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Meine süße blonde Mutter ist auf meinen Vater total abgeflogen. Die Bilder von damals, wie die beiden sich anhimmelten, die Fotos sagen alles.

Später jedoch hat meine Mutter sich auch anders verhalten. Männern hinterhergewohnt, einmal sogar mich, ihr Kind, zurückgelassen. Doch was sollte sie tun? Mama auf der Suche nach dem Glück. Ich hätte sie auch geheiratet, später. Besser ich als ein schlechter Vater, simples Einmaleins. Darum: kein Vorwurf, kein Wort je aus meinem Munde. Sie hat mit ihrer Liebe wirklich alles gut gemacht.

Hans und Horst sind längst tot. Hans kam aus Hamburg, sah aus wie ein Ufa-Star mit seinem energischen Kinn, kleidete sich verwegen und elegant zugleich. Der hätte jede haben können, sagte Urgroßmutter Hilde. Hans wurde Diplomingenieur und hatte zwei Söhne mit Hilde, der ältere ist mein Opa, Hans-Peter. Der wiederum wurde Marinesoldat der neuen Armee im neuen Deutschland und verliebte sich in Walburga, Sekretärin des FDGB-Chefs von Dresden. Sie heirateten, ihr Kind ist Liane, meine Mutter. Liane war bereits die zweite Generation, die versuchte zu vergessen. Danach kam ich.

Die Erinnerungen an die Urgroßväter Hans und Horst stammen aus Opas Fotoalben und geheimen Kisten. Abenteuer, Flugzeuge, Piloten. Der Zweite Weltkrieg beherrschte ihre Jugend, im Namen des Wahnsinns und des deutschen Volkes in Russland, Frankreich, Sizilien. Ein Mal abgeschossen, ein zweites Mal, Horst sogar drei Mal. Horst, der geborene Pilot, und Hans, der Kradmelder, weil einen Zentimeter zu klein zum Fliegen, doch später durfte er zur Luftwaffe. Die Risikobereitschaft und der Überlebenswille der beiden schienen besonders ausgeprägt. Tatsächlich jedoch gab es Drogen für das Heer, allerfeinste Amphetamine. Bomber-Piloten-Pervitin, damit Töten und Getötetwerden nicht so auf die Seele gingen, während sie hellwach von Frankreich über den Kanal flogen, »um England in Schutt und Asche zu legen«. Es folgte Geschichte. Deutschland, Blitzkrieg, der Untergang, ein Fußballwunder, Biker-Gangs. Und alle waren scharf auf diese Droge.

Die Soldaten haben fast das gleiche Zeug bekommen, das heute in den »Küchen« Tschechiens gebraut wird, nur viel sauberer. Die müssen unglaubliche Krämpfe gehabt haben, als im Kessel vor Stalingrad die Lieferungen ausgeblieben sind. Mit der Waffe im Anschlag versagt der Arm den Dienst. Aus.

Niemand achtete auf die schmalen Gesichter, Methylamphetamin lässt die Muskeln kontrahieren, du wirkst straff und gesund, siehst gut aus. Nur sind da keine Reserven, und wenn du runterkommst oder dich fallen lässt, wirst du sterben.

Das macht Methylamphetamin, es zieht an den Reserven, die Paranoia beginnt, wenn kein fettiger Schutz mehr unter der Haut bleibt. Genau der Zustand, vor dem wir irgendwann Schiss haben sollten, warum wir keine Diäten machen oder als Fünfzigjährige beginnen sollten, Marathon zu laufen. Es hat Soldaten ihr Leben gekostet, im Osten, nicht für Blut, Boden und Vaterland, sondern weil ihr Fett längst verbrannt war.

Methylamphetamin ist die ideale Substanz für Verschwörungssucher und alles andere als eine Party- oder Modedroge. Der Strichcode in einer geklauten Jacke, ein sehr bedeutungsvoller Strichcode, wird zum Rätsel, einem Beweisstück. Du wirst hochgradig unkommunikativ, jede Frage ist eine Unterstellung oder ein Angriff, bist im Zustand permanenter Verteidigung. Du suchst nach Geheimnissen und Fehlern, überall, bei den Freunden, deiner Familie, den Nachbarn. Selbst ein schiefgewachsener Baum vor dem Fenster wird zu einem Zeichen oder Symbol, muss ja einen Grund haben, dass er sich so verneigt. Dein verzerrtes Spiegelbild grinst dich an und macht dich glücklich.

Glück besteht nur aus Erinnerung, ausschließlich die »Drops« bleiben haften. Ortswechsel und Freundschaften sind unlogisch und wahllos, denn eine Droge hechtet von Kick zu Kick. Das macht Meth-User zu tragischen Menschen, weil sie keine Rücksicht nehmen auf ihre Zustände, sie sind nur noch »drüber«. Einer Meth-Biografie fehlen kostbare ruhige Momente, im Sonnenuntergang ein Buch zu lesen, guter Espresso. Die leisen Bilder fehlen oder sind schnell vergessen.

Ich will das nie wieder haben, ein Leben, das nur aus Kicks besteht.

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1.

Anja schlief noch. Eric hatte Muffin auf dem Arm, streichelte ihn, obwohl er den Hund nicht leiden konnte, weil er überall seine Haare verteilt hatte. Jeder Bewohner markiert sein Revier auf besondere Art. Die Heizung auf Anschlag, Anja liebte Wärme. Das Laken verrutscht, sah hübsch aus, ihr brauner nackter Hintern. Schade, dass sie hier schon mit Lars, ihrem Ex, gewohnt hatte, schade, dass der Hund so hieß. Eric nannte ihn jedenfalls Lars, den Jack Russell mit dem Namen »Muffin«.

Musste duschen, kaum geschlafen, eine zerschossene Nacht mehr in Heidenau. Mit dem Tütchen saß er auf dem Klodeckel, wusste nicht, wie lange schon. Ließ die Seiten eines Buches durch die Hände gleiten, ein sehr feines Geräusch, das mochte er, tat tat tat tat … Eine Frage ist eine Frage. Kristalle in Plastiktüten können keine Antworten auf schwer zu lösende Fragen geben. So würde Eric sich auch nicht verteidigen können, dafür war er zu zittrig, zu unsicher.

Sie würde für mindestens drei Stunden reichen müssen, die Tüte zur Reserve, ein viertel Gramm. Nicht, um das Bewusstsein zu verändern oder schön feiern zu gehen. Es diente der Verteidigung. Er suchte leise die Zettel zusammen, seine »Akten«, verteilt in den Schubfächern. Beweise, Aufzeichnungen, ein komplettes Dossier. Nur nicht das Fotoalbum vergessen. Irgendetwas fehlte ihm ständig. Suchaufgaben waren die perfekte Beschäftigung in schlaflosen Nächten. Wie heute, vor seiner wichtigen Verhandlung.

Ziemlich viel Papier wegen einer geklauten Jacke. Nicht geklaut, umgewidmet, gerecht-gerechnet. Die Hälfte vom Preis zu bezahlen war mehr als fair. Märkte und Ökonomie, eine Lektion aus Erics Zeit in der Fachoberschule.

Der Fernseher lief wie immer, nur damit sie schlafen konnte. Ein Aschenbecher neben dem Bett, rauchen ist so viel besser als schlafen oder die Stille. Eric wartete im Fenster sitzend auf sein Taxi, das er am Abend zuvor reserviert hatte. Hinter dem Bett die Kleiderhaken, dort hing die Jacke. Anja wurde wach, als er die Tür schloss. Vorbei an den Briefkästen im Treppenhaus, sie hatte panische Angst davor, den Briefkasten zu öffnen. Gelbe Post von Behörden, Vorladungen, und immer wieder die schlechten Nachrichten vom Arbeitsamt. Das Taxi wartete schon.

»Amtsgericht Pirna, das Gericht auf dem Hügel.«

»Kenne ich. Hat mich ein Kollege damals hingefahren.«

Der kannte also Zeithain, den gemäßigten Strafvollzug für Unentschlossene. Eine Tätowierung zwischen Daumen und Zeigefinger des Taxifahrers verriet ihn. Fünf blaue Punkte, vier Wände und ich, das soll beruhigend wirken beim Alleinsein, beim Warten darauf, dass es irgendwann vorbei ist.

»Dreißig fünfzig, bitte.«

PIRNA, AMTSGERICHT, KLEINER SAAL, 09:00 UHR

DER FREISTAAT SACHSEN GEGEN ERIC STEHFEST

Im Namen des Volkes wurde das Licht gedimmt, leises Läuten. Die im Saal und die auf der Bühne erhoben sich, der ehrwürdige Richter erschien, nahm jedoch Platz hinter den Zuschauern, ganz links hinten. Von dort kamen die besten Auftritte, von links hinten nach rechts vorn. Man sollte nur wissen, dass der Richter dort sitzt, mit der gebotenen Autorität, denn er würde in den folgenden zwei Stunden kein einziges Wort sagen.

Deutschland am Mittwoch, dem 05.08.2009. Die Zahl der an Schweinegrippe Erkrankten stieg weiter, im Kölner Oberlandesgericht wurde ein Theaterstück über einen wahnsinnigen Schauspieler verboten.

Auch in Pirna in Sachsen tagte ein Gericht im Haus des Amtsgerichtes, Saal zwei. Natürlich sitzen Richter immer auf der Bühne, rechts und links die Schöffen, zu deren Seite der Staatsanwalt.

Der Angeklagte Eric Stehfest musste warten, bis der Staatsanwalt seine Grußformel beendet hatte, durfte überhaupt nur nach Aufforderung sprechen. Unter den Zuschauern eine Schulklasse, Erics ehemalige Klassenlehrerin, die »Chorleiterin«, machte heute einen Ausflug in Gemeinschaftskunde mit einer siebenten Klasse. Die Schüler durften auch kein Wort sagen, nur Eric ab und zu winken.

Er wusste, warum er nicht längst weggesperrt worden war. Die anderen in den Clubs und Gangs – die anderen waren viel älter. Sieben Vorstrafen, alles Kinderstrafen. Entschuldigung, Täter-Opfer-Ausgleich, paar Arbeitsstunden, Antiaggressionstraining. Nur keine Haft, er war immer als Mitläufer durchgegangen, weil die Richter seinen Lügen geglaubt hatten. Heute würde es gefährlich werden, obwohl er nur eine Jacke geklaut hatte. Jetzt kamen die Vorstrafen hinzu, ihm drohten fünf Jahre Freiheitsentzug.

»Sie haben den mehrfachen Hinweis, sich einen Anwalt zu nehmen, missachtet. Warum?«

Der Staatsanwalt führte die Befragung, während der Richter nur zuhörte.

Eric wollte sich selbst verteidigen. Dabei – des Stiefvaters Schwester war Anwältin. Die Stieftante, seine halbe Tante, klar hätte die ihren Neffen erneut rausgehauen.

Nicht nötig, ich weiß, was ich nicht sagen darf. Ich kann mich gut erinnern, Paris 1942, Richtung Flugplatz, da schenkte ich Hilde ihren Ring. Ich sagte, Hilde, weine nicht, schau nach Osten. Sie gab mir einen letzten Kuss.

AUS DEM PROTOKOLL:

»Herr Stehfest, wissen Sie, welcher Tag heute ist?«

»Entschuldigung, ich fange besser von vorn an. Es beginnt 1989, Mama hatte eine schwere Geburt, ihr Kind war zu dick. Mach dir keine Sorgen, Mama, sagte ich, das bleibt nicht so. Sie wusste nicht, ob ihr Kind ein Junge oder Mädchen sein würde, und dann der Kaiserschnitt, weil der Kopf so riesig war. Die Ärzte fragten sie nach zwei Namen, kurz vor der Narkose. Das müssen Sie sich vorstellen, Herr Staatsanwalt, sie sagte nicht Eric ›oder‹ Christin. Sie hat ›und‹ gesagt.«

»Und dann, Herr Stehfest?«

»Ja was schon, es wurde Eric.«

Er musste kurz nachdenken, kurz verschwinden, denn die Wirkung ließ gerade nach. »Darf ich mal aufs Klo?« Die drei Stunden waren vorbei. Auf der Toilette rutschte Eric ein Monolog von Brecht aus der Tasche, fast hätte er seinen Joker vergessen.

Der Staatsanwalt erwartete eine typische Drogengeschichte, und er wurde von Eric nicht enttäuscht.

AUS DEM PROTOKOLL:

»Nehmen Sie bitte wieder Platz.«

»Danke, ich habe schon zu viel gesagt. Entschuldigung.«

»Bitte?«

»Ich bin etwas aufgeregt. Das mit der Jacke wird nicht mehr vorkommen. Wir haben uns getrennt.«

Das Wirrwarr der losen Blätter, einige in Folien, andere in Kuverts. Hildes Worte, »einer von uns beiden muss es sich merken«. Als hätte sie geahnt, dass sie dement werden würde und Eric nach Zetteln suchen müsste.

»Ich habe ihn gleich, Herr Richter.«

Hilde, der Krieg ist vorbei. Ich war nur drei Jahre in Gefangenschaft.

»Herr Stehfest, setzen Sie sich bitte wieder. Sie sind zwanzig Jahre alt, ledig, wohnhaft in Dresden?«

»Mein Name ist Eric Stehfest. Darf ich das bitte selber vortragen?«

Der Staatsanwalt lehnte sich nach hinten, Eric wühlte weiter in seinen Dokumenten.

»Das können wir uns eigentlich schenken, Herr Staatsanwalt. Außerdem finde ich die Seite nicht. Wäre doch besser, wenn Sie beginnen.«

Die Anklage wurde verlesen, Juristendeutsch, endlose Schachtelsätze.

AUS DEM PROTOKOLL:

»Folgende Feststellungen ... zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten. Reife- und Entwicklungsdefizite. Es liegen schädliche Neigungen vor ...«

Eric wusste sehr genau, warum er sich selbst verteidigte. Er wollte keine Anwältin, die ihm die Hand auf die Schulter legte. Die alberne Sätze sagte wie: »Lass mal gut sein, sprich auf gar keinen Fall, außer, wenn ich dich dazu auffordere.«

»Bleiben Sie bitte sitzen, Herr Stehfest. Wir haben keine Eile. Ich zähle jetzt im Kopf von 1989 bis 2009, sagen Sie einfach ›Halt‹, wenn Sie wissen, welches Jahr heute ist. Oder fangen Sie von vorn an.«

Eric legte los, als hätte er nur auf diesen Augenblick gewartet.

»Prag, es war in Prag, ganz klar. Nein Paris. Oder doch Prag? Wir können Hans nicht fragen, aber Oma, seine Frau.«

Noch heute redet man in Marnitz kein Wort darüber. Marnitz, das kann kaum jemand fehlerfrei schreiben. Wir wollten das Zeug gar nicht schlucken, doch Befehl war Befehl.

»Das muss ein Irrtum sein, Herr Stehfest. Wir sprechen über Dresden und Freital. Und über ein Warenhaus in Heidenau.«

Noch gab es keine Drogenkontrollen vor den Verhandlungen, vielleicht war das ein Fehler.

»Sie sind Eric Stehfest, das ist doch korrekt? Geboren am sechsten Juno 1989 in Dresden.«

»Ja?«

»Herr Stehfest, Sie erinnern sich daran, dass Sie am 9. Mai dieses Jahres verurteilt wurden, im Amtsgericht Dippoldiswalde, für ein Delikt mit schwerem Raub und Körperverletzung?«

»Ja?«

»Nur einen Tag später klauten Sie eine Jacke in einem Warenhaus, obwohl Ihnen klar sein musste, dass Sie dabei Ihre letzte Chance verspielen. Darüber reden wir heute.«

»Klar, Herr Staatsanwalt.«

Nur – Hilde kann sich an nichts davon erinnern. Ich war gerade bei ihr, habe sie besucht, auf der Station. Kein schöner Anblick. Wenn sie nicht um sich schlägt, starrt sie auf die Nordsee. Sie erkennt mich nicht mehr.

»Heute ist ein besonderer Tag. Ich bin so glücklich, endlich studieren zu dürfen.« »Entschuldigen Sie, Herr Stehfest. Bevor wir uns missverstehen, noch einmal Fakten.« »Einen Moment nur, ich muss kurz in meine Unterlagen schauen. Ich kenne übrigens alle Fakten.«

Eric holte das Fotoalbum heraus, weiß beschriftet, in großer lockerer Handschrift, »Türkei 1999, Ohrenschmerzen«.

Was für ein Ausflug, welch kluges Ablenkungsmanöver von Liane, der Urlaub unter Palmen. Zum Trost für beide, denn gerade hatte Erics Vater sie endgültig verlassen.

»Sie können sich bestimmt vorstellen, Herr Staatsanwalt, wie es ist auf dem Dorf, mit meinem Familiennamen. Da sitzt man schnell mal weich.«

In Ihren Unterlagen, Sie sprechen immer von einer Anja Hilbig. Sagen Sie das bloß nicht Hilde.

Wirklich dumm, dass die im Gericht keine Drogenkontrollen machten.

2.

Die Landkarte von Erics Leben enthielt nur drei Orte. Possendorf, die Kleinstadt Freital, wo er zur Schule ging, und Hänichen. In Hänichen entstand gerade das Familiennest, das »Haus der sieben Schwestern«. Doch nichts übertraf die Langeweile von Possendorf, einem Buswendeplatz mit Asia-Imbiss und drei Häusern.

Auf alten Schulfotos saß Eric neben längst vergessenen fremden Kindern, die Orte hatten zu schnell gewechselt. Seine Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, hatten mehr Glück. Sie hatten Freunde gefunden, durften sie behalten. Auch ihren Papa durften sie behalten. Wenn Eric an seinen Vater dachte, sah er nur Bilder der Trennung. Wie seine Mutter und er sich anbrüllten und Türen knallten. Keine einzige Erinnerung daran, dass er einfach bei ihnen war. Nur wie Liane weinte. Blieb immer ein Scheißgefühl, insgeheim auf jemanden zu warten, den man gleichzeitig hasste.

Eric skatete mit seinem neuen Board über den Buswendeplatz von Possendorf, nur zwanzig Kilometer von der Stadt Dresden entfernt. Bisher hatte Opa ihn immer abgeholt zu den Besuchen nach Dresden, bis Eric dreizehn war durfte er nie allein fahren. Jetzt musste aber eine Entscheidung getroffen werden, weil er kein Dorfkind bleiben wollte.

3.

Andy, fettiger Topp-Schnitt, bisschen länger als Topp. Klein, doch die größten Freundinnen, weil er verbraucht wirkte. Eric stand daneben wie ein Bubi, ein kleiner Süßer, dem man in die Wange kneift. Zentriert, geradegerückt, mit der Ausstrahlung eines Enkelsohnes. Er versuchte Andy zu gleichen, sich die Haare nicht mehr zu waschen. Dafür wurde er zum Therapeuten von Andys Verflossenen, wenn die sich ausheulen wollten.

Andy war wenig Körper in zu weiten Klamotten. Ein ewiges Grinsen sein Markenzeichen. Grinste immer und war bekifft, bevor er gekifft hatte. Guter Stil beim Skaten, extrem weich. Er liebte die breiten Boards, acht Inch. Immer einen Edding in der Tasche, um auf Bahnsitze zu taggen. Andy war ein Weltklasse-Gamer und Skater. Unter seiner Joggingjacke kroch eine Ratte herum, meist sah man nur ihren Schwanz. Warf einmal ein offenes Tintenfass nach seiner Mutter, der Meisterdieb. Die Jacke am Bund nach innen gefaltet, spazierte er gelassen durch die Regalreihen des Warenhauses. Warf in den Kragen Süßigkeiten oder Disketten, wurde nie dabei erwischt. Die Jacken waren perfekt zum Klauen, besonders als die ersten MP3-Player auftauchten.

Andy stand als Erster den »Kickflip«, wo das Brett sich beim Sprung 360 Grad um die eigene Achse dreht. Auf dem Parkplatz vor dem Warenhaus, ihrem Treffpunkt, behauptete Eric, dass er den Flip auch könne. Einfach behauptet, als sie dort in Jogginghosen und Kapuzenpullovern rumhingen.

»Kann ich auch.«

»Zeig.«

Gestanden. Schwein gehabt, Junge, sollte man sich nicht drauf verlassen. Leider waren gerade keine Mädchen in der Nähe, die hätten ihn dafür abgeknutscht. Nicht den Bubi, sondern einen richtigen Kerl.

Eric brauchte ständig neue Röntgenpässe. Gingen ständig zu Bruch, Finger, Mittelhandknochen, Schmerzgrenzen. Kein einziges Weihnachtsfoto existierte ohne blaue Gipsbandagen.

Andy und Eric skateten durch ihre Geisterstadt, die Straßen waren für sie immer leer, selbst wenn sie es nicht waren. Als Andy mit seiner Mutter nach Dresden zog, war das alte Bruchhaus nebenan kein Gespensterschloss mehr. Vorbei die Gruselstunden auf Andys Couch. Wenn seine Mutter zur Nachtschicht fuhr und sie heimlich »Es« anschauten, mit dem Clown, der kleine Kinder frisst, während sie schlafen. Andy und Eric liebten Horrorfilme.

Ein Bus alle vierzig Minuten, eine einzige Haltestelle, eine Hauptstraße, ein Friseur. Nichts war mehr komisch oder aufregend. Auf dem Parkplatz vor dem Warenhaus war Eric allein. Ohne Publikum kein Kickflip, kein Handstand, nackt auf dem Board. Blieben das Haus der sieben Schwestern und der Stiefvater mit dem Staubsauger, »der Junge soll die Schuhe ausziehen«. Eric war ein guter Junge, der auf dem Fensterbrett hockte, während in der Nachbarschaft ein Haus nach dem anderen unbezahlt blieb. Hänichen wurde für die nächsten hundert Jahre zur Baustelle, Väter kamen und errichteten in der Nachbarschaft die nächsten Häuser für sich und die nächsten Schulden. Einziger Trost blieb der Spaß, den man mit einem steifen Schwanz haben konnte, vorausgesetzt, man blieb dabei ungestört. Zur Strafe für eine begangene Schweinerei endete der Kabelanschluss vor Erics Zimmer. Nicht einmal der Schwanzvergleich mit Philipp im Park konnte das Verlangen nach der großen weiten Welt stillen, das mit Andy in die Großstadt gezogen war.

Der kleinste von Erics Freunden, noch kleiner als Andy, mit einer coolen Spuck-Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen, Philipp. Wenig Haare auf dem Kopf, dafür viel Bart im Gesicht, später. Ein kleiner Sachse und Skifahrer. UFC-Fighter, viel Kampfsport trainiert, etwas zerbeult, hatte zu viel eingesteckt. Sehr familiär, so war er schon als Kind. Sein Vater auch ein Pitbull. Einer, der mit dem härtesten Knochen des Menschen, dem Ellenbogen, die weichste Stelle eines Auto zerschlug, um durch das Loch in der Scheibe den Fahrer zu ziehen, weil der ihn »unsportlich« überholt hat.

Ein grauer Winter begann. »Kauf mir eine Jacke aus Holz, Mutter.« Diese Späße verstand Liane nicht, während Andy sich schlapp gelacht hätte. Die langen Abende an den Wochenenden, die Eis-Disco. Hatte Mama ihm beigebracht, rückwärts zu kurven, gelernte Eiskunstläuferin. Danke, Mama, dafür bekam er seinen ersten Zungenkuss von Lydia. Die lag am nächsten Tag mit einer Alkoholvergiftung im Schulhaus. Lydia war extrem hässlich wenn sie heulte oder eine Alkoholvergiftung hatte.

4.

Schule, sieben Uhr aufstehen, zum Buswendeplatz, zwei Zentimeter Abstand zwischen Bus und Bordstein. So riesig war der Ort, an dem Andy ihn zurückgelassen hatte. Eric zeigte sein Ticket, fuhr mit den anderen Dorfkindern zur Schule nach Freital. Ließ absichtlich die Schultasche im Bus liegen, um sie in der Fundstelle wieder abholen zu können.

Freital schmeckte nach Milch. Eric dachte an Kühe, an Weiden, wenn er aus dem Fenster der Schule schaute. Er hatte immer dieses »Gefühl von Milch«.

Im Jungenklo der »Waldblick-Mittelschule« biss Eric sich die Unterlippe blutig, nur um nach zwei Schulstunden wieder nach Hause fahren zu dürfen. Er hatte die Wahl zwischen acht Stunden Unterricht, danach Chor mit der gleichen Lehrerin, oder zu Hause Fernsehen. Die »Gummibärenbande«, »Darkwing Duck«, die »Kickers«, »Dragonball-Z«. Eric war »Son Goku«, der mit der fliegenden Wolke, durfte aber Mama nicht wissen. Das Einzige, was Eric wirklich fehlte, war eine fliegende Wolke.

»Ja, ja, ja!«, so lautete der Befehl, die Mission. Toll, Andy war fort und Son Goku sagte »Zero or die«. Stand auch auf Erics Skateboard, mach es endlich oder stirb. Der Bus aus Tschechien fuhr weiter nach Dresden, Eric stand mit dem Skateboard an der Haltestelle und übte die immer gleichen Tricks.

Er beschimpfte andere in der Schule, klebte viele böse Worte aneinander, bis zur »Arschfickfotze«, als die Direktorin ihn und Liane vorlud. Eric versprach Besserung, ich mache auch mit beim Schultheater. Wie anständig von dir, fand die Schulleiterin, deren Aufgabe es war, Kindern die Welt und das Leben zu zeigen. Ein großer Teil des Unterrichts waren Bastelstunden, darum war es viel interessanter, aus dem Fenster zu schauen, während die Schultage vergingen. Bastelt euch nur tot, das wollte Eric nicht teilen oder lernen, er suchte nach einem beschleunigten Übergang vom Kind zum Großsein. Stundenlang hockte er im Straßengraben der einzigen Hauptstraße, brachte die Trucks zum Hupen, die durch das Dorf fuhren. Noch gab es keine Autobahn nach Prag, die den gesamten Verkehr schlucken würde, als hätte es niemals die Lawinen von Fahrzeugen gegeben und die Büdchen hinter der Grenze, wovon die älteren Kinder unglaubliche Geschichten erzählten.

Immerhin konnte Possendorf mit tollen Dorffesten aufwarten – »Besuchen Sie Freital im Ost-Erzgebirge!« Wo Dreizehnjährige zu Mittag Cola-Bier trinken, zu Schlagermusik Tangas durch die Luft fliegen, wo sich Väter beim besoffenen Spagat schwere Verletzungen zuziehen. Sommerfeste, Gerangel auf dem Vorplatz der Schule, Eltern, die ihre Kinder beim Topfschlagen anfeuern.

Highlight des Jahres war das sogenannte »Teichfliegen«, der Rest der Welt nennt es Seifenkistenrennen. Selbstgebaute Vehikel, die über eine Rampe in den Dorfteich fliegen mussten – sollten. Viele brachen schon beim Anlauf auseinander, der absolute Wahnsinn. Im Anschluss Big Party, ein DJ mit einer einzigen CD, ein Würstchenstand, ein kleines Bierzelt. Philipps Eltern besaßen eine Laube neben dem Dorfteich, so bekam Eric einen VIP-Ausblick auf das Flugfest. Wie sollte er hier die nächsten Jahre überleben?

Die Blitzer an der Fernstraße reagierten noch auf Radfahrer, also die Straße hinauf, hinunter, Blitz auf Blitz. Auf dem Friedhof ein kleiner Trompeter, der bei den Beerdigungen für traurige Musik sorgte, der hatte Eric ein paar Mal angesprochen. Ein Trompeter suchte Nachwuchs für einen sterbenden Beruf, das war toter als tot. Wirklich letztes Abenteuer war ein Haus in einer Seitenstraße mit einem mumifizierten Hund vor der Tür. Das Haus der Wagners, der wahnsinnige Vater hatte es angezündet, ein brennender Vater hinterließ ausgebrannte Kinder und einen toten Hund. Zwei ausgebrannte Kinder, nein, natürlich waren sie davongekommen, die konnte Eric trotz ihres Unglücks nicht leiden.

Neben dem Buswendeplatz hatte ein asiatisches Restaurant eröffnet, großartig gebratene Nudeln mit Hühnerfleisch, und ein sehr beliebter Wettbewerb, besser als jede Mutprobe. Wer kippt ein ganzes Chili-Glas über seine Nudeln und überlebt das Essen? Es brannte im Mund noch länger als das Haus der Wagners. Unter den Gewinnern der Chili-Esser belegte Eric Platz neun von zwei.

Dabei wartete nur wenige Meter weiter die Erlösung, mehrmals täglich fuhr mit dem Zwei-Zentimeter-Abstand zum Bordstein die 3-6-0, der Linienbus nach Dresden. Hier ist deine fliegende Wolke, Eric. Eins achtzig pro Fahrt und ein Schülerausweis.

Die Winter-Traumreise mit Papa nach Österreich, niemand sonst hatte Eric auf eine Reise mitgenommen, außer in die Türkei, die Reise mit den Ohrenschmerzen. Nur Papa und Liane waren mit ihm verreist, und irgendwie auch Andy. Andy war fort, also wartete er auf Papa. Scheiß auf Papa. Er ließ neun Busse abfahren, in den Zehnten stieg er ein.

Dresden hat sehr viele Bewohner, doch nur wenige Orte, wo sich Skater treffen. Eric landete genau am richtigen Ort, vor dem Kristallpalast, einem Kino. Noch war die Zeit der Telefonzellen, sodass Mama nicht ständig anrufen und Fragen stellen konnte. Wo Eric gerade wäre oder wann er wieder nach Hause käme. Klingelnde Telefonzellen gab es offiziell nur im Fernsehen.

Eric fand Andy und seine Ratte schon beim zweiten Ausflug. Der hatte schnell seine Hausaufgaben gemacht, war kein Dorfkind geblieben. In der Halfpipe an der Petersburger Straße wurden Tricks ausprobiert, sogar die Bordsteinkanten waren gewachst, um besser »grinden« zu können. Das Hartwachs klauten oder »borgten« sie bei den Eltern, die damit Skier wachsten. Eric fand nicht nur Andy wieder, ohne den von Freital nur noch die Spielbühne interessant geblieben war, sondern eine richtige Skater-Gang.

5.

»Spielbühne« heißt das Theater in Freital. Stefan Oehme, ein Schulfreund Erics aus einer christlichen Familie, verbrachte dort viel Zeit. Die beiden hatten Sketche von den DDR-Comedians Herricht und Preil geübt und in der Schule aufgeführt. Dafür gab es einen wichtigen Satz im Zeugnis, neben der Fünf in Betragen. »Eric engagiert sich sehr im kulturellen Leben der ›Mittelschule Waldblick‹.«

Die Spielbühne lag etwas abseits, in einer Halle hinter einem Schrottplatz, betreut von einer guten Seele. Hannelore Umlauft hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in einer Provinzstadt ein Jugendtheater zu betreuen. Ein kleiner Schaukasten neben dem unauffälligen Eingang, unten die Hausmeisterwohnung, dahinter eine Steintreppe ins Obergeschoss. An der Wand ein Pfeil, weiß auf schwarz, »Jugendbühne«.

Die andere gute Seele war der Regisseur Mario Grünewald. Bei ihrer ersten Begegnung fragte er Eric nicht, ob er mitspielen wolle, machte auch keinen Test mit ihm.

»Kannst du lesen? Der Text liegt da drüben auf dem Pult. Du bist die Birke. Na los.«

Mit der »Sonderbaren Reise des Herrn Tannenbaum« begann das zweite, vorerst geheime Leben des Eric Stehfest.

Dieser Ort war magisch, der Regisseur ein richtiger Schauspieler, Mitte 30. Nach Herricht und Preil, die nur herumalberten, und Erics Zwischenspiel als Frontmann einer Mädchentanzgruppe, endlich Rollen in einem richtigen Theater. Egal, dass es sich im Hinterhof eines Schrottplatzes befand, zwischen alten Containern.

Erics Schuldirektorin, die sein Geheimnis kannte, hatte es wirklich drauf, in der Spielbühne anzurufen. Forderte rotzfrech den Rausschmiss von Eric aus dem Theater, weil er zu vorlaut wäre. Als würden im Laientheater nicht genau diese Kinder gesucht, um sie abzulenken oder mit Sprache auszustatten. Hannelore Umlauft, Leiterin der Jugendbühne, war die schlechteste Adresse für eine Direktorin, um sich über missratene Schüler auszuheulen.

PIRNA, AMTSGERICHT, KLEINER SAAL, 09:34 UHR

AUS DEM PROTOKOLL:

»Eine Frage, Herr Stehfest, wer ist Hannelore?«

»Das Gespräch, Herr Staatsanwalt, hätte ich auch gern mit angehört. Frau Hannelore machte eine vorlaute Direktorin herunter, oder ließ sie ausgesprochen höflich abblitzen. Hat sie mir kurz danach erzählt, und dass ich mir von einer Direktorin nichts sagen lassen müsse. Eigentlich meinte sie: ›Weiter so, Eric.‹«

6.

Eric fuhr wann immer er konnte zu Andy nach Dresden. In der Küche stand ein »Sandwichmaker«. Eric und Andy ernährten sich fast nur davon, Toast und Ketchup, manchmal auch Ketchup mit Toast. Ohne zu kiffen schafft man bestenfalls zwei trockene Toastscheiben, so wurde auch daraus ein Wettbewerb verschiedener Gewichtsklassen. Zwischen Eric, dem dreizehnjährigen Fliegengewicht, und seinem älteren Freund.

Eric saß auf Andys Fensterbrett. Zwischen den Neubauten der Nachbarschaft dröhnte die Musik von Eminem. Gegenüber ein wunderschönes Mädchen – Lilli, die war vielleicht sechzehn. In die hatten sie sich beide verguckt. Taten cool und hingen mit einem Joint am Fenster. Hatten sich irgendwann sogar mit einer Rasierklinge »Lilli« in den Arm geritzt, beide. Und nie darüber nachgedacht, was sie täten, falls Lilli hier klingeln würde.

Dann sah Eric Andy, drüben in Lillis Zimmer, wie sie auf Andys Schoß saß und ihn küsste. Sie schaute dabei herüber, als wollte sie Eric eine geheime Botschaft senden. Warte ab, in zwei Jahren sitzen wir beide hier, dann ist Andy vergessen. Doch auch ihr Blick konnte Eric nicht trösten, eine Siegerpose für den Freund – für Eric Verrat, damals jedenfalls. Natürlich blieben sie Freunde.

Ein Foto, Stufen mit einem Geländer, vor dem Kristallpalast in Dresden. Ein freundliches Kind lächelt in die Kamera. Die Kugellager für die Skaterrollen hatte Oma geschenkt, damit wurden die Boards schneller. Wer am längsten über das Geländer rutschte, war ein Hero. Es ging viel ums Kiffen, das war Teil des Aufnahmerituals. Um in einer Gang mitspielen zu können, brauchte es einen Status. Eine Stunde rumsitzen, einen Joint rauchen, paar Moves und weiter die Zeit totschlagen. War nicht schwer, dabei aufzufallen, es genügte schon, nicht die ganze Zeit herumzuhängen. Eric musste jetzt fünf wichtige Dinge miteinander verbinden, Mama, Schule, Bühne, Oma, Skater, und vier von denen durften nicht wissen, dass er kiffte.

Bei Andy in Dresden gab es überhaupt keine Kontrollen. Er besaß eine Spielkonsole mit einem Egoshooter und CDs von Eminem, die Umstände waren perfekt.

Der Guru der Gang, den sie alle den »Gärtner« nannten, betrieb ein Gewächshaus vor der Stadt, in dem er zweitklassiges Gras anbaute. Von ihm konnten sie viel lernen, obwohl er nicht mal ein Board besaß. Dafür hatte er das Gewächshaus, einer musste sich um den Nachschub kümmern.

Es klingelte bei Andy, der Gärtner. »Heut Nachmittag, bring deinen Freund mit.« Andy und Eric betraten den Bong-Boden, einen Ort, den es eigentlich nicht geben sollte, nicht für Dreizehnjährige. Andy hatte es längst hinter sich, das Aufnahmeritual, die Mutprobe. Eric nicht, doch so waren die Regeln der Skater. Vielleicht half ja ein bisschen Italienisch, va bene?

Die Stadt Dresden verbirgt eine unsichtbare Wüste, auch der Dachboden oben in Andys Haus gehörte dazu. Eric traf sich zum Skaten mit seinen neuen Freunden in der Neustadt, während die Eltern ihn bei den Großeltern wähnten, in Prohlis, einem anderen Stadtteil von Dresden.

Die Großmutter verbrachte ihre Zeit gern mit dem Enkel, doch auch da gab es einen Deal. Er begleitete sie zum Schwimmen, danach aßen sie in einem schicken chinesischen Restaurant, dann durfte er gehen. Der aufgeweckte Eric konnte sich sehen lassen, war gut erzogen und höflich, warum sollte ein Dreizehnjähriger auch anders sein? Er popelte nicht in der Nase, wünschte sich »richtig scharfe Rollen«, doch diesmal nicht für die Bühne, sondern für sein Skateboard. Eine coole Jacke gleich dazu. Vorbei die Zeit, als Kinder sich »etwas« wünschten, von den Eltern zum Geburtstag oder vom Hasen, mit dem Erwachsene zu Ostern kleine Kinder verarschen. Der Irrsinn des Konsums war längst angetreten und hatte jede Bescheidenheit verloren. Dreizehn Jahre nach dem Mauerfall hatten Wünsche Namen, Markennamen, Resultat einer raffinierten Werbung, die selbst Kinder als Zielgruppe einkalkulierte. Die Kinder der neuen Zeit kannten den Preis und die Namen ihrer Träume. Darum wurden Wünsche unbescheiden und mit einer Hausnummer vorgetragen und gern von einer müden, glücklichen Großmutter per Geldschein eingelöst.

Den ersten Schritt müssen wir selbst gehen, sagt ein russisches Sprichwort, die folgenden Schritte sind Zufall. Der Zufall führt die Klugen, die weniger Klugen führt er an der Nase herum.

Der Guru führte sie unters Dach. Was die von Eric wussten, war die Geschichte vom verschwundenen Papa aus Italien, Palermo, ein Scherz. Hier auf dem Dachboden glaubte es sowieso niemand. Eric wie immer das Fliegengewicht, während die anderen schon versierter waren, als sie ihm Mut abforderten. Darum hatten sie ihn auf den Boden bestellt.

»Lass uns was kiffen«. Keine Tüte, sie holten die »Maschine«, eine Zwei-Liter-Bong. Das war seine Probe, alles anzünden, bis der gesamte Rauch im Rohr war, absetzen, dann voll durchziehen. In einem Zug zwei Liter stechenden Qualm inhalieren. Nun hätte Eric Hilfe gebrauchen können.

Die Großen, der Guru und Andy saßen im Kreis um ihn, zwischen altem Gerümpel und Möbeln, die nie wieder jemand in seine Wohnung stellen würde. Sie beobachten ihn mit wachsender Schadenfreude. Der gelblich-dreckige Qualm von einem fünftel Gramm wurde aus dem Rohr in Erics Lungen gepresst, schon vom Anblick der Menge wurde Andy übel. Im Kopf der Bong sehr begehrtes Dope, genannt »Jude«. Ein kleines Stück nur, von einer dunkelbraunen, fast schwarzen Platte des Gärtners.

Wollen doch mal sehen, ob nun alles »va bene« bleibt bei diesem halben Angeber-Italiener. Die Freunde hatten keine Vorstellung davon, dass sie gerade in Erics Vorstellung saßen. Er betrat seine Bühne und schluckte tapfer herunter, das Brennen in den Augen, den Hustenreiz, der ihn auftrieb wie einen Kugelfisch. Überstand es irgendwie, ohne sich einzuscheißen.

»Und? Was schaut ihr mich so an?«

Johlen und Gelächter. »Jo, Mann, der war gut!«

Applaus, angedeutete Verbeugung.

Reinknallen, die Wirkung überspielen. Richtige Zauberei. Kneif die Augen zusammen, nur lass die Bong nicht fallen. Ich werde mich schnell gewöhnen an das lustige Spielzeug. Kommt nicht nach einer Weile erst ins Kichern, wie nach einem Joint. Ist schlagartig breit. Mein Körper zittert. Ich will mehr davon.

Übelkeit, sein Bein verkrampfte sich. Eric vermisste gerade nichts, hatte sogar vergessen, worauf er gewartet hatte, am Buswendeplatz. Tschau, Papa. Wollte schon immer ein Flieger sein, und nun fühlte es sich so gut an. Der langweiligste Ort Ost-Sachsens und der Geschmack von Milch – egal. In Erics Zustand war Alleinsein plötzlich kostbar und schön.

Eric kam erst sehr spät nach Hause, weil er wie nie zuvor bekifft war, nun fand er gerade noch sein Bett. Kurz zuvor war auch Liane von ihrer Arbeit zurückgekommen, die hatte wirklich einen üblen Tag gehabt, und dennoch eine Ahnung, weil ihr Sohn so anders und vorsichtig das Haus betreten hatte. Er war sofort eingeschlafen, so fest, dass sie ihn schütteln musste, als sie am Morgen nach ihm sah. »Eric, was soll das? Musst du nicht aufstehen?« Eric murmelte, sie solle ihn schlafen lassen. Dann wurde er grob zu ihr, beschimpfte sie, stieß sie mit dem Bein weg. Sie fiel rücklings in einen Glastisch. Krachen und Scherben, Liane von den Splittern verletzt. So hatte Liane auf dem Boden gelegen, als der Boxer-Freund sie geschlagen hatte, nach Erics erstem großen Auftritt in der Karnevalsnacht von Hackenbroich.

Nichts war vorbei. – Scheiß auf den Tisch, morgen ist alles vergessen, verlass dich drauf.

PIRNA, AMTSGERICHT, KLEINER SAAL, 09:49 UHR

Die Schöffen tuschelten, das Klackern der Tastatur der Protokollantin zerhackte ihr Flüstern.

Solche Geschichten passieren einfach, eine Mutprobe absolvieren oder eine Jacke klauen. Gibt keine Frage nach dem wie.

Der Staatsanwalt fragte nach Uhrzeit, Fakten.

AUS DEM PROTOKOLL:

»Und dann?«

»Wieso geklaut? Ich hatte doch Geld, nur zu wenig. Warenhausverkäufer lassen nicht mit sich handeln, also habe ich ein anderes Etikett auf die Jacke geklebt. Exakt die Hälfte vom Preis.«

7.

Erics Stadt-Karriere begann mit Skateboardfahren und dem Rauchen von Harzen aus Pflanzen aus Gewächshäusern. Er benahm sich wie die Jungs aus angesagten Filmen, denn die kannten keine Regeln.

Beobachten wurde zu seiner zweitliebsten Beschäftigung. Die Codes in der Sprache, die Gesten, wie provokant Mode wirken kann. Punks, besetzte Häuser, brennende Mülltonnen, Sternburg-Bier – seine neuen Freunde. Eric brauchte unbedingt Nieten, bunte Schnürsenkel und eine zerfetzte Lederjacke. Bevor er den Wunsch ausgesprochen hatte, lag das neue Kostüm in seinem Zimmer. Mama teilte gern ihr Haarspray, wichtigstes Hilfsmittel für den Iro. »Kannst auch Zuckerwasser nehmen, dann hält er länger, mein Großer.«

Bei den Punks in der Neustadt begegnete Eric einem Mädchen, das heißt, er starrte sie nur an. Wollte ihr unbedingt gefallen, doch es ist nicht leicht, aufzufallen, wenn man vom Dorf kommt und sich auch so fühlt und benimmt.

Jessie war die beste Freundin einer besten Freundin und nie allein unterwegs. Trug ihre Haare kurz wie ein Junge, sie konnte unglaublich laut lachen zwischen den pöbelnden Punkfratzen der Neustadt. Am meisten gefiel ihm jedoch, dass sie eine Tänzerin war und wahnsinnig gut roch.

Für Eric begann eine Zeit großer Fantasien unter der Dusche, was ihn daran erinnerte, wie jung er wirklich war. Ein Bubi im Punkkostüm, ein Punkstöpsel der Klasse Fliegengewicht. Er konnte nicht mehr von der Schulbank aufspringen, wenn die Pausenklingel läutete, weil er seine ständigen Jessie-Erektionen für sich behalten wollte.

Als Jessie mit ihrer besten Freundin hinter der Scheune verschwand, wurde die Stadt zu einem riesigen Kindergartenbuch, einem Wimmelbild mit der Überschrift: Wo ist Jessie?

Silvester feierte Eric auf der Straße vor der »Scheune«. Liane hatte nicht mal gefragt, ob er zum Jahreswechsel bei der Familie bleiben würde. Er erschien irgendwann, aß, schlief, brauchte Geld und verschwand wieder. Klar, dass es ihren Sohn in die Großstadt zog. Das sah sie nicht als Mutter, sondern als Pädagogin. Mein Junge ist klug, der weiß, was er tut. »Wenn du deine Pflichten erledigst, darfst du tun, was du willst.« Schule, gute Noten, bisschen Rasenmähen. Deal.

Gegen Mitternacht stand ein Mädchen vor dem einzigen »Späääti« neben der Scheune. Älter als er, Campino, die ihn direkt anflirtete. Trug einen Pony und lange Haare. Eric nannte sie Campino, weil sie Orangenbonbons im Mund hatte und davon einen nach dem anderen aß. Campino roch extrem nach Orange. Mitte zwanzig, er seit sechs Monaten vierzehn. Er würde sich ihr Gesicht merken können, das wusste Eric, und ihren Geruch, der ihn eigentlich störte. Dennoch fragte er: »Bekomme ich auch einen?«, nicht, weil sie so hübsch war. Wer genauso riecht, riecht nichts. Ein schönes Bild für das neue Jahr, würde er nie wieder vergessen, auch weil sie ihm in der gleichen Nacht ein besonderes Geschenk machte. Es war kurz vor Neujahr und sie hatte sich extra Zeit gelassen.

»Lass uns ans Wasser gehen.«

Sie liefen die Königsstraße entlang, vorbei am »Goldenen Reiter« zur Elbe hinunter, auf eine der Wiesen. Dort würden drei Jahre später die Jungs eines anderen Clubs zwei Polen »fertigmachen«.

Campino küsste ihn, dann schubste sie ihn nach hinten, und als er auf dem Rücken lag, zog sie ihm und dann sich die Hose herunter. Campino ließ sich Zeit, fing ganz behutsam an, hat sich wirklich Punkt null Uhr auf ihn gesetzt, Punkt null Uhr angefangen, ihn zu vögeln. Sie zählte laut rückwärts, bis die ersten Raketen flogen, und setzte sich auf Erics Schwanz. Die oben auf der Brücke, die bestimmt zusehen konnten, waren ihr egal. Die Silvesterkracher flogen überall herum, Eric war völlig besoffen und zugeknallt, und es war dennoch unglaublich.

Danach zog Campino ihre Hose hoch und verschwand. Sagte kein Wort, ließ ihn einfach auf der Wiese zurück, die eiskalt gewesen sein musste, doch davon merkte Eric nichts. Er war glücklich und wollte nie wieder aufstehen. Eric, das kleine Großmaul, war zu Neujahr entjungfert worden.

Geschafft, Jessie. Danke, liebe Sofaritze, für die vielen schönen Stunden mit dir. Ich bin raus.

Er blieb lange auf der Wiese liegen, bevor er zurück zur Scheune taumelte. Seine Freunde sprachen gerade mit zwei Mädchen, Romy und siehe da, das Wimmelbild war entschlüsselt: Jessie. Die amüsierte sich über die vielen Ampeln, die er auf seinem T-Shirt angeordnet hatte.

Die Stripbar am Bahnhof, »Flirt«, später »Angels«. Ein sehr schöner Name für eine Stripbar, fand er damals.

Die hielten ihn dort für das Kind einer Stripperin, der Besitzer war ein Schulfreund von Tilo, Wolle. Den fragte er, ob er in der Bar sein könne, das war ja naheliegend, einem Mädchen gefallen zu wollen und damit anzugeben, dass man in einer Stripbar ein- und ausging. In diesem Alter müssen brave Kinder spätestens drei Stunden nach dem Sandmännchen ins Bett, doch er blieb bis kurz vor Mitternacht, bis in der Bar die Hardcore-Shows losgingen.

Für die Gäste gab es Buttons, eine kleine Ampel, die anzeigte, wie der Status der Besucher war. Rot für vergeblich oder schon vergeben, Orange für flirten oder mal schauen, und Grün für na klar. Er fing an, die Ampel-Buttons zu sammeln, befestigte sie auf seinem T-Shirt.

Auf der Straße gab es viele Demos, brennende Mülltonnen, viel Polizei.

Die Ampeln alle auf Grün, und wenn der Krawall beginnt, Rot – Riot.

So bekam Eric seinen Namen. Ampel.

Jessie konnte sprechen, »Hey, du bist Ampel, musst du sein!« Was für ein Spitzname!

»Ja?«

»Klar. Tschau!«

»Wir sehen uns!«

Tolle Dialoge, ganz wie auf der Bühne. Und weil Dresden ein Dorf war, wusste Eric, wo er sie wiedersehen konnte. An der Scheune.

Das Wochenende darauf waren sie tatsächlich wieder dort. Eric zu Jessie:

»Wollen wir einen rauchen?«

»Ja. Hast du was?«

»Würde ich sonst fragen? Komm, wir gehen hinter den Club.«

Sie gingen auf einen Parkplatz, setzten sich hinter ein Auto, Eric rollte ihnen einen und gab damit an, dass er mühelos Mercedes-Sterne abbrechen konnte. Richtig elegant, anheben, leichte Drehung und ein kurzer Knick. Dann ging er über den Parkplatz und brach alle Sterne ab, um sie ihr zu schenken.

Eric hatte Campino vergessen, mit ihren blöden Orangenbonbons. Wahrscheinlich war es auch ihr erstes Mal … Nein, dafür war sie viel zu raffiniert gewesen. Vielleicht hatte sie sich verkleidet, eine Studentin, die sich einen Neujahrsspaß mit einem Vierzehnjährigen erlaubte. Keine Amazone, die nebenbei ein Haus besetzte.

8.

Beinahe hätte diese Zeit mit einem Kopfschuss geendet, vor einem Proberaum am Rande von Gorbitz. Punkrock, Pogen auf engstem Raum. Die Nieten bohrten sich in Schulterblätter, Sternburger in Hektolitern auf den Köpfen der verschwitzten »Ois«. Eric, der Schmetterlingspunk. Mit Jessie vor den Augen sprang er über die Bühne. Musik auf Anschlag, brüllend laut, was für ein Genuss, Leuten beim Ausrasten zuzusehen. Den erhobenen Fäusten der Revolution und der Pubertät. Vermischt mit Sternburgdunst, besoffen, vollgequalmt und zugekifft. Manchmal Tabak, selbstgedrehte Zigaretten, ein großes Gefühl, der Nikotinflash nach einem fetten Joint. Eric fuhr gern mit der Hand über die geschorenen Hinterköpfe der Frauen, ihre kleinen weichen Borsten. Die leckten ihn dafür ab mit ihren Zungenpiercings, Metall und Spucke ergaben einen wunderbaren Geschmack.

Die letzten Restgäste zogen weiter durch die Straßen von Gorbitz, schubsten sich gegenseitig einen Hügel herunter. Eric fand diese Mädchen süß, die sich wie Jungs gaben, mit ihren tiefen Stimmen. Selbst wenn sie ihn anbrüllten, waren sie nicht aggressiv. Ging ja um viel größere Dinge, Scheißsystem, Scheißstadt. Stoßen wir an, auf alle, die nichts tun oder noch viel tun werden.

Neben Eric schlug eine Flasche ein, Schreie, Blut. Eine Gruppe Neonazis hatte sie verfolgt, von einer Baustelle Ketten und Schilder abgerissen, Flaschenhälse in der Hand. Die gute Stimmung war vorbei. Auch die Punks zerschlugen Flaschen, wollten sie nur nie gebrauchen, Kraft und Gegenkraft, nein. Also lauft, dumm nur, in einer Nebenstraße zu landen. Dumm sich zu trennen. Die Faschos auch dumm, aber sie würden sich niemals trennen, um nicht allein erwischt zu werden. Drei Punks versteckten sich im Innenhof eines Neubaublocks, genau dort kamen die Skins herein. Zurück auf die Straße. Sie wurden erwartet. Einer rannte auf Eric zu, mit einem Schläger, knallte ihn gegen seine Kniescheibe. Eric fiel, der Schläger zersplitterte. Die anderen Punks konnten fliehen, nur Eric nicht, mit seinem offenen Knie, zusammengekrümmt auf der Straße. Der Skin zog eine Pistole, hielt sie ihm direkt an die Schläfe.

Letzter Moment, wo alles vorbei sein konnte. Du scheißt und pisst dich ein. Passierte Eric jetzt. Wie lustig, ein Grund, ihn nicht zu erschießen, war, dass sie lachen mussten. »Jetzt stinkst du auch noch, Scheiß-Punk. Wenn ich dich hier noch einmal sehe, drücke ich ab. Peng! Hahaha.«

PIRNA, AMTSGERICHT, KLEINER SAAL, 10:09 UHR

Die Schüler auf den Besucherbänken waren entsetzt, die Chorleiterin auch.

AUS DEM PROTOKOLL:

»Wir standen an der Kasse. Anja wollte noch ein kühles Getränk, ich aber wollte nur schnell aus dem Warenhaus verschwinden. Als Letztes zog die Kassenfrau die Jacke über das fiepende rote Auge und stellte eine extrem unpassende Frage.

›Wollen Sie das wirklich bezahlen?‹

Ich sagte nicht ›Nein‹ und bezahlte. Betrog. Ich bitte um eine harte, aber gerechte Strafe.«

9.