Aus dem Amerikanischen von Michael Siefener
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe
Howard Phillips Lovecraft: Dreamer on the Nightside
erschien 1975 im Verlag Arkham House.
Copyright © 1975 by Frank Belknap Long
Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Felix F. Frey
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-479-9
www.Festa-Verlag.de
FÜR LYDA
Ein Geschenk aus lange vergangenen Tagen,
aus meiner stets noch störrisch wiederkehrenden Jugend
und – ein Geschenk von morgen.
Frank Belknap Long
Vorwort
Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass ich Howard Phillips Lovecraft besser als jeder andere kannte, wenn man von seinen Familienmitgliedern und Kindheitsfreunden absieht. Zwischen den frühen 1920er-Jahren und dem Jahr seines Todes tauschte ich mit ihm zahlreiche Briefe aus und traf ihn mindestens 500 Mal persönlich – in New York, in Providence und in einigen Hafenstädten Neuenglands, die von so großem historischen und architektonischen Interesse sind.
Allerdings gibt es viele andere Personen, deren Gelehrsamkeit und Fähigkeit, viele Stunden mit geduldigen Nachforschungen zu verbringen, sie eher als mich dazu befähigen würden, eine vollständige Biografie über HPL zu schreiben. Selbst wenn ich dazu in der Lage wäre, mich einer solchen Aufgabe anzunehmen, würde ich mich gezwungen sehen, viele der persönlichen Erinnerungen, die ich auf den folgenden Seiten niedergeschrieben habe, wegzulassen. Es gibt so viel Material, das kein Biograf übergehen darf, sodass strenge Auswahlkriterien nötig wären, noch lange bevor das letzte Kapitel erreicht ist.
Schon seit einigen Jahren möchte ich ein Porträt von HPL zusammenstellen, das hauptsächlich auf meinen Erinnerungen an ihn basiert, die aus jenen 15 Jahren der engen und hochgeschätzten Freundschaft mit ihm herrühren. Ich habe absichtlich den Begriff »zusammenstellen« gewählt, auch wenn ich mir der Tatsache bewusst bin, dass er im Bereich des Porträts nicht unbedingt als kluge Vorgehensweise angesehen wird. Es ist keine leichte Aufgabe, eine Reihe von zufälligen Erinnerungen zu nehmen und sie so miteinander zu verbinden, dass sie ein vollständiges Porträt mit nur wenigen Abschweifungen ergeben. Ob es mir gelungen ist, muss der Leser entscheiden. Ein wichtigeres Kriterium gibt es nicht, denn stets entscheidet nur eine möglichst große Zahl objektiver Einschätzungen über Erfolg oder Fehlschlag eines Projektes.
Auch wenn ich nicht das gesamte biografische Material fortgelassen habe, so habe ich mich doch auf jene Zeitspannen aus HPLs Kindheit und früher Jugend beschränkt, über die er mit mir ausführlich gesprochen hat, und auf Ereignisse aus seiner späteren Zeit, die unserer Korrespondenz unmittelbar vorausgingen und mir von großer Bedeutung zu sein scheinen.
Auch in einem Buch wie dem vorliegenden sind Lücken unvermeidbar. Ich hätte vielleicht etwas mehr Licht auf HPLs Begegnungen mit seinen anderen Freunden werfen können, bei denen ich ebenfalls anwesend war. Aber oft wäre ein solches Licht nur trübe, denn diese Treffen waren häufig sehr kurz und weitaus weniger bedeutend als die ausgedehnteren Versammlungen des Kalem-Clubs, bei denen all seine Freunde zugegen waren. Weitere Aspekte jener Jahre, die in einer richtigen Biografie viel Platz beanspruchen würden, sind weggelassen worden, weil sie bereits an anderer Stelle vollständig und detailgetreu der Nachwelt überliefert wurden, entweder in vorangegangenen Arkham-House-Ausgaben oder in Zeitschriftenartikeln über HPL, und deswegen wäre es überflüssig, sie hier einzubeziehen.
Zwei dieser Berichte sind beispielhaft für alle anderen. W. Paul Cook aus Athol, Massachusetts, war ebenfalls einer von HPLs ältesten Freunden und Korrespondenten und bei vielen Gelegenheiten sein Begleiter. Aber obwohl Cook meinen ersten Gedichtband A Man from Genoa publizierte, habe ich mit ihm nur wenige kurze Briefe gewechselt und bin ihm nur zweimal begegnet. Bei diesen Treffen war HPL nicht dabei, und auch wenn er Paul oft in seinen Briefen erwähnte, zollte er ihm stets auf die gleiche Weise Tribut: »Ein Gentleman von großer Gelehrsamkeit und eine der Leuchten des Amateur-Journalismus.« Aus meinen Begegnungen und Gesprächen mit Cook hätte ich dem nur hinzufügen können, dass er ein wenig untersetzt war, an Haarausfall litt und es sich bei ihm um einen interessanten Gesprächspartner handelte. In seinen Erinnerungen, die er im Eigenverlag herausbrachte, hat Cook ein bewundernswertes Porträt von HPL gezeichnet – scharfsichtig, warmherzig, mitfühlend und mit nicht geringem literarischen Geschick verfasst. Aber diese Erinnerung ist bereits veröffentlicht und wurde mehr als einmal nachgedruckt.
Der andere Fall, den ich als typisch für meine Auslassungen anführen möchte – sie alle zu erwähnen, würde dieses Vorwort zu einer übertriebenen Länge aufblähen – betrifft August Derleths kluge Aufforderung an Zealia Bishop, einen Artikel über HPL für den 1953 erschienenen Arkham House-Band The Curse of Yig zu schreiben. Mrs. Bishop war die wichtigste von HPLs Kunden, deren Texte er überarbeitete, und in diesem Artikel werden seine Revisionsarbeiten für sie ausführlich behandelt. Sie beschreibt in allen Einzelheiten ihr erstes Zusammentreffen mit HPL und die Entstehung der bedeutendsten Geschichte, die je unter ihrem Namen in dem Magazin Weird Tales erschienen ist. Zu diesem Bericht könnte ich höchstens hinzufügen, dass sie ihre Erinnerung in einer Hinsicht im Stich gelassen zu haben scheint: Ich selbst hatte nichts mit dem Verfassen von ›The Mound‹ zu tun. Diese unheilschwere, düstere und großartig atmosphärische Erzählung ist von der ersten bis zur letzten Seite Lovecraft pur. Ich könnte höchstens noch einen Umstand hinzufügen, der hingegen keineswegs bedeutungslos ist: Mrs. Bishop war eine Frau von großem Charme und außergewöhnlicher Schönheit.
August Derleths eigene biografische Abhandlung über HPL enthält viel Material von ausnehmendem Interesse, das ich nicht in den vorliegenden Band übernommen habe, weil sich der Leser wie in den übrigen Fällen nur den betreffenden Veröffentlichungen zuwenden muss, die ihm viele Stunden höchst bemerkenswerter Erkenntnisse verschaffen werden. Derleths Erinnerungen sind so weitverbreitet, dass die Zahl der ergebenen Lovecraftianer, die sie noch nicht kennen, mithilfe einer dieser primitiven Zählmaschinen ermittelt werden könnte, die nicht mehr als zehn oder zwölf Kügelchen besitzen.
Ich habe mich nicht besonders bemüht, die eine oder andere Seite dieses Buches von dem frei zu halten, was ein post-impressionistischer Maler vermutlich als die einzige Möglichkeit angesehen hätte, HPL zu porträtieren, weil keine frühere Malschule seinem Genius der Nachtseite hätte gerecht werden können. Aber in der Hauptsache habe ich versucht, mich an die klassischeren Schulen anzulehnen, und nicht ein einziges Mal habe ich tatsächliche Begebenheiten verändert – nicht einmal in den unbedeutendsten Einzelheiten. Sie haben sich genauso zugetragen, wie ich sie schildere, auch wenn sich zwei oder drei von ihnen in unheimlicher Übereinstimmung mit Jungs Theorie der Synchronizität zu befinden scheinen. Und ich habe jeglicher Versuchung widerstanden, auf sprachlicher Ebene den weiteren Entwicklungen der Malkunst nachzueifern, die zum Kubismus, zum Surrealismus und zum deutschen Vorkriegs-Expressionismus führten – mit Ausnahme von vielleicht drei oder vier kurzen Absätzen!
Frank Belknap Long
H. P. Lovecraft
Kapitel 1
Möglicherweise gibt es einige Personen, die von Lovecraft nicht mehr als zwei oder drei seiner am häufigsten anthologisierten Erzählungen gelesen haben, oder sie kennen ihn ausschließlich durch Verfilmungen, die bisher seinem Werk nicht im Mindesten gerecht geworden sind. Andere Leser mögen sogar mit den grundlegenden Fakten seines Lebens unvertraut sein, obwohl in den letzten Jahren sowohl in Europa als auch in Amerika nicht gerade wenig biografisches Material über ihn erschienen ist. Solche Leser würden sich verständlicherweise betrogen fühlen, wenn ich nicht wenigstens in einem Kapitel die Hauptaspekte seines wachsenden Ruhmes zusammenfassen würde.
Es gibt Schriftsteller, die so eng mit den Legenden verbunden sind, die ihr Leben erschaffen hat, dass beides, Legende und Leben, ein und dasselbe zu sein scheint. Erst wenn beide Aspekte in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, ergibt sich aus ihnen eine Gestalt von außerordentlicher Faszination, obwohl die literarische Qualität unter einer Abtrennung vermutlich nicht leiden würde. Howard Phillips Lovecraft, der Träumer und Mythenschöpfer aus Providence, Rhode Island, war ein solcher Schriftsteller.
Heute durchdringt das Interesse an Lovecraft die amerikanischen Universitäten in beispiellosem Maß. An der Brown University, in deren John Hay Library Tausende von Lovecrafts Briefen lagern, gibt es zwei Studentengruppen mit mehr als 100 Mitgliedern, die regelmäßige Exkursionen an Orte unternehmen, die eine Bedeutung für seine Erzählungen haben, und die nächtliche Geisterwachen in der ehrfürchtigen Erwartung abhalten, eine unheimliche Präsenz aus den schattigen Klüften zwischen zwei Häusern mit kleinen Butzenglasfenstern oder unter den Zypressen am Rande eines Friedhofes in Providence aufsteigen zu sehen, der schon Poe nicht unbekannt war.
In mehr als 50 Colleges von Küste zu Küste haben sich ähnliche Kreise gebildet. Und an mehr als 200 Colleges gibt es Studenten, deren Interesse an lovecraftschem Gedankengut sie in ihren unterrichtsfreien Stunden so stark beansprucht, dass sie in dieser Zeit kaum etwas anderes tun. Es gibt Lovecraft-Gruppen an der UCLA, an der Boston University, an der University of Minnesota und an der Universität der Stadt New York. Der »Miskatonic Literary Circle« (benannt nach einem Ort, der von Lovecraft erfunden wurde) am Georgia Southwestern College hat mehr als 50 Mitglieder und bietet sowohl den Studenten als auch den Lehrern, die an Lovecraft interessiert sind, die Möglichkeit der Zusammenkunft und des Gedankenaustauschs.
Mehrere Magisterarbeiten und eine Doktorarbeit sind bisher über Lovecraft geschrieben worden, und weitere werden bald folgen. Aber das Interesse an Lovecraft ist keineswegs nur auf die Universitäten beschränkt; er genießt einen guten literarischen Ruf und hat eine große Leserschaft, die bis zu einem gewissen Grad auf »Kultfiguren« fixiert ist, doch das stimmt vollkommen mit der faszinierenden, pluralistischen Art von Ruhm überein, der wirklich originellen Schriftstellern, Malern und Musikern zukommt.
Ich möchte nur zwei Beispiele anführen. In Frankreich errang während der 1840er-Jahre Gautier eine ähnliche Art von Ruhm und wurde zum romantischen Vorläufer aller Bohemien-Künstler, ob sie nun Poeten, Romanciers oder Maler waren. Im viktorianischen England besaß Swinburne einen vergleichbaren Kultstatus, bei dem seine Jugend nur selten seinem literarischen Ruf als bedeutender Dichter im Wege stand. Seine Anhänger paradierten in langen Prozessionen durch Oxford, durch Cambridge und sogar durch die Straßen von London und rezitierten mit wilder Hingabe viele Stanzen aus seinem Band Poems and Ballads.
HPL war natürlich ein ganz anderer Schriftsteller und ist sehr viel weniger dazu geeignet, die Anhängerschaft jugendlicher Extrovertierter zu erringen. Doch unter den jungen Lesern, bei denen das Mysterium und die Seltsamkeit seiner kosmischen Reiche eine wunderbare Vermischung von Wirklichkeit und Traum zu erschaffen vermögen, ist sein Einfluss inzwischen fast genauso groß.
Im heutigen Frankreich ist Lovecraft inzwischen mehr als nur einer von etwa 20 weithin gelesenen und diskutierten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat in dem literarischen Bereich, den Poe seit den Tagen Baudelaires unangefochten beherrschte, inzwischen eine beinahe einzigartige Position inne, und in Frankreich ist diese Gattung stets als eine der wichtigsten der gesamten Literatur angesehen worden. Als ein Meister des Makabren und als kosmischer Mythenschöpfer zu brillieren, wie Poe es in Eureka tat, ist eine doppelte Auszeichnung sowohl in den Augen der französischen Intelligenz als auch in denen jener Personen, die vor einer solchen Selbstbezeichnung zurückscheuen und sich als einfache Liebhaber der imaginativen Literatur sehen und es zu schätzen wissen, wenn das Werk eines originellen und kraftvollen Autors den Atlantik überquert und sie mit einem neuen und ganz besonderen Bann überzieht.
In Frankreich existiert ein solches Übermaß an älterer und neuerer Literaturkritik zu Lovecraft, dass nicht das ganze Material in dieses Kapitel aufgenommen werden kann, ohne dass es den Charakter einer Bibliografie annähme, was ich in den folgenden Kapiteln absichtlich vermeide, aber einiges sollte an dieser Stelle trotzdem erwähnt werden. Einige Jahre vor seinem Tod bezeichnete Jean Cocteau Lovecraft als gleichrangig mit Poe, und er war keineswegs der einzige bedeutende gallische Literat, der das Beste von Lovecraft mit dem Besten von Poe verglich. Noch größeres Lob hat Lovecraft von Jacques Bergier erfahren, der ihn als Poe überlegen ansieht, sowohl in sprachlicher Hinsicht als auch in seiner Eigenschaft als außerordentlicher Magier im Reich des Wunderbaren.[1]
Vor etwa fünf Jahren besuchte Maurice Lévy, ein junger Professor an der Universität von Toulouse, Amerika mit einem Fullbright-Stipendium, weil er die Lovecraft-Briefe in der Brown University untersuchen wollte. Ich hatte das große Vergnügen, ihm damals zu begegnen, und sein kürzlich veröffentlichtes Buch über HPL trägt einen Titel, der sehr deutlich macht, wie groß der Ruhm unseres Autors in Frankreich inzwischen ist. Der Titel lautet einfach nur Lovecraft – nicht mehr und nicht weniger. Wenn Professor Lévy nicht New York besucht hätte, wäre mir niemals bekannt geworden, dass an der Sorbonne Vorlesungen über Lovecraft gehalten werden und dass L’Herne, eines der zwei oder drei einflussreichsten französischen Literaturmagazine, Lovecraft »den bedeutendsten amerikanischen Autor fantastischer Literatur in den letzten beiden Jahrhunderten« genannt hat. Zu den wichtigsten Büchern, in denen Tribute an Lovecraft enthalten sind, zählen Marcel Schneiders La littérature fantastique en France (1964), Tzvetan Todorovs Introduction à la litterature fantastique (1970) und L’Amérique fantastique de Poe à Lovecraft (1973).[2] Dieser letzte hübsche Band enthält eine ausgezeichnete Einführung von Jacques Finné.
In Amerika beschäftigte sich der Artikel von Edmund Wilson, der 1945 im New Yorker erschien, mit der unglaublichen Gefolgschaft, die Lovecraft schon zu diesem frühen Zeitpunkt errungen hatte. Auch wenn es keine wirklich wohlwollende Rezension war, deutet doch die Tatsache, dass ein Kritiker von Wilsons Ruf die Notwendigkeit verspürte, in einer so renommierten Zeitschrift mehrere Spalten dem Buch The Outsider zu widmen, sehr klar darauf hin, dass Wilson sich in seiner Haltung zu Lovecrafts Nachtseiten-Genie weniger sicher war, als er eingestehen wollte. Wer zwischen den Zeilen der Rezension liest, erhält den untrüglichen Eindruck, dass genau dies hier der Fall ist. Wenn ein Kritiker von einem Text angerührt ist, ohne es zu wollen und ohne den Grund dafür zu kennen, benutzt er meist seinen Unwillen als Waffe zum Selbstschutz, mit der er die tatsächliche oder eingebildete Gefahr des Angriffs aus einer unbekannten Dimension abwehrt, weil er auf andere Weise nicht mit ihr umgehen kann.
Heute erscheinen allerorten Artikel über Lovecraft, sowohl in den kleineren Magazinen als auch in den Massenblättern, wobei insbesondere der New York Times Book Review und die Ausgabe der Time vom 11. Juni 1973[3] zu nennen sind. Es gab sogar eine Reihe von Zeichnungen des begabten jungen Künstlers Gahan Wilson im Playboy, die eindeutig auf einigen Charakteren Lovecrafts basieren, auch wenn dies nicht ausdrücklich hervorgehoben wurde.
Lovecrafts Erzählungen sind in den letzten Jahren in vielen Anthologien großer Verlage erschienen, sowohl gebunden als auch im Taschenbuchformat, und sie sind in mindestens 18 Sprachen übersetzt worden. Es gab sieben Kinofilme, die auf seinem Cthulhu-Mythos und auf den frühen makaberen Geschichten basieren, sowie eine ganze Reihe von Radio- und Fernseh-Adaptionen. (Mit diesen Filmen bin ich nicht besonders glücklich, denn sie werden der kosmischen Bandbreite und der realistischen Macht des Mythos nicht gerecht und wurden überdies durch die Einführung lächerlicher hollywoodtypischer Elemente wie Liebesgeschichten und sogar erotischer Geschehnisse getrübt, die in einer anderen Art von Geschichte durchaus gerechtfertigt wären, doch Lovecraft hätten sie entsetzt – nicht aus Gründen der Prüderie, sondern weil sie nichts mit dem Mythos zu tun haben.)
Am erstaunlichsten ist vielleicht das Interesse, das Lovecraft von verschiedenen intellektuellen Gruppen entgegengebracht wird. Natürlich war Lovecraft der faszinierendste aller Briefschreiber – seine philosophischen, ästhetischen und sozio-politischen Ansichten füllen Seite auf Seite, ohne dass es möglich wäre, auch nur kurz im Lesen innezuhalten. Als Erforscher des Unbekannten, der in unserer Zeit einzigartig ist, hat Lovecraft die Bewunderung vieler höchst unterschiedlicher philosophischer Kreise errungen, die sich in ihrer Haltung zur Realität völlig unversöhnlich gegenüberstehen.
Während seiner Lebenszeit waren zum Beispiel Lovecrafts Kenntnisse über den Surrealismus von äußerst begrenzter Natur. Er war nur im Bereich der Malerei mit ihm vertraut, und auch wenn Lovecraft natürlich viele Parallelen zwischen dem Werk der frühen flämischen Künstler und dem von Dalí und anderen sah, bin ich mir ziemlich sicher, dass ihn die surrealistische Malerei des 20. Jahrhunderts nur wenig beeinflusst hat. Im Bereich der Literatur bevorzugte er die Traumlandschaften Dunsanys und in der bildenden Kunst die grausigen Gemälde und Zeichnungen Goyas – nicht wegen ihres Realismus, sondern weil sie schreckliche Visionen heraufbeschwören.
Doch bereits im Jahre 1943 erschien in dem amerikanischen Surrealistenmagazin VVV die folgende Würdigung:
Lovecraft erinnert an Dunsany, Algernon Blackwood, Arthur Machen und Poe … Er befreit sich von den Konventionen der Literatur in ihrer standardisierten Form und bietet ein unzensiertes Zeugnis seiner inneren Abenteuer.[4]
Es ist das »unzensierte Zeugnis« dieser Art, aus dem der heutige Surrealismus einen großen Teil seines strukturellen Zusammenhalts bezieht, und auch wenn viele seiner Grundsätze von HPL abgelehnt worden wären, steht dieser Aspekt des Surrealismus gewiss im Einklang mit dem, was HPL vornehmlich durch sein Schreiben zu erreichen versuchte.
Der chilenische surrealistische Maler Roberto Matta scheint unmittelbar von Lovecraft und dem Cthulhu-Mythos beeinflusst worden zu sein, vor allem in solch schaurigen Meisterwerken des Makabren wie Rghuin monstrous triumphs und Icrogy fecundated[5], während der amerikanische surrealistische Dichter, Maler und Kritiker Franklin Rosemont (ein alter Verehrer von Lovecraft und Clark Ashton Smith) ähnliche Motive aus dem Cthulhu-Mythos in den noch brillanteren Gemälden von Jorge Camacho entdeckt hat, einschließlich eines meiner Hunde von Tindalos, der durch einen Spalt herausschaut.
HPL erhielt überdies viele Würdigungen von Schriftstellern, deren Ansichten vollkommen nicht-surrealistisch sind und die daran glauben, dass nur die experimentelle Laborwissenschaft in der Lage ist, einen Schlüssel zu erschaffen, mit dem die Tore geöffnet werden können, hinter denen sich alle wesentlichen Geheimnisse verbergen. Und genau so sollte es sein. Ein Autor, dem die Fähigkeit fehlt, diametral entgegengesetzte Denkschulen miteinander in Kontakt zu bringen, kann nur unbedeutend sein, denn in allen Aspekten menschlicher Erfahrung liegen Widersprüche, mit denen jeder bedeutende Schriftsteller zu kämpfen hat. Wenn er nicht von den Mahlströmen seines Inneren herumgeschleudert wurde, kann er als Führer einer Bergexpedition kaum von großem Nutzen sein – schon gar nicht im Reich des Unbekannten.
HPL war nie ein engstirniger, starrer und unnachgiebiger Positivist, aber er hatte große Achtung vor dem, was allgemein als »seriöse Wissenschaften« angesehen wird, und er weigerte sich, seine Ansicht über das Universum aufzugeben, von der er fest glaubte, dass sie der Wahrheit entsprach, nämlich dass es vollkommen mechanistisch sei – eine gewaltige, unbegreifliche Art von rhythmischem Pulsieren, das schon immer existiert hat und immer existieren wird, wobei dieser Rhythmus alles erschafft, was wir als Realität ansehen: die gesamte belebte und unbelebte Natur auf diesem Planeten und innerhalb des ganzen Universums.
Ich war stets bereit zuzugeben, dass eine solche Möglichkeit durchaus besteht, aber ich bin auch bereit zu glauben, dass es nicht so ist. Gelegentlich stellte HPL seine Ansicht bis zu einem gewissen Grad sogar selbst infrage, auch wenn meine eigenen Zweifel weiter gingen, als er widerspruchslos hinzunehmen gewillt war. Wer weiß, vielleicht hatte er recht. Ich könnte mich in meiner Annahme irren, dass das Universum noch rätselhafter ist, als es bereits durch die Hypothese des kosmischen Rhythmus angedeutet wird.
Abschließend muss hier noch ein weiterer Tribut an die vielfältige Wirkung HPLs erwähnt werden. Einer meiner Bekannten, ein brillanter Mathematiker namens Donald R. Burleson, hat kürzlich ein Lehrbuch, das von vorn bis hinten mit – zumindest für mich – Ehrfurcht gebietenden Gleichungen gefüllt ist, HPL gewidmet. Das ist zweifellos das erste Mal, dass Lovecraft eine Widmung in einem mathematischen Lehrbuch erhalten hat, aber ich bezweifle, dass es das letzte Mal gewesen sein wird.
[1] Vielleicht sollte man Bergiers Urteil doch in Zweifel ziehen, denn er hat meine Erzählung The Hounds of Tindalos freundlicherweise »eine der zehn erschreckendsten und bedeutendsten Kurzgeschichten in der gesamten Literatur« genannt. Doch hin und wieder fällt jeder einmal ein verzeihliches Fehlurteil – ein sehr verzeihliches, finde ich zumindest! –, und man darf nicht vergessen, dass ich diese Geschichte nie geschrieben hätte, wenn ich nicht zusammen mit HPL die dunklen, multidimensionalen Korridore erkundet hätte, durch die wir uns auf unserer Verfolgung unnennbarer Präsenzen gewunden haben, die älter als die Zeit sind. Wenn ich nie mit HPL gesprochen hätte und ihm nie begegnet wäre, dann hätte es sicherlich niemals eine Geschichte namens The Hounds of Tindalos gegeben, die Jacques Bergier hätte preisen können!
[2] Der Begriff »fantastique« in allen drei Bänden ist der ausgeprägten gallischen Wahrnehmungsfähigkeit geschuldet, denn es existiert kein anderes Adjektiv, das auf so umfassende Art und Weise die Literatur des Unheimlichen, des Seltsamen und des Wunderbaren zu beschreiben vermag.
[3] Marc Slonin, ›European Notebook‹, New York Times Book Review vom 17. Mai 1970, S. 10-14; Philip Herrera, ›The Dream Lurker‹ in Time vom 11. Juni 1973, S. 99f.
[4] Robert Allerton Parker, ›Such Pulp as Dreams Are Made On‹, VVV, Nr. 2–3 (März 1943), S. 64
[5] Sarane Alexandrian, Surrealistic Art (New York, Praeger Publishers, Inc., 1970), S. 168
H. P. Lovecraft und Frank Belknap Long
in Flatbush, Brooklyn, 11. Juli 1931