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Titel

für Nikolai und Robert

Impressum

Dämmrung will die Flügel spreizen...

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DIE 10 WICHTIGSTEN PILZREGELN

Pilzrezepte

ÜBER DEN AUTOR

 

 

 

Manfred Enderle

 

 

 

DER

NACHTWANDERER

 

Kriminalistischer Schelmenroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag DeBehr

 

 

 

 

 

 

 

für Nikolai und Robert

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

© 2016 by Manfred Enderle

ISBN : 9783957532763

3. überarbeitete Auflage 2016

Besuchen Sie uns im Internet:

www.debehr.de

 

Dämmrung will die Flügel spreizen,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken zieh’n wie schwere Träume –
Was will dieses Graun bedeuten?

Hast Du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug’ und Munde,
Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte Dich, bleib wach und munter!

Aus dem Gedicht ›Zwielicht‹ von Joseph von Eichendorff

 

 

1

Thomas Graun erwachte früh am Morgen. Sein Kopf dröhnte und sein Magen schmerzte. Es war spät geworden am Silvesterabend, die Raketen hatten gezischt, die Böller geknallt und alle hatten das neue Jahr gefeiert – nur er nicht.

Graun war kein Freund der Feste mehr. Nur manchmal, wenn es seine Stimmung und sein Biorhythmus zuließen, blieb er ein wenig länger in einer Runde, trank ein Bierchen mehr und tat so, als ob er zuhörte. Er suchte sein Glück jetzt außerhalb der Städte und Dörfer, abseits der Treffpunkte und Rummelplätze, wo er seine Wunden lecken und seinen Schmerz verdrängen konnte.

Der Frühaufsteher wand sich aus dem Bett und tapste benommen in die Küche. Dort kochte er sich einen schwarzen Tee und aß ein Stück Weißbrot, auf dem er mit dem Messer großzügig die selbstgemachte Holundermarmelade verteilte. Wenn er schon nicht mehr schlafen konnte, dachte er, dann wollte er wenigstens sehen, was das neue Jahr gebracht hatte.

Graun zog seine dicke Winterjacke an, schlüpfte in die

Stiefel und trat in den Hof hinaus.

Er sog die kalte Morgenluft in seine Lungen, atmete, dass es dampfte, und horchte in das Dorf hinein, das wie ein Schattenriss vor ihm lag. Es war fast kein Geräusch zu hören, nur da und dort bellte ein Hofhund und in der Ferne summte die Autobahn. Die Dorfbewohner dämmerten noch mit ihren schweren Köpfen und strapazierten Lebern dem neuen Jahr entgegen.

Auf der Straße lagen da und dort zerfetzte Knaller, die

Luft roch schwach nach Pyrotechnik.

Thomas Graun fühlte sich erleichtert, zu niemandem Guten Morgen sagen zu müssen, was ihn manchmal ebenso nervte wie das mittägliche ›Mahlzeit-Stakkato‹ in der Klinik. Er dachte an all die Wochen und Monate, in denen er im letzten Jahr ins Moor hinaus geflohen war, in denen er alles stehen und liegen gelassen hatte und einfach weggelaufen war, um Ruhe zu finden, um Pilze zu suchen oder Vögel zu beobachten, vor allem an schlechten Tagen, wenn ihm der Stationsarzt wieder einmal auf die Nerven gegangen war oder seine Freunde nicht gehalten hatten, was sie versprachen.

Bei diesen Spaziergängen richtete er seinen Blick oft auf die mächtigen Bäume. Er gab den Eindrucksvollsten unter ihnen Namen, nannte sie Großer oder Wotan. Manchmal lehnte er sich an eine alte Eiche und saugte ihre vitale Aura in sich auf, oder er umarmte sie und klopfte ihr zum Abschied auf die raue Rinde.

Den Krähen im Ried, die an klirrenden Wintertagen auf ihn warteten, um ein Stück Brot oder eine alte Semmel zu erhaschen, rief er Scherz- und Schimpfworte zu, nannte sie Faulpelze und Vagabunden und erschreckte sie, bevor er weiterging, um ihre Zutraulichkeit zu testen.

Thomas Graun lief ganz in seine Gedanken vertieft fast mechanisch dem Ried zu, strebte nach Osten, zum Mannes-See, der versteckt hinter den Weiden- und Haselbüschen am Eingang des Moores lag. An diesem Moorsee hatte sein Sohn einst das Angeln gelernt. Und immer wenn der Bub am Wasser hantierte, war der Vater ins Moor hinausgestrolcht, hatte die knorrigen Bäume und die zerzausten Sträucher beäugt sowie die sumpfbraunen Tümpel und weiß beschopften Wollgraswiesen bestaunt. Nach seiner Rückkehr musste er dann Stefans Beute bewundern oder ihm Trost für ausgebliebene Fänge zusprechen.

An diesem Morgen dampfte der See wie ein großer Waschbottich und der Ostwind rieb sich in kleinen Wellen an seiner Oberfläche.

Graun ging auf einem schmalen Pfad weiter zum Südsteg, wo er im vorigen Sommer die fetten Karpfen mit altem Brot und trockenen Semmeln gefüttert hatte. Hier war sein Lieblingsplatz, hier stierte er oft lange Zeit ins Wasser und hing im Schatten der hohen Sträucher seinen Gedanken nach. Selbst nachts saß er manchmal dort und löste sich erst wieder aus seiner Erstarrung, wenn ein Fisch die Oberfläche kräuselte oder eine Ente an ihm vorbei gerudert kam.

An diesem Platz konnte keiner in seine unglücklichen Augen sehen, hier musste er niemandem Rechenschaft ablegen. An dunklen Abenden hatte er dort seinen teuflischen Plan ausgeheckt, den er präzise, Schritt für Schritt, wie ein wissenschaftliches Projekt, in die Tat umsetzen wollte.

 

 

2

Es war der 6. November des vorigen Jahres.

Graun erwachte mit einem eigenartigen Gefühl und glaubte, dass es der Föhn sei oder ein herannahendes Tief. Irgendetwas fühlte sich an diesem Morgen anders an. Die Kissen neben ihm lagen verwaist auf dem zerknitterten Laken.

Marlene hatte sich bereits aus dem Bett gestohlen, denn sie wollte zu einer Hochzeit im Nachbarort gehen. Und ihr Ehemann, der drückte sich wieder einmal vor einer gemeinsamen Unternehmung!

Graun ging ins Bad und roch den Duft des fünften Chanels. Wen sie heute wohl damit bezirzt?, überlegte er.

Er warf sich ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht, trocknete sich flüchtig ab und eilte ins Esszimmer, wo er den restlichen Kaffee trank, den Marlene für ihn übrig gelassen hatte. Heute wollte er in den Wald gehen, zu seinen Pilzen und Pflanzen, zu seinen Fischen und Vögeln und er wollte seinem Freund Franz beim Angeln Gesellschaft leisten. Vielleicht fand er den seltenen Samthäubling wieder, den er im Vorjahr entdeckt hatte, oder die leckeren Safranschirmlinge, die sein Nachbar so gerne aß.

Er hörte schon das bekannte Motorengeräusch, kurz bevor Franz Punkt neun Uhr in den Hof hereinfuhr. Schnell griff er nach seinem Korb, der am Ausgang bereitstand, schloss die Türe und eilte die Treppe hinunter. Beim Aufstoßen der Autotüre quoll dicker Zigarettenrauch aus dem Wagen und an Grauns Nase wehte Biergeruch.

»Grüß dich«, sagte Graun. »Du bist ja wieder überpünktlich.«

»Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Angler«, erwiderte Franz und zog die Türe zu.

Graun liebte dieses Gemisch aus Bier und Rauch, es verhieß ihm Genuss und Lebensfreude. Vor zehn Jahren hatte er sich das Rauchen abgewöhnen müssen, aber er war immer noch nicht ganz los davon. Er bat deshalb seinen Freund gelegentlich, ihm den Rauch ins Gesicht zu blasen, oder er hielt sich, wenn jener auf die Toilette ging, seine im Aschenbecher rauchende Kippe für eine Weile genussvoll unter die Nase.

Seitdem er nicht mehr rauchte, war sein Alkoholkonsum in die Höhe geschnellt und sein Körpergewicht außer Kontrolle geraten. Er suchte jetzt Trost im Weizenbier und beim französischen Rotwein. »Le vin est bon pour la santé«, pflegte er zu sagen, dabei versuchte er, wie ein Winner zu grinsen.

Vielleicht könnte er im Ruhestand wieder rauchen, hoffte er, drei Zigaretten am Tag, das müsste sein Magen vertragen.

So schaukelten die beiden Freunde mit ihrem Renault über die holperigen Wege zum Dreiangel-See. Die Angelutensilien stapelten sich bis unter die Decke des alten Kombis. Manchmal klapperte etwas gegen das Fenster oder sortierte sich bei einer kräftigen Hoch-Tief-Bewegung des Wagens neu. Am Parkplatz angekommen schnappte sich Graun seinen Pilzkorb mit den Döschen. »In einer Stunde bin ich wieder zurück, Petri Heil«, verabschiedete er sich von Franz.

»Petri Dank!«, rief ihm jener hinterher, während er seine Angelsachen gemächlich aus dem Auto zog.

Der Spätherbst war in vollem Gange. Die Luft war feucht und nebelschwanger und der morgendliche Tau ruhte in Milliarden winzigen Perlchen auf den Spinnweben am Wegesrand. An solchen Tagen konnte man sehen, wie viele Spinnen im Walde wohnten, dachte er sich. Die wahren Herrscher der Welt sind die Insekten und die Bakterien!

Graun hob seine Nase in die Luft und genoss das würzige Waldaroma. Ob der Tag hielt, was er versprach?

Er ging den langen Waldweg entlang und tastete mit seinen Augen wie ein Scanner den Wegrand ab, um keinen Pilz zu übersehen. Dieses fast maschinelle Absuchen der Erdoberfläche strapazierte seine Augen seit Jahren, aber er sah immer noch gut genug – glaubte er wenigstens. Schon vor langer Zeit wollte ihm Dr. Höllentaler eine Brille verschreiben, aber er hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt. Er sehe immer noch alle Autos rechtzeitig kommen, hatte er dem Doc schmunzelnd erklärt.

Beim großen Jägerstand schwenkte Graun in den Erlenbruch ein. Plötzlich knirschte es scheußlich unter seinen Füßen. Schon wieder eine Schnecke!, durchfuhr es ihn. Die wievielte wohl? Er empfand fast selbst einen körperlichen Schmerz, wenn er Schnecken und Würmer zertrat, und er hatte Mitleid mit den Insekten und Pflanzen, die er bei seinen Pilzgängen unter seinen Stiefeln zermalmte. Für dieses Problem fand er vorerst keine Lösung. Ihm fielen dabei die Städter ein, die jahraus, jahrein auf leblosem Asphalt dahinschreiten und keinem Lebewesen etwas zuleide tun. Sind jene vielleicht bessere Menschen vor dem Schöpfer? Tut man ihnen nicht Unrecht, wenn man sie als naturfeindlich bezeichnet? Es wäre doch fatal, wenn diese Myriaden von Städtern in die Wälder strebten, um Blumen zu pflücken oder Pilze zu suchen. Wie viele Pflanzen und Tiere würden sie zertrampeln? Und erst die Orchideenfreunde! Wie oft nehmen sie seltene Gebilde mit nach Hause oder zertreten sie beim Einpacken ihrer Fotoapparate! Von den Schmetterlingsfreunden ganz zu schweigen. Sie bringen ihre Lieblinge sogar um und spießen sie auf, wie einst Nabokov und Ernst Jünger. Insektenmörder! Gibt es nicht schon genügend tote Exemplare, die man studieren kann! Den Käfern ist es doch egal, ob die Menschheit sie alle kennt.

Graun ließ sich zum Ausgleich für seine Kleinmorde eigenwillige Rettungsaktionen einfallen. Bei Regenwetter hob er Würmer vom Asphalt auf und legte sie mitleidvoll ins Gras. Jeder Wurm war eine kleine Wohltat für sein geplagtes Gewissen. Und im Herbst hängte er versehentlich umgetretene Pilze an Ästen und Sträuchern auf, um sie wenigstens noch aussporen zu lassen. Auf den ersten Blick nicht bestimmbare Arten riss er nicht sofort heraus, sondern betrachtete sie mit einem Spiegel von unten! In der Klinik, wo er als Krankenpfleger auf der Inneren arbeitete, sammelte er weggeworfene Pflanzen ein und päppelte sie in seiner Wohnung auf. »Schon wieder eine Pflanze«, stöhnte Marlene manches Mal, wenn sie wieder einen Platz für einen neuen Pflegefall auf der Fensterbank freiräumen musste, bei dem das Töpfchen eine größere Zierde war als das Gewächs.

Doch Thomas Graun fand an diesem Morgen keine besonderen Pilze. Nach einer Stunde kehrte er an den See zurück. Sein Freund fingerte ein Bier für ihn aus der Kühltasche.

»Hat was gebissen?«, fragte er Franz.

 Jener nickte zufrieden und wies auf das Netz im Wasser: »Zwei Schleien, das reicht.«

Zur Mittagszeit fuhren die beiden zum »Kaiser« nach Weißingen, einer Ausflugsgaststätte am Waldrand, wo der Wirt noch jeden Gast persönlich begrüßte. Als Erstes eilte Graun auf die Toilette und riss das Fenster auf, danach stürmte er in den Wirtsraum zurück. Er konnte sich nicht aufs Klo setzen, wenn kurz vor ihm ein anderer dort gesessen hatte. Erst nach fünf Minuten, wenn die persönlichen Gerüche seines Vorsitzers verduftet waren und die Klobrille abgekühlt war, konnte er sich dort niederlassen und sein Geschäft erledigen.

Er war fest davon überzeugt, dass seine Nase deutlich mehr wahrnahm als eine Durchschnittsnase. Franz hatte ihm einmal erzählt, dass Aale einen einzigen Tropfen Öl in einem ganzen See riechen konnten. Schon wenige Duftmoleküle genügten, um die geruchliche Aufmerksamkeit der Wasserschlangen zu erregen.

»Wer Aale fängt, darf keine Zigaretten rauchen!«, predigte Franz immer wieder.

Graun fühlte sich in dieser Hinsicht mit den Aalen verwandt.

Nach zwei Gläsern Bier und einem Schweizer Wurstsalat fuhren die beiden zum Henßler-See, wo es Welse und Aale geben sollte, die man mit ein bisschen Glück auch am Tag fangen konnte.

Aber sie warteten vergeblich. Kein Fischlein zupfte am Köder, kein Aal ließ sich hereinlegen und bald dämmerte der Abend.

Um sechs Uhr packten die beiden ihre Angelsachen ein und fuhren zum Dorf zurück.

 »Bitte melde dich, wenn du mal wieder Lust zum Angeln hast«, schlug Thomas vor.

»Wir sollten’s mal am Edelmann-See probieren. Da haben sie Forellen eingesetzt. Dann bis demnächst«, meinte Franz. »Also tschüss.«

Graun knallte die Autotüre zu und suchte seinen Hausschlüssel in mindestens vier Taschen. Als er ihn endlich gefunden hatte, schloss er die Haustüre auf. Sofort bemerkte er eine eigenartige Stille. Er rief: »Marlene! Marlene!«, doch sie antwortete nicht. Nachdem er die Schuhe ausgezogen, die Jacke an die Garderobe gehängt und seinen Pilzkorb verstaut hatte, ging er rufend und horchend durch alle Zimmer. Dabei wurde sein »Marlene« immer leiser. In der Küche versorgte er zuerst mechanisch die Pilze, setzte sich schließlich im Wohnzimmer vor den Fernseher und zappte in den Programmen hin und her. Nebenbei horchte er immer wieder mit der Aufmerksamkeit eines Wachhundes in den Hof hinaus.

Gegen zwanzig Uhr hörte er endlich Schlüsselklimpern an der Eingangstüre. Stefan kam nach Hause. Er schaute kurz in die Küche, dann ins Wohnzimmer und fragte: »Wo ist Mutter?«

»Die ist noch nicht da.«

»Hat sie angerufen?«

»Nöh, mich nicht.«

 

3

Als Thomas Graun gegen Mitternacht in sein Bett stieg, hatte er sich von einem Film zum nächsten durchgesehen, ohne dass ihn etwas wirklich interessiert hätte. Seine eigentliche Aufmerksamkeit galt den Geräuschen vor dem Fenster. Jedes Motorengeräusch versetzte seinen Körper sogleich in Alarmbereitschaft und seine Ohren waren so sensibilisiert, dass er sich sogar einige Male einbildete, Schlüsselgeklapper zu hören. Doch seine Frau blieb aus. Marlenes Nachholbedarf erschien ihm ja verständlich, aber musste sie denn gleich so übertreiben?!

Als er die Decke bis zur Nase gezogen hatte, fielen ihm die zahlreichen Unterlassungen und Lustlosigkeiten ein, mit denen er seine Frau über die Jahre hinweg vergrämt haben könnte. Wie viele Veranstaltungen und Feiern hatte er ihr ausgeschlagen, weil für ihn der Wald und der See das Schönste waren. Er zog fast immer die Reize der Natur den Partys und Geselligkeiten vor, und er hatte ja seinen Freund Franz, mit dem er sich einmal in der Woche treffen konnte.

Aber Marlene hat doch auch eine Freundin! Warum geht sie denn mit ihr nicht aus und sucht ein wenig Zerstreuung? Warum sitzen die immer nur im Haus herum und tratschen stundenlang, wahrscheinlich auch über ihn? Graun schossen die Gedanken kreuz und quer durch sein Hirn.

Schließlich überlegte er, wie er die Hochzeiterin am frühen Morgen empfangen sollte. Sollte er Großzügigkeit und Verständnis demonstrieren? Vielleicht würde er die Nerven verlieren und ihr in aller Herrgottsfrühe eine Szene machen? Vielleicht sollte er gar nichts sagen und nur verständnisvoll blicken? Dann könnte sie aber meinen, er liebte und vermisste sie nicht, und würde ihm dies ein anderes Mal wieder vorhalten.

Thomas Graun lag hellwach im Ehebett und sehnte sich nach Schlaf und nach seiner Frau. Als er immer noch keine Spur von Ermüdung fühlte, legte er Rachmaninows zweites Klavierkonzert in den CD-Player und griff zu einem Buch.

Er konnte sich jedoch nicht konzentrieren und las immer wieder über die schwarzen Buchstaben hinweg, ohne die Wörter, geschweige denn deren Sinn zu erfassen. Schließlich legte er das Buch beiseite und blätterte in einer Pilzzeitschrift.

Hoffentlich wachte sein Sohn nicht von der nächtlichen Musik auf, bangte er, denn er musste gut ausgeschlafen sein, damit er den Streit seiner Eltern am nächsten Morgen besser verdauen konnte.

Der Pianist und das Orchester spielten hinreißend. Rachmaninows Virtuosität begeisterte ihn immer wieder. Vor seinem geistigen Auge breiteten sich das riesige Land und die ausgedehnten Wälder aus, um die er das russische Volk beneidete. Wie gerne wäre er mit Franz einmal in Sibirien gewandert, ohne Menschen und Jogger, ohne Rentner mit ihren Hunden und ohne Mountainbiker. Einfach Natur pur.

Nach dem Finale stand sein Wecker auf halb zwei und er lag immer noch wach. Zerknirscht warf er die Bettdecke zur Seite, stand auf und ging zum Fenster. Er öffnete es und versuchte, sein Mütlein an der frischen Morgenluft zu kühlen, die in sanften Wellen in sein Zimmer drang. Zwischen den Wolken funkelten Sterne am schwarzblauen Himmel und ein leichter Ostwind ließ auf einen schönen Tag hoffen. Im Sternbild des Fuhrmanns entdeckte er die helle Kapella und über ihr das Herbstviereck. Und halbhoch, genau im Osten, sah er ein winziges Fleckchen. Das musste der Andromedanebel sein. Selbst mit klarem Kopf und ohne Wut im Bauch konnte er sich diese zweieinhalb Millionen Lichtjahre Entfernung zur nächsten Welteninsel nicht annähernd vorstellen. Dort oben gab es sicher auch Planeten, vermutete er, wie in unserem System, auf denen Lebewesen wohnten, vielleicht mit anderen Formen, Gebräuchen und Sprachen. Vielleicht bekriegten sie sich auch wie die Erdenbürger und kannten Liebe und Hass. Vielleicht hatten sie auch ihre Götter und Gebetbücher, wie der Homo sapiens, oder sie brauchten diese Krücken gar nicht mehr.

Graun holte sein Fernglas aus dem Schrank und ließ seine Augen von den Plejaden zum Andromedanebel emporwandern. Er erahnte die unbegreifliche Weite des Weltalls und sein eigenes Problem erschien ihm für einen kurzen Moment mikroskopisch klein. Doch der Trost hielt nicht lange, bald flammte wieder die irdische Frage auf: Wo ist Marlene nur?

Graun hasste den Gedanken, dass sie gerade jetzt, als er an sie dachte, einen Hochzeitsgast mit ihren braun funkelnden Augen und ihren sinnlichen Lippen verzaubern könnte, dass irgendein Verehrer ihre warmroten Haare und ihre apfelgroßen Brüste streichelte oder ein Lüstling ihre Hand hielt und sich an ihrem Duftbouquet aufgeilte. Vielleicht küsste sie sogar jemanden!

Graun lehnte sich mit den Unterarmen auf das Fensterbrett und horchte auf die Straße hinunter, aber er hörte kein Auto, nur das Grummeln des Heizungsbrenners im Keller.

Er ging in die Küche und öffnete eine Flasche Rotwein. Binnen Kurzem war sie halb geleert, danach legte er sich ins Bett und schlief gegen vier Uhr endlich ein.

Um halb sieben erwachte er mit Kopfschmerzen. Marlenes Bett war immer noch leer. Graun wälzte sich hin und her und erhob sich erst gegen acht, damit er mit Stefan frühstücken konnte. Als er den Teekessel unter den Wasserhahn hielt, zögerte er für einen Moment. Er überlegte, ob er ihn volllaufen lassen sollte, Marlene musste ja jeden Moment kommen.

Um halb neun Uhr steckte Stefan seinen Kopf in die

Küche und brummelte:

»Ist Mutter noch nicht da?«

»Nöh.« Stefan merkte wohl, dass jetzt jede Frage fehl am Platze war.

»Seltsam. Machst du mir auch einen Tee?«

»Ja, in fünf Minuten ist er fertig.«

Noch bevor er ausgeredet hatte, ging die Dielentür auf und Marlene stand mit dem Mantel über dem Arm und in der Hand locker ihre schwarze Handtasche haltend vor ihren beiden Männern. Sie wirkte frisch und bestimmt, als ob sie gerade von ihrem Englisch-Kurs kommen würde.

»Jetzt wird’s aber Zeit«, knurrte Graun. »Wo warst du denn so lange?«

»Wir waren noch bei den Baumgärtners. Die wollten unbedingt, dass ich mitkomme.«

Marlene hängte ihren Mantel an den Haken und zog sich die Schuhe aus. Die Reaktion ihres Mannes schien sie nicht im Geringsten zu beeindrucken. Stefan hatte sich nach einem flüchtigen Kuss seiner Mutter schnell in die Küche verzogen und Graun stand reglos da. Er wusste nicht, mit welchen Worten er die unsichtbare Wand zwischen sich und seiner Frau überwinden könnte. Sollte er die Geschichte mit den Baumgärtners einfach glauben?

Marlene ging ins Bad und duschte sich. Als sie fertig war, setzte sie sich im weißen Morgenmantel wortlos an den Frühstückstisch und stierte durch das Fenster in den Garten hinaus. Hin und wieder nippte sie geistesabwesend an ihrer Teetasse und kaute mechanisch auf einem Stück Brot herum.

Graun starrte wortlos auf seine Tasse und Stefan murmelte etwas von anstrengenden Hochzeitsfeiern und unausweichlichen Katern.

»Wie war’s denn?«, wollte Graun wissen.

»Die Schwungs waren auch da, aber die gingen schon um eins«, krächzte sie mit einer Stimme, der man die vielen Stunden Rauchluft anhören konnte.

Graun schwieg, er nahm sein Honigbrot und schlich in sein Zimmer.

Da war doch irgendetwas faul!, brodelte es in ihm. Wenn Marlene sonst immer über die Stränge geschlagen hatte, dann war sie hinterher meistens übertrieben freundlich, aber heute war das ganz anders. Irgendetwas lähmte ihre Zunge und betäubte ihre Nerven.

Der Rest des Tages verlief ohne viele Worte. Graun verzog sich in seine Leseecke und Marlene lag auf dem Sofa und sah stundenlang fern. Am Abend ging sie früh ins Bett und tat so, als schlafe sie, als er um halb elf ins Schlafzimmer kam.

Der Montag war ebenso trostlos. Geistesabwesend fuhr

Graun zur Arbeit.

»Und, pack mr’s wieder«, rief ihm der Pförtner am Eingang zu. Meistens hatte er auf solche Sympathiebekundungen mit einem Späßchen geantwortet. Heute fiel ihm nichts ein. Der Pförtner blickte zwar verwundert, sagte aber nichts und öffnete die Schranke.

Immer wenn er im Klinikstress kurz Zeit hatte, Luft zu holen, klebten seine Gedanken sofort wieder am aktuellen Eheproblem und pochten wie ein Hammer gegen seine Stirn. Beim nachmittäglichen Kaffee spürte Graun, dass er sich vollkommen aufzehren würde, wenn es ihm nicht gelang, ein bisschen Klarheit in die Sache zu bringen. So kann es einfach nicht weitergehen, redete er sich zu. Ich muss mit ihr reden, in aller Ruhe, auch wenn mir das wahrscheinlich nicht gefallen wird, was Marlene zu sagen hat. Es führt kein Weg daran vorbei.

Punkt 17 Uhr hängte Graun seinen weißen Kittel und die Hose in den Spind, zog sich schnell seine Kleider über und warf seinen Kollegen ein kurzes Tschüss zu. Auf dem Weg zum Parkplatz rannte er sogar ein wenig.

Als er erschöpft vom vielen Grübeln und voller Unsicherheit wegen eines geeigneten Gesprächsanfangs die Haustüre öffnete, stockte ihm fast der Atem! Im Flur sah er statt Marlenes Familienfotos helle Tapetenstellen und an der Garderobe fehlte ein Großteil der Mäntel, Jacken und Mützen. Wie elektrisiert stürzte er ins Wohnzimmer, von dort ins Schlafzimmer. Überall stellte sein gehetzter Blick Lücken in der gewohnten Umgebung fest. Nur die Küche schien noch intakt zu sein. Stefan kam mit gesenktem Kopf aus seinem Zimmer und jammerte: »Mutter ist ausgezogen.« Graun war fassungslos. Schleppend lief er in die Küche zurück, wo auf dem leergeräumten Tisch einsam ein weißer Briefumschlag blitzte. Nervös riss er ihn auf:

Lieber Stefan, lieber Thomas, bitte habt Verständnis, aber ich konnte einfach nicht mehr anders. Ich habe mich in einen anderen Mann verliebt. Ich werde euch bald anrufen und alles erklären.

Marlene Graun sackte in den Küchenstuhl und las die Nachricht noch zweimal durch, dann erhob er sich und ging wie gelähmt durch die Wohnung. Er betrachtete die Bücherreihen im Regal, wo ungefähr nach jedem zweiten Buch eine Lücke bleckte. Es kam ihm vor, als lachte ihn hämisch ein schadhaftes Gebiss an.

Jetzt brauchte er erst mal ein Bier. Er öffnete ein Günzburger Weizen, füllte es in sein Lieblingsglas und setzte sich mit einem Stöhnen an den Küchentisch. In kleinen Schlucken trank er sein Bier, als ihn plötzlich ein Klingeln aus seiner Lethargie riss. Graun lief zum Telefon und hob unwirsch den Hörer ab.

»Graun«, bellte er kurz und horchte mit zusammengekniffenen Augen in die Muschel.

»Ja, hallo, hier ist Marlene«, hörte er eine unsichere, leise Stimme.

»Was ist hier eigentlich los!«, schrie er plötzlich. »Warum haust du denn ab, ohne irgendwas zu sagen. Du kannst doch nicht einfach ausziehen! Du spinnst doch!«

»Aha, jetzt interessierst du dich plötzlich für mich. Genügen dir deine Pilze nicht mehr.«

»Was soll denn dieser Quatsch?«, fauchte Graun.

»Wie es mir geht, war dir doch immer egal!« Marlene war in Fahrt. »Meinst du, es macht Spaß, immer alleine zu sein und überall alleine hinzugehen?«

»Das stimmt doch so nicht. Können wir nicht noch einmal in Ruhe miteinander reden?« Graun war verzweifelt.

»Jetzt nicht. Gibst du mir mal den Stefan?« Graun merkte, dass er nicht weiterkam.

Er knallte den Hörer auf den Tisch und rief nach seinem Sohn. Der kam verstört vom Wohnzimmer rüber und nahm zögerlich den Hörer auf. Während er zuhörte, blickte Stefan konzentriert auf den Boden, sagte ein paar Mal »ja« und

»nöh« und blickte zum Schluss hilflos an die Decke.

Graun merkte, wie sein Sohn mit den Tränen kämpfte. Er schluckte immer wieder und hustete zweimal, schließlich murmelte er, dass sich alles wieder einrenken werde. Bevor er auflegte, drehte er dem Vater den Rücken zu und hauchte ein leises »Tschüss« in den Hörer.

Dann war alles still, totenstill, tagelang.

 

 

4

Der Alltag gestaltete sich für Graun wie ein Spießrutenlauf. Ständig musste er irgendwelchen Fragen, guten Tipps oder mitfühlenden Worten aus dem Weg gehen. Wenn er mit dem Auto aus der Ausfahrt fuhr, sah er sogleich die Nachbarn, wie sie ihre Köpfe zusammensteckten. Wahrscheinlich hatten sie alles schon vorausgesehen. Es konnte ja nicht anders kommen.

Die Kollegen in der Klinik waren alle sehr verständnisvoll und äußerten ihr Bedauern. Einer meinte: »Vielleicht war sie unbefriedigt! Und wenn der Sex nicht stimmt, dann stimmt gar nichts mehr!«

Grauns Hass auf Marlene steigerte sich von Tag zu Tag. Noch nie in seinem Leben fühlte er sich so sehr als Versager wie jetzt. Mittlerweile ließ er sich sogar verleugnen, wenn sie anrief. Er notierte alle Fragen, die ihm einfielen, auf einem Zettel, um sie von seinem Sohn klären zu lassen.

Als Stefan jedoch versuchte, seine Mutter anzurufen, meldete sich nur eine automatische männliche Stimme:

»Hier bei Fenske. Wir sind für eine Woche in den Urlaub gefahren. Bitte sprechen Sie eine Nachricht auf Band oder rufen Sie uns am kommenden Sonntag wieder an.«

Stefan legte langsam den Hörer auf und wischte sich mit dem kleinen Finger eine Träne aus dem Auge.

Thomas Graun war gelähmt vor Wut und Zweifeln. Er fragte sich, warum gerade ihm so etwas passieren musste?

Hat das Ganze etwa eine Vorgeschichte?, grübelte er. Hatte er wichtige Signale übersehen oder überhört? Hatte er Marlene wirklich zu viel alleine gelassen? Oder ist dieser Fenske ein unwiderstehlicher Frauenheld, ein Tausendsassa, der sich nimmt, was ihm gefällt? Die Fragen drehten sich in Grauns Kopf wie Salatblätter in einer viel zu schnell angetriebenen Gemüseschleuder.

Als er am nächsten Tag mit ein paar Kollegen beim Kaffee zusammensaß, raunte ihm Schwester Sonja zu: »Ich kenne diesen Fenske.« Graun hatte sich ihr tags zuvor anvertraut.

»Sieht zwar nicht übel aus, ist aber langweilig.«

»Kennst du ihn näher?« Jetzt wurde er doch ein bisschen neugierig.

»Nicht so nahe, aber ein paar Mal habe ich ihn gesehen. Er wohnt bei uns im Ort. Ich glaube, er ist geschieden und sein Kind lebt bei der Mutter.«

»Aha.«

»Ich habe da beim Einkaufen mal ein Gespräch mit angehört. Besonders geistreich war das nicht«, meinte die Endvierzigerin, mit der er schon viele Jahre zusammenarbeitete.

Als Graun das Abendessen für die Patienten durch die Gänge schob, rätselte er, wie seine hochanständige, anspruchsvolle Frau auf so einen Frauenhelden hereinfallen konnte. Mit ihm kann sie doch niemals über Hermann Hesse oder Peter Handke, über Tschaikowsky oder Nietzsche reden! Und Konrad Lorenz hält er wahrscheinlich für einen Fußballer und Enzensberger für einen Fernsehstar. Bei dem Gedanken musste er fast lachen.

Oder hat dieser Schönling etwa Geld und glänzt mit akrobatischer Liebeskunst?

Graun lotete die Schwachpunkte zwischen sich, Marlene und Fenske aus. Am liebsten hätte er sich sofort verteidigt, ihr klar gemacht, dass man es mit einem Dummkopf nicht lange aushält, aber er musste ja warten, bis das Liebespaar aus seinem Urlaub zurückkommt.

Da sich sein Eheproblem wie eine schwere Glocke über ihn gestülpt hatte, kam ihm alles andere unwichtig vor. Er begann im Dienst zu schlampen, was erst richtig auffiel, als er die Tabletten eines Gallepatienten mit denjenigen eines Epileptikers verwechselte und einem Magenkranken eine Infusion verabreichen wollte, die für ein Unfallopfer bestimmt war. Der Oberarzt stellte ihn zur Rede und drohte ihm mit Konsequenzen.

Graun horchte in sich hinein. Wo liegen denn überhaupt noch meine Stärken? Wo bin ich noch beliebt und gerne gesehen? Bei meinen Pilzfreunden etwa? Oder respektierten die mich nur, weil ich so viele Pilze kenne? Würden sie mich aber auch unterstützen, wenn ich mit einem Problem zu ihnen käme?

Und was denkt Stefan von mir? Gibt er mir vielleicht die Schuld für die Trennung?

Graun konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie Marlene es über das Herz brachte, ihren Sohn und ihn nach einem solchen Knock-out eine ganze Woche hängen zu lassen! Ohne Nachricht, ohne Erklärung! Das war doch unmenschlich! Wie konnte eine Frau nur so etwas tun?

Graun fand keine Antworten auf seine tausend Fragen. Aber bei all dem Frust, er liebte Marlene noch immer und er würde ihr alles verzeihen, wenn sie nur zu ihm zurückkehrte.

Ihm wurde übel bei dem Gedanken, dass der neue Liebhaber gerade jetzt, in diesem Moment, Hand an sie legte und ihre straffen Brüste oder ihre weichen Schenkelinnenflächen streichelte, dass er sie küsste oder mit ihr verschmolz und das höchste Glück genoss, das zwei Menschen miteinander haben können. Er musste seine Frau wiederhaben!

Als Graun nach Hause kam, saß Stefan bereits am Küchentisch und knabberte lustlos an einem Kebab herum. Stefan schien die Trennung ganz gut zu verkraften. Er spielte den Coolen, doch dass es ihm nicht gut ging, sah man daran, dass er immer dünner und launischer wurde.

»Hi, Stefan, wie geht’s?« Graun setzte sich erschöpft zu seinem Sohn an den Tisch.

»Es geht. Mutter fehlt mir schon ein bisschen.« Er leckte sich die weiße Soße vom Finger. »Jetzt kann ich zwar endlich meine Sachen herumliegen lassen, ohne dass ich ständig ermahnt werde, meine Haare waschen, wann ich will, und keiner macht mir eine Szene, wenn’s mal spät wird, aber irgendwie fehlt sie doch.«

Er plante, in Marlenes Bügelzimmer ein Bett aufzustellen, worin er seine neue Freundin am Wochenende übernachten lassen konnte. Außerdem war seine Mutter ja nicht aus der Welt. In zehn Minuten konnte er mit dem Mofa zu ihr fahren und sie um etwas Geld bitten. Vielleicht brachte ihm die Krise sogar Vorteile.

Graun ging zum Backofen, holte sich den zweiten Kebab heraus und setzte sich wieder zu Stefan an den Tisch, wo sie sich noch ein bisschen über ihre Arbeit austauschten.

Am Sonntagabend rief Stefan bei seiner Mutter an und las ihr die gesammelten Fragen und Forderungen seines Vaters vor. Sie zeigte Verständnis und gab bereitwillig Auskunft. Außerdem beteuerte sie, dass sie ihren Männern so weit als möglich entgegenkommen wollte. Zum Schluss diktierte sie ihre eigenen Wünsche und listete alle Dinge auf, die sie noch abzuholen gedachte. Der Vater durfte dabei nicht zu Hause sein, bat sie, denn sie fürchtete seine Tobsuchtsanfälle.

Wenn alles erledigt sei, versprach sie, würde sie den

Hausschlüssel zurückgeben.

Stefan zeigte dem Vater die Liste mit den Wünschen und Forderungen der Mutter. Graun las sie mit finsterer Miene durch, fragte da und dort, was das heiße, und schrie dann: »Das kommt überhaupt nicht infrage. Die Standuhr bleibt hier!« Schon rannte er zum Telefon und trommelte die Telefonnummer ein.

»Hier bei Fenske.«

»Hier ist Thomas. Die Standuhr bleibt hier«, polterte er,

»die bekommt Stefan einmal. Außerdem ist sie nicht von deinem Großvater, sondern von meinem!«

»Ist ja o. k.«, schrie Marlene zurück. »Thomas, versteh doch, ich habe das einfach nicht mehr ausgehalten mit dir. Diese ewigen Nörgeleien! Man konnte ja nichts mehr recht machen. Dir ging es doch nur noch um deine Pilze und Fische! Und wo bleibe ich? Dauernd warst du im Wald und am See, ich war nur noch Luft für dich! Und wenn ich dich etwas gefragt habe, dann hast du mir nicht geantwortet. Du kannst nämlich überhaupt nicht zuhören, du unterbrichst einen dauernd oder gibst keine Antwort! Für dich war ich nur noch die Putzfrau und die Köchin.« Sie redete ohne Punkt und Komma, schon fast, ohne Luft zu holen. »Richard verwöhnt mich, wie es sich für einen Mann gehört. Du hast doch keine Ahnung von Frauen! Du denkst nur an dich, nur du, du, du!«

Dann machte es klick und weg war sie, ohne dass er die Chance gehabt hätte, etwas zu erwidern. Graun lauschte in den Hörer hinein, doch der blieb stumm. Er saß steif auf seinem Stuhl, wie festgefroren.

In dieser Nacht irrte Graun lange durch das stockdunkle Ried, stolperte über die löchrigen Wege und die tiefen Fahrrinnen. »Du Schwein, du verfluchtes«, rief er, »du Dreckschwein, du dreckiges! Dir werd’ ich’s noch zeigen. Du Hund, du verfluchter!« Er hoffte, dass ihn keiner hörte. Die Ortschaft lag zum Glück weit genug entfernt. Sein Gebrüll könnte höchstens einen nächtlichen Spaziergänger erschrecken, vielleicht einen, der ebenso unglücklich war wie er.

 

 

5

Der März war ins Land gezogen. Die Nachtfröste ließen allmählich nach und die Seen waren fast schon eisfrei. Am nächtlichen Himmel standen die Wintersternzeichen jetzt weiter im Westen und im Osten erschien der Regulus, der Künder des Frühlings.

Endlich lag der lange, kalte Winter hinter ihm mit seinen schlaflosen Nächten und seinen zunehmenden Alkoholexzessen. Grauns Gesicht wirkte blasser und aufgedunsener, seine Haare zeigten immer mehr graue Strähnen und seine Falten zeichneten mittlerweile ein deutliches Kerbenmuster auf die Stirn. Der Gedanke, wie er sich am besten an seinem Nebenbuhler rächen könnte, begleitete ihn Tag und Nacht. Dieser Lüstling wird es noch bitter bereuen, dass er mir meine Frau ausgespannt hat, schwor er sich und ballte seine Pflegerhand zur Faust.

Immer wieder musste er zur Besänftigung seines Hasses und zur Linderung seiner Magenkrämpfe im Ried spazieren gehen, vor allem nachts, wenn ihn keiner beobachten konnte. Mit dem Blick zum Himmel wandelte er in jenen Nächten über die stockdunklen Riedwege und genoss die Sterne und das weite All. Seine Liebe galt dem leuchtenden Jupiter und dem Saturn mit seinen Ringen, die er beide durch das Fernglas bestaunte. An einem klaren und dunstlosen Abend hatte er einmal sogar den flinken Merkur erspäht, der knapp über dem Horizont in die Tiefe entschwand.

Bei seinen Nachtwanderungen hielt Graun manchmal inne und betrachtete das mächtige Himmelszelt. Ist es nicht erstaunlich, dass diese paar tausend Sterne, die man mit bloßem Auge sehen kann, alle zu unserer eigenen Galaxie gehören. Sie sind alle Teil unseres eigenen Systems, unserer Milchstraße, die 200 Milliarden leuchtende Sonnen enthalten soll und trotzdem nur eine von mindestens zehn Milliarden weiteren Galaxien im Weltall ist. Und das ist wiederum so groß, dass das Licht von einem Ende zum anderen 30 Milliarden Jahre braucht! Graun liebte es, über diese Dimensionen nachzudenken. Und was kommt dahinter?, fragte er sich immer wieder. Dabei war er überzeugt, dass kein Mensch jemals eine Antwort darauf finden würde, so wie Katzen Menschen niemals verstehen können.

In einem Astronomie-Buch, das er aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, las er, dass die Erde in der Zeit, in der sich ein Mensch die Nase schnäuzte, in ihrer Umlaufbahn um die Sonne 400 Kilometer zurücklegt! Gleichzeitig verschiebt sich die Sonne durch die Rotation unserer eigenen Galaxie um 5000 km, und der Raum zwischen unserer Galaxie und den Galaxien des Hydra-Clusters öffnet sich um weitere 600.000 Kilometer, während sich das Universum fortwährend ausdehnt! Unvorstellbar!, staunte er. Es muss einen Schöpfer geben, aber wir werden ihn nie verstehen, auch Stephen Hawking nicht!

Manchmal, wenn ihn im Ried eine dankbare Stimmung übermannte, sah er sich nach allen Richtungen um, um sicher zu sein, dass ihn keiner beobachtete. Dann kniete er auf die Erde nieder und berührte, wie der Papst, mit der Stirn das Gras. »Danke«, murmelte er dabei und sah demütig zum Himmel. Er war sich jedoch niemals sicher, ob er in die richtige Richtung sah, denn der Schöpfer konnte ja über und unter ihm und links und rechts von ihm sein.

 

6

In der Nacht zum 8. März erwachte Graun schweißgebadet. Unter seinem rechten Rippenbogen krampfte ein Schmerz, der das Luftholen erschwerte. Er taumelte zum Fenster und schloss es, dann setzte er sich auf die Bettkante und versuchte, mit tiefen, entspannenden Atemzügen den spitzen Schmerz zu kappen.

Was kann das sein? Graun schossen alle möglichen Krankheiten durch den Kopf. Hatte er vielleicht eine Gallenkolik? Oder ist das die Schwachstelle am Magenausgang, die ihm früher schon einmal Probleme bereitet hatte und die jetzt wieder aufflammte? Vielleicht ist sein Magen durchgebrochen oder er hat einen Tumor?

Graun hoffte, dass es nur eine Kolik wegen der falschen Getränkemischung vom Abend war oder dass der doppelte Espresso, den er zum Schluss noch getrunken hatte, das Grimmen auslöste.

Er blieb eine Weile aufrecht sitzen und atmete tief durch wie ein Yoga-Schüler. Nach ein paar Minuten spürte er eine Besserung. Er legte sich ins Bett, doch der Schmerz kam wieder.

Vielleicht hilft warmes Leitungswasser, hoffte er, denn wenn er sich jetzt einen heißen Tee kochte, dann wäre er vollends wach.

Er tapste ins Bad, öffnete den Hahn und ließ das Wasser laufen, bis es heiß war. Dann trank er wie ein Huhn, in kleinen Schlückchen, bis er glaubte, dass es geholfen haben könnte. Bei seiner Rückkehr in das dunkle Schlafzimmer hielt er wie ein Bär die Hände vor sich und stolperte mit zugekniffenen Augen über die Schuhe seines Sohns.

Das Wasser half tatsächlich. Nach einer halben Stunde und mehreren Lageveränderungen im zerwühlten Bett schlief er endlich ein, doch am nächsten Morgen erwachte er wie gerädert.

Was sollte er tun? Liegenbleiben und sich krankschreiben lassen? Oder seinen Stationsarzt fragen, was das sein könnte? Der würde ihm sicher eine Magenspiegelung empfehlen, die er von früher kannte und hasste.

Graun beschloss, seine Krankheit für eine Weile zu beobachten und Magenschonkost zu essen. Vielleicht verschwand das Übel genauso schnell wieder, wie es gekommen war. Vermutlich hatten die widrigen Umstände der vergangenen Wochen und Monate zu einer Eskalation in seinem Bauch geführt, vor allem seine nagende Eifersucht auf Fenske und das Gerede der Dorfbewohner.