Mami 1858 – Kleines Herz auf Wanderschaft

Mami –1858–

Kleines Herz auf Wanderschaft

Roman von Isabell Rohde

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-335-9

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Das Haus der Petersens stand in einem mäßig großen und nicht gerade liebevoll gepflegtem Garten im Frankfurter Westend. Die Straße, die daran vorbei führte, verband zwei Verkehrsachsen, war aber zu schmal, um sich als Rennstrecke für eilige Autofahrer zu eignen. So herrschte hier, nur wenige Geh-Minuten vom Zentrum der Stadt entfernt, meistens eine fast dörfliche Stille.

Zum Leidwesen von Thilo und Corri Petersen wußten ihre drei Kinder – Patti, Helle und Dette – diese Stille nicht zu schätzen. Manchmal fürchteten die Eltern schon, ihr Nachwuchs brauche den Lärm, um sich wohl zu fühlen. Corri, die als Ärztin in einer nahegelegenen Klinik arbeitete, mußte den Krach ja nur abends ertragen. Vater Thilo arbeitete oben im ausgebauten Speicher als Grafiker in seinem Atelier, und so kam es nicht selten vor, daß er laut runterbrüllte: »Ruhe! Ruuhe! Seit ihr alle schwerhörig oder was?«

Dann stellten sich seine drei Sprößlinge wirklich schwerhörig, bemühten sich aber um eine Lautstärke, die der Hausherr gerade noch ertragen konnte.

Heute nachmittag war ihr Vater nicht da. Er hatte sich aufs Fahrrad geschwungen, um einen seiner Kunden in der City zu besuchen. Kaum war er um die nächste Ecke verschwunden, begannen Helle und Dette, die beiden Jungens, die eigentlich Helmut und Detlef hießen, sich wie auf Kommando zu streiten. Sie bewohnten ein riesiges Zimmer im Souterrain. Da nun also die Bücher flogen, die Türen knallten und Gegenstände aller Art durch die Gegend polterten, drang der Lärm bis in den ersten Stock, wo sich Patti, die auf den schönen Namen Patricia getauft worden war, in ihrem Zimmer aufhielt.

Sie war vierzehn und galt allgemein als recht vernünftig. Solange die Eltern nicht zu Hause waren, Klingel und Telefon aber noch zu hören waren, störte sie der Krach nicht. So vergingen die Stunden trotz des Gepolters in geschwisterlicher Harmonie.

Es war gegen fünf an diesem sonnigen Augustnachmittag, als Thilo Petersen von seiner Besprechung zurückkam. Er stellte das Fahrrad in die kleine Garage, hob die Tüten mit den Einkäufen und seine dicke Arbeits-Mappe vom Träger und trat schwerbeladen ins Haus. Sofort bekam er einen Fußball gegen die Brust geknallt, erhob mal kurz seine tiefe Stimme, um Dette und Helle noch für eine Stunde zum Fußballspielen in die kleine Sportanlage um die Ecke zu schicken und lud danach seelenruhig seine Einkäufe in der Küche ab.

Aber schon rief es von oben: »Papi! Papi, bist du endlich wieder da?«

»Ja, bin ich!« gröhlte Thilo zurück, schüttelte aber verwundert den Kopf. Benahm seine Älteste sich wie ein Zweijährige, die die Rückkehr ihres Papis kaum erwarten konnte? Sonst spielte sie doch immer die junge Dame, die längst flügge sein wollte.

Kurz darauf erschien sie unten in der Küche. Mit ihrem braunen, ganz kurz geschnittenen Haar, ihren großen blauen Augen und dem Mund, der so süß schmollen konnte, schien sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Oma Helma war am Telefon. Du sollst sofort zurückrufen, Papi.«

»So. Ist sie denn schon von Sylt zurück?«

Patti hob die Schultern. »Das weiß ich doch nicht. Die Jungens haben so rumgelärmt. Ich hab nur verstanden, daß du gleich zurückrufen sollst.«

»Das hat Zeit.« Er stellte drei Milchflaschen in den Eisschrank und schob das Netz mit dem Gemüse in Pattis Richtung. »Kannst du schon mal putzen. Heute abend gibt’s Omelett mit Salat.«

»Ich? Wieso immer ich? Können Dette und Helle nicht mal helfen?« Wie alle großen Schwestern hielt Patti ihre beiden Brüder von elf und zehn Jahren für schrecklich faul und verwöhnt. »Mami hat gesagt…«

Thilo sah zur Uhr. »Mami kommt in einer halben Stunde. Dann ist der Salat gewaschen. Heute ist Montag und Operations-Tag. Du weißt doch, daß sie danach immer ganz fertig ist und keine häuslichen Auseinandersetzungen verträgt.«

Patti rollte mit den Augen. »Gisi und Moni kommen gleich noch vorbei. Wir wollen unsere neuen CD’s hören. Ist doch blöde, wenn ich jetzt wieder helfen muß. Heute ist der letzte Ferientag. Habe ich dich nicht den ganzen Vormittag in Ruhe gelassen, damit du oben arbeiten konntest?«

Thilo, der schon ahnte, worauf das hinauslief, wandte den Kopf ab, weil er grinsen mußte.

»Salat waschen dauert nur zehn Minuten. Bitte, Papi, mach du’s! Nur noch heute, noch einmal… weil morgen die Schule anfängt.«

Wie meistens, wenn sie ihn so flehend anschaute, gab er sich geschlagen. Nur seine Mappe drückte er ihr schnell unter den Arm.

»Bring die mal hoch ins Atelier. Und ruf deine Freundinnen an, sie sollen erst nach dem Essen kommen. Vorher holst du die Jungens von der Anlage. Dann bist du nachher von allen Pflichten befreit.«

Patti nickte, klemmte sich die Mappe unter den Arm und verließ die Küche. »Montag ist trotzdem die reinste Hölle, Papi!«

»Ja, ja.« Thilo mußte grinsen, als er sich die Schürze vorband und mit der Salatwäsche begann. Seit Monaten hatte seine Corri am Montag von morgens sieben bis nachmittags fünf Uhr Dienst im OP. Danach waren ihr einfach keine heimischen Zwistigkeiten oder lange Debatten am Familientisch mehr zuzumuten. Und weil er seine Frau nicht nur liebte, sondern auch bewunderte und verehrte, nahm er gern einiges auf sich, um einen ruhigen Feierabend zu garantieren.

Eine Stunde später saß die Familie am großen runden Tisch im Eßzimmer gleich hinter der Küche. Durch die Tür, die von hier aus in das hintere Gartenstück führte, fiel noch ein letzter Sonnenstrahl. Weil morgen die Schule und damit der Ernst des Lebens begann, hatte Corri Petersen von unterwegs eine Packung von Dettes Lieblingseis mitgebracht.

Es war still am Tisch, weil alle mit Genuß löffelten. Nur Patti erhob nach einem vorwurfsvollen Seufzer ihre Stimme.

»Den Tag, an dem mir mal einer mein Lieblingseis mitbringt, möcht’ ich mal erleben!« beschwerte sie sich. »Nur, weil Dette der Jüngste ist, gibt’s immer Schokolade mit Nuß!«

»Arme Patti!« bedauerten Dette und Helle ihre Schwester voller Hohn. »Du arme, arme Patti!«

Die Eltern sahen sich an. Pattis vorwurfsvoller Ton hatte Thilo an seine Schwiegermutter erinnert. Jetzt fiel ihm siedend heiß ein, daß Helma Collien um einen Rückruf gebeten hatte.

»Du mußt deine Mutter anrufen, Corri.«

Corri war eine angenehme, aber nicht auffallend attraktive Erscheinung. Dabei gab es Tage, da konnte sie hinreißend schön aussehen, aber nach einem Arbeitstag wie heute bedurfte es schon eines besonderen Anlasses, um ihr Gesicht zum Strahlen zu bringen. Sie hob die Augenbrauen, und ihre Stirn legte sich in müde Falten.

»O je, ich kann mir schon denken, was sie will.«

»Du meinst, sie fühlt sich einsam, nicht wahr? Amelie ist bestimmt schon wieder in Bayern in ihrem Internat«, vermutete Thilo, denn er wußte, daß Helma mit der Tochter von Corris Schwester sechs Ferienwochen auf Sylt verbracht hatte.

»Oder sie will sich über Amelie beklagen. Sechs Wochen mit Amelie auf Sylt haben ihr den Rest gegeben. So verwöhnt wie die ist!« kicherte Dette.

»Ach, hör auf! Amelie ist ganz in Ordnung!« verteidigte Patti ihre kleine Cousine. »Außerdem kann sie ja nichts dafür, daß sie in so einem feinen Internat leben muß.«

»Das stimmt!« Corri erhob sich, um ans Telefon zu gehen. »Es wird wohl nur der Abschiedsschmerz sein, der Oma jetzt drückt.«

Der Schmerz der Großmutter mußte recht quälend sein, denn das Telefongespräch zog sich außergewöhnlich lang hin. Und als Corri endlich zurückkam, sah sie noch müder aus.

Patti, die mit ihren Brüdern den Tisch abgedeckt hatte, und nun die Küche aufräumte, war mit den Gedanken schon wieder bei ihren Freundinnen. Kaum klingelte die, verschwand sie und ließ ihre Eltern allein. Den beiden Jungens hatte Thilo erlaubt, noch bis Einbruch der Dunkelheit draußen auf ihren Rollerblades herumzutoben.

Er blickte seiner Frau besorgt entgegen. Sie trat zu ihm und sofort rückte er auf der Bank zur Seite, so daß sie sich neben ihm setzte und sich an ihn lehnen konnte.

»Und? Wo drückt Oma Helma der Schuh?« fragte er.

Corri seufzte. »Oma und Amelie sind gestern wieder in Bad Homburg eingetroffen. Und heute Morgen in aller Frühe erhielt Oma einen Anruf aus Amelies Internat. Man solle ihre Sachen abholen.«

»Ihre Sachen? Wieso? Sie ist doch seit zwei Jahren dort.«

»Ja, aber Loni hat sie dort abgemeldet. Amelie soll ab morgen eine Privatschule in Frankfurt besuchen.«

»Wie? Das ist doch unmöglich! Loni tickt wohl nicht richtig! Das ist mal wieder typisch für deine Schwester! Warum wußten wir nichts davon?«

»Wir waren bis vor einer Woche in Griechenland, Thilo.«

Corris jüngere Schwester Loni war seit zehn Jahren mit dem weltbekannten Geologen Doktor Stefan Sudhoff verheiratet. Um fast dreißig Jahre älter als seine Frau, brauchte er in den letzten Jahren immer häufiger ihre Unterstützung, wenn er im Ausland seinen Forschungsarbeiten nachging. Und da Amelie seit zwei Jahren zur Schule mußte, hatte Loni sie in einem guten Internat am Starnberger See untergebracht. Dann und wann verlebte sie die Ferien mit ihren Eltern, aber in der letzten Zeit war das nicht mehr möglich. Dem Kind war ein häufiger Aufenthalt in Afrika nicht mehr zuzumuten.

»Helma hat Amelie sehr gern mit nach Sylt genommen«, erklärte Corri. »Sie erfuhr schon vor Wochen, daß Stefan wieder erkrankt ist. Uns hat sie das verschwiegen, damit wir unbesorgt nach Griechenland fahren können.«

»Macht ihm wieder diese alte Virus-Erkrankung zu schaffen?« fragte Thilo.

»Ja. Ihm geht es gar nicht gut. Loni ist ihm nach Gambia gefolgt und kann ihn dort jetzt nicht allein lassen. Deshalb schaffte sie es auch nicht, die neue Wohnung hier in Frankfurt einzurichten. Helma nimmt an, sie wollte dort mit Amelie leben.«

»Wie?« fuhr Thilo auf. »Eine Wohnung in Frankfurt? Deine Schwester hat hier eine Wohnung gekauft? Sie haben doch eine Villa in München. Wozu ein zweiter Wohnsitz in Frankfurt!«

»Pscht!« versuchte Corri ihn zu besänftigen und strich ihm über die bärtige Wange.

Amelies Vater Stefan Sudhoff war ein ungewöhnlicher Mann, der auf seinem beruflichen Gebiet immer noch Großes leistete und vor kurzem von der amerikanischen Regierung einen riesigen Forschungsauftrag erhalten hatte. War er nicht auf einer seiner Reisen, schrieb er Fachbücher, die jedesmal Millionenauflagen erreichten. Daß er seit längerem nicht mehr gesund war, wurde dabei leicht vergessen.

»Ich würde Amelie gern zu uns nehmen, Thilo«, sagte Corri leise. »Das wäre augenblicklich für alle die beste Lösung.« Sie sah ihn bittend an. Thilo schlang sofort die Arme um sie und drückte dabei seine Zustimmung aus.

»Du weißt, wie gern wir Amelie schon mehrmals mit in unseren Sommerurlaub genommen hätten«, erinnerte er sich. »Wenn das nicht klappte, lag‘s gewiß nicht an uns. Immer war deine Schwester dagegen, ohne daß wir wußten, warum. Denkst du, sie läßt Amelie diesmal zu uns?«

»Ihr wird nichts anderes übrig bleiben, Thilo. Helma versucht sie seit gestern telefonisch zu erreichen. Aber das gelingt ihr nicht. Gambia ist weit weg und Stefan…« Sie schwieg bedrückt.

»Ist Stefan ernsthaft erkrankt und nicht transportfähig? Liegt er in einer Klinik?«

Corri schloß die Augen und nickte. »Helma nimmt auch an, daß es nicht gut um Stefan steht.«

»Also, wie können wir helfen?«

Sie blickte ihn dankbar an. »Helma gab mir die Nummer der Privatschule. Dort rufe ich morgen früh an und sage Bescheid, daß Amelie einige Tage später kommt. Und du? Hast du eilige Termine?«

»Natürlich.«

»Sag sie ab. Bitte, Thilo. Du mußt dich morgen gleich ins Auto setzen und Amelie hierher holen, damit sie zur Schule gehen kann. Bis Loni auftaucht, können allerdings Wochen vergehen.«

»Das mag zutreffen. Gambia ist nicht Mallorca«, murrte er.

Corri überhörte diese spöttische Bemerkung. »Wenn meine Vermutung zutrifft«, überlegte sie laut, »dann steckt hinter Lonis Plänen ihr starkes Bedürfnis nach Veränderung. Aber es geht doch um Amelie, nicht wahr?«

»So? Was vermutest du denn? Hat Loni die Ehe mit Stefan satt? Wenn seine Kräfte schwinden und er keine Bestseller mehr schreiben kann, wundert mich das nicht. Deine Schwester war nie eine Heilige. Stefan dagegen hat sich aus Liebe zu ihr zum Narren gemacht!«

»Aber er ist ein wunderbarer Mensch, Thilo! Nur als Vater eines kleinen Mädchens wie Amelie ist er viel zu weit vom Alltag entfernt. Er liebt sie, aber was Vaterschaft bedeutet, war ihm nie bewußt.« Corri schmiegte sich in Thilos Armbeuge. »Aber das ist nicht der einzige Grund, wenn Lotti und er sich auseinanderlebten. Sie kommt ihrer Pflicht als seiner Ehefrau ja noch nach, aber das Leben an seiner Seite erträgt sie nur noch widerwillig. Das weiß ich seit einem Jahr. Darum…« Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und fügte dann kaum hörbar hinzu: »… wenn mich nicht alles täuscht, hat Loni schon vor Monaten eine Affäre mit Ramon Rolando begonnen.«

»Ramon… wie? Wer ist das? Ein Schlägersänger?«