Norditalien im Würgegriff des organisierten Verbrechens. Nichts und niemand scheint der lokalen Triade und der mit ihr verfeindeten Mafia etwas anhaben zu können. Bis auf einmal und wie aus dem Nichts diese junge Frau mit den roten Dreadlocks und dem Schwert in der Hand auftaucht. Ein ebenso schöner wie gnadenloser Racheengel. Seither kann sich kein Gangster und kein Mafioso mehr sicher wähnen, der Tod lauert plötzlich überall. Wer aber ist diese Mila, was treibt sie an? Niemand weiß es, nur so viel ist sicher: Sie ist nicht nur eine schier unbesiegbare Kampfmaschine, sie ist auch clever. Sehr clever sogar. Aber wenn sich Triade und Mafia zusammentun, dann könnte es ziemlich eng werden – selbst für Mila …

Aufregender Neo-Pulp, schnell, actionhaltig, ironisch, überraschend, intelligent, robust, bunt und grimmig. Populäre Culture, wie sie sein soll.

»Mit Matteo Strukul beginnt eine frische, wunderbare Periode von pulp fiction. Neue Ideen, ein genre-untypischer Stil, kraftvolle Realitätsinjektionen und eine wirklich faszinierende Frauenfigur.« Massimo Carlotto

Matteo Strukul, geboren 1973. Promovierter Jurist, schreibt Romane und Comic-Szenarios. Gehört zu den innovativsten italienischen Kriminalautoren. Mila, ausgezeichnet mit dem Premio Speciale Valpolicella, erscheint weltweit. Strukul lebt in Padua und Berlin.

Matteo Strukul

MILA

Thriller

Aus dem Italienischen von
Ingrid Ickler

Herausgegeben von
Thomas Wörtche

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
La ballata di Mila
bei Edizioni e/o.

Die deutsche Fassung wurde
in Absprache mit dem Autor leicht gekürzt.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4748.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Copyright © 2011 by Edizioni e/o

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Umschlagabbildung: FinePic®, München

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

eISBN 978-3-518-74845-9

www.suhrkamp.de

Für Silvia

»Die chinesische Mafia bedroht Padua. Carlo Mastelloni, Staatsanwalt von Venedig, warnt erneut.«

Il Mattino di Padova, 19.10.2010

0

Chen kniff die Augen zusammen. Zwei schmale Schlitze, über die sich ein roter Schleier legte. Aus den tiefen Schnittwunden auf seiner Stirn lief so viel Blut, dass er kaum noch etwas sehen konnte.

Vorboten des Todes. Es war fast vorbei.

Die Wunden hatte ihm Zhang zugefügt, der Typ, der jetzt bedrohlich lächelnd vor ihm stand.

Zhang fixierte ihn, die Klinge des Butterflymessers in seiner Hand triefte von Chens Blut. Während er sich in dem kleinen Laden umsah, begann er hysterisch zu lachen.

Er sog den Duft der Gewürze ein und ließ den Blick einen Moment fasziniert auf den vielfarbigen Verpackungen der angebotenen Waren ruhen: die orange-blauen Mie-Gong-Tan-Nudeln, die rot-gelben Quick-Cooking-Nudeln, die grauen der Salapao-Backmischungen, die folienverpackten Wai-Wai-Reisnudeln und die Yan-Long-Süßkartoffelbällchen.

Er lächelte wieder, diesmal zufrieden, als ob all das hier ihm gehören würde. Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Oberlippe, seine Augen glänzten erbarmungslos.

»Da hast du dir ja ein schönes Geschäft aufgebaut, was, Chen?«

»J-ja …«

Zhang begann mit dem zweigeteilten, schwenkbaren Griff des Butterflymessers zu spielen. Die kurze glänzende Klinge sauste wie eine gierige Zunge durch die Luft, schwang hin und her, wie bei einem bizarren Totentanz. Zhang schien die Situation zu genießen. Er nahm sich Zeit, bevor er zur Sache kam, die Angst des vor ihm stehenden mageren Männchens war mit Händen zu greifen.

Auf dem Resopaltresen, wo die Registrierkasse und mehrere Gläser mit grellbunten Bonbons ihren Platz hatten, stand auch ein Strauß langstieliger roter Gladiolen. Die lanzenartigen dickfleischigen Blätter wirkten bedrohlich, von den üppigen Blüten ging ein stechend-süßlicher Geruch aus.

»Du hast sie gesehen?«, fragte Zhang, schob das Kinn nach vorne und deutete mit dem Zeigefinger auf die Gladiolen.

»Ja …«, flüsterte Chen kaum hörbar.

»Du weißt, was das bedeutet, oder?«

»Schwert …«

»Genau, das Blutschwert, der sichere Tod! Du Undankbarer! Für dich gibt es keine Hoffnung mehr. Meinem Zorn und dem deines Herren Guo Xiaoping wirst du nicht entgehen! Guo Xiaoping ist der ›Drachenkopf‹, der Anführer der ›Sprechenden Dolche‹. Auch Xin und Lao wissen, dass du bald sterben musst.«

Die beiden kahlrasierten Killer mit den Sonnenbrillen auf der Nase hatten Chen gerade die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Ihre Blicke waren durch die geschwärzten Gläsern nur zu erahnen, auf denen sich die Lichtblitze der Neonleuchten spiegelten. Aber Chen wusste, dass ihre Augen auf ihn gerichtet waren.

Zhang atmete tief durch die Nase ein. »Und das nur, weil du auch in diesem Monat mit den Zahlungen im Rückstand bist«, sagte er, »du weißt doch genau, dass du deinen Wohlstand meinem Onkel zu verdanken hast. Sollen wir dich etwa auf Knien bitten, uns das zu geben, was du uns schuldest, du gieriger Wicht?«

Chen war wie gelähmt, die Angst ließ seine Stimme versagen. Er senkte den Blick. Lautlose Tränen mischten sich in das Blut und liefen ihm über die eingefallenen Wangen und das knochige Kinn.

»Ich glaube, ich habe dich nicht gehört«, drängte Zhang.

»Guo sollte nicht warten müssen und das bekommen, was ihm zusteht …«

»Ah, das klingt schon besser«, erwiderte Zhang, »du bist doch nicht so dumm, wie du uns weismachen willst!« Er ging auf die bunten Dosen mit Shitake-Poku-Pilzen und Aroy-D-Bambusspitzen zu, nahm das Messer in die linke Hand und fegte mit der rechten die Dosen aus dem Regal. Es schepperte laut. Zhang kickte die Konserven zur Seite.

Dann drehte er sich wieder zu Chen um.

»Du willst alles für dich, oder? Verdammt! Du hast wohl vergessen, dass mein Onkel alles sieht, was du tust. Guo Xiaoping ist der Herr des Hügels. Und er hat mich geschickt, damit ich dich daran erinnere. Ich kümmere mich um die eitrigen Wunden in seinem Bezirk. Die ›Sprechenden Dolche‹ sind wie der Körper eines Drachens. Und ein Körper kann nicht funktionieren, wenn nicht jedes Glied, jedes innere Organ, jedes noch so kleine Element genau das tut, was ihm die Natur vorgegeben hat. Chen, deine naturgegebene Aufgabe ist, deine Schulden an Guo zu zahlen.«

Bei diesen Worten kam Zhang näher. Sein Mund verzog sich zu einem diabolischen Grinsen. Er ließ das Messer wie zufällig vor dem Gesicht des Alten kreisen, um es ihm dann mit einer blitzschnellen Bewegung in den Bauch zu rammen.

Die Klinge drang tief in das Fleisch ein, er zog sie wieder heraus, um erneut zuzustoßen.

Da seine Hände gefesselt waren, konnte Chen sie nicht auf die klaffende Wunde pressen. Der Schmerz war schier unerträglich, seine Augen traten fast aus den Höhlen, er musste hilflos mit ansehen, wie seine Eingeweide aus der offenen Bauchdecke quollen. Ihm knickten die Beine weg. Xin und Lao hielten ihn an den Armen fest, als er langsam zu Boden sank, wo er sich in einer Lache aus Blut und Eingeweiden zusammenrollte und starb.

»Das ist ja ekelhaft …«, sagte Zhang, »du siehst ja aus wie ein ausgeweideter Fisch! Und das nur, weil du nicht gehorchen wolltest, du kleiner, dummer, gieriger Mann!« Dann hob er den Blick und fixierte Xin und Lao.

»Macht hier alles sauber, klar? Ab morgen hat diese Bude einen neuen Besitzer.«

»Was machen wir mit der Leiche?««, fragte Xin.

»Hinten ist ein kleines Bad. Legt sie in die Wanne, schneidet sie in handliche Stücke und ruft dann meinen Onkel an. Er wird euch eine Adresse geben. Dann verpackt ihr die Einzelteile in Plastiktüten, verstaut sie im Kofferraum, fahrt zum angegebenen Ort und schleppt sie in den Keller. Im hintersten Raum steht ein Ofen, den feuert ihr an und verbrennt alles. Hier sind die Schlüssel. Ich schau mal nach, was diese unfähige Tranfunzel von Longhin macht. Ich habe für ihn gebürgt, einen Flop kann ich mir nicht leisten. Für mich ist das eine Frage der Ehre!«

Während Xin und Lao den Leichnam in Richtung Badezimmertür schleiften, zog Zhang ein rotes Seidentuch aus der Sakkoinnentasche und fuhr damit mehrmals sorgfältig über die Klinge seines Butterflymessers. Mit einer einzigen fließenden Bewegung aus dem Handgelenk ließ er es zuschnappen, steckte es in die Hosentasche seines rauchgrauen Anzugs und verließ eleganten Schrittes den Minimarkt.

1

Es war bitterkalt.

Am Straßenrand häufte sich der Schneematsch, als sei der Bürgersteig mit grauen Girlanden geschmückt.

Severino Pierobon, von Freunden nur »Duecento« genannt, weil jedes Pferd, auf das er gewettet hatte, beim Rennen meist erst auf den letzten zweihundert Metern schwächelte, war mit seinem zitronengelben Citroën C2 am Ippodromo Le Padovanelle angekommen. Wie immer fand er sofort einen Parkplatz. Trabrennen war eine aussterbende Sportart und die Totip-Wetten ein Nervenkitzel für Nostalgiker.

Wie immer hatte er alles optimal vorbereitet. Er hatte die Stärken und Schwächen der Pferde analysiert, die Ergebnisse der letzten Rennen, die Einläufe und die Kommentare der Experten.

Für ihn waren Trabrennen eine ernste Angelegenheit. Schon sein Großvater hatte ihn nach Padovanelle mitgenommen, er hatte den Pferderennsport im Blut. Seitdem war er jedes Wochenende hier. Manchmal gewann er sogar, immer nur kleine Summen, aber immerhin konnte er sich davon seinen Lieblingskuchen leisten, den er danach zu Hause in sich hineinstopfte. Zucker war seine Droge. Er liebte Süßigkeiten über alles, obwohl er wegen seinem Diabetes vorsichtig sein musste.

Severino Pierobon rauchte nicht und hatte keine Frauengeschichten. Stattdessen trank er Grappa und stopfte sich mit Süßigkeiten voll. Und beides reichlich. Er war gerade fünfzig geworden. Vor die Wahl gestellt, so weiterzumachen oder nur noch von Körnern, Müsli und Salat zu leben und damit vielleicht neunzig zu werden, entschied er sich für den Genuss. Dann lieber gleich krepieren.

In der Hand hielt er einen Pappbecher mit Cappuccino, gut gesüßt natürlich.

Er wusste, dass es gut wäre, an Gott zu glauben. Oder an wen auch immer, hilfreich wäre es auf jeden Fall. Denn sosehr er sich auch bemühte, hatte er es immer noch nicht geschafft, eine verlässliche Gewinnmethode zu entwickeln. Es gab einfach zu viele Unwägbarkeiten. Aber gerade das Risiko und seine Besessenheit trieben ihn dazu, weiter zu wetten. Ein berauschendes Gefühl, wenigstens so lange, bis seine Favoriten im Sulky wieder mal versagt hatten und er um eine weitere Hoffnung ärmer war.

Er kratzte sich seinen ungepflegten Bart und dachte daran, dass es das erste Mal war, dass er an einem Montag spielen würde. In Padua war es bitterkalt und aufgrund des starken Schneefalls am Samstag war das Rennen um zwei Tage verschoben worden.

Er blieb eine ganze Weile in der Bar und ging sicherheitshalber noch mal aufs Klo. Dann wurde es Zeit, er musste sich sputen. Er passierte die Tür zur Tribüne und erreichte die Begrenzung am Bahnrand genau in dem Moment, als Gastone Pink mit den anderen Pferden aus den Gitterflügeln kam. Genau genommen kam er zu früh heraus.

Er hatte gehofft, dass es dieses Mal anders sein würde, aber nein. Gastone Pink, temperamentvoll und schokobraun, war zuerst hinter Bon Vivant geblieben, hatte dann aber die Spitze des Feldes übernommen.

Es lag in seiner Natur: Gastone Pink hatte den unwiderstehlichen Drang, an die Spitze zu stürmen, sich zu übernehmen und dann, wenn es darauf ankam, keine Reserven mehr zu haben. Dieses Ungestüm war seine Achillesferse, das wussten alle, auch Duecento. Und auch Alberto Leoni im Sulky wusste es, er trieb das Pferd mit der Peitsche nach vorne, um auch die letzten Reserven zu mobilisieren.

Severino Pierobon schüttelte den Kopf.

Verärgert warf er seine verknitterte Ausgabe von Trab & Turf zu Boden. Trotzdem blieb er, in der Hoffnung, dass der Schokobraune diesmal bis zum Schlussspurt durchhielt. Dass er sich irrte, dass Gastone Pink genug Kraft und Stehvermögen hatte, um seine Konkurrenten in Schach zu halten.

Um ihn herum standen die anderen Stammgäste von Padovanelle und betrachteten fasziniert die zwölf Traber, die mit von Schweiß glänzendem Fell über die Sandbahn dem Ziel entgegenstürmten.

Jedes Mal aufs Neue ein wunderbares Schauspiel: die gestriegelten stolzen Tiere, das donnernde Geräusch, wenn die Hufe rhythmisch den Boden berührten.

Die Kälte war unbarmherzig, der Wind verbiss sich in Severinos Gesichtshaut, die weißen Wolken wanderten am blauen Himmel wie Butterflöckchen in der Pfanne.

»Gastone Pink wird im Finale zu früh angreifen«, sagte einer, »er ist noch zu unreif und Leoni hat ihn nicht im Griff. Schade, eigentlich ein gutes Pferd.«

Ein dahingeworfener Satz, ein provokanter Kommentar. Severino Pierobon sah bereits das nächste Waterloo vor sich, und das zum x-ten Mal.

Aber Trabrennen ist nicht wie andere Sportarten, Pferde sind seltsame Wesen. Ob man es glaubt oder nicht, es passiert nie das, was die Leute erwarten. Und Severino Pierobon alias Duecento wusste das.

Gastone Pink hielt die Spitze, er ließ nicht nach. Wer weiß, vielleicht würde es dieses Mal klappen, die Ausnahme von der Regel. Ganz allmählich breitete sich eine gewisse Zufriedenheit auf seinem Gesicht aus, seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Die Sekunden vergingen, Duecento spürte die Uhr in seinem Kopf ticken. Jedes Mal, wenn wieder eine Sekunde vorbei war, wurde die Vorstellung, dass sein Pferd dieses Mal als Erstes die Ziellinie überqueren würde, ein wenig realistischer.

Der Schokobraune schien Gefallen an seiner Führungsposition zu finden, er gab alles und hatte sogar einen gewissen Vorsprung. Zwischen ihm und seinen Verfolgern lagen jetzt etwa zehn Meter. Er wehrte alle Angriffe der Meute hinter ihm ab, die alles versuchten, ihn wieder einzuholen. Das war sein einziges Bestreben, alles andere interessierte ihn nicht: die Kälte, das Geschrei der Leute, das jetzt eingesetzt hatte. Gastone Pinks Hufe trommelten perfekt im Takt über den Boden. Es war kaum zu glauben, er machte weiter Boden gut.

Alberto Leoni rief ihm aus dem Sulky etwas Unverständliches zu, um ihn weiter anzutreiben. Das kleine Pferd trabte wie ein junger Gott.

»Looos, lauf, du kleiner Bastard!«, hörte sich Duecento schreien, die Wörter drangen aus seinem Mund, zwischen den zusammengebissenen Zähnen und den verkrampften Kiefermuskeln hindurch.

Und dann … geschah das, was er nicht hatte wahrhaben wollen: Aus dem Verfolgerfeld löste sich eine muskelbepackte dunkle Stute von imposanter Statur. Duecento kroch die Angst den Rücken hinauf. Er spürte, wie sein Enthusiasmus ins Wanken geriet, sein Magen revoltierte, in seinem Mund breitete sich ein metallisch-bitterer Geschmack aus, sein Atem stockte. Er wagte nicht, sich zu bewegen, aus Furcht, das magische Gleichgewicht zu stören, das sein Pferd zum Überraschungssieg führen könnte.

»Und jetzt kommt Imperatrice und kauft sich Gastone Pink«, meinte eine dicke Frau mit vernarbtem Gesicht, die in einen weiten Mantel mit Kunstfellkragen gehüllt war. Aber Severino Pierobon beschloss, nicht aufzugeben, nicht jetzt. Genau wie Gastone Pink.

»Du schaffst es, du schaffst es, los, gib alles!«, brüllte er. Seine Stimme zitterte vor Anspannung.

Imperatrice schoss nach vorne wie ein Blitz, saugte das kleine Pferd vor ihr förmlich ein, genau wie es die Dicke vorausgesagt hatte, aber Gastone Pink hielt dagegen.

»Komm schon, weiter, nicht aufgeben, mein Kleiner, nicht einschüchtern lassen, zeig, was du drauf hast!«

Die beiden Pferde bogen auf die Zielgerade ein, noch zweihundert Meter. Duecento begann mit den Armen zu wedeln, jetzt war es fast geschafft. Die jahrelang aufgestaute Frustration brach aus ihm heraus und verwandelte sich in einen so gewaltigen Energiefluss, den selbst Gastone Pink spüren musste. Jedenfalls hoffte Severino das.

Und vielleicht war es wirklich so: Obwohl die löwenhaft kämpfende Stute immer näher kam, trabte Gastone Pink in unverändertem Tempo weiter, sein Körper glänzte wie die Sonne, die jetzt aus einem Wolkenloch schaute. Und mit einer letzten Willensanstrengung hielt er der Attacke stand, forcierte ein letztes Mal und gewann.

Die Besserwisser, die immer behauptet hatten, Gastone Pink sei kein Siegerpferd, schwiegen, die Dicke mit dem Kunstfellkragen eingeschlossen. Duecento war wie vom Donner gerührt, er blieb einfach neben der Bahnbegrenzung stehen und blies weiße Atemwölkchen in den kalten Winternachmittag.

Dank diesem verrückten schokobraunen Pferd hatte er endlich mal eine Viererwette gewonnen. In einfachen Worten: Er hatte den Einlauf der ersten vier Pferde richtig getippt. Fast alle anderen hatten auf Imperatrice, Otto Nix und Capitan Gemal gesetzt, aber niemand auch nur einen Cent auf Gastone Pink. Um es auf den Punkt zu bringen: Diese Viererwette brachte genau 26 645 Euro.

Severino Pierobon strich sich zufrieden übers Kinn.

Heckler & Koch USP Tactical mit Polygonlauf und Knight’s-Armament-Company-Schalldämpfer. Eine handliche Pistole, für das, was er vorhatte, geradezu ideal.

Er würde sie benutzen müssen, keine Frage. Das musste er jetzt durchziehen, und zwar bis zum Ende. Mit aller Konsequenz. Ansonsten würde das als Schwäche ausgelegt werden, und die eigene Schwäche war die Stärke des Gegners. Das hatte ihm sein Capo Guo Xiaoping einmal gesagt und damit Konfuzius zitiert. Guo war ein kleiner grausamer Chinese mit spitzen Eckzähnen, der Boss einer asiatischen Gang, die sich wie ein Ölfleck über ganz Venetien verbreitet hatte.

Er hatte ihm 15 000 Euro bar auf die Kralle bezahlt.

Als ob er der kleine Bruder von Rockefeller wäre.

Das Ziel: die Zwillinge Marco und Mirco Galesso. Kaufleute aus Verona. Sie wuschen das schmutzige Geld der venezianischen Familie Pagnan, Geld, das sie durch Drogenhandel und gewerbsmäßige Zuhälterei zusammengerafft hatten. Was Verbrechen anging, hatten die Pagnans Kultstatus. Die Galesso-Zwillinge wuschen das Geld, indem sie es in legale Geschäfte investierten. Und zwar über Konten von Briefkastenfirmen, die strategisch günstig in Steuerparadiesen ihren Sitz hatten. Von dort aus wurde das Geld je nach Markt- und Währungslage platziert. Am Ende dieser Transaktionen landete das Geld auf Geheimkonten in Luxemburg oder auf den Kanalinseln, ohne dass die Steuerbehörden davon auch nur die leiseste Ahnung hatten.

Guo Xiaoping wollte an der Familie Pagnan ein Exempel statuieren und ihnen unmissverständlich klarmachen, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Er hatte es ihnen bereits deutlich zu verstehen gegeben, diesen Italienern, es sollte eine letzte Warnung sein: Heute bringe ich die um, die sich um euer Geld kümmern, morgen seid ihr selbst dran. Und mein Auftragskiller ist einer von euch, einer, dem ihr vertraut: Ottorino Longhin.

Und ebendieser Ottorino Longhin hatte sich gerade vor den Toiletten der Raststätte in Stellung gebracht und war dabei, den Schalldämpfer auf seine Heckler & Koch zu schrauben. Sein Auftrag war klar, einen Fehler konnte er sich nicht leisten. Der Chinese hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es keine anderen Optionen gab.

Aber je mehr Zeit verging, desto unsicherer wurde er. Er ging im Geiste noch mal den geplanten Ablauf durch: das »Außer Betrieb«-Schild an die Tür zu den Toiletten hängen, reingehen, sich in einer der Kabinen verstecken, auf die beiden Typen warten, jedem zwei Kugeln in den Kopf jagen, rausgehen, das Schild hängen lassen, den Parkplatz überqueren, in den schwarzen BMW 120 steigen und losfahren.

So sollte es idealerweise ablaufen. Er hatte das schon x-mal an diesem Nachmittag vor seinem inneren Auge ablaufen lassen.

Und dann? Dann würde er die zweiten 15 000 bekommen, einen neuen Pass, ein Ticket nach Martinique. Und seine Frau? Die narbengesichtige fette Kuh mit ihrer Leidenschaft für Trabrennen: Das war vorbei. Die Kinder? Kleinkriminelle, zwei Blutsauger, die ihn einfach nicht in Ruhe ließen. Das war auch vorbei. Wie alles aus seinem alten Leben. Die Familie Pagnan? Das war nicht sein Problem. Zehn Jahre Drecksarbeit, er hatte sich für dieses geistig minderbemittelte Pack aufgeopfert. Eine typisch venezianische neureiche Familie, geizig, misstrauisch und gierig. Und er war der willfährige Handlanger gewesen, der das Geld aus den illegalen Geschäften einzutreiben hatte.

Ottorino Longhin hatte die Nase voll, er entschied sich, die Seiten zu wechseln. Ein Venezianer, der andere Venezianer beschiss. Der Klassiker. Und das Ganze zum Vorteil der Chinesen, als ob die verdammten gelben Schlitzaugen noch Hilfe brauchten, um den ohnehin heruntergewirtschafteten Nordosten Italiens noch tiefer in die Krise zu stürzen. Das einstige Wirtschaftswunderland war nur noch ein Schatten seiner selbst. Und schuld sind die Scheißimmigranten, dachte Longhin. Aber sie zahlten gut. Und in bar. Und er war im Spiel.

Also: Danke und auf Wiedersehen.

Aber zuerst einmal musste er Marco und Mirco Galesso aus dem Weg schaffen.

Er sah sie hereinkommen. Fett, nach Rauch stinkend, mit plumpen Bewegungen. Dass sie sich in den mindestens eine Nummer zu kleinen grauen Anzügen überhaupt bewegen konnten, war schon ein kleines Wunder. Zwei Scheißhaufen mit kreisrunden Armanibrillen. Parasiten.

Ottorino Longhin dagegen war dürr wie ein Hering, seine Gesichtszüge waren scharf wie eine Messerklinge. Er würde reingehen und sie einfach umnieten. Sie würden anfangen zu pinkeln und das würde er nutzen. Er wartete noch einen Augenblick, ging alles noch mal durch, was er tun musste, um auch das letzte Hindernis auszuräumen, das noch zwischen der beschissenen Gegenwart und seinem neuen Leben stand.

Die Galesso-Zwillinge betraten die Toilette und bauten sich plaudernd vor dem Pissoir auf.

»Hast du das Soffritto vorbereitet?«, fragte Mirco.

»Klar, alles paletti«, antwortete Marco.

»Öl, Zwiebeln, Reis auf den Punkt angebraten …«, fing sein Bruder wieder an.

»Ich habe dir doch gesagt, alles paletti, verdammt! Und dann habe ich die Brühe und den Amarone reingeschüttet.«

»Parmesan, damit das Ganze schön sämig wird?«

»Verdammte Hacke, hältst du mich für einen Vollidioten? Ich habe das Rezept Schritt für Schritt nachgekocht!«

»Schon gut, aber es geht nichts über das echte Risotto, vergiss das nicht.«

»Nein. Sag mal, hast du die Alte gesehen, die du gerade angerempelt hast?«

»Wen?«

»Herr im Himmel, bist du blind? Die mit den Rastalocken, den Hammertitten und der knackengen Lederhose, die ihren Mörderarsch so richtig zur Geltung bringt!«

»Ach die … okay, okay, reg dich ab, die habe ich gesehen.«

»Mein Gott, manchmal frag ich mich wirklich, ob du nicht doch schwul bist.«

»Hey, bei mir hat sich noch keine beschwert, ich bin eine Granate im Bett …«

»Ach echt? Du? Wenn dir schon beim Risotto einer abgeht? Findest du das normal?«

»Alles zu seiner Zeit!«

»Schon gut, wegen mir. Ich steh mehr auf geile Muschis.«

»Entschuldige mal, aber was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ich hab doch nur gefragt, ob du das Risotto gemacht hast. Kein Grund, mich hier so runterzumachen!«

»Du Armer. Vergiss es und lass mich in Ruhe pinkeln.«

Und genau beim Wort »Ruhe« öffnete sich die Tür. Wie aus dem Nichts tauchte Ottorino Longhin vor ihnen auf.

Die beiden rissen die Augen auf, er lächelte. Dann ballerte er das ganze Magazin der Heckler & Koch leer, er hielt einfach drauf.

Plopp, plopp, plopp.

Plopp, plopp, plopp.

In weniger als vier Sekunden verwandelten sich Marcos und Mircos Körper in Brei, sie sackten zusammen und starben in ihrem eigenen Blut.

Ottorino Longhin hatte zwar die Kontrolle verloren, aber trotzdem war alles gut gegangen. Er zog das leere Magazin aus der Waffe und ersetzte es durch ein neues, das er aus der Innentasche seiner Lederjacke nahm. Er musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich.

Severino Pierobon bog auf den Rastplatz Limenella Nord ein. Obwohl er schon auf der Rennbahn pinkeln war, musste er noch mal aufs Klo. Und zwar sofort. Wahrscheinlich das Adrenalin, das nach diesem Triumph durch meinen Körper geschossen ist, dachte er.

Kaum hatte er das Auto geparkt, bemerkte er die Polizei. Zwei Autos waren auf dem Parkplatz zusammengestoßen, ein Polizist nahm die Anzeige auf.

Auch gut. Er schloss die Tür des Citroëns ab und ging rasch in Richtung Toiletten. Er hatte das Gefühl, als würde ihm gleich die Blase platzen. Die Eiseskälte tat ihr übriges. Es war Ende Januar, Norditalien erlebte die kältesten Tage des Jahres. Die Kombination aus voller Blase und Kälte waren Gift für seine Prostata.

An der abgegriffenen Holztür der Toilette hing zwar ein Schild »Außer Betrieb«, aber da er absolut keine Lust hatte, in die Hosen zu pinkeln, ging er energisch auf die Tür zu, die sich genau in diesem Moment öffnete.

Severino stieß mit einem aus der Toilette stürmenden Mann zusammen, beide stürzten zu Boden.

»Verdammte Scheiße«, brüllte Longhin, wütend über sich selbst, als er sich in enger Umarmung mit diesem Penner auf den Fliesen wiederfand. Und im Blut der Galesso-Brüder.

»Ach du Scheiße!«, brüllte auch Duecento, als er das Schlachtfeld mit den beiden von Kugeln durchsiebten Körpern bemerkte. In der Luft lag Pulvergeruch, die gekachelten Wände waren mit Blutspritzern übersät. Ihm wurde schlecht. Er hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht kotzen zu müssen, und versuchte aufzustehen, doch mit seinen ausgelatschten Clarks rutschte er aus und landete erneut auf dem Boden. Er rappelte sich mühsam auf und rannte auf die Tür zu. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er spürte, wie ihm eine warme Flüssigkeit an den Beinen herunter rann. Er hatte in die Hose gepinkelt.

Longhin sah den Mann auf den Ausgang zu rennen, sprang auf und nahm die Verfolgung auf.

Duecento war leichenblass, er rannte auf den Parkplatz, dicht gefolgt von dem wie wild gestikulierenden Longhin. Die beiden Polizisten, die gerade den Unfall aufnahmen, waren in unmittelbarer Nähe.