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Das Rätsel Coltrane

In den letzten Monaten seines Lebens schien John Coltrane an die Grenzen des musikalisch Sagbaren gekommen zu sein. In Konzerten des Jahres 1967 nahm er wiederholt auf dem Höhepunkt eines Solos plötzlich sein Saxophon aus dem Mund, trommelte auf seine Brust und keuchte nur noch einen Singsang in das Mikro. Rashied Ali, seit November 1965 Schlagzeuger in John Coltranes Quintett, erinnerte sich später an diese skurrilen Situationen: »Ich sagte dann: ›Mensch, Trane, warum machst du das, warum haust du dir auf die Brust und heulst in das Mikrophon?‹ Und er sagte: ›Mann, mir fällt nichts mehr ein, was ich auf meinem Instrument noch spielen könnte.‹ Er hatte das Saxophon vollkommen ausgeschöpft. Er fand nichts mehr, das er darauf hätte spielen können, ihm ging sozusagen das Saxophon aus.«

Diese Anekdote ist bezeichnend: Bis zur vollkommenen Selbstaufgabe erforschte Coltrane in den zwei Jahrzehnten seiner Karriere sein Instrument und trieb es in gänzlich neue Ausdrucksbereiche. Je weiter er sich von der Melodik des Rhythm ’n’ Blues, von den Akkord-Brechungen des Bebop und der Skalen-Weite des modalen Jazz entfernte, am Ende nur noch sprachähnliche Schreie auf seinem Horn produzierte, umso stärker wurden ihm zugleich die Beschränkungen des Instruments als einer bloßen »Prothese der Seele« bewusst. So war es letztlich nur konsequent, dass er in Momenten höchster Ausdrucksintensität auf dem Saxophon verstummen musste. Ihm gingen nicht nur die Noten aus, das Musikinstrument selbst erwies sich als untauglich, die spirituelle Fülle, die Coltrane in seinem Innern verspürte, noch zu artikulieren. Die Rückkehr zum archaischen Ritual – es hat seinen Ursprung in den frühesten Menschheitstagen – wirkt wie Regression und verzweifelte Befreiung zugleich.

Es ist dieser oft schmerzhafte, von Irrwegen und Brüchen keinesfalls verschont gebliebene Befreiungsprozess aus musikalischen Konventionen, der die Biographie John Coltranes so aufregend macht. Während sein Lebensalltag – sieht man von Alkohol- und Drogenproblemen in den frühen Jahren einmal ab – relativ ruhig und gleichmäßig, in geordneten Bahnen verlief und keinesfalls durch jene Exzesse und Zügellosigkeiten geprägt war, wie man sie von Jazzmusikern in ihrem Privatleben eigentlich erwartet, entwickelten sich die wahren Abenteuer in Coltranes Kopf. Lebenspralle Anekdoten, die seine Person in grell entlarvendem Licht erscheinen lassen, sucht man bei ihm vergebens. So lassen sich seine biographischen Wegmarken – es gibt inzwischen sogar eine Tag-für-Tag-Chronologie seiner musikalischen Aktivitäten – vollständig nachzeichnen, ohne dass man dem Geheimnis von Coltranes anhaltender Faszinationskraft damit auch nur einen Schritt näher kommen würde.

Worin besteht der eigentümliche Zauber seiner Musik, der uns noch heute berührt, und welche Motive, Inspirationsquellen und Triebkräfte verbergen sich hinter den Sound-Explosionen seines Saxophonspiels? Wie kann man dem Mysterium seines Klangs auf die Spur kommen und dabei zugleich den Menschen hinter der Musik kennenlernen?

Der »Fall Coltrane« ist vor allem ein Fall für die Ohren: Anhand seiner Schallplattenaufnahmen kann der Hörer die Geschichte eines erfolgreichen wie letztlich aussichtslosen Kampfes gegen die künstlerischen Beschränkungen durch die Umwelt nacherleben. Er kann sich mittels der stets vorwärtsdrängenden Musik in die Psyche des Musikers und in die Umstände seiner Zeit hineinversetzen und selbst auf eine rücksichtslose Reise der Ich-Erkundung gehen: Vom Bebop zum Free Jazz, vom schützenden Hort formaler Strukturen zur erschreckenden Einsamkeit der Freiheit. ›Trane‹ – so sein Spitzname – war ein Antreiber und ein Getriebener zugleich: Seine Musik in den Sechzigern klingt wie ein dahindonnernder Hochgeschwindigkeitszug, der zwar noch einen Lokführer besitzt, aber, einmal in Fahrt gebracht, auch von diesem nicht mehr zu stoppen ist. In nur sieben Jahren – 1960 gründete er nach dem Ausscheiden bei Miles Davis seine eigene Gruppe – trieb Coltrane den Jazz aus dem sicheren Hafen des modalen Jazz weit aufs offene Meer hinaus, indem er am Ende auch noch die Halteleinen der Tonskalen über Bord warf, um einsam im Ozean seiner Klänge zu schwimmen und schließlich darin zu versinken.

Es gibt wohl keinen Jazzmusiker im 20. Jahrhundert, der in so kurzer Zeit eine so rasante und zugleich radikale künstlerische Entwicklung durchlaufen hat wie John Coltrane. Seine ganze Karriere war eine Folge von Häutungen: Hatte er einen Stil erst einmal erforscht, war er für ihn uninteressant geworden, und er wandte sich – oft zum Leidwesen seiner Fans und der etablierten Jazzkritik – etwas Neuem zu, das, in seiner Substanz bereits erahnbar, in seinen Konturen aber noch unscharf blieb. Coltrane war ein Suchender aus Passion.

In seiner einundzwanzigjährigen Karriere – vom namenlosen Mitglied einer Militärband 1946 auf Hawaii bis zur Vaterfigur des Free Jazz 1967 in New York – stellte er den Jazz vom Kopf auf die Füße, oder auf die Knie eines Betenden. Am Ende seines Lebens ging es nur noch um Sound, um den puren Klang, der alle kompositorischen Anstrengungen, alle solistischen Formen und Strukturen hinter sich gelassen hatte. Der Klarinettist Jimmy Giuffre erinnert sich: »Es war, als ob er nackt auf der Bühne stehen, die Musik aus dem Mann, nicht aus dem Instrument kommen würde.«

John Coltrane verkörpert den seltenen Fall einer künstlerischen Evolution, die zugleich eine Revolution war. Man kann sich seinen Weg anhand weniger musikalischer Stationen vergegenwärtigen. 1958 prägte der Jazzkritiker Ira Gitler den Terminus »sheets of sound«. Er umschrieb damit ein unerhörtes Phänomen, das er – nach Coltranes Lehrjahren bei Thelonious Monk – in dessen Saxophonspiel ausgemacht hatte: Die in rasend schnell gespielten Sechzehntelnoten zerlegten Tonleitern und Arpeggios reihen sich so dicht aneinander, dass beim Hörer die Illusion von Soundflächen entsteht. Diese »sheets of sound« sollten fortan zum Markenzeichen Coltranes werden.

Im Frühjahr 1959 nahm er mit der Miles-Davis-Band das epochale Album Kind of Blue auf. Nur vier Wochen später antwortete Trane auf das intim-gelassene »So What« mit seiner vertrackten Komposition »Giant Steps« – an den äußersten Grenzen funktionsharmonischer Logik. Im darauffolgenden Jahr trieb er auf dem damals exotisch wirkenden Sopransaxophon die sentimentale Musical-Melodie »My Favorite Things« durch einen Irrgarten modalen Skalenspiels. 1961 erzeugte Trane in dem Stück »Africa« die Dschungel-Atmosphäre eines brodelnden Bigband-Sounds und entdeckte in der Komposition »Olé« die Verheißungen arabischer Tonalität. Die rauen, ungestümen Kollektivimprovisationen von Live at The Village Vanguard im selben Jahr schockierten die Jazzwelt. Die Kritiker des Down Beat, mit ihrer damals an Allmacht grenzenden Deutungshoheit, warfen Coltrane »Anti-Jazz«-Tendenzen vor. Zwischendurch nahm er immer wieder versöhnliche Platten wie Ballads oder John Coltrane & Duke Ellington auf, wo er den melodischen Schmelz seines Saxophonspiels genüsslich auskosten konnte. 1964 folgte dann mit A Love Supreme ein religiöser Schock: Spiritueller Irrweg? Meditative Innerlichkeit statt schwarzer Befreiungsmusik? Dieses Album gilt als Schlüsselwerk in Coltranes Leben: summierender Rückblick und visionärer Vorgriff auf Kommendes. Für viele stellt es den Höhepunkt in seinem Werk dar. Die achtköpfige Kollektivimprovisation Ascension vom Juni 1965, durchsetzt mit Mini-Soli, wirkte in ihrer intuitiven Kraft, ihrer Klanggewalt und hymnischen Eindringlichkeit beispiellos. Selbst Ornette Colemans Free Jazz-Album klang dagegen wie eine formal gebändigte Übung. Die Wirkung dieser erdenschweren »Himmelfahrt« reichte damals weit über innermusikalische Phänomene hinaus. Hier wurde die Jazzgruppe als soziale Einheit neu erfunden: als gleichberechtigtes Kollektiv, als gemeinschaftliche Interaktion, die ihre strukturelle Zielrichtung aus dem Augenblick heraus definierte. Fast wirkte Ascension wie ein sozialistisches Experiment mit Klängen, zumindest aber wie eine hymnische Feier des radikal-demokratischen Spielideals.

Coltrane schien inzwischen eindeutige Qualitätskriterien für seine Musik abzulehnen: er wollte sie nicht mehr mit Werturteilen beschweren und rational einordnen. Spätestens ab 1965 – nicht zuletzt unter dem Einfluss seines zweiten Saxophonisten Pharoah Sanders und der a-rationalen Spielhaltung eines Albert Ayler – wurde Coltranes Klangwelt zunehmend von einer meta-musikalischen Logik beherrscht, die allein intuitiven Regungen der Gefühle, Nervenreaktionen und assoziativen Gesten gehorchte. Ende 1966 – nach einer umjubelten Japan-Tour – hatte Coltrane die Club-Gastspiele mit ihren 45-minütigen Sets endgültig satt. Er wirkte jetzt ein wenig müde, eine Krebserkrankung hatte bereits ihre Spuren in seinem Körper hinterlassen. Der geschwätzigen Sprache misstraute er fortan mehr und mehr: Sein letztes, zu Lebzeiten fertiggestelltes Album Expression sollte dezidiert ohne erklärenden Covertext auskommen. Coltranes Musik seiner letzten Lebensjahre lässt sich weniger verstehen als vielmehr erspüren. Sein Freund Don DeMichael hat versucht, ihr Geheimnis zu fassen: »Sie öffnet einen Teil meines Selbst, der normalerweise fest verschlossen bleibt. Halbverschüttete Gefühle und Gedanken dringen durch diese offene Tür ins Freie und durchströmen mein Bewusstsein.« Jazz als Therapie, als Selbstermächtigung und sozialer Indikator.

In den Sechzigern, der Blütezeit Coltranes, wurde die improvisierte Musik als radikale, innovationshungrige Kunstform zur Protest-Folie einer weltweiten Aufbruchsbewegung hochstilisiert. In den brodelnden Kollektiv-Improvisationen von Ascension und den Aufnahmen des späten Coltrane-Quintetts glaubte man die Straßenkämpfe rebellierender Afroamerikaner zu hören. Die wilden Schreie der Saxophone konnten als reale ›Wutschreie‹ der Unterdrückung verstanden werden, die gewalttätigen Eruptionen am Schlagzeug als Rhythmus der ersehnten Revolution. Musik galt jetzt nicht länger als Kriterium für Musikalität, sondern als Maßstab für politisches Bewusstsein, für die Fähigkeit eines Musikers, seine geschundene Seele in die Freiheit zu entlassen, Klänge mit visionärer Verheißung aufzuladen. Kunst und Leben vermischten sich in dieser Perspektive bis zur Ununterscheidbarkeit.

Auch der Jazz gehorchte damals diesem Hippie-Mythos, nach dem Musik eine »Kunst der Zukunft« zu sein hatte: Vorschein einer besseren Welt, Utopie der Befreiung. Coltranes Sound-Explosionen fielen zeitlich mit dem Black-Power-Slogan, mit dem provozierend selbstbewussten schwarzen Boxweltmeister Muhammad Ali, mit der panafrikanischen Vision eines Malcolm X, den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und der militanten Attitüde der Black Panthers in den USA zusammen. Und auch in der weißen, westlichen Gesellschaft formierte sich seit Mitte der Sechziger eine soziale Protestbewegung, die von Studenten, Künstlern und Intellektuellen vorangetrieben wurde. Dies war der sozialpsychologische Nährboden, auf dem der Free Jazz eines John Coltrane seine ästhetische Sprengkraft entfaltete.

Eine solche Überhöhung des Jazz zum Soundtrack sozialer Veränderungen erscheint heute, wo die klassizistische Bekehrungswut eines Wynton Marsalis am New Yorker Lincoln Center den Jazz längst als virtuos beglaubigte »l’art pour l’art« re-definiert hat, hoffnungslos romantisch und anachronistisch: Jazz soll zuallererst als Kulturgut verteidigt werden, will er seine Subventionsansprüche rechtfertigen und überleben. John Coltrane, der sich in seinen späten Jahren immer weiter vom Kernbestand des Swing entfernte, immer weniger Wert auf stilistische Reinheit und Virtuosität legte, immer mehr den Sound anstelle von Musikalität kultivierte, muss vor diesem Hintergrund fast wie ein Störenfried erscheinen. Wynton Marsalis vermutet deshalb auch, dass Coltrane ein »Opfer der Sechziger« war, der dem »radikalen Chic« verfiel und seine sorgsam ausgearbeitete Technik mutwillig über Bord warf, um schließlich im Außermusikalischen zu landen. Den Komponisten der Giant Steps dagegen verehrt Marsalis und widmete ihm bereits mehrere Konzertreihen am Lincoln Center.

John Coltrane wirft noch immer einen riesigen Schatten – trotz all der »young lions« und einer inzwischen alt gewordenen Avantgarde. Der Jazz hat sich längst professionalisiert: Akademisch gut ausgebildete junge Saxophonisten können mühelos jede Menge Coltrane-Soli aus dem Ärmel schütteln, oder besser: vom Blatt spielen. Sie müssen sich den Raum musikalischer Freiheit nicht unter Mühen erkämpfen, sondern bewegen sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit darin – wie Coltrane damals im Stilrahmen des Bebop. Und doch fehlt ihrem Spiel in aller Regel jene Intensität der Erregung und die erschreckende Unbedingtheit, die die improvisierte Musik zu Zeiten Tranes und zuvor Parkers auszeichnete. Schon Lester Young pflegte bei hochgezüchtetem technischen Virtuosentum eines Spielers zu fragen: »Schön und gut, Mann … aber kannst du mir auch einen Song singen?«

Coltranes Leidenschaft war einfach zu persönlich, als dass man sie simulieren könnte. Selbst wer all jene Töne und Tontrauben perfekt reproduzieren kann, die zum Markenzeichen Coltranes wurden, schafft es nicht, damit die Passion Tranes zu kopieren. Der Jazzpublizist John Litweiler bringt es auf den Punkt: »Diese Soli bewegen uns so eindringlich, weil wir in ihnen unsere eigenen Kämpfe gegen Selbstzufriedenheit, gegen Ängste erkennen: sie streben immer nach dem Unbekannten. […] Und die Konflikte von John Coltranes Musik, der innere Aufruhr des Lebens, erwiesen sich als kommunikativer als sämtliche anderen musikalischen Aussagen der Free-Jazz-Ära.« Daher kommt es, dass noch immer so viele Jazzfans eine Geschichte darüber erzählen können, wann sie zum ersten Mal mit Coltrane in Berührung kamen und wie er ihr Leben und ihre Weltwahrnehmung veränderte.

Bestimmte Schlagworte kehren in der Beschreibung seines Wesens immer wieder: Prophet, Hohepriester, Wahrsager, Fackelträger, Suchender. Doch die Charakteristiken seiner Musik lassen sich eher in Begriffen wie »Integrität«, »Wahrhaftigkeit«, »Reinheit«, kurzum: als Moralität begreifen. Sein Ruf gründet nicht zuletzt darauf, dass er als ein gegenüber allen kommerziellen Verlockungen standfester und prinzipientreuer Musiker gesehen werden kann, der mit seltener Konsequenz seinen Weg ging. Der vielfach ausgezeichnete Saxophonist und erklärte Coltrane-Anhänger Christof Lauer ist überzeugt: »Junge Leute wurden von ihm in den Sechzigern deshalb so stark angesprochen, weil er sie spüren ließ, dass er bereit war, für seine Überzeugungen zu kämpfen. Diese unbedingte Aufrichtigkeit hat sie fasziniert!«

Wenn eine Qualität Coltranes Spiel charakterisiert, dann ist es Hingabe. Der scheue, verschlossene Junge erwarb sich sein Genie erst durch manisches Üben. Zeitzeugen berichten einhellig: Wenn er nicht spielte, übte Coltrane, und wenn er nicht übte, dann las er. Coltrane war das Musterbeispiel für den heute so geschätzten Typ des »lebenslang Lernenden«. Der Sänger und Gitarrist David Crosby erinnert sich beispielsweise an ein Konzert, in dem Coltrane sein Solo beendete, indem er einfach von der Bühne ging, ohne aber mit seinem Spiel aufzuhören. Während McCoy Tyner an der Reihe war, spielte Coltrane in der Garderobe während des gesamten Klaviersolos einfach weiter und kehrte – immer noch spielend – auf die Bühne zurück. Die Szene wirkte damals auf Crosby, als folge Coltrane hier einem inneren Antrieb, der ihm verbot, mit dem Saxophonspiel aufzuhören. Sein Saxophon-Kollege Wayne Shorter glaubt dagegen, dass der Grund für Coltranes panischen Übungsdrang in der Vorahnung eines frühen Todes gelegen habe: »Er muss irgendwas über sein Schicksal gewusst haben. Vielleicht dachte er: Ich muss mich beeilen.«

Von seinen Zeitgenossen wurde Coltrane immer wieder als ruhig, in sich gekehrt, ja, als ein bisschen schüchtern geschildert. Vielleicht ist er auch deshalb als der nachdenkliche Intellektuelle in Erinnerung geblieben, der den Jazz mit Giant Steps zeitweilig zur Theorie-Lektion machte und eine neue Ernsthaftigkeit in die Szene brachte. Gleichzeitig war er der innovative Brückenbauer zu fremden Musikkulturen. Coltrane öffnete den Jazz für asiatische, afrikanische, arabische und spanische Einflüsse. Zugleich galt Trane als begnadeter Sammler, der alle musikalischen Entwicklungen um ihn herum, die stilistischen Innovationen und Experimente, aufsog wie ein Schwamm und im eigenen Personalstil amalgamierte.

In seinem oft klagenden Ton schwang immer ein Versprechen auf etwas noch Unbekanntes, Geheimnisvolles mit, das trotz seiner bedrohlichen Konturen ungleich verlockender wirkte als all die gängigen Jazz-Klischees. Vor allem bleibt deshalb im Rückblick das Bild eines ekstatischen Mystikers, der musikalische Erlösung in der Religion suchte, das role model des meditativen und kontemplativen Sehers, der rauschhaftes Klang-Erleben am Ende über solistische Virtuosität stellte. Nicht zufällig hat sich der Schlagzeuger Jack DeJohnette immer wieder beklagt: »Nach dem Tod von John Coltrane verflüchtigte sich der spirituelle Aspekt der Musik mehr und mehr.«

Am Ende seines Weges, als ihm die Worte und die Töne ausgingen, beherzigte Trane unbewusst Ludwig Wittgensteins philosophische Maxime: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Während draußen in der turbulenten Wirklichkeit der späten sechziger Jahre das soziale Rauschen immer weiter anschwoll und nicht selten in vermeintlich revolutionären Lärm überging, wurde Coltrane immer schweigsamer, zog sich mehr und mehr in die Stille seines Innern zurück. Geoff Dyer schrieb über die Beweggründe der letzten Lebensjahre: »Es ist so, als versuche er, all die Gewalt seiner Zeit in seiner Musik zu absorbieren, um die Welt umso friedlicher verlassen zu können.« Sicherlich hat auch das frühe, selbst für sein engeres Umfeld schockierend plötzliche Sterben von Coltrane – weit vor der Zeit – zu seiner Mystifizierung beigetragen. Schon zu Lebzeiten fast als ein Heiliger verehrt, wurde er nach seinem Tod durch Leberkrebs mit erst vierzig Jahren zu einem Heilsbringer überhöht, zu einer Art »Christus des Free Jazz« – von der Jazzkritik vielfach gekreuzigt, mit der Dornenkrone des »Anti-Jazz« versehen, aber immer ein Erlöser, der den Jazz zum »reinen Spiel« befreite. Inzwischen gilt er als wertvolles Kulturphänomen Amerikas. Längst ehrt ihn eine Briefmarke, eine obskure »Coltrane-Kirche« in Kalifornien feiert ihn seit 1971 als Heiligen und spielt seine Musik in den Gottesdiensten.

Hunderte von Stunden Coltrane-Musik sind mittlerweile auf verschiedenen Labels erhältlich, Millionen von Wörtern sind inzwischen über diesen Saxophon-Giganten geschrieben worden – und noch immer ist die Faszinationskraft des Mannes nicht vollständig enträtselt, der einmal über sich gesagt hat: »Ich weiß nicht, wonach ich suche, außer, dass es etwas sein muss, was noch nie gespielt oder gehört wurde.«

Der Enkel des Predigers

Kindheit und erste musikalische Gehversuche (19261945)

Welcher Jazzmusiker wird schon durch ein Kinderbuch geehrt? Im Jahr 2008 erschien in den USA Before John was a Jazz Giant und machte die Jüngsten mit dem Genius Coltranes bekannt. Die Zeichnerin Carol Boston Weatherford hatte einen Bilderzyklus geschaffen, der Johns Jugend im Süden der USA während der dreißiger Jahre illustriert. Der Text stammt von Sean Qualls:

»Bevor John ein Jazz-Gigant war, hörte er, wie Knochen in Großmutters Töpfen trommelten, Daddy die Ukulele schlug und Mama den Plattenspieler ankurbelte. Er hörte Dampflokomotiven vorbeipfeifen, seine Kusine Mary beim Jitterbug kichern und sah ›Bojangles‹-Stepptänze im Film. Bevor John ein Jazz-Gigant war, lauschte er Großvaters Sonntagspredigten, Mamas Orgelspiel für den Kirchenchor und hörte die Bitten des Pfadfinder-Anführers, der Fähnlein-Band beizutreten. Er nahm das Trillern der Vögel bei Sonnenaufgang wahr, das Schluchzen der Verwandtschaft bei Familienbegräbnissen und die Hurrah-Rufe, wenn er in Paraden mitmarschierte. Bevor John ein Jazz-Gigant war, lauschte er den Bigbands im Radio, seelenvollen Saxophonsoli und jenen Blue Notes, die seinen Namen riefen. Eines Tages nahm er das Horn in die Hand, blies in das Mundstück, presste seine Finger auf die Klappen und verwandelte jeden Sound, den er gehört hatte, in gewagte neue Melodien. Bevor John ein Jazz-Gigant war, war er ganz Ohr.« (Ü. d. A.)

Geboren am Nachmittag des 23. September 1926 in Hamlet, North Carolina, nahe der Stadt High Point gelegen, wuchs John William Coltrane – so sein vollständiger Geburtsname – in eine »black community« hinein, die ihre eigenen Riten, Institutionen und Sound-Ideale besaß.

Am 16. Januar 1920 hatte in den USA die Prohibitions-Ära begonnen. Ein widersprüchliches Jahrzehnt: Das Bundesgesetz, das verbot, Alkohol zu kaufen oder zu verkaufen, zeitigte bald den gegenteiligen Effekt: Tausende von illegalen Nachtclubs – »Speakeasy« genannt – schossen aus dem Boden, die Roaring Twenties nahmen ihren Lauf. Später nannte der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald die zwanziger Jahre »die teuerste Orgie in der Geschichte Amerikas«. Natürlich war dieser zügellose Hedonismus auch eine Flucht aus den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Zunächst begann die US-Wirtschaft aufzublühen: Elektrisches Licht, Kino, Telefon, Erfindungen des späten 19. Jahrhunderts, die bisher nur einer Handvoll von Menschen zugänglich waren, standen jetzt für den massenhaften Gebrauch zur Verfügung. Die Frühform einer Unterhaltungsindustrie mit Dance Halls, Musikverlagen und Clubs expandierte. Zusammen mit der Massenproduktion von Radios und Plattenspielern öffnete sich die US-Musikkultur einem weltweiten Publikum.

Während sich das Land ökonomisch liberalisierte, blieben soziale Zwänge bestehen: Nicht nur im Süden der USA grassierte in den Zwanzigern trotz der »separate but equal«-Doktrin ein größtenteils offener Rassismus. Auch John Coltrane wuchs in einer Stadt auf, die strikt die Rassentrennung praktizierte. Damals gab es in High Point beispielsweise das sogenannte »dual fountain system«: Farbige durften nur aus bestimmten Wasserspendern trinken; für die Weißen waren andere reserviert. In Kinos gab es ebenso Galerien ausschließlich für schwarze Besucher, selbst die Vergnügungsparks waren nach Rassen getrennt. Im Alltag ergaben sich immer wieder Situationen, die einen heranwachsenden Schwarzen an seinen Zweite-Klasse-Status erinnerten: Die abgetragene Schuluniform erhielt er ebenso als Spende von den bessergestellten Schulen der Weißen wie die ausrangierten Lehrbücher. Es waren kleine Kränkungen solcher Art, die noch Jahre später Coltranes Weigerung erklärten, mit seiner mittlerweile erfolgreichen Band im Süden der USA vor einem nach Rassen getrennten Publikum aufzutreten.

Der soziale Druck von außen hatte aber einen positiven Binneneffekt: Nachbarschaftshilfe und Gemeinschaftsgefühl in der »black community« waren außerordentlich gut entwickelt: Man fühlte sich wie eine große Familie. Nach damaligen Maßstäben wuchs John Coltrane in einem schwarzen Mittelklasse-Haushalt auf, obwohl die Wurzeln seiner Familie tief in die unrühmliche Vergangenheit der USA zurückreichten. Coltranes Großvater mütterlicherseits, Reverend William Wilson Blair, war auf der Skinner-Plantage in North Carolina als Sklave aufgewachsen. Doch er hatte Lesen und Schreiben gelernt, sich einen bescheidenen Wohlstand erwirtschaftet, soziale Anerkennung und genügend Autorität erworben, um drei Generationen im Hause Blair/Coltrane zusammenzuhalten. Seine eigene Jugend erlebte Blair trotz der Sklavenarbeit als relativ solide und erträglich, da die Familie intakt blieb und nicht so unbarmherzig ausgebeutet wurde wie die Sklaven im sogenannten Piedmont-Gebiet, dem Quäker-Gürtel des mittleren Carolina.

Als junger Mann arbeitete Blair zunächst als Grundschullehrer, bevor er sich politisch und religiös engagierte und schließlich hauptamtlich der African Methodist Episcopal Church (AME-Kirche) anschloss. 1882 heiratete er Alice V. Leary, die ebenfalls aus einer Familie von Sklaven stammte. Bald stieg Blair zum Pastor der St. Stephens African Methodist Episcopal Zion Church auf. Er unterhielt in High Point das regionale Büro der landesweiten AME-Organisation, war für mehrere Gemeinden zuständig und genoss – unter Weißen wie Schwarzen – hohes Ansehen als eine Art politischer und spiritueller Führer. Später attestierte Coltrane seinem Großvater mütterlicherseits eine geradezu »militante Religiosität«. Blair galt als politisch bewusster Mensch, der die »Back to Africa«-Bewegung des schwarzen Nationalisten Marcus Garvey unterstützte. So eröffnete er unter anderem eine Highschool für afroamerikanische Studenten, die auch John Coltrane später besuchte. In der Coltrane-Familie galt Blair als der unangefochtene Patriarch, der durch seine Autorität und seinen Stolz zum – wie Trane es später ausdrückte – »dominant cat« wurde und seine Souveränität, gepaart mit optimistischer Aufstiegsmentalität, nicht zuletzt aus der überwundenen Sklaven-Vergangenheit schöpfte. Später erhielt Reverend Blair sogar die Ehrendoktorwürde des Livingstone College in Salisbury, auf dem seine 1898 geborene Tochter Alice Gertrude, Johns Mutter, erfolgreich studiert hatte.

Johns Großvater väterlicherseits, Reverend William Henry Coltrane, hatte es noch schwerer: er litt in seiner Jugend unter sozialer Diskriminierung, zumal sein Besitzer, Abner Coltrane, für die schlechte Behandlung seiner Sklaven berüchtigt war und vor körperlichen Züchtigungen nicht zurückschreckte. »Blair« und »Coltrane« waren übrigens beides schottische Namen: die meisten Schwarzen in Amerika wurden damals nach ihren vormaligen Sklavenbesitzern genannt, die in der Regel englische, irische oder schottische Namen trugen. William Henrys soziale Situation verbesserte sich ein wenig, als seine Frau Helen ein bisschen Geld in die Ehe mitbrachte. Ihr Mann trat ebenfalls der AME-Kirche bei, arbeitete zunächst in Hamlet, North Carolina, und später in den angrenzenden Gemeinden. Ihr gemeinsamer Sohn, John Robert Coltrane, geboren 1901, brachte es zwar bald zu einer eigenen kleinen Schneiderei. Dennoch erreichten die Coltranes nie den sozialen und wirtschaftlichen Status, den die Blairs erworben hatten.

Da beide Großväter als Prediger und Vorsänger in der AME Church wirkten, lernte der junge John Coltrane, der jeden Sonntag die Kirche besuchte, schon früh, die transzendentale Wirkung von Musik zu verinnerlichen. Oft hat man ihm später nachgesagt, er versprühe in seiner Musik das erhebende Gefühl von Baptisten-Predigern – dabei waren seine Großväter doch eher als brave Methodisten tätig: In ihren Gotteshäusern wurden kaum Spirituals und geistliche Hymnen gesungen, ihre Kirche galt als nüchterner, als eine Mainstream-Kirche – im Vergleich zur bluesbasierten Holiness-Church mit ihren »Speaking-in-Tongues«-Ekstasen.

Als Johns Eltern, Alice Blair und John Robert Coltrane, sich kennenlernten, arbeitete John Robert in Deacon Johnsons Schneiderei, während Alice nach ihrem Schulabschluss als Hauswirtschafterin angestellt war. Im Jahr 1925 heirateten die beiden. Zunächst lebte das Paar in einem kleinen Appartement, im zweiten Stock einer Pension in Hamlet. Nach der Geburt ihres Sohnes John William Coltrane zog die junge Familie Ende 1926 in den nächstgrößeren Ort, zur Familie Blair in die Price Street nach High Point, einer von Quäkern gegründeten Stadt. Doch schon bald wurde das Mietshaus für die Großfamilien zu eng, zumal auch Alices ältere Schwester Bettie mit ihrem Mann Goler Lyerly und ihrer Tochter Mary unter demselben Dach lebte. Coltranes Großvater, Reverend Blair, beschloss daraufhin, ein eigenes, größeres Haus zu bauen. 1933 zog der Blair-Coltrane-Clan endlich um in die neue Heimstatt, Underhill Avenue 118. Underhill zählte damals zum besseren Teil des Schwarzen-Viertels von High Point, hier lebten Lehrer und Ärzte.

Noch immer ernährte Johns Vater die Familie durch seine Schneiderarbeiten, obwohl er jetzt einen eigenen »pressing club« besaß, eine Art Heißmangel, der auch eine kleine Reinigung angeschlossen war. Coltranes Mutter übernahm zunächst die Rolle der fürsorglichen Hausfrau – später unterstützte sie ihren Gatten als Näherin. Coltranes Vater versuchte sich zwar gelegentlich als Hobby-Musiker an der Violine und Ukulele, doch wenn er zu Hause war, erlebte der kleine John ihn eher als schweigsamen Menschen. Die Mutter hingegen hatte Klavierunterricht erhalten und während der Gottesdienste ihres Vaters Orgel gespielt. Zudem entwickelte sie zunehmend Interesse an der Oper. Durch dieses familiäre Umfeld kam John früh mit der religiösen, im Wesentlichen oralen Kultur in Kontakt: Er hörte die Predigten seiner Großväter, Blues-Schallplatten auf dem Grammophon und im Radio schon früh die Sounds schwarzer Bigbands. Der Trompeter Don Cherry hat später einmal bekräftigt: »Wenn man in eine schwarze Familie hineingeboren wurde, schwamm man regelrecht in Musik.«

Nach den sonntäglichen Gottesdiensten versammelte sich die ganze Familie zum traditionellen Mittagessen mit Maisbrei, Reis, Hafergrütze, gebratenem Huhn, Maisbrot, Kohlblättern und der unvergleichlichen »sweet potato pie«, die lebenslang Coltranes Lieblingsnascherei bleiben sollte. Der Middle-Class-Haushalt, in dem Coltrane aufwuchs, bot ihm früh ein Rollenmodell schwarzer Männlichkeit, das Bildung, Frömmigkeit, Würde und ein selbstbewusstes Ideal von Familienzusammenhalt vereinigte, das sich wenig um ›weiße‹ Vorurteile scherte. In seiner Kindheit muss Coltrane ein stiller Junge gewesen sein, der auf seine Umgebung immer ein wenig einsam wirkte – obwohl seine Kusine Mary oft für seine Zwillingsschwester gehalten wurde, da die beiden als Kinder unzertrennlich waren. Sein bester Freund in jenen Tagen war der ein Jahr ältere Franklin Brower, der in derselben Straße wie John wohnte. Nach seiner Erinnerung galt John Coltrane wegen seiner Liebenswürdigkeit und höflichen Art als »everybody’s darling«. Er war immer korrekt gekleidet und freundlich zu jedermann. Vielleicht hatte er deshalb auch nie einen Spitznamen, er wurde von allen nur John genannt. Während seiner Zeit auf der Leonhard Street Elementary School – er besuchte sie ab September 1932 – galt er als fleißiger Schüler und war ein so normaler Jugendlicher, dass er schon fast langweilig erschien.

Johns sportliche Aktivitäten hielten sich in Grenzen, er spielte nicht schlecht Hallenbaseball, war athletisch, hatte aber keine großen Wettkampf-Ambitionen. Seine Rollschuhe der Marke »Union Skates« – ein Weihnachtsgeschenk – liebte er dagegen heiß und innig. Mit Freunden raste er die hügeligen Straßen in Underhill herunter, oft rückwärts, um das Risiko zu steigern. Befestigte Bürgersteige gab es damals kaum, Autos waren noch nicht verbreitet. Da John und Franklin Brower nie Fahrräder besaßen, dienten die Rollschuhe ihnen als Verkehrsmittel, um die ganze Stadt zu erkunden. Doch selbst bei ihren Streifzügen durch die Viertel der Weißen bekamen sie nie ernsthafte Probleme. »Wir kümmerten uns einfach nicht um die Weißen, empfanden auch keine Diskriminierung. In sozialer Hinsicht hatten wir einfach wenig mit ihnen zu tun« (Franklin Brower).

Weil er als zuverlässig galt, ernannte man Coltrane zum Schülerlotsen, was allgemein als Auszeichnung empfunden wurde. Die Nachmittage mit seinen Freunden waren von normalen, jungentypischen Vorlieben geprägt: Man diskutierte über Football- und Baseball-Spiele, interessierte sich für die neuesten Automodelle und für solche existentiellen Fragen wie: »Welches ist am stromlinienförmigsten?« Dabei stimmte der junge Coltrane nie in die beliebte Heldenverehrung irgendwelcher Sportstars ein. Ihm hatten es dafür Filme und Comic-Hefte angetan, besonders die Doc-Savage-Abenteuer – eine Art Vorläufer von Indiana Jones. Laut Franklin Brower versuchten er und John sogar selbst, Comic-Stories im Stile von Doc Savage zu zeichnen, wobei John für die Bilder und Franklin für die Geschichte zuständig war.

Doch schon bald war es mit Johns unbeschwerter Kindheit vorbei: In seinem siebten Schuljahr wurde die Coltrane-Familie von einer Reihe schwerer Schicksalsschläge heimgesucht: Am 11. Dezember 1938 verstarb der geliebte Großvater Reverend William W. Blair. Knapp einen Monat später, am 2. Januar 1939, folgte die nächste Katastrophe: John Robert Coltrane, Johns Vater, starb an einem zu spät erkannten Magenkrebs. Und am 26