Cover

Über dieses Buch

Es ist mir ein Rätsel. Wie kann ein und derselbe Mensch so wahnsinnig sein und gleichzeitig so leicht durch die Welt hüpfen, als wäre sie sein Kinderzimmer? Onkel Christoph macht aus den gefährlichsten Gegnern zahme Lämmer. Er kann sich danebenbenehmen und es macht gar nichts. Er tut einfach, was er will. Wenn das eine Krankheit sein soll, dann will ich die auch haben.

Der Autor

Ulrich Fasshauer wurde 1973 in Köln geboren. Nach seinem Zivildienst in einer psychiatrischen Klinik studierte er Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Köln und Paris und arbeitete anschließend als Dozent an der Universität zu Köln. Bereits vor der Geburt seiner Tochter begann er, sich für Kinderliteratur zu interessieren. Heute lebt er in Berlin, schreibt Kinder- und Jugendbücher und lektoriert Drehbücher.

Die Illustratorin

Regina Kehn studierte Illustration an der Hochschule für Gestaltung in Hamburg. Sie arbeitet als freie Illustratorin für Zeitschriften und Kinderbuchverlage. Für ihre Illustrationen wurde Regina Kehn mehrmals für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und erhielt 1996 die Bronzemedaille in der Sparte Illustration vom Art Directors Club. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in Hamburg.

Inhalt

Es darf auch etwas Großes sein

Herr Glimm

Der Problemonkel

Kollege

Wahnsinnsidee

Das totale Gegenteil

Wahnsinnsmethoden

Wie wird man seinen Onkel los?

Perle

Wahnsinnsgeburtstag

Dunkle Ostern

Unverdaulich

Gummizelle

Fremder Planet

Die Flucht

Kein Zurück

Perle taucht

Zitronenlimo

Impressum

Für meine Tochter Nele

Es darf auch etwas Großes sein

Fische können nicht ertrinken. Als ich fünf war, stand der Schwimmlehrer bei den Sprungböcken und hat in Richtung des gegenüberliegenden Beckenrandes gezeigt. Er hat uns mit Schaumstoffbrettchen in der Hand ins Wasser geschubst und alle sind hustend und planschend drauflos. Nur ich presste die Arme an den Körper, machte die Beine ganz gerade und sank. Der Druck auf meinen Ohren nahm zu, während sich das laute Gekreische der Schwimmhalle in dumpfen Klangbrei verwandelte. Die Beine der anderen strampelten davon. Ich atmete aus. Blubberblasen stiegen wie Quallenbabys in den Himmel. Ich sank auf den Grund. Hier war es still und ruhig. Ich war ein Fisch. Ein Tiefseefisch. Irgendwann wollte ich Luft holen. Aber die Luft war weit oben. Mein Puls begann zu rasen. Es wurde dunkel.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich neben dem Beckenrand, der Schwimmlehrer hockte über mir und war stinksauer auf mich. Er wollte wissen, was mein Problem sei.

»Es gibt keine Probleme«, hustete ich, »es gibt nur Herausforderungen.«

Den Spruch hatte ich von meinem Vater. Er mag das Wort »Problem« nicht. Durch Herausforderungen wächst man, sagt er. Er liebt Herausforderungen über alles. Auch den Umzug hat mein Vater als eine Herausforderung bezeichnet. Wir sind nämlich vor Kurzem von der Stadt aufs Land in eine alte Windmühle gezogen. Die Mühle liegt in Groß-Solin auf dem Soliner Berg. Groß-Solin besteht aus der Mühle und dem Reiterhof gegenüber. Und der Soliner Berg ist auch nicht wirklich ein Berg, sondern eher eine Beule in der Landschaft. Es ist ziemlich windig hier oben. Kein Wunder, dass man hier eine Windmühle gebaut hat. Leider sind keine Flügel mehr dran. Zuerst war ich enttäuscht, aber dann habe ich vom Fenster meines Zimmers aus die Ostsee gesehen.

»Warum sind wir hierhergezogen?«, will ich beim Frühstück von meinen Eltern wissen. Sie rühren in ihren Kaffeetassen.

»Wieso fragst du? Gefällt es dir nicht?«

Und dann reden sie wieder auf mich ein. Mamas Stelle als Ärztin im Krankenhaus, die Natur, die Nähe zum Meer, die gute Luft, die Apfelbäume im Garten, die Ruhe fern von der hektischen Großstadt. Ist es nicht toll, in einer alten Windmühle zu leben?

»Sieh es mal so«, sagt mein Vater und schiebt sich einen Löffel Müsli in den Mund. »Ich weiß, dass es schwierig für dich ist. Du wirst aus deiner gewohnten Umgebung gerissen, du siehst deine alten Freunde nicht mehr, du kommst auf eine neue Schule. Die ist weit weg. Der Schulweg ist anstrengend. Du kennst kein Schwein. Dich kennt kein Schwein. Alles ist komisch und alle finden dich komisch, weil du Weltmeister im Schweigen bist. Nimm es als Herausforderung!« Er nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse. Mein Vater arbeitet von zu Hause aus für eine Computerfirma. Er bekommt täglich neue Herausforderungen per Mail geschickt. Würde er daran wachsen, müsste er längst oben zur Mühle heraus­gucken.

»Unsinn«, sagt meine Mutter. »Die Kinder in deiner Klasse sind alle sehr nett, du hast eine tolle Lehrerin und gleich nebenan auf dem Reiterhof wohnt ein Junge in deinem Alter, das passt doch super!«

Mein Vater lässt den Löffel fallen. »Ein Junge auf dem Reiterhof? Das ist ja furchtbar! Los! Lauf rüber und befrei ihn!«

Meine Mutter schmunzelt. »Wo steht geschrieben, dass Jungs nicht reiten dürfen? Mauritius, warum lädst du ihn nicht zu deinem Geburtstag ein?«

»Weil es kein Junge ist, sondern Mieke. Ein Mädchen.«

Mein Vater springt vor Glück von der Couch. »Ein Mädchen in deinem Alter? Das ist ja großartig! Wie heißt sie denn? Hat sie Schwimmhäute zwischen den Zehen? Wir sollten sie gleich heute zum Essen einladen. Kämm dich, mein Sohn! Ihr werdet möglicherweise später einmal heiraten!«

Mein Geburtstag ist in ein paar Wochen. Am dreizehnten März. Ist immer etwas blöd wegen dem Wetter. Man weiß nie, welche Jahreszeit das sein soll.

»Wünscht sich unser Sohn diesmal etwas?«, fragt mein Vater und starrt mich kauend an.

»Das hat er noch nicht gesagt«, antwortet meine Mutter. »Was wünschst du dir, Mauritius?«

»Geh in dich!«, befiehlt mein Vater. »Los! Wünsch dir was! Streng dich an!«

»Nein«, beschwichtigt meine Mutter, »mach dich locker. Horch in dein Herz.«

Ich schaue hin und her wie beim Tischtennis. Manchmal glaube ich, ich habe ein Elternteil zu viel. Während ich versuche, in mich zu gehen, kommen schon die Vorschläge. Einen Fußball. Ein neues Fahrrad mit mehr Gängen für den Soliner Berg. Einen Reitkurs mit Mieke. So weit kommt’s noch!

»Ich spiele nicht Fußball und ihr habt mir trotzdem schon zwei Fußbälle geschenkt«, unterbreche ich das Sperrfeuer, »außerdem einen Volleyball und einen Basketball, mein Fahrrad hat einundzwanzig Gänge, und Reiten ist was für Mädchen.« Meine Eltern schauen enttäuscht.

»Mauritius Winkler! Irgendwas musst du dir doch wünschen!«, seufzt mein Vater. »Es kann ruhig etwas Großes sein! Ist es nicht ein runder Geburtstag? Wirst du nicht zwölf? Zwölf ist eine kugelrunde Zahl!«

Ich überlege. Etwas Großes? Wie groß darf es denn sein? So groß wie Kugelfisch? Das ist mein Sitzsack. Oder noch größer? Ich horche in mein Herz. Aber da ist nur ein U-Boot. In Gedanken schalte ich das Sonar ein, um mein Herz nach Wünschen abzusuchen. Ein leises, geduldiges Pochen schwärmt aus und sucht nach Dingen in der Finsternis, die ein Echo zurückwerfen. Poch! Nichts als dunkle Weite. Poch! Dort, ein Pottwal. Poch! Das könnte ein Riesenkalmar sein. Poch! Wieder nichts. Da! Die Umrisse eines schwarzen Rauchers. Das sind vierhundert Grad heiße hydrothermale Tiefseequellen. Sie sehen aus wie Schornsteine am Meeresboden.

Aber ich kann mir schlecht einen schwarzen Raucher wünschen. Auch kein Tiefseeaquarium. Selbst wenn es nur ein ganz kleines wäre, sagen wir mit einem Meter Durchmesser, müsste es trotzdem mindestens tausend Meter in die Tiefe gehen, damit der Wasserdruck für die Fische stimmt.

Wenn ich groß bin, will ich Meeresbiologie studieren. Wenn ich dann Glück habe und ganz viel Geld bekomme, kann ich mir vielleicht ein U-Boot kaufen und damit den Marianengraben erforschen. Der liegt auf der anderen Seite der Erde im Pazifik und ist elftausend Meter tief. Es ist die tiefste Stelle der Erde.

»Ein Pferd!«, ruft mein Vater. »Ein Pferd ist groß. Ich glaube, in ihm steckt ein Cowboy. Ganz tief innen drin. Komm raus, Cowboy!«

»Vielleicht …«, sage ich. Mein Vater nickt erwartungsvoll. Gleich rollt er wieder mit den Augen. »Einen Schnorchel«, murmele ich.

Mein Vater rollt mit den Augen. »Zum Reiten braucht man keinen Schnorchel«, klärt er mich auf.

Ich zucke mit den Schultern. »Flossen …?«

Mein Vater lächelt bitter. »Die stören beim Fußballspielen.«

»Taucherbrille?«

»Behindert die Sicht auf dem Fahrrad.«

»Kiemen?«

Nachdenkliche Stille macht sich breit. Wenn es um die Tiefsee geht, verstehen meine Eltern keinen Spaß. Sie fürchten sich vor der Tiefsee, weil sie denken, dass es dort kalt und dunkel und einsam ist.

Ist es auch.

Meine Eltern lieben alles, was oben ist. Wahrscheinlich sind sie deswegen auf den Soliner Berg gezogen. Nun wollen sie mich so weit wie möglich über die Wasseroberfläche locken. Am liebsten hätten sie, dass ich mit meinem Fahrrad auf einem Pferd balanciere und mit Cowboyhut ein Lasso schwinge und das Pferd auf einem Fußball oben auf dem Dach der Mühle steht. Aber was auch immer ganz tief in mir drinsteckt, es ist bestimmt kein Cowboy. Meine Mutter blickt betreten auf die Uhr. Sie muss los zur Arbeit. Jetzt habe ich sie wieder enttäuscht.

Mein Schulweg gefällt mir gut. Es geht immer bergab. Ich muss das Fahrrad nur rollen lassen. Dabei merkt man, wie hoch der Soliner Berg tatsächlich ist. Die Landstraße führt in Kurvenlinien durch die Felder und knickt unten an einer Siedlung ab. Das ist die blödeste Stelle, weil man hier einen superguten Schwung hat. Den müsste man komplett ausbremsen, um die Kurve zu kriegen. Es sei denn, man rast einfach geradeaus weiter, über die Durchfahrt von Herrn Freundlieb. Herr Freundlieb hat seine Einfahrt bis zum anderen Ende des Grundstücks mit schweren Rasengittersteinen gepflastert, damit er zu beiden Seiten rauskann: zur Landstraße, die von der Mühle kommt, und zur Wohnstraße, die geradewegs zur Schule führt. Auf beiden Seiten steht ein Schild: Kein Durchgang, Privatgrundstück! Aber ich gehe ja nicht. Ich fahre. Ich muss nur schnell sein, damit Herr Freundlieb nichts merkt. Sonst reißt er wütend das Fenster auf und droht mit einer Anzeige.

In der Schule komme ich ganz gut klar, abgesehen davon, dass mich alle für seltsam halten, weil ich so wenig rede. Aber das bin ich gewohnt. In der alten Schule kam mal eine Neue zu uns in die Klasse. Die redete zuerst überhaupt nicht. Aber schon nach wenigen Tagen redete sie genauso viel wie alle anderen. Bei mir funktioniert das nicht. Ich kann nichts daran ändern.

Eigentlich ist alles ganz okay. Unsere Klassenlehrerin Frau Jansen ist noch ziemlich jung und wirklich sehr nett und die Mitschüler sind für sich genommen auch nett. Ich glaube, dass sie mich eigentlich mögen. Sie sind nur ratlos, was sie mit mir anfangen sollen.

Gerade nehmen wir den Lebensraum Meer durch. Wir sollen Tiere nennen, die im Meer wohnen. Alle Finger gehen hoch. Jeder kennt Meerestiere. Wale, Haifische, Delfine, Meeresschildkröten, Krabben, Quallen, Forellen …

»Forellen leben in Flüssen«, sagt Frau Jansen.

Lachse?

»Ja, aber Lachse kommen aus Flüssen und kehren auch dorthin wieder zurück«, sagt sie.

Ich werde nervös. Die reden von meiner Welt! Es wird klar, dass ich eingreifen muss. Alle Finger gehen runter, nur meiner wandert in die Höhe.

Überrascht nimmt mich Frau Jansen dran. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es kommt kein Ton aus mir raus.

Frau Jansen lächelt mir aufmunternd zu. »Mauritius? Kennst du noch weitere Meerestiere?«

Ich nicke. Aber meint sie jetzt nur die aus dem Epipe­lagial oder auch die weiter unten?

»Der Stummfisch«, gluckst jemand aus den hinteren Reihen. Es ist einer der drei Blöden. Die drei Blöden sind die Einzigen, die nicht nett sind.

»Ruhe auf den billigen Plätzen!«, ruft Frau Jansen und wendet sich wieder mir zu. »Verrätst du uns auch, welche das sind?« Man muss dazu sagen, dass Frau Jansen schon eine ganze Weile gegen meine Stummheit ankämpft. Sie ist darin sehr tapfer. Im Grunde versuche ich auch, sie in ihrem Kampf nach besten Kräften zu unterstützen. Es ist mir nur bis jetzt noch nicht gelungen.

»Kommt auf die Tiefe an«, sage ich vorsichtig.

»Die Tiefe ist egal«, sagt Frau Jansen freundlich.

›Die Tiefe ist gar nicht egal!‹, denke ich, will aber nicht gleich wie ein Besserwisser daherreden. Eine Gesprächspause breitet sich aus. Bin ich immer noch dran?

»Maulstachler, Schwarzer Schlinger, Gespensterfisch«, murmele ich so beiläufig wie möglich.

Frau Jansen schaut interessiert. »Aha, die kenne ich gar nicht.«

Na gut. Es hilft nichts. Ich stehe auf und gehe an die Tafel. Ich muss ein paar Dinge klarstellen. Das Meer ist kein Gartenteich. Es ist tiefer, als die höchsten Berge hoch sind, und größer als alle Kontinente zusammen. Die meisten Lebe­wesen der Welt wohnen dort unten. Wir sehen sie nur nicht.

Ich male zum Größenvergleich den Soliner Berg an die Tafel mit einem kleinen Hubbel drauf für die Mühle.

»Da oben wohne ich. Und hier …«, ich male einen Strich bis ans untere Ende der Tafel, »… wohnen alle Tiere, die man so kennt. Weil es hier genug Licht für Algen gibt. Die machen den Sauerstoff.« Ich überlege kurz. Das waren erst zweihundert Meter. Ich muss ja noch viel tiefer. Ich male den Strich weiter, über den Rand der Schwamm­ablage hinaus, die Wand hinab.

»Pottwale können unglaublich viel Luft holen und locker bis hier unten tauchen. Hier kommen keine Sonnenstrahlen mehr hin.« Ich bin mit der Kreide am Boden angelangt.

Das reicht immer noch nicht! Ich male den Strich weiter am Boden entlang an Frau Jansens Stöckelschuhen vorbei.

»Bei tausend Metern herrscht ein Druck, der eure Lungen auf die Größe von Tischtennisbällen zusammenquetscht.« Hinab, immer weiter hinab! Ich muss unter den Tischen durchkriechen. Dabei nenne ich die Namen der Fische, die in den jeweiligen Tiefen zu Hause sind. Über mir wird gekichert. »Beilfisch, Teufelsangler, Dickkopfgroppen …« Mädchenbeine weichen aus. Ich zwänge mich zwischen Stühlen und Schultaschen hindurch. Was soll ich machen, das Meer ist halt so tief.

An der Hinterwand des Klassenraums habe ich den Meeresboden erreicht und stelle mich mit dem Rücken zur Wand. »Übrigens ist es hier auch ziemlich kalt …« Meine Stimme versiegt. Alle starren mich an.

»Und wer wohnt dort?«, fragt Frau Jansen fasziniert.

»Der Blobfisch«, flüstere ich. Die Klasse lacht. Vielleicht denken sie, dass ich mir das alles nur ausdenke. Klingt ja auch seltsam. Aber in der Tiefsee ist alles seltsam! Alles ist anders! Das kann man sich gar nicht ausdenken!

»Wer ist der Blobfisch?«, fragt Frau Jansen misstrauisch.

»Der Blobfisch ist aus einer weißen, wabbeligen Masse und hat keine Muskeln … aber einen dicken Nasenwulst und einen traurigen Mund … und er liegt auf dem Boden«, stammele ich. Während ich rede, habe ich das Gefühl, dass sich mein Gesicht in etwas Puddingartiges verwandelt.

»Und wie macht der Blobfisch?«, fragt jemand. Es ist Dennis, einer der drei Blöden.

»Blob«, sage ich aus Versehen, obwohl ich im gleichen Moment weiß, dass das Blödsinn ist. Der Blobfisch macht nicht blob. Er macht gar nichts. Er liegt nur stumm da und wartet darauf, dass ihm etwas zu fressen von oben in den Mund fällt.

»Blob, blob«, höre ich um mich herum, »blob, blob.« Am liebsten hätte ich die Zeit zurückgedreht und den Mund gehalten. Mein Hobby hat mir eine Falle gestellt! Eine Redefalle!

Herr Glimm

In der Pause danach stehe ich allein auf dem Schulhof und starre in eine Pfütze. Sie ist so dreckig, dass man nicht sehen kann, wie tief sie ist. Frau Jansen hat mich gelobt für meinen Einsatz. Trotzdem musste ich nach der Stunde den Kreidestrich wegwischen. Während ich mit dem nassen Tafelschwamm zwischen den leeren Stühlen und Tischen hindurchkroch, kam ich mir ziemlich dämlich vor. Es ist nicht so, dass ich Angst davor habe, als seltsam zu gelten. Auf das Seltsame bin ich abonniert. Ich weiß gar nicht, wie das geht, normal zu sein. Ich habe nur keine Lust, es anderen zu erklären.

»Was ist ein Schwarzer Schlinger?« Ich sehe die Spiegelung eines Mädchens in der Pfütze. Vor mir steht Mieke. »Ich wohne übrigens auf dem Reiterhof. Wir sind Nachbarn.«

Natürlich sind wir Nachbarn.

»Magst du nur Fische oder auch Pferde?« Mit ihren kurzen, dunklen Locken, Jeans und Turnschuhen sieht sie überhaupt nicht wie ein typisches Pferdemädchen aus. Ihre neugierigen Augen sind riesengroß, hellbraun und freundlich. Meine Ohren fangen an zu glühen.

»Was hörst du so für Musik?«, fragt sie weiter. Da jagt ja eine Frage die nächste! Ich habe Walgesänge auf meinem Handy. Aber das sage ich lieber nicht.

»Warum redest du so wenig?«

Ich sehe sie betrübt an. Wenn ich ihr wenigstens das erklären könnte!

»Stummfische können nicht reden«, platzt Dennis dazwischen und drängelt Mieke zur Seite.

»Hallo, Blobfisch«, rufen Ole und Luke, die anderen beiden Blöden. »Na? Träumst du davon, Schnieke zu knutschen? Blob, blob!« Sie lachen und rempeln sich gegenseitig an. Das tun sie immer. Sie hauen sich reihum, beschimpfen sich und lachen dabei.

»Lasst ihn in Ruhe!«, ruft Mieke. »Ihr wisst ja gar nichts!«

Luke keckert wie ein Aufziehäffchen.

»Achtung! Schnieke wird wütend«, wiehert Ole und scharrt mit den Füßen im Dreck.

»Nenn mich nicht Schnieke, du Ochsenfrosch!« Mieke schubst Ole gegen Luke. Das findet Luke lustig und lacht. Ole haut Luke. Luke schreit. Dennis lacht. Ole haut Dennis, Dennis haut Ole. Luke lacht. Es ist etwas schwierig für mich zu folgen. Mein Kopf fliegt zwischen den dreien hin und her.

Dennis’ Gesicht taucht ganz nah vor meinen Augen auf. »Blob!«

»Blob, blob«, sagt Ole und grinst mir ins Gesicht.

Lukes Mund taucht auf. »Blobfisch, sag mal blob«, bittet er mich, aber so schnell kann ich gar nicht reagieren.

»Könnt ihr euch in einer Reihe aufstellen und mich nacheinander ärgern?«, rufe ich verzweifelt. Die drei Blöden halten verwundert inne. »Ich kann mich nur auf eine Sache konzentrieren«, erkläre ich.

Nach einem Moment der Stille fängt das Gegluckse wieder an. Die drei Blöden stellen sich in einer Reihe vor mir auf, blobben, versuchen, sich gegenseitig in die Pfütze zu schubsen, und rufen noch andere herbei. »Der Blobfisch will geärgert werden! Einfach hinten anstellen!« Es ist immer noch unangenehm, aber wenigstens nicht mehr so unübersichtlich.

Mieke steht daneben und sieht sich das Ganze fassungslos an. »Du lässt dich freiwillig beschimpfen?«, ruft sie empört und geht.

Halt! Ich habe ihr doch noch gar nicht erklärt, was ein Schwarzer Schlinger ist! Das ist zu viel! Mir wird schwummerig vor Verwirrung.

Ich starre hinab in die schlammige Pfütze. Sie ist zwar dreckig, aber ich sehe keinen anderen Ausweg. Ich atme tief ein, springe und tauche unter. Ganz. Das Schlammwasser schlägt über meinem Kopf zusammen. Eine Zeit lang höre ich noch dumpfes Gekreisch und Blubbern, dann wird es still und dunkel. Ich mache mich gerade und sinke. Es wird finster. Der Druck nimmt zu. Aber das macht mir nichts. Es fühlt sich gut an. Es ist wie eine feste Umarmung. Ich sinke immer weiter hinab, bis zum beruhigenden Glimmen einer vertrauten Laterne. Hier unten ist es ruhig. Hier ist es immer ruhig, wenn es oben zu laut wird. Unter der Laterne wartet ein riesenhaftes Maul. Aber vor diesem Maul muss ich keine Angst haben. Das Maul ist mein Freund.

Ich kenne Herrn Glimm schon lange. Als damals in der Schule die Sache mit der Benotung anfing, landete auf meinem ersten Zeugnis eine Fünf in Deutsch im Mündlichen. Klar, weil ich nie etwas sage. ›Aber warum bekomme ich einfach eine Fünf‹, dachte ich, ›obwohl die Lehrerin gar nicht wissen kann, was alles in meinem Kopf steckt?‹ Ich saß auf dem Bordstein und starrte auf die Fünf. Ich war blind von der Fünf. Sie wurde immer größer, tanzte vor meinen Augen und verdrängte die anderen Zahlen.

Ich wollte sie nicht mehr sehen. Also richtete ich den Blick auf die Pfütze zu meinen Füßen. Wolken durchzogen den schwarzen Spiegel. Die Pfütze war wie ein Spalt in der Welt.

Auf einmal versank ich darin. Es war nicht so, dass ich ohnmächtig wurde. Ich saß aufrecht auf der Bordsteinkante, atmete gleichmäßig und hielt mein Zeugnis in der Hand. Es wurde blau und ruhig. Es wurde schwarz, und die Fünf sank mit mir bis dorthin, wo es keine Noten und keine Zeugnisse und keine Schule und keine Eltern gibt, die mit dem Mittagessen auf einen warten und einen trösten wollen, was die Sache eher schlimmer macht. Hier unten war die Fünf nur noch eine Zahl. Ein winziger Leuchtpunkt löste sich aus der trüben Finsternis und glitt auf mich zu. Ich erkannte sofort, dass es sich um einen Laternenfisch handelte. Mit dem Leuchtorgan am Ende seines angelförmigen Fühlers suchte er nach Beute. Ich hielt ihm die Fünf hin und sie verschwand in seinem Maul. Sofort fühlte ich mich besser. Der Fisch lächelte zufrieden und seine Laterne gab einen freundlichen Schein von sich.

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