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  JÖRG AHLBRECHT– Dem Leben Flügel geben– DIE KRAFT VON GEISTLICHEN ÜBUNGEN IM ALLTAG

Edition

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Herausgeber: Ulrich Eggers

ISBN 978-3-417-22886-1 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books GmbH, Leck

© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Dieses Buch wurde zuletzt unter dem Titel „Finde deinen Lebensrhythmus“ veröffentlicht.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Für Andreas,
der mich immer wieder vor die Frage stellt,
wer von uns beiden der Sehende ist

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Inhalt

Über den Autor

Vorwort von John Ortberg

Einleitung

Teil 1: Rhythmus hat Power

  1. Kapitel: Der fremde Jogger oder: Die Kraft eines guten Rhythmus

  2. Kapitel: Gott schuf Rhythmus

  3. Kapitel: Der Verlust von Rhythmus

  4. Kapitel: Wieder in den Rhythmus zurückfinden

Teil 2: Praktische Übungen für einen geistlichen Rhythmus

  5. Kapitel: Das Lebenstempo ausbremsen – das geistliche Journal

  6. Kapitel: Ausschau nach Gott – der Abendabschluss

  7. Kapitel: Eine geschützte Zeit der Stille – Klostertage

  8. Kapitel: ich selbst Grenzen setzen – der Ruhetag

  9. Kapitel: Wie das Leben gelingen kann – in der Bibel lesen in der Bibel lesen

10. Kapitel: Wahre Zufriedenheit erlangen – Fasten und Feiern Fasten und Feiern

Teil 3: Rhythmus missverstanden

11. Kapitel: Nicht der Rhythmus ist das Ziel, sondern das Leben

12. Kapitel: Locker bleiben!

Teil 4: Das Ziel

13. Kapitel: Ewigkeit im Augenblick – die tägliche Gegenwart Jesu in unserem Leben

Anhang –

Studienfaden für Kleingruppen

Danksagung

Literaturliste

Anmerkungen

Über den Autor

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Jörg Ahlbrecht ist Pastor, Sprecher und Buchautor. Er arbeitet als Referent bei Willow Creek Deutschland. Seine Themen sind Nachfolge Jesu, geistliches Leben und geistliche Übungen. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in der Nähe von Marburg.

Vorwort von John Ortberg

Die menschliche Seele zu entwickeln und zu gestalten ist das Wichtigste, was das Universum an großen Ereignissen zu bieten hat. Es ist nicht die Wahl großer politischer Führer. Nicht der Aufbau riesiger Finanzimperien. Nicht die Erfindung atemberaubender Technik. Nicht die Naturgewalten, die die Entstehung und Zerstörung ganzer Galaxien verantworten.

Es sind die Formung und der Aufbau von Charakter. Das menschliche Herz wird entweder von Arroganz oder von Demut beherrscht. Wir erleben entweder den glanzvollen Aufstieg des menschlichen Geistes oder seinen tragischen Zerbruch.

Der Blick auf einen Menschen ist ein direkter Blick auf die Ewigkeit. Daher ist die Entwicklung einer menschlichen Seele der wichtigste Vorgang im Universum überhaupt. Dennoch verpassen wir dieses Drama und wenden uns Törichtem und Nutzlosem zu – denn es kommt oft undramatisch und unauffällig daher:

Ein Kind wird auf dem Spielplatz gehänselt. Ein Jugendlicher erfährt Beachtung und Ermutigung durch einen Lehrer. Eine Freundin zieht die andere in einen Strudel von Klatsch und Tratsch. Eine alleinerziehende Mutter beschließt, ihre Kinder zur Hilfe für die Flutopfer in Pakistan zu motivieren. Ein einsamer Geschäftsmann hält im Hotelzimmer die Fernbedienung des Fernsehers in der Hand und hasst diese Sucht, von der niemand weiß.

In solchen Momenten geschieht etwas, das den Bau der Pyramiden und die künstlerische Gestaltung der Sixtinischen Kapelle wie unwichtiges Geplänkel erscheinen lässt. Denn hier handelt es sich um menschliche Seelen, und vor ihnen liegt entweder eine Ewigkeit von unvorstellbarer Herrlichkeit oder unwiederbringlichem Verlust. Darum muss uns ganz klar sein: Es gibt nichts Wichtigeres als die menschliche Seele.

Die Gemeinde arbeitet in der „Branche der Seelenbetreuung“. Aber der Weg, den wir bisher zur Erfüllung dieser Aufgabe eingeschlagen haben, bringt uns nicht dorthin, wo Gott uns haben möchte. Wir haben zu viele unjüngerhafte Jünger. Wir haben zu viele Leute, die geistliches Wachstum immer noch gleichsetzen mit der strikten Einhaltung biblischer Regeln. Wir haben Menschen gewisse Verhaltensmuster aufgezwungen, anstatt ihnen zu helfen, in der Wirklichkeit der Nähe Gottes zu leben. Wir haben versucht, Menschen – nach unseren Anweisungen – bestimmte Aufgaben abarbeiten zu lassen, anstatt sie bei ihrer Suche nach ihrem ganz eigenen Rhythmus und vor allem ihren ganz eigenen Wünschen zu unterstützen. Wir haben uns abgefunden mit der Vermeidung von Skandalen, dogmatischer Rechtgläubigkeit, Seriosität, Gemeindeengagement und Sündenmanagement, anstatt uns ernsthaft um die geistliche Reife derer zu bemühen, mit denen wir zusammen arbeiten und leben. Wir haben die falschen Vorbilder für geistliche Reife gewählt. Und das Resultat sind Persönlichkeiten, die zwar „gemeindlich erfasst“ sind, denen aber die Veränderung fehlt, die nur durch das Wirken des Heiligen Geistes geschieht. Und damit fehlt ihnen das echte, das wirkliche Leben.

Aber – das kann sich ändern. Wir können Menschen dazu verhelfen, in der Gegenwart Jesu zu leben. Und diese Gegenwart birgt ein Veränderungspotenzial, an das keine Macht der Welt herankommt. Wenn wir Menschen darin unterstützen, ihren eigenen Rhythmus zu finden und so ihr Leben regelmäßig für die Gegenwart Christi zu öffnen, tun wir ihnen damit das Beste, was überhaupt möglich ist.

Dieses Geschenk möchte Jörg Ahlbrecht uns mit seinem Buch machen. Sicherlich wird Sie die Geschichte des blinden Joggers Andreas ebenso bewegen wie mich. Gemeinsam können wir lernen, was es heißt, unseren Weg in blindem Vertrauen zu gehen (und manchmal auch zu joggen), anstatt auf falsche Sicherheiten zu setzen.

John Ortberg

Einleitung

Zwei Menschen fangen mit dem Joggen an. Beide treibt der Wunsch an, etwas für ihre Fitness zu tun. Beide möchten einen gesunden und trainierten Körper haben. Also nehmen sie sich vor, zweimal in der Woche zu laufen. Der Anfang ist bei beiden verheißungsvoll. Doch nach einigen Wochen findet der eine von ihnen immer neue Gründe, warum er gerade nicht joggen gehen kann. Zum Beispiel das Wetter. Es könnte regnen oder gar ein Gewitter geben. Es ist zu schwül oder zu kalt, es wird zu früh dunkel, oder im Wald könnte Windbruch sein! Außerdem zieht es im Rücken, es drückt im Knie, es kratzt im Hals – und ausgerechnet heute sind seine Beine so schwer! Während der eine tausend Gründe findet, warum er nicht laufen geht, schnürt der andere weiterhin seine Laufschuhe – und läuft.

Was unterscheidet diese beiden Menschen voneinander? Warum gibt der eine auf, während der andere durchhält?

Zwei Menschen wollen lernen, Saxofon zu spielen. Sie lieben den Klang dieses Instrumentes und hören sich oft CDs von Künstlern an, die es beherrschen. Die Musik begeistert sie und bringt sie zum Träumen. Sie sind überzeugt: So möchten sie dieses Instrument auch spielen können, und schaffen sich ein Saxofon an. Beide nehmen Unterricht und stürzen sich mit großem Enthusiasmus ins Üben. Sie erlernen die Grundbegriffe, sie beginnen mit Fingerübungen und Übungsstücken. Doch nach einem halben Jahr beginnt der Übungswille des einen zu erlahmen. Immer seltener greift er zwischen den Übungsstunden nach dem Instrument und bricht schließlich den Unterricht ab. Nur wenige Wochen später ist der eine Koffer mit dem Instrument nur noch ein weiterer Staubfänger auf dem Dachboden. Der andere Musikschüler dagegen übt weiter. Er macht Woche für Woche seine Übungen, kämpft sich unermüdlich voran und wird schließlich zu einem passablen Spieler.

Warum gibt der eine auf und der andere nicht? Beide standen vor den gleichen Aufgaben und Herausforderungen.

Zwei Menschen entscheiden sich für den Glauben an Gott. Sie begreifen, dass Gott sie leidenschaftlich liebt und dass seine Gnade unermesslich ist. Sie spüren, dass dieser Gott das Beste ist, was ihnen im Leben begegnen kann. Und so beginnen beide hoffnungsvoll und begeistert ihren Weg des Glaubens. Sie wollen Jesus folgen. Sie wollen seinem Beispiel nacheifern, wollen seine Schüler sein. Sie versuchen, so zu leben, wie er es vorgelebt hat. Sie lesen in der Bibel, sie beten viel. Aber im Laufe der Zeit lässt bei einem von beiden die anfängliche Begeisterung nach. Das Leben bringt Herausforderungen mit sich, in denen der Glaube keine Hilfe zu sein scheint. Und so beginnt er zunächst langsam, jedoch stetig, abzudriften und den eingeschlagenen Weg zu verlassen. Der andere bleibt dran. Zwar wird auch er vor eine ganze Reihe von schwierigen Situationen gestellt, und für kurze Zeit verliert auch er die Richtung aus dem Blick, aber letztlich kehrt er doch wieder auf den eingeschlagenen Weg zurück.

Warum ist das so? Warum bleibt der eine am Ball und der andere nicht? Worin liegt hier der Unterschied?

Was ist es, das die einen dazu bringt aufzugeben, andere hingegen durchhalten lässt? Was ist es, das die einen all ihre Vorhaben über Bord werfen und ihr Ziel aufgeben lässt, während andere dranbleiben und im Laufe der Zeit geradezu Flügel bekommen und weit über sich hinauswachsen? Ich finde, das ist eine überaus spannende Frage.

Hat es etwas mit den Genen zu tun? Gibt es ein „Durchhalte-Gen“, und wer es nicht hat, der wird dieses Buch nie zu Ende lesen? Liegt es an der Erziehung, die ein Mensch genossen hat? Hat der eine im Elternhaus eben mehr Disziplin mitbekommen als der andere? Oder ist es eine Frage der Willensstärke? Unterscheiden wir hier zwischen schwachen und starken Menschen? Hat es mit den Verhältnissen zu tun, in denen ein Mensch lebt, mit dem Umfeld und den Rahmenbedingungen? Spielt hier sogar alles zusammen? Oder gibt es gar keinen Grund – ist das Ganze einfach nur Zufall? Der eine hat es und der andere hat es eben nicht?

Was lässt Menschen durchhalten? Diese Frage ist für mich nicht nur theoretischer Natur. Sie ist existenziell. Sie betrifft mein Leben. Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, ob ich durchhalten werde oder nicht. Ob ich scheitern werde oder nicht.

Anfänger sein

Soll ich Ihnen etwas verraten? Ich bin ein Anfänger! Ich bin sogar ein grandioser Anfänger. Ich liebe es nämlich, Dinge anzufangen. Ich mag es einfach, Neues zu beginnen. Wie hat Hermann Hesse so treffend gedichtet: „In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …“1 Dies ist mein Credo. Was habe ich im Leben nicht alles angefangen! Ich habe Bilder begonnen und nicht zu Ende gemalt. Bastelprojekte angefangen, aber nicht vollendet. Bücher angelesen und irgendwann zur Seite gelegt. Unzählige Diäten habe ich im Kampf gegen den kleinen Pummeligen begonnen, der mich da im Spiegel anblickt, aber er ist immer noch da.

In der Schule und während des Studiums habe ich begonnen, Sprachen zu lernen, die ich heute nur noch fragmentarisch beherrsche. Ich bin Freundschaften eingegangen und habe irgendwann bemerkt, dass sie mir abhandengekommen sind. Ich habe Artikel begonnen, die immer noch darauf warten, zu Ende geschrieben zu werden.

Ich bin ein grandioser Anfänger.

Anfangen ist nicht schwer – aber wie vollendet man? Wie hält man durch? Was hilft einem Menschen dabei, einen Weg auf lange Zeit beständig zu gehen? Oder um es auf den Punkt zu bringen: Was hilft mir dabei, ein beständiges Leben mit einem beständigen Glauben zu führen? Was lässt meinem Glauben Flügel wachsen? Mich interessiert besonders die Frage nach dem Glauben, denn er ist die zentrale Wirklichkeit meines Lebens, das Zentrum, aus dem ich lebe.

Der Apostel Paulus vergleicht in seinem 1. Brief an die Korinther das Leben mit einem Wettlauf. Er verwendet ein Bild aus den antiken Wettspielen und schreibt:

„Ihr wisst doch, dass an einem Wettlauf viele teilnehmen, aber nur einer bekommt den Preis, den Siegeskranz. Darum lauft so, dass ihr den Kranz gewinnt.“2

Lauft so, dass ihr gewinnt! Was bedeutet das? Wie läuft man, wenn man gewinnen will?

Wer gewinnen will, wird nicht nachlässig an den Lauf herangehen. Er wird im Vorfeld und während des Laufes alles tun, was seinem Ziel dient. Er wird sich gut vorbereiten – und er wird während des Wettkampfes alles geben. Und wer am Ziel ankommen will, der muss sich fragen, wie es ihm gelingen kann durchzuhalten. Es nutzt mir nichts, wenn ich die ersten fünf Kilometer in Rekordzeit laufe, das Rennen aber über zehn Kilometer geht. Es interessiert niemanden, wie schnell ich am Anfang war, wenn ich das Ziel nicht erreiche.

Also: Wie kann ich durchhalten? Welches Tempo kann ich schaffen? Wie komme ich bis ins Ziel?

Darüber könnte man mit Sicherheit mehr als ein Buch schreiben. Aber unter all den Faktoren, die in diesem Bereich eine Rolle spielen, ist mir ein Thema besonders aufgefallen, und darauf möchte ich mich in den folgenden Kapiteln konzentrieren.

Menschen, die durchhalten, sind Menschen mit einem gesunden, ausgewogenen Lebensrhythmus. Ihr Leben ist keine Aneinanderreihung von kurzatmigen Kraftakten, sondern ein weises, dauerhaftes, regelmäßiges Trainieren, aus dem eine große Kraft erwächst!

Es geht mir in diesem Buch um Rhythmus. Um Lebensrhythmus. Um Glaubensrhythmus. Ich bin nämlich heute mehr denn je überzeugt, dass darin eine weitgehend unterschätzte Kraft liegt. Eine Kraft, die viele Menschen enorm weiterhelfen könnte, wenn sie sie denn entdecken würden.

Immer wieder bin ich in den vergangenen Jahren beim Lesen, in Begegnungen, in Gesprächen und Diskussionen auf dieses Thema gestoßen.

Als ich vor einigen Jahren „Das letzte Tagebuch“ des holländischen Theologen Henri Nouwen las3, staunte ich darüber, wie oft er das Abendmahl feierte – als Katholik sprach er immer von der heiligen Kommunion. Nahezu an jedem Tag spielte diese geistliche Erfahrung in seinem Leben eine Rolle. Nouwen hatte für sein Leben einen Rhythmus entwickelt, in dem er täglich Jesu Gegenwart im Abendmahl feierte. Wo auch immer er war, ob zu Hause oder auf Reisen, gleichgültig, ob er mit guten Freunden beisammensaß oder mit flüchtigen Bekannten – Nouwen feierte mit ihnen Abendmahl. Diese Handlung gab ihm einen Rhythmus. Sie gab seinem Leben einen Bezugsrahmen. Immer wieder kehrte er zu dem Gedanken der Einheit mit Christus zurück, erfasste ihn, schmeckte ihn, nahm ihn in sich auf und teilte ihn mit anderen. Und so wurde aus Henri Nouwen ein Mensch, der mit großer innerer Tiefe Millionen anderer Menschen inspiriert hat.

Oder Dietrich Bonhoeffer. Er selbst schrieb in seinen Briefen aus der Gefangenschaft, in der Zeit, als er in Berlin inhaftiert war, dass er nur deshalb nicht verzweifelte, weil er seinen Arbeitsrhythmus aufrechterhielt.4 Obwohl es nicht nötig war, stand er jeden Morgen um 6:00 Uhr auf und begann zu arbeiten. Er las, er schrieb, er forschte. Immer wieder gelang es seiner Familie und seinen Freunden, ihm Bücher zukommen zu lassen, und das hielt ihn am Leben. Es war dieser Rhythmus, der ihm half, die besonderen Umstände seiner Haft zu ertragen. Und er sagte selbst, dass sein Leben aus dem Ruder gelaufen wäre, hätte er sich treiben lassen.

Der amerikanische Philosophie-Professor Dallas Willard schließlich brachte mich vollends auf diese Spur, als er darüber schrieb, dass auch das Leben Jesu einem verborgenen Rhythmus gefolgt war. Dieser hatte sein Leben um regelmäßige Übungen herum eingerichtet: Er ging regelmäßig in die Stille und in die Einsamkeit. Er fastete und er besuchte regelmäßig die Synagoge. Und wenn wir Jesus nachfolgen wollen, so bedeutet dies, dass wir ihm auch in diesem Punkt nachfolgen. Es bedeutet, dass wir auch von dem verborgenen Leben Jesu lernen.5

Um es noch einmal zu wiederholen: Menschen, die durchhalten, haben erfahrungsgemäß einen guten Lebensrhythmus entwickelt. Ihr Leben baut nicht auf einer Serie von kurzatmigen Kraftakten auf, was der Grund ist, warum ihnen auf lange Sicht auch nicht die Puste ausgeht. Ihr Leben hat einen soliden, stabilen Rhythmus. Ihr Körper, ihre Seele und ihr Geist leben in diesem Rhythmus. Und der Glaube wird gespeist und genährt aus „heiligen Gewohnheiten“, die langsam, aber stetig ihre Kraft entfalten.

Wie müsste mein Leben aussehen, wenn es diesen Tatsachen Rechnung trägt? In den vergangenen Jahren habe ich viele Impulse dazu gelesen, ausprobiert und verändert. Ich habe begonnen, die Kraft eines guten Rhythmus für mich selbst zu entdecken – und ich bin immer noch begeistert unterwegs und auf der Suche nach Neuem.

Solange man die vierzig noch nicht überschritten hat, gibt man sich häufig der Illusion hin, die eigene Kraft reiche ewig. Mit jugendlichem Elan und mit Begeisterung ist vieles zu bewegen. Und das hat ja auch seinen eigenen Charme. Aber auf Dauer reichen diese kurzatmigen Kraftakte eben doch nicht aus. Irgendwann geht uns die Puste aus. Darum ist es weise, schon früh nach einem guten Rhythmus zu fragen. Nach Dauerhaftigkeit zu streben. Klug und umsichtig die Übungen auszuwählen, die uns persönlich weiterbringen und die uns dabei helfen, dass unser Leben in einer stabilen Bahn bleibt.

Wie sieht die Kraft aus, die ein guter Rhythmus mit sich bringt? Wie hat Gott sich Leben und Rhythmus gedacht? Wie kann es uns gelingen, unser Leben zu ändern, wenn es seinen Rhythmus verloren hat? Welche Übungen können uns dabei helfen? Welche Fehler sollten wir vermeiden? Und schließlich: Was ist das Ziel des Ganzen?

Darum soll es auf den folgenden Seiten gehen. Ich möchte Sie mit auf meine ganz persönliche Reise nehmen. Und ich würde mich riesig freuen, wenn Sie mich dabei ein wenig begleiten. Ich schreibe in der Hoffnung, dass das, was ich erlebt habe, auch Ihnen weiterhilft. Dass Sie sich in den Geschichten, die ich zu erzählen habe, wiederfinden und dass Sie dadurch auf Ihre ganz eigene Reise hin zu einem stabilen, gesunden Lebensrhythmus gehen oder Ihren schon begonnenen Weg fortsetzen. Möge dieses Buch einen Beitrag leisten, Ihrem Leben Flügel zu geben.

Jörg Ahlbrecht
Oberweimar

Teil 1 Rhythmus hat PowerTeil 1 Rhythmus hat Power

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Kapitel 1

Der fremde Jogger oder: Die Kraft eines guten Rhythmus

Um zu Gott zu kommen, braucht man weder Klugheit noch Wissenschaft, sondern nur ein Herz, das entschlossen ist, sich um nichts zu kümmern als um ihn und nichts zu lieben außer ihm.

BRUDER LORENZ6

Die feste Gewohnheit wird nur unter Schmerzen in uns zuwege gebracht.

BRUDER LORENZ7

Ich jogge regelmäßig und begegne auf meinen Runden immer wieder einmal einem bestimmten Mann. Er ist ungefähr in meinem Alter, aber im Gegensatz zu mir ist er geradezu unverschämt fit. Eng anliegende Laufsachen, weit und breit kein Gramm Fett in Sicht. Er bewegt sich wie eine Katze – elegant, fließend, kraftvoll. Sein Kopf ist glatt rasiert, sein Blick konzentriert nach vorn gerichtet. Alles an ihm scheint sich ganz auf das Laufen zu fokussieren. Es ist eine Wonne, ihm zuzusehen. Der Mann joggt, wie Präsident Obama geht!

Früher habe ich ihn jedes Mal, wenn wir uns begegnet sind, nach Jogger-Art stumm gegrüßt. Habe kurz die Hand gehoben und ihm freundlich zugenickt. Aber er hat nie geantwortet. Auch nicht die leiseste Andeutung eines Nickens war zu sehen. Stattdessen hat er konzentriert weiter auf den vor ihm liegenden Weg gestarrt.

Nun gehöre ich sicherlich nicht zu den Menschen, die jahrelang beleidigt sind, weil sie mal nicht gegrüßt wurden. Aber diese kontinuierliche Missachtung meiner Person fraß sich dennoch in mein Selbstbewusstsein.

Ich weiß nicht, ob mein beleidigter Stolz innerlich aufheulte oder ob es der gute alte Neid war, der böse auf diesen durchtrainierten Körper schielte – vielleicht hatte ich auch einfach nur Minderwertigkeitskomplexe angesichts dieser Sportlichkeit –, auf alle Fälle begann ich im Laufe der Zeit, sehr unchristliche Gefühle für diesen Mann zu entwickeln.

Du miese, arrogante Socke. Dass du so fit bist, gibt dir noch lange nicht das Recht, mich in meiner – zugegebenermaßen „ausbaufähigen“ – Sportlichkeit einfach zu übersehen, dachte ich.

Natürlich habe ich ihn als „guter“ Christ auch weiterhin stumm gegrüßt. Ich dachte dabei an die Aussage Jesu, dass ein solches Verhalten feurige Kohlen auf seinem glatt rasierten Haupt sammeln würde – und das habe ich mir dann beim Weiterjoggen auch bildlich vorgestellt. Jesus hat zwar gesagt: „Liebet eure Feinde!“ – von arroganten Joggern war aber nie die Rede!

Eines Tages trafen wir uns an einer Stelle, an der der Feldweg sehr schmal war, weil er über die Brücke an einem kleinen Bach führte. Er lief bergauf, ich lief bergab (ich laufe immer bergab). Plötzlich blieb er abrupt stehen! Ich war darüber so geschockt, dass ich vor lauter Schreck ebenfalls das Laufen einstellte. Obwohl wir uns sehr dicht gegenüberstanden, würdigte mich mein Gegenüber immer noch keines Blickes. Er drehte nur langsam seinen Kopf, als würde er die Umgebung scannen, und sagte dann vorsichtig fragend: „Hallo?!“

Zum ersten Mal hatte ich mehr als die paar Sekunden im Vorbeirennen, um den Mann zu betrachten. Und in diesem Augenblick sah ich, dass er etwas in der Hand hielt. Es war ein kleines Bündel aus weißen Röhren, die man zu einem Stab zusammenstecken konnte, einem weißen Stab. Ganz langsam kämpfte sich in meinem Hirn eine Erkenntnis nach oben. Eine Erkenntnis, die mir unglaublich schien, die aber irgendwie nicht von der Hand zu weisen war. Also fragte ich: „Sind Sie blind?“

Seine Antwort kam prompt: „Jaaa!“

Mein Verstand wehrte sich immer noch dagegen, zu begreifen, was offensichtlich war. Ich konnte es einfach nicht fassen.

„Und Sie joggen?????“

Wieder war seine Antwort knapp: „Ja!“ Und dann fügte er freundlich hinzu, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt: „Ich hab’s an den Augen, nicht an den Beinen!“

Gut! So hatte ich das Ganze noch gar nicht gesehen. Ich war fasziniert und konnte die beiden Vorstellungen einfach nicht zusammenbringen: Da rennt einer durchs Feld und kann nichts sehen.

Ich musste einfach noch mal nachfragen: „Sehen Sie gar nichts?“ „Nein, ich bin hundert Prozent blind.“

Ganz allmählich begann die Neugier das Tauziehen mit meinem Staunen zu gewinnen. „Wie machen Sie das?“

In diesem Moment lächelte mein Gegenüber zum ersten Mal. Offensichtlich machte ihm meine Verblüffung Spaß. Es war ein freundliches, warmes, offenes Lächeln. Er erklärte: „Ich laufe diese Strecke jeden Tag – schon seit Jahren. Dabei laufe ich immer mit einem Fuß auf dem Gras und mit dem anderen auf dem Kies. So spüre ich, wann der Weg eine Biegung macht oder wann andere Wege abgehen. Auf diese Weise weiß ich eigentlich immer ziemlich genau, wo ich bin!“

Ich war völlig beeindruckt. Noch ehe ich darüber nachgedacht hatte, hörte ich mich schon sagen: „Wäre es wohl möglich, dass ich Sie ein Stück begleite? Ich würde gerne mehr darüber erfahren, wie Sie das hinbekommen!“

Seine Antwort klang erfreut. „Natürlich. Ich habe mir immer mal gewünscht, dass jemand mit mir läuft. Aber die meisten verlieren schnell das Interesse, wenn sie mitkriegen, dass ich blind bin.“ Wenige Momente später joggten wir zusammen los.

Bergauf!

Andreas, so hieß er, entpuppte sich als ein warmherziger, netter, aufgeschlossener Mensch, der alles andere als arrogant war. Er hatte eben nur nie gesehen, wie ich ihn gegrüßt hatte. Wie auch?! Er erzählte aus seinem Leben, von seiner Blindheit, von seiner Freude am Laufen – und ich hörte zu! Zu mehr hätte ich auch gar keine Luft gehabt! Ich erfuhr, dass er auf einem seiner Augen von Geburt an blind war. Das andere verlor immer mehr an Sehfähigkeit. Und seit vier Jahren war er nun völlig blind – hundert Prozent Dunkelheit. Dennoch rannte er jeden Tag diese Strecke, und das schon seit vielen, vielen Jahren. Und er wirkte auf mich keineswegs, als sei er in irgendeiner Weise eingeschränkt – eher das Gegenteil war der Fall. Der Mann strotzte nur so vor Energie und Lebensfreude.

Unterwegs kam mir plötzlich der besorgte Gedanke, dass ich vielleicht vorher lieber hätte fragen sollen, wie weit er so lief. Meine Hausstrecke umfasst nicht viel mehr als fünf Kilometer, ab acht Kilometern bekomme ich Visionen von einem Rollator, und ab zehn Kilometern brauche ich ein Sauerstoffzelt. Aber Andreas hatte an diesem Tag offensichtlich viel vor. Den ersten Abschnitt kannte ich noch gut. Aber dann verließen wir das mir bekannte Terrain und irgendwann hatte ich völlig die Orientierung verloren. Ich dachte, dass meine Frau sich jetzt sicherlich langsam Sorgen machte, wo ich denn bliebe. Und wenn wir nun noch viel weiter liefen, würde ich mir ebenfalls langsam Sorgen machen, wo ich denn bleibe.

Irgendwann kamen wir bei einer Grillhütte raus, und ich wusste plötzlich wieder, wo wir waren. An der nächsten Kreuzung kannte ich mich aus. Ich lief nach rechts, Andreas nach links.

Ich blieb stehen. „Hey, wir müssen hier rechts!“

„Nein!“ Andreas schüttelte seinen glatt rasierten Kopf. „Wir müssen hier links!“

Aber ich ließ nicht locker (schließlich wusste ich ja nun, wo wir waren). „Wir müssen hier rechts!“

Doch Andreas blieb stur! „Nein, wir müssen hier links!“

Nun wollte ich mich nicht mit ihm streiten. Also blickte ich ratlos meinen Weg entlang – und in diesem Moment entdeckte ich, dass wir nach links mussten …

Andreas hatte völlig recht. Ich hatte mich vertan. Ich konnte mich bedingungslos der Führung dieses blinden Joggers anvertrauen. Er brachte mich sicher nach Hause. (Ich musste zwar künstlich beatmet werden, aber ich war zu Hause.)

So unglaublich die Geschichte von Andreas auch ist – sie ist wirklich wahr. Und ich erzähle sie deshalb am Anfang dieses Buches, weil sie anschaulich zeigt, welche Kraft ein gesunder Rhythmus birgt. Was hatte diesen blinden Mann in die Lage versetzt, im Feld zu joggen? Was half ihm, mit solcher Gewissheit seinen Weg zu finden? Und was gab ihm den inneren Rückhalt, sich selbst durch mich, der ich sehen kann, nicht verunsichern oder irritieren zu lassen?

Erinnern Sie sich, was er sagte?

„Ich laufe diese Strecke jeden Tag – schon seit Jahren.“

Die tägliche Wiederholung über einen langen Zeitraum hatte in seinem Leben eine enorme Kraft entfaltet. Eine solche Kraft, die es ihm als Blinden sogar ermöglichte, mich – den vermeintlich Sehenden – zu führen.

Andreas hatte einen festen Rhythmus! Und mit Rhythmus meine ich: Er tat ganz regelmäßig das Gleiche, und zwar über einen langen Zeitraum. Er lief täglich – jahrelang. Egal, welches Wetter herrschte, egal, wie er sich fühlte – er ging hinaus auf die Laufstrecke. Das hat seinen Körper enorm gestählt. Er hat durch das Laufen Muskeln aufgebaut, ein stabiles Immunsystem entwickelt und ganz nebenbei alles überflüssige Fett verbrannt. Und was seinem Körper guttat, stärkte noch viel mehr seinen Geist! Durch das tägliche Laufen hat sich die Laufstrecke quasi in sein Gehirn eingebrannt und dadurch entstand im Laufe der Zeit eine innere Landkarte. Dieser Karte konnte er folgen. Dieser Karte konnte er sich bedingungslos anvertrauen. An dieser Karte konnte er festhalten, selbst gegen die Einwände eines Sehenden, der meinte, es besser zu wissen.

Dies ist die Kraft von Regelmäßigkeit und Wiederholung – dies ist die Kraft von Rhythmus. Andreas überlegt nicht jeden Tag aufs Neue, ob er laufen soll oder nicht. Er läuft einfach. Es ist eine gute Gewohnheit geworden. Und diese Gewohnheit entfaltet nun eine enorme Kraft in seinem Leben. Eine Kraft, die weitaus stärker ist als das körperliche Defizit, das er hat!

Einige Wochen später traf ich Andreas im Supermarkt. Ich war auf der Suche nach Mandeln für mein Müsli und konnte sie einfach nicht finden. Plötzlich stand Andreas vor mir. Wir begrüßten uns, flachsten ein bisschen herum, und schließlich wollte er wissen, was ich denn im Supermarkt kaufen wollte. Ich erwähnte kurz mein Problem mit den Mandeln. Da drehte Andreas sich um, ging ein paar Schritte den Gang hinunter, griff nach unten in ein Regal und drückte mir breit grinsend eine Tüte Mandeln in die Hand. Wieder konnte ich kaum fassen, zu was er da in der Lage war.

„Andreas, wie machst du das?“

Seine grinsende Antwort hätte ich mir eigentlich denken können: „Ich übe jeden Tag!“

Wer jeden Tag übt, wird jeden Tag ein kleines bisschen stärker. Aber dies scheint heute mehr und mehr in Vergessenheit geraten zu sein. Wir leben in einer Zeit, in der die Abkürzung Hochkonjunktur hat. Wir wollen vieles möglichst schnell. Egal, was wir tun, wir wollen so bald wie möglich Resultate sehen. Und das führt zu einem Lebensstil, der überwiegend auf kurzatmige Kraftakte setzt.

Wir versuchen, aus dem Moment heraus ein Ergebnis zustande zu bringen. Für mehr ist keine Zeit