan.

»Es ist besser, einen Wechsel zu unterzeichnest, als eine Karte anzurühren.« sagte meine Mutter oft zu mir. »Wer einen Wechsel unterzeichnet, weiß wozu er sich verbindlich macht; wer eine Karte anrührt, betritt eine unbekannte Bahn und weiß nicht wohin diese ihn führen kann.«

 

Der Herzog von Orleans, der meine Lebensweise kannte, nannte mich scherzweise den »kleinen Blaumantel.« Aber wenn Jemand nach mir fragte, so wurde er wieder ernsthaft und antwortete: »Er macht sich nützlich.«

Er kannte meine Mutter und wusste ihre trefflichen Eigenschaften zu schätzen. Als er sich vermählte, wollte er sie in die nächste Umgebung der Kronprinzessin bringen, aber meine Mutter lehnte es ab.

Sie hatte seit dem Tode meines Vaters den Verkehr mit der vornehmen Welt abgebrochen; es war eine kaum vernarbte Wunde, die sie nicht wieder aufreißen wollte.

Im Jahre 1842 fand der Prinz den Tod. Dieser Verlust schmerzte mich tief. Ich sah Sie nach Ihrer Rückkehr von Florenz, wir betrauerten den Toten gemeinschaftlich.

In Dreux sprach ich wiederholt den Wunsch aus, mit Ihnen zu reisen ; ich gab Ihnen die Adresse meiner Mutter mit der Versicherung, dass man dort wissen würde, wo ich war.

Ihr Brief fand mich wirklich zu Frières — aber an dem Sterbebette meiner Mutter! An demselben Morgen um fünf Uhr hatte ich erfahren, dass sie an einer Gehirnentzündung erkrankt sey; ich war auf der Eisenbahn bis Compiegne gefahren und von dort im Galopp nach Frières geeilt.

Meine arme Mutter lag sprachlos und ohne Bewegung, aber ihre Augen waren offen.

Sie schien jemand zu erwarten.

Ich hatte Niemand befragt, ich war in ihr Zimmer gestürzt und mit den Worten: »Da bin ich, Mutter!« vor ihrem Bett niedergesunken.

Die Tränen, an denen ich unterwegs fast erstickt war, brachen nun unaufhaltsam hervor.

Die Augen der Kranken machten nun eine schwache Bewegung gen Himmel und nahmen einen freudig dankenden Ausdruck an.

»O! sie erkennt mich,« schluchzte ich; »sie erkennt mich! Meine arme Mutter!«

Sie bewegte die Lippen; man sah es ihr an, dass sie dazu alle ihre Kraft brauchte.

O! ich weiß gewiss, diese Lippenbewegung bedeutete: Lieber Sohn!

Von jenem Augenblicke an blieb ich immer vor ihrem Bett.

Dann erhielt ich Ihren Brief und beantwortete ihn.

Der Arzt hatte meine Mutter kurz vor meiner Ankunft verlassen; er hatte ihr eine Ader geöffnet und Senfumschläge um die Füße gelegt.

Ich hatte genug medizinische Kenntnisse, um zu wissen, dass nichts weiter zu tun war; gleichwohl schickte ich zu ihm.

Als ich aufstand und auf die Thür zuging, um zu rufen, war es mir, als ob mich ein unsichtbares Etwas zu dem Bett meiner Mutter zurückrufe.

 

Ihr Kopf war regungslos, aber ihr Blick folgte mir mit ängstlicher Spannung.

Ich erriet ihre Bekümmernis und kniete vor ihrem Bett nieder.

»O! sey nur ruhig, Mutter,« sagte ich, »ich verlasse Dich keinen Augenblick!«

Ihr Auge wurde wieder ruhig.

 

Der Arzt kam und fand mich auf den Knien.

Als wir einige Worte gewechselt hatten, sagte er:

»Haben Sie denn Medizin studiert?«

»Ein wenig,« antwortete ich seufzend.

»Dann.,« erwiderte er, »müssen Sie wissen« dass ich Alles getan habe, was zu tun war; noch mehr, Sie müssen wissen, was zu hoffen oder zu fürchten ist.

Ach! ja, ich wusste es, und deshalb befragte ich ihn, deshalb suchte ich anderswo eine Hoffnung, die ich nicht hatte.

Um den Arzt zu empfangen und mit ihm zu sprechen, hatte ich mich von meiner Mutter entfernt.

Als ich mich nach ihr umsah, fand ich ihren traurigen Blick wieder auf mich gerichtet.

Dieser Blick schien mir zu sagen: Alles dies entfernt Dich von mir; was kann es nützen?

Ich setzte mich wieder vor ihr Bett. Das Auge wurde wieder heiter.

Ich schob meinen Arm unter ihren Kopf. Das Auge bekam einen fast freudigen Ausdruck.

Es war nicht zu verkennen, in dem absterbenden Körper lebten nur noch Auge und Herz und standen durch unsichtbare Fibern mit einander in Verbindung.

Der Arzt trat auf meine Mutter zu und untersuchte ihren Puls.

Ich hatte es nicht gewagt, ich fürchtete nichts so sehr als die Gewissheit.

Er musste den Puls, der am Handgelenk nicht mehr zu finden war, mitten am Arm suchen.

Der Puls zog sich gegen die Arterie zurück. Ich sah dieses bedenkliche Zeichen und meine Tränen flossen reichlicher.

Meine Tränen fielen auf das Gesicht meiner Mutter; Ich suchte sie ihr nicht zu verbergen, ich dachte sie müssten ihr wohl tun.

Es erschienen wirklich zwei Tränen an ihren Augenlidern; ich küsste sie auf.

Der Arzt blieb vor mir stehen; ich sah ihn durch meine Tränen an, er hatte mir offenbar etwas zu sagen.

Aber er zögerte.

»Reden Sie,« sagte ich zu ihm.

»Ihre Mutter war eine fromme Dame,« sagte er, »wenn sie sprechen könnte, würde sie sagen was sie wünscht. Sie kennen sie besser als ich, Sie haben die Befehle zu geben, welche sie nicht geben kann.«

»Sie meinen, dass sie einen Priester wünscht?« fragte ich ihn.

Er nickte bejahend.

Mir brach der Angstschweiß auf der Stirn aus.

»O mein Gott! mein Gott!« sagte ich; »ist denn keine Hoffnung mehr? Könnte man mit der Elektrizität nicht versuchen?«

»Es fehlt uns an einem Apparat.«

»Ich will von St. Quentin oder Soissons einen holen —«

Ich hielt inne. Das Auge meiner Mutter hatte einen trostlosen Ausdruck angenommen.

»Nein, nein, nein!« sagte ich zu ihr, »ich verlasse Dich keine Minute, keine Sekunde!«

Ich warf mich wieder auf meinen Armsessel und schmiegte meinen Kopf an das Gesicht der teuren Kranken.

»Lassen Sie einen Priester kommen,« sagte ich zum Arzt.

Er nahm seinen Hut, aber als er fortgehen wollte, rief ich ihm nach:

»Mein Gott! ich sehe wohl, dass sie mich kennt, aber wird sie nicht mehr mit mir sprechen?«

»Es ist zuweilen der Fall, dass die scheidende Seele noch einmal Klarheit und Worte findet, um Abschied zu nehmen, ehe sie ihre Hülle verlässt; aber — es ist selten,« setzte er kopfschüttelnd hinzu.

Ich sah ihn erstaunt an.

»Ich dachte,« sagte ich, »die Ärzte wollten von einer Seele nichts wissen.«

»Ja,« erwiderte er, »manche Ärzte leugnen das Dasein der Seele: andere hingegen hoffen es.«

»Herr Doktor.« sagte ich, »Sie sprachen eben von Elektrizität.«

Er schien zu erraten was ich meinte.

»Erklären Sie sich,« sagte er.

»Könnte man die Elektrizität nicht durch den Magnetismus ersetzen?«

»Ich glaube, dass es möglich wäre,« sagte er lächelnd.

»Nun, so versuchen wir es,« sagte ich.

Er legte die Hand auf meinen Arm.

»In der Provinz,« erwiderte er, »kann ein Arzt solche Versuche nicht machen; in Paris würde es vielleicht ratsam seyn. Aber man braucht ja kein Arzt zu seyn, um zu magnetisieren; Sie müssen vermöge Ihrer Organisation eine große magnetische Kraft haben; versuchen Sie, wenn etwas auf der Welt im Stande ist, Ihrer Mutter auf Augenblicke die Sprache wieder zu geben, so ist es der Magnetismus.«

Er entfernte sich, als ob er über seine eigenen Worte erschrocken gewesen wäre.

Ich blieb allein mit meiner Mutter.

Ich war nicht weniger erschrocken als er.

Ich konnte, wie der Doktor sagte, mit Hilfe des Magnetismus dem Herzen meiner Mutter noch einige Worte, vielleicht ein letztes Lebewohl entlocken.

Für diese wenigen Worte, für dieses Lebewohl würde ich zehn Jahre von meinem Leben gegeben haben.

Aber war’s kein Frevel? Hatte die Anwendung dieses von der Wissenschaft bereits verworfenen und von der Religion noch nicht gebilligten Mittels nicht einige Ähnlichkeit mit Magie und Beschwörung? Und war es statthaft, dass ein Sohn die magnetische Kraft bei seiner Mutter anwandte?

Nein, mein Gefühl sagte mir, dass ich es nicht dürfe.

Ich begann inbrünstig zu beten.

»O Gott! flüsterte ich. »Du weißt wie innig ich meine Mutter liebe; gib, dass ich nie etwas tue, was deinem heiligen Willen nicht angemessen ist. Gott, ich flehe zu Dir, erhöre mich!«

 

Ich sank auf die Knie und überließ mich meinen Gedanken und Gefühlen.

Merken Sie wohl auf, lieber Freund! Es war vermutlich nur eine Täuschung der Sinne aber als ich mit erhobenen Händen und gegen Himmel gerichteten Blicken betete und im Gebet die Seelenruhe fand, die dein Gläubigen gewährt wird, wo der Ungläubige nur Verzweiflung findet: da fühlte ich einen Kuss auf meine Wange und ich hörte eine leise Stimme, die mir in’s Ohr flüsterte:

»Lebe wohl, Max — mein lieber Sohn!«

Ja, ich fühlte, ich hörte es, lieber Freund; so wahr wie wir zwei biedere, aufgeklärte, vorurteilsfreie Männer sind!

Die Überraschung, die Freude entlockte mir einen Schrei und ich richtete mich auf.

Meine Mutter hatte sich nicht von der Stelle bewegt, sie lag noch immer regungslos und stumm da.

Aber ich hätte geschworen, dass ihr Auge mich anlächelte.

O! wie rätselhaft ist doch die Geistestätigkeit des Menschen in den letzten Augenblicken seines Erdenlebens! Kein erschaffener Geist vermag dieses Geheimnis zu durchdringen.

 

Ich schloss meine Mutter in meine Arme und sagte:

»Ja Du hast mich geküsst, Du hast mir Lebewohl gesagt! Ich habe deine Lippen auf meiner Wange gefühlt, ich habe deine leisen Worte gehört. O wie danke ich Dir!«

Draußen ertönte die Glocke; sie meldete die Ankunft des Priesters, welcher der Sterbenden die letzten Tröstungen der Religion brachte.

Ich richtete mich auf und sah meine Mutter an. Ihr Auge hatte einen unbeschreiblich heitern, ruhigen Ausdruck. Ob sie, wie ich, den Glockenton gehört hatte, der ihr das nahe Scheiben ankündigte? Ob sie noch Empfindungen hatte, ohne sie äußern zu können?

Ich glaube es.

Der Priester trat ein; der Kreuzträger und die Chorknaben folgten ihm.

In den Vorgemächern, auf der Treppe, im Hofe knieten die Schlossbewohner und die Leute aus dem Dorfe, die dem Priester in der frommen und naiven Absicht, ihre Gebete mit den seinigen zu verbinden, gefolgt waren.

Meine Mutter hatte nicht Zeit gehabt zu beichten; aber die Kirche ist unter derlei Umständen sehr nachsichtig.

Der Priester schickte sich an, ihr die Sterbesakramente zu reichen.

Ich ersuchte ihn durch einen Wink, einen Augenblick zu warten.

Während meines Aufenthaltes in Rom hatte ich bei dem Papst Gregor XVI. eine Audienz gehabt, und ich trug am Halse an einer goldenen Kette ein kleines Kreuz von Perlmutter, welches von den Mönchen in Palästina gearbeitet, von dem Heiligen Vater geweiht und mir zum Geschenk gemacht worden war.

Ich nahm das Kreuz ab und legte es meiner Mutter aus die Brust.

Es war ja das Sinnbild des Heilands, der die Tochter des Janus und den Bruder der Magdalena vom Tode erweckt hatte.

Ich betete im Stillen zu dem göttlichen Erlöser, für mich ein Wunder zu tun und mir meine Mutter wieder zu geben.

 

Ich kann nicht glauben, dass mein Gebet nicht inbrünstig genug gewesen, um zum Throne Gottes aufzusteigen, ich legte ja die ganze Innigkeit des Gefühls in meine Worte; aber ich muss glauben, dass die Zeit der Wunder vorüber ist oder dass ich einer solchen Gnade nicht würdig war.

»Ist die Kranke bereit, die Sterbesakramente zu empfangen?« fragte der Priester.

»Ja,« antwortete ich.

Ich richtete meine Mutter auf, der Priester sprach die heiligen Worte und reichte ihr die Hostie; der zuvor etwas offene Mund der Sterbenden schloss sich wieder, ich legte ihr Haupt wieder auf das Kissen und kümmerte mich um nichts mehr.

Ich betete, wie lange, weiß ich nicht. Als ich aufstand und mich umsah, war ich allein.

 

Der Priester war fort, er hatte seine Arbeit maschinenmäßig, ohne Teilnahme getan, er hatte eine Berufspflicht erfüllt.

Ich sah wieder meine Mutter an: ihre Augen waren geschlossen.

Ich schrie laut auf —- sollte sie verschieden seyn, ohne noch einen Blick auf mich geworfen zu haben?

Das war nicht möglich.

Sie schlug langsam und mit Ruhe die Augen auf.

Der Blick war matt glanzlos.

Mein Gott, der Tod kam!

 

Ich wandte meine Augen wenigstens nicht mehr ab von den Augen der Sterbenden.

O! wenn man durch den Blick in ein erlöschendes Herz wieder Leben bringen könnte, so würde meine Mutter gelebt haben.

Die Augenlider sanken langsam wieder hinab; ich hob sie mit den Fingerspitzen und hielt sie geöffnet.

Dann fiel mir ein, dass es vielleicht frevelhaft sey: es mag wohl einen Moment geben, wo die Sterbenden ihren Blick über die irdischen Dinge erheben.

Ich fühlte den Puls, er schlug nicht mehr; ich suchte die Arterie, ich konnte sie nicht finden.

 

Ich legte die Hand auf ihr Herz.

Das Herz schlug heftig und unregelmäßig.

»O! ich verstehe dich, du armes Herz, das mich so innig geliebt!« sachte ich schluchzend; »du magst mich nicht verlassen, du sträubst dich gegen die Trennung. Könnte ich doch auch den Tod bekämpfen, um dich am Leben zu erhalten!«

Dieses Herz schlug; es war für mich ein unaussprechlicher Schmerz, und gleichwohl konnte ich meine Hand nicht von ihm entfernen, es schien sich in alle Winkel der Brust flüchten zu wollen; ich verfolgte es überall, ich meinte, jeder Schlag des Herzens sage mir: Ich liebe dich!

Dies dauerte zwei Stunden.

Dann öffnete sich das Auge plötzlich und wurde glänzend; der Mund bebte und ließ einen leisen Hauch entschlüpfen.

Das Herz hörte auf zu schlagen — meine Mutter war tot!

Es war wenigstens Niemand da als ich; den letzten Blick der Augen, den letzten Hauch der Lippen, die letzten Schläge des Herzens, Alles hatte ich für mich genommen.

Ich ging aber noch nicht fort. Ich setzte mich vor das Bett, und hier saß ich lange regungslos, mit gefalteten Händen und zum Himmel gerichteten Blicken.

Im Laufe des Tages kam der Arzt.

 

Er öffnete leise die Thür. Ich nickte ihm bejahend zu, er verstand mich.

Er kam auf mich zu und küsste mich. Dem Priester war dies nicht eingefallen.

Abends kam der Priester wieder; er ließ Wachskerzen anzünden und setzte sich, das Brevier in der Hand, am Fußende des Bettes nieder.

Am andern Morgen kamen die Leichenfrauen. Ich musste mich entfernen.

 

Ich nahm mein Kreuz von der Brust meiner Mutter, drückte noch einen Kuss auf ihre Lippen und ging dann festen Schrittes und trockenen Auges in mein Zimmer.

Aber als ich allein war, verriegelte ich die Thür und überließ mich meinem Schmerz. Unzählige Male küsste ich das kleine Kreuz, welches dem nun stillstehenden Herzen so nahe gewesen war.

 

 

III.

 

Es war mir ein Bedürfnis, lieber Freund, Ihnen alles dies mitzuteilen. Ich habe beim Schreiben viel geweint, und dies hat mir wohl getan.

Ich will Sie daher mit der Erzählung der weiteren für mich so schmerzlichen Vorgänge verschonen.

Vor Allem befahl ich, in dem Zimmer meiner Mutter nichts zu verändern.

Ich brachte hier die ersten Tage nach ihrem Tode zu.

Abends ging ich auf den Friedhof; erst spät begab ich mich wieder in’s Schloss, und mein erster Gang war in das Zimmer meiner Mutter. Immer ohne Licht.

In den ersten Nächten schlief ich auf dem Armsessel, der noch vor dem Bette stand. Ich hoffte die Verewigte werde mir erscheinen, doch ich hoffte vergebens.

Ich dachte mit Schmerz, ja fast mit Vorwürfen an die Zeit, die ich bei meiner Mutter hätte zubringen können und die ich fern von ihr verlebt hatte; ich dachte an die langen Reisen, auf denen ich freiwillig auf das Glück, sie zu sehen, verzichtet hatte. Und dieses Glück würde ich mir jetzt um jeden Preis erkauft haben.

 

Es schien mir, dass mein Leben künftig verfließen würde, ohne mich den Freuden und Genüssen der Gesellschaft wieder zuzuführen. Der Sommer verging, ohne dass es mir einfiel zu reisen; der Herbst kam und ich dachte nicht an die Jagd; es war mir nicht einmal in den Sinn gekommen, mit jenen weiblichen Bekanntschaften zu brechen, welche in dem gewöhnlichen frivolen Treiben der eleganten Welt die Liebe ersetzen sollen.

Ich hätte es in meiner Trauer für einen Frevel gehalten, in meinem Schmerz an eine jener Bekannten zu schreiben, selbst um ihr anzuzeigen, dass ich ihr nicht mehr schreiben würde. Ich glaubte nie mehr lieben zu können.

So lebte ich vier Monate in meiner Einsamkeit.

Zuweilen sprach ich den jungen Arzt, der meine Mutter, leider erfolglos behandelt hatte.

Er hatte nach und nach eine gewisse Gewalt über mich bekommen; auf seinen oft wiederholten Rath, eine Reise zu machen, entschloss ich mich endlich, Friéres zu verlassen.

Aber dreimal kehrte ich zurück; ich war mit tausend Banden an das Zimmer, an das Grab meiner Mutter gefesselt.

 

Endlich entfernte ich mich, aber ich mied Paris: die Einsamkeit war noch Bedürfnis für mich. Ich wollte in einem kleinen belgischen oder holländischen Seehafen, wo ich keinen Menschen kannte, im Angesicht des Orkans ein paar Monate bleiben.

Ich warf einen Blick auf eine Karte, die ich in einem Gasthof zu Peronne fand, und ich wählte Blankenberg drei Stunden von Brügge.

Dort dachte ich, werde ich allein seyn.

Ich war zu Pferde abgereist, um weder im Postwagen noch im Waggon mit andern Menschen in Berührung zu kommen. Es war mir ziemlich gleichgültig, ob ich einen Tag oder eine Woche unterwegs war.

Ich rastete, wenn mein Pferd müde war, ich ward nie müde, ich schien unermüdlich. Ich fragte nicht einmal nach dem Namen einiger Städte, in denen ich übernachtete, und ich würde gar nicht bemerkt haben, dass ich die Grenze überschritten, wenn man nicht nach meinem Pass gefragt hätte.

Ich hatte in einem Städtchen unweit Brüssel übernachtet; ich wollte in Brüssel nicht anhalten, sondern in einem Dorfe jenseits dieser Stadt rasten. Als ich am botanischen Garten vorüberritt, hörte ich mich bei meinem Taufnamen rufen.

Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie unangenehm mir dies war.

Ich gab meinem Pferde die Sporen, um zu entfliehen, aber man trat mir in den Weg.

Es war Alfred de Senonches, einer meiner besten Freunde.

Aber in meiner damaligen Stimmung waren mir selbst meine besten Freunde unerträglich.

Ich war indes so innig mit ihm befreundet, dass mein Schrecken gemildert wurde, als ich ihn erkannte.

Er war erster Gesandtschaftssekretär in Brüssel, und ich war der Schnelligkeit seiner Karriere nicht fremd gewesen.

Er bestürmte mich mit Fragen; ich deutete auf den Flor am Hut.

Er drückte mir die Hand.

»Ich verstehe,« sagte er. »Armer Freund, später werden wir —«

»Ja wohl,« unterbrach ich ihn, »später wird es mir viel Vergnügen machen, Dich zu sehen.«

»Willst Du nicht bei mir bleiben?«

»Ich halte mich in Brüssel gar nicht auf.«

»Wohin reisest Du denn?«

»An irgend einen Ort, wo ich allein seyn kann.«

»So reife glücklich!« sagte er, »Du bist noch zu krank, armer Freund, als dass man deine Heilung unternehmen könnte. Aber vergiss nicht, dass ein großer Schmerz eine wohltuende Ruhe ist; Du wirst nach überstandener Trauer stärker-werden, als Du vorher warst.«

Ich sah ihn erstaunt an.«

»Bist Du etwa unglücklich gewesen?« fragte ich ihn.

»Ein geliebtes Wesen hat mich betrogen.«

Ich sah ihn an und zuckte die Achseln. Ich hielt es für unmöglich, dass man durch getäuschte Liebe so viel leiden könne, wie ich gelitten hatte.

»Und jetzt?« fragte ich.

»Jetzt bin ich sehr glücklich; ich spiele, rauche, trinke. Ich glaube, dass ich bald Präfekt werde: Du kannst denken, dass mir an meinem Glücke nichts fehlen wird.

Dieses Mal sah ich ihn traurig an. Konnte wirklich ein Mensch unglücklicher seyn als ich?

 

Er erriet meine Gedanken, als ob ich sie laut ausgesprochen hätte.

»Lieber Max,« sagte er, »außer vielen anderen Arten des Schmerzes, die ich mit Stillschweigen übergehe, gibt es einen traurigen Schmerz: diesem bist Du verfallen. Dann gibt es einen bitteren Schmerz, und diesen fühle ich. Ich möchte wohl tauschen, aber Dir rate ich: tausche nicht. —- Adieu, Du wirst mich doch in meiner Präfektur besuchen? Du musst mein Hans als das deinige betrachten; ich werde Dich ruhig weinen lassen, vorausgesetzt, dass Du mir erlaubst, nach Herzenslust zu lachen. Hast Du Feuer bei Dir? ich möchte meine Curare anzünden. — Entschuldige, ich hatte vergessen, dass Du nicht rauchst, Adieu.«

Er redete einen Arbeiter an, der eine Meerschaumpfeife rauchte, zündete seine Zigarre an und ging, mir noch einige Male zuwinkend, auf die Vorstadt Schaerbeck zu.

Ich sah ihm nach, bis ich ihn aus dem Gesicht verloren hatte.

Dann ritt ich weiter und dankte Gott, dass er mir keinen so profanen Schmerz geschickt hatte.

Drei Tage nachher war ich in Blankenberg.

Drei Monate blieb ich im Angesicht des Ozeans, des unendlichen.

Täglich ging ich am Strande hin, zu einer Felsengruppe, an welcher einige Tage vor meiner Ankunft ein Schiff gescheitert war.

Die fünf Seeleute, welche sich am Bord befunden, waren umgekommen; die menschliche Maschine war zuerst vernichtet worden.

Der Rumpf des Schiffes war mit solcher Gewalt zwischen zwei Felsen geworfen worden, dass er festsaß.

 

Am ersten Tage, wo ich das gestrandete Schiff besuchte, hatte es noch einen Mast, das Bugspriet und den größten Teil des Takelwerks. Aber es war Winter und das Meer immerfort unruhig; das Schiff verlor daher täglich etwas von seinem Takelwerk. Heute war’s eine Segelstange, morgen ein Mast, übermorgen das Steuerruder. Wie ein Rudel Wölfe einen Leichnam anfällt, so wälzten sich die Wogen auf das Wrack und rissen ein Stück davon ab,

Bald war das Schiff völlig abgetakelt. Nach dem Oberwerk wurde das Unterwerk abgerissen; die Planken wurden zertrümmert, dann sprang das Verdeck in Stücke, dann wurde das Hinterteil von den Wellen weggespült, endlich verschwand das Vorderteil.

Lange noch hing ein Stück des Bugspriets an seinem Tauwerk fest.

 

Endlich in einer stürmischen Nacht rissen die Taue, und der Mast würde von den Wellen fortgerissen.

Die letzte Spur des Schiffbruches war unter dem sich immer wiederholenden Andrang der Wogen, unter dem gewaltigen Flügel des Windes verschwunden.

Ach, lieber Freund, ich musste mir selbst gestehen, dass, es mit meinem Schmerz ebenso ging, wie mit dem gescheiterten Schiffe, von welchem täglich ein Stück losgerissen und in das unendliche Weltmeer getrieben wurde. Endlich kam die Zeit, wo äußerlich nichts mehr sichtbar blieb, und wie an der Stelle, wo das Wrack auf den Klippen festgesessen, nur noch diese Klippen geblieben waren, ebenso blieb da, wo mein Schmerz nach und nach verschwunden war, nur ein Abgrund zurück.

Wer sollte diesen Abgrund ausfüllen? Ob wohl die Freundschaft genügen würde oder ob es nur die Liebe vermochte?

Ich kehrte nach Frankreich zurück.

Mein nächstes Reiseziel war das Schloss Frières. Als ich die Reihe geschlossener Fenster, als ich das Zimmer, wo meine Mutter gestorben war, das Grab« in welchem sie ruhte, wiedersah, fand ich die Tränen wieder, die ich versiegt geglaubt.

In den ersten Tagen durchlebte ich noch einmal alle Stadien meines früheren Schmerzes.

Man zeigte mir an der Mauer das Erinnerungszeichen an Ihren Besuch. Ich erkannte Sie, obgleich Ihr Name nicht darunter stand.

Ich hatte meinem Schmerz zu viel zugetraut, als ich wieder nach Frières kam; er war nicht mehr stark genug, um zu bleiben: ich fühlte, dass diese ehrwürdige Stätte für mich dasselbe werden würde, was die Kirche für den Priester. Ich gewöhnte mich daran.

Ich fühlte das Bedürfnis, diesen Wohnort, von welchem ich mich vor vier Monaten kaum loszureißen vermochte, zu verlassen.

Statt mit Tränen zu scheiden, ging ich mit trockenen Augen, aber mit gepresstem Herzen fort.

Ich hatte geglaubt, dass ich Paris nie wiedersehen würde, und nun ging ich aus freiem Antriebe dahin.

In Paris fand ich das gleiche bunte, fieberhaft bewegte, sorglose, selbstsüchtige Leben, welches zwischen den Zähnen dieses sich unaufhörlich drehenden, in das Weltgetriebe eingreifenden Riesenrades Alles zermalmt, den Besitz, die soziale Stellung der Menschen, die Throne und Dynastien. Das öffentliche Leben wurde von skandalösen Prozessen durchzuckt; überall hörte man die Namen Teste, Praslin, Villefort.