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Inger G. Madsen

Gestohlene Identität

Kriminalroman

Aus dem Dänischen von
Kirsten Krause

SAGA

Für Per

Der Hochzeitstag

Sie musste alle Lagen des langen, elfenbeinfarbenen Kleides aus dicker Seide und Tüll hochraffen, als sie die Stufen zum ersten Stock hinaufging. Die hochhackigen Schuhe hatte sie am Fuße der Treppe stehen lassen. Sie lauschte ihrem eigenen hyperventilierenden Atem, fühlte sich schwindelig und dachte darüber nach, ob es an zu viel Champagner, Sauerstoffmangel oder beginnendem Wahnsinn lag. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie das Kinderzimmer erreichte. So kam es ihr jedenfalls vor. Die Sommerbrise ließ den Vorhang leicht flattern und trug die Musik und das Gelächter der Gäste aus dem Garten zu ihr nach oben. Die Giraffe, der Elefant und der Affe in dem Mobile über dem Gitterbett hüpften auf und ab und sahen ganz lebendig aus. Es war ein Taufgeschenk. Als Kind hatte sie ein ähnliches gehabt. Die Figuren lächelten ihr entgegen und wirkten viel zu fröhlich im Verhältnis zu den Gedanken, die in ihrem Kopf dröhnten. Der Rausch und die Freude waren jäh verschwunden, als wäre ihr Tag nie davon erfüllt gewesen. Der größte Tag im Leben einer Frau. Es war wie ein Kurzschluss im Gehirn, eine Überhitzung, zu viel unverdientes Glück, das zusammenbrach, wie wenn man zu viel Strom auf einmal verbraucht und die Sicherung rausfliegt. Der vertraute, süßliche Duft von Babylotion wurde ihr sanft von der Brise vom Fenster entgegengetragen. Sie inhalierte ihn begierig, als sie in der Tür innehielt, und fühlte sich einen Augenblick lang beruhigt. Es war niemand in dem Zimmer. Endlich erreichte sie das Gitterbett. Jede Bewegung fühlte sich wie in Zeitlupe an. Die Aufhängung des Mobiles verhedderte sich in ihrer eleganten Frisur, als sie sich über den Jungen beugte. Eine der vielen duftenden Apfelblüten, die ihr ihre Freundinnen ins Haar gesteckt hatten, segelte langsam nach unten wie ein kleiner weißer Schmetterling und landete auf seinem Rücken. Er lag auf dem Bauch. Ganz still. Ihr Herz raste und ließ den Schmuck in ihrem tiefen Dekolletee im Takt wippen. Sie stand lange da, schaute auf ihn hinunter und konnte nicht erkennen, ob er atmete. Die Decke mit den kleinen, hellblauen Autos hatte er weggestrampelt, und der Windelpo ragte über den molligen Oberschenkeln in der Luft. Die eine gehäkelte Babysocke war heruntergerutscht und ihr Blick blieb an dem perfekten Füßchen mit fünf wohlgeformten kleinen Zehen hängen. Apathisch näherten sich ihre Hände dem Bett und ihre Finger griffen nach ihm, als ob sie ihn hochheben wollte, aber Angst hätte, was sie zu sehen bekommen würde; dann ließ das Geräusch des angespannten Atems eines anderen, der sich mit ihrem eigenen vermischte, sie mitten in der Bewegung innehalten. Langsam drehte sie sich um und erstarrte; sie konnte nicht einmal schreien.

***

1

Die modernen Gebäude der Abteilung für Forensische Psychiatrie mit reihenweise Fenstern, die den dunklen Abendhimmel und die Lichter der Straßenlaternen widerspiegelten, bildeten einen starken Kontrast zu Gottlieb Bindesbølls hübscher Psychiatrischer Klinik. Im 19. Jahrhundert dachte man nicht so pragmatisch; das war echte Maurerarbeit aus massivem Naturstein – nicht nur grauer Beton mit dünnen, aufgeklebten Steinplatten zur Tarnung. Die Außenmauern waren mit einem gestreiften Effekt versehen in der gleichen Farbe wie das Dach, das gemütlichen Erkern Raum bot. Damals wurde es als Staatskrankenhaus in Risskov errichtet. Der Kontrast fiel besonders ins Auge, weil die Gebäude aneinandergrenzten, nur durch die krummen Bäume zu beiden Seiten des Skovagerwegs vereint. Die Zweige ähnelten amputierten Armen und die Bäume erinnerten ihn an missgestaltete, verkrüppelte Hände, die sich in Verzweiflung gen Himmel streckten und die Gefühle widerzuspiegeln schienen, mit denen viele innerhalb der Mauern kämpften.

Am Eingang traf Kriminalkommissar Roland Benito Vizepolizeidirektor Kurt Olsen.

»Traurig, dass das hier draußen nun wieder passiert – und dann sind die Entflohenen obendrein immer geistig gestört«, war seine Begrüßung. Roland antwortete nur mit einem kurzen Nicken, er fühlte sich selbst so. Geistig gestört. Als er sich gerade neben Irene ins Bett gelegt hatte, kam der Anruf vom Polizeipräsidium. Der Nachtschlaf wurde erneut ruiniert, aber nicht aus dem gleichen Grund wie in den übrigen Nächten, die aufgrund privater Pro­bleme auch nicht die besten gewesen waren. Nicht zuletzt, weil er kürzlich aus Italien zurückgekehrt war, wo er seine jüngste Tochter weggegeben hatte an einen Mann, dessen Wesen er ebenso wie dessen Beruf und Familie wie die Pest verabscheute.

Auf dem Flur von Station R1 stießen sie auf den Rechtsmediziner, Henry Leander. Er saß in der Hocke neben der toten Krankenschwester. Ihr Kopf war unnatürlich an die Wand gelehnt, sodass die Todesursache unmittelbar nach einem Genickbruch aussah. Davon abgesehen war sein Eindruck nur Blut. Unmengen von Blut. An der Wand hinter ihr waren ebenfalls Blutspritzer. Ein Kriminaltechniker machte Bilder von jedem einzelnen; sie konnten enthüllen, wo sich sowohl Opfer als auch Täter befunden hatten, als der Mord stattfand. Die leitende Oberärztin war auch eingetroffen, stand in angemessener Entfernung und versuchte mit vor der Brust verschränkten Armen zu verbergen, dass sie zitterte. Das Kunstgemälde hinter ihr mit fröhlichen, aufmunternden Farben passte gar nicht zu der Szene. Abwesend rieb sie ihre Oberarme, während sie mit einem verlorenen Ausdruck im Gesicht auf das Blut starrte. Kurt Olsen sprach mit ihr und nickte Roland gleichzeitig auffordernd in Richtung Tür zu, die zum Flur mit den Personalbüros führte. Er nickte zurück und betrachtete einen Augenblick die Arbeit des Rechtsmediziners bei der Leichenschau.

»Es besteht ausnahmsweise kein Zweifel an der Todesursache und der Mordwaffe. Stumpfe Gewalt. Zahlreiche Schläge gegen den Hinterkopf und die linke Schläfe.«

Leander hob seine weiße Latexhand mit blutbefleckten Fingerspitzen und zeigte auf eine Steinfigur, die mal weiß gewesen war und wie ein dicker Buddha aussah. Sie lag nicht weit von der Leiche hingeworfen mit einem Schild daneben, auf dem Nr. 2 stand; die Spurensicherung hatte sie sich schon vorgenommen.

»Fingerabdrücke?«

Einer der Techniker in der Nähe machte Bilder von einem länglichen Abdruck auf der Glastür, der von einer blutigen Hand stammen konnte, die am Glas hinuntergeglitten war. Er schaute ihn an und schüttelte den Kopf.

»Die sind leider im Blut verwischt.«

»Was ist das?« Roland nickte zu der Figur auf dem Boden, die die Mordwaffe sein musste.

»Das ist eine Art schweres Steingut. Vielleicht etwas von der Kunst der Klinik oder der eigenen der Patientin.«

»Es gibt mehrere Schläge post mortem«, wandte Leander ein.

»Eine komplett geisteskranke Handlung. Aber das ist hier ja nur natürlich. Es gibt wohl keinen Zweifel, wer die Schuldige ist«, bemerkte der Kriminaltechniker allwissend.

Roland nickte verschlossen und überging diese achtlose Schlussfolgerung. Zweifel gab es immer. Er schaute wieder zu Leander hinunter.

»Wann findet die Obduktion statt?«

»Morgen Nachmittag …«, er sah auf seine Uhr, »… heute Nachmittag«, korrigierte er sich. »Ich kann sie bestimmt noch dazwischenschieben. Sollen wir 15 Uhr sagen?«

Roland bejahte und folgte dem Vizepolizeidirektor und der Oberärztin in ein kleines, spärlich eingerichtetes, aber helles Büro, wo es nach einem milden Parfüm oder vielleicht einem gut duftenden Putzmittel roch. Oberärztin Mai Andersen stand auf einem Schild an der Tür. Sie schloss sie hinter ihm, gab ihnen beiden die Hand und stellte sich vor.

»Ich bin natürlich sehr schockiert über den Vorfall«, fügte sie bewegt hinzu. Ihr blasses Gesicht verriet die Gemütslage, ein Mundwinkel zuckte nervös. »Wir hätten nicht geglaubt, dass es noch möglich wäre, von hier zu fliehen. Ich hoffe, ich kann behilflich sein.« Sie setzte sich hinter den Schreibtisch, räumte ein paar Unterlagen in eine Schublade, schaute sie an und strich sich kampfbereit die mittelblonden Haare hinter die Ohren.

»Dann gab es also noch eine Gefangenenflucht?« Der Vorwurf in Kurt Olsens Stimme war deutlich. Es war von politischer Seite großer Wert auf Sicherheit gelegt worden, aufgrund einiger Ausbrüche, oft von Patienten, die als gefährlich oder sogar extrem gefährlich bezeichnet wurden. Die Presse hatte daraus eine Sensation gemacht, was sie ja immer tat. Seit Neujahr war es 19 Gefangenen gelungen zu entfliehen. Jedoch hatten die Ausbrüche nie zu einem Mord geführt.

»Wie kann es mit Sicherheitsglas vor den Fenstern und verschlossenen Türen mit sicheren Schließanlagen immer noch möglich sein, hier durchzubrennen?«, fuhr Kurt fort.

»Ich weiß nicht, wie Ditte in der Schleuse getötet werden konnte. Einiges deutet darauf hin, dass sie gerade dabei war aufzuschließen, als es passierte. Aber die Patienten haben dort nichts zu suchen … danach ist Sara den Flur hinuntergelaufen, der zum Parkplatz führt.«

»Ohne dass jemand sie gesehen und gestoppt hat? Das hätte nicht passieren dürfen!«

»Da sind wir uns einig. Aber wir bekommen immer mehr gewalttätige Gefangene, die auf ihren Geisteszustand untersucht werden sollen und in der Regel danach eingewiesen werden. Dafür haben wir schlicht und einfach keinen Platz. Die Sicherheit muss überall noch mehr verbessert werden, wenn sie den Anforderungen genügen soll, die gestellt werden, um solche Patienten einzusperren. Das ist eine Frage des Geldes und …« Sie sah schnell zu Roland, der sich räusperte und die Stirn runzelte über eine Entschuldigung, die leeres Stroh drosch, egal, welche Regierung an der Macht war.

»… es geht auch darum, dass heutzutage größerer Wert darauf gelegt wird, wie wir behandeln als wie wir es vermeiden«, fuhr sie fort.

»Und damit meinen Sie …?«

Mit einem Kopfschütteln lehnte Kurt Olsen den angebotenen Kaffee ab; sie zeigte mit einem fragenden Ausdruck auf eine Thermoskanne auf dem Schreibtisch, während sie sprach. Roland schüttelte ebenfalls den Kopf, als sie ihn auffordernd ansah. Die Kaffee war wohl kaum frisch, es sei denn, jemand brühte hier spätabends noch welchen auf. Mai Andersen schenkte sich selbst ein in eine weiße Tasse mit dem roten Logo der Region Mitteljütland. Der Kaffee dampfte nicht.

»In den letzten Jahren wurden viele Betten für die psychisch Kranken gestrichen. Gleichzeitig ist die Anzahl gerichtspsychiatrischer Patienten merklich gestiegen. Meiner Ansicht nach hängt das zusammen. Die fehlenden Plätze führen dazu, dass Patienten aus der Allgemeinpsychiatrie bloß in die Gerichtspsychiatrie verlegt werden. Darüber hinaus kamen viele der Patienten, die wir heute haben, früher ins Gefängnis, aber die inzwischen herrschende Ansicht, dass ein Verbrechen einer psychischen Krankheit geschuldet sein kann, führt dazu, dass sie nun bei uns landen«, erläuterte die Oberärztin. Kurt Olsen öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Roland hustete provozierend und unterbrach. Obwohl Politik das Gebiet des Vizepolizeidirektors war, hielt er es nicht für relevant, das ausgerechnet jetzt zu diskutieren, wenn es der Sache nicht dienlich war und seine Zeit für Ermittlungen in einem Mordfall und einer Gefangenenflucht vergeudete.

»Die Tote kann gerade damit befasst gewesen sein aufzuschließen, sagten Sie. Für einen Gast? Wann endet die Besuchszeit?«, fragte er. Die Oberärztin wandte ihm den Blick mit einem Anflug von Erleichterung zu. Es war immerhin nicht so leicht, eine weitere Flucht und einen Mord mit mangelnden Finanzen und Ressourcen wegzuerklären und auch nicht, dass für die psychisch Kranken Betten fehlten.

»Besuch wird im Voraus individuell abgesprochen. Wir sind eine Spezialabteilung mit geschlossenen Bereichen. Aber in der Regel endet die Besuchszeit spätestens um 22 Uhr.«

Roland schaute schnell auf seine Uhr. »Hatte die Patientin heute Abend Besuch?«

»Das kann ich so aus dem Stegreif nicht sagen, ich bin um 18 Uhr gegangen, aber ich kann es herausfinden.«

»Ich bitte darum. Können Sie uns ein bisschen über die geflüchtete Patientin und die ermordete Krankenschwester erzählen? Ditte – richtig?«

»Ja, die Krankenschwester heißt … hieß Ditte. Ditte Sandfeldt. Die Patientin heißt Sara Dupont. Sie wurde hier vor etwas mehr als zwei Monaten zur Verbüßung ihrer Strafe eingewiesen. Es lief eigentlich ganz gut mit ihr, sie wirkte ruhiger, daher …«

»Sie ist wegen Mordes verurteilt worden, nicht wahr?«, unterbrach Kurt Olsen.

»Kindsmord. Ihr eigenes. Das Baby war erst drei Monate alt und wurde tot auf dem Bauch liegend in seinem Gitterbett gefunden. Sara hat einen Selbstmordversuch unternommen, der später als ein weiterer Beweis für ihre Schuld gegen sie verwendet wurde. Als die Beweise vor Gericht vorgelegt wurden, hat sie auch ihren Mann, Kasper Dupont, verloren. Sie haben seinen Namen vielleicht in der Laufschrift im Fernsehen gesehen? Er ist Kameramann beim DR. Man ging zunächst von einem plötzlichen Kindstod aus. Sara arbeitete als Gesundheitspflegerin, also sollte man meinen, sie wüsste alles darüber, und dass man sein Baby nicht auf dem Bauch schlafen lassen sollte.«

Ein Bild auf dem Schreibtisch von einem Mädchen um die zwei Jahre, das Mai Andersen so sehr ähnelte, dass es an der Mutterschaft keinen Zweifel gab, enthüllte, woher sie selbst dieses Wissen hatte.

»Sara beteuert weiterhin ihre Unschuld und schiebt die Schuld auf alle anderen – sogar ihren Mann –, aber das hat etwas mit ihrer Psychose zu tun. Zwangsgedanken und Paranoia.« Mai Andersen sprach schnell und kurzatmig, und die kleinen Schlucke von ihrem Kaffee wirkten, als würde sie nur aus Nervosität trinken und nicht, weil sie Lust darauf hatte. Die Tasse zitterte leicht in ihrer Hand.

»Würden Sie sie als gefährlich bezeichnen?«

Die Oberärztin schüttelte langsam den Kopf und stellte ihr Getränk ab, während sie gleichzeitig so aussah, als ob sie eine Möglichkeit in Erwägung zöge, die sie selbst nicht bedacht hatte.

»Nein, bis jetzt nicht. Sie war sonst nur eine Gefahr für sich selbst, aber der Mord an der Krankenschwester und die Flucht zeigen deutlich, dass sie nicht auf dem Weg der Besserung war, wie wir glaubten. Im Gegenteil.«

»Also gefährlich«, nickte Kurt Olsen.

»So wird die Presse sie ganz sicher darstellen«, entgegnete Mai Andersen mutlos.

»Hätte die Krankenschwester nicht Hilfe holen können?«, fragte Roland.

»Doch, sie hätte den Alarmknopf drücken können, den wir immer bei uns haben, dann wäre sofort Hilfe gekommen, aber sie hat es offenbar nicht mehr geschafft. Es deutet darauf hin, dass sie auf das, was passierte, überhaupt nicht vorbereitet war.«

»War sie schon lange hier?«

»Ja, sie war eine der äußerst erfahrenen Kräfte. Sie hat seit über zehn Jahren hier gearbeitet.«

Roland stand auf. »Mit wem war Sara Dupont hier in der Abteilung am meisten verbunden? Jemand, mit dem wir sprechen können.«

»Von den Patienten, meinen Sie?« Die Oberärztin schüttelte den Kopf mit einem blassen, gezwungenen Lächeln. »Es gibt keinen, mit dem Sie hier sprechen können. Die meisten verabscheuen die Polizei und werden sich garantiert nicht äußern wollen. Ich weiß das von den anderen Ausbrüchen, die wir hatten.«

»Also sprechen Sie aus großer Erfahrung«, murmelte Kurt Olsen fast unhörbar ohne die großen warmen Gefühle in der Stimme und stand ebenfalls auf. Mai Andersen sah ihnen freudlos nach und begleitete sie nicht nach draußen.

Roland und Kurt Olsen fuhren gemeinsam mit dem Aufzug im Polizeipräsidium nach oben. Zwischen ihnen herrschte tiefes Schweigen.

»Wusstest du, dass sie es war?«, fragte Roland, bevor sich die Aufzugtür öffnete.

»Nicht mit Sicherheit. Sie ist ja nicht die Einzige im Maßregelvollzug.«

»Aber eine der wenigen Frauen. Die meisten sind ja Männer. Welche Beweise wurden vorgelegt?« Rolands Gedanken waren wieder bei Olivia, die in zwei Monaten entbinden sollte. Wie würde sein kleines Mädchen damit klarkommen, selbst Mutter zu werden?

»Die Obduktion hat gezeigt, dass es Spuren am Nacken des Kindes gab, das Gesicht war gegen das Kissen gedrückt worden, bis es aufhörte zu atmen. Tragischerweise geschah es an Sara Duponts Hochzeitstag, der bei dem Paar zu Hause im engsten Familien- und Freundeskreis gefeiert wurde.«

»Und wie konnte man wissen, dass sie es war, und nicht einer der Hochzeitsgäste?«

Paradoxerweise durch ihren Ehering. In den Ring war ein Herz graviert und drei kleine Diamanten eingesetzt; er hat die Spuren hervorgerufen, die in die Nackenhaut des Kindes gedrückt waren, deutlich genug, dass es keinen Zweifel gab. Der Ring muss sich an ihrem Finger gedreht haben und das hat sie verraten. Später wurde sie leblos im Garten gefunden. Sie hatte versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden.«

Roland erinnerte sich, dass in der Kantine immer Morten Hol­steds Fall Thema gewesen war, wenn es um Kindsmord ging, besonders, wenn es sich um einen wehrlosen Säugling handelte.

2

Februar, ein Jahr und sieben Monate zuvor

Schimmernde, lächelnde, hasserfüllte oder neugierige fremde Augen starrten sie in der Dunkelheit aus runden, ovalen oder mandelförmigen Löchern an, einige von ihnen waren von glitzerndem Strass, Vergoldung und kunstvollen Ornamenten umgeben. Die Volksmenge schubste und drückte, sodass sie keine Luft bekam. Ihre eigene Maske hatte sie längst verloren. Kleidung, die an eine vergangene Zeit erinnerte, und große Hüte schlugen ihren rauen Stoff in ihr Gesicht. Heute Nachmittag hatte sie sich über die vielen flatternden Tauben hier auf dem Markusplatz erschreckt. Alles mit Federn verursachte ihr Atemnot, nachdem sie als Kind Hitchcocks Horrorfilm Die Vögel gesehen hatte. Deswegen mochte sie auch eine lila Federmaske nicht, die zwei Vogelschwingen mit schiefen, lauernden Augen in der Mitte ähnelte, die ihr viel zu nah gekommen war. Alle waren viel zu nah. Sie war mitten in einem Umzug gelandet und schnappte nach Luft, atmete aber erleichtert auf, als sie spürte, wie Kasper ihre Hand ergriff und sie aus der lebhaften Schar schreiender, lärmender und singender Italiener zog, die wohl hauptsächlich Touristen wie sie selbst waren.

»Lass uns einfach zurück zum Hotel und in die Bar auf einen Schlummertrunk gehen, ja?« Seine Stimme konnte den Lärm fast nicht übertönen, aber sie fing die Worte dennoch auf, es waren die einzigen, die auf Dänisch gerufen wurden. Damit war sie sehr einverstanden und zwängte sich willig durch das Gewimmel, von einer Hand nach vorne gezogen, deren Besitzer sie so gut kannte: die Hautoberfläche, den warmen, festen Griff und die Sicherheit. Dann kam Luft, und es war eine wahre Befreiung, das Licht der Fenster in der Hotelrezeption zu sehen. Sie liefen lachend die Treppe hoch, als ob sie Schutz vor einem heftigen Gewitterschauer suchten. Die Bar war beinahe genauso proppenvoll wie der Markusplatz und die Straßen und Gassen, aber Kasper fand einen freien Tisch in einer Ecke, wo sie erleichtert auf ein bequemes Sofa sank, während er etwas von der Bar holte. Sie zog die Schuhe aus und rieb sich ihre schmerzenden Füße; sie pochten und waren angeschwollen. In einer Boutique hatte sie einfach nicht widerstehen können und hatte diese neuen, italienischen Schuhe gekauft. Jetzt wirkten sie plötzlich drei Nummern zu klein. Es war eine Wohltat, sie auszuziehen und den kalten Marmorboden an den Fußsohlen zu spüren. Kasper reichte ihr das Glas mit Sambuca mit einem müden Lächeln, nachdem er fast eine halbe Stunde in einer kilometerlangen Schlange vor der Theke der Bar gewartet hatte. Sie nahm es entgegen und atmete den Anisduft ein. Sie war diesem wasserklaren Likör erlegen im Laufe der Woche, die sie in Venedig im Urlaub gewesen waren, um genau den Maskenball zu erleben, von dem sie nun geflüchtet waren.

»Ich habe doch gesagt, dass du nicht diese Stilettos anziehen sollst, Sara«, warf er ihr mit dem altklugen Wundert-sich-über-Frauen-Kopfschütteln eines Mannes vor und setzte sich neben sie.

»Ich weiß, aber wir sind ja in Italien, oder? Ich will nicht völlig daneben aussehen. Die Leute hier sind so elegant.«

»Na, nicht alle – die Touristen schon gar nicht. Es ist ja auch Karneval, also was soll’s?« Er lächelte und nahm einen großen Schluck von seinem Bier. Er mochte keinen Likör.

»Ich habe meine Maske verloren, die war wirklich ganz schick.«

»Wir kaufen morgen einfach eine neue, das schaffen wir locker, bevor wir abfliegen. Wir müssen ja schon bis Mittag hier raus sein, also haben wir nichts anderes zu tun, bis wir zum Flughafen fahren müssen.«

Sie lehnte sich zurück und entspannte sich endlich mit seinem Arm an ihrem Nacken. Hier, an seine Brust gelehnt, gab es nichts zu befürchten, nicht einmal Masken oder Vogelschwingen.

»Wer wohl auf die Idee gekommen sein mag, dass man sich so verkleiden und feiern sollte?« Kasper bewunderte ein paar weibliche Bargäste mit prachtvollen Perücken und schmalen Stabmasken, hinter denen sie ihre Augenpartie verbargen. Sie sahen aus wie Wiedergänger aus dem Barock. Sara lächelte, sie hatte Lust, ein wenig zu glänzen nach dem Misserfolg des abendlichen Maskenballs, der nicht ganz wie erwartet verlaufen war. Sie hatten vorgehabt, sich nicht aus den Augen zu verlieren, und sie wusste, es war ihre Schuld, dass es passiert war. Ihre Neugier hatte sie von Kasper weggezogen. Curiosity killed the cat, pflegte er sie schelmisch zu warnen, wenn sie ihm entschwand.

»Die Tradition reicht bis ins 11. Jahrhundert zurück und ist eng mit der Geschichte Venedigs verbunden. Damals war es ganz normal, dass man seine Identität hinter Masken verbarg, wenn man sich in der Stadt amüsierte.«

»Damit der Ehepartner es nicht entdeckte?«

»Vielleicht auch deswegen, aber hauptsächlich um Standesunterschiede und anderes auszugleichen, was ansonsten eine Person aus dem sozialen Netzwerk ausschließen kann. Man konnte sich verstecken und für einen anderen ausgeben als der, der man war.«

»Das Facebook von damals?«

»Ja, irgendwie schon.« Sie lachte, als sie sah, dass er seine Maske wieder aufgesetzt hatte. Sie war nicht so hübsch, wie ihre es gewesen war, aber auch nicht eine der unheimlichen, die er sonst gekauft hätte. Das hatte sie verhindern können. Sie hatte mit ihrem verschlossenen, roten Mund etwas Trauriges an sich, was seine lächelnden Augen, die sie aus den mandelförmigen, übertrieben von Goldglitzer umgebenen Augenhöhlen anschauten, ganz unpassend wirken ließ. Auf die eine Wange war eine schwarze Träne gemalt.

»Schaffen wir es morgen auch noch ins Ca’Rezzonico-Museum? Da kann man die Gemälde des Rokokomalers Pietro Longhi aus dem Alltag von damals sehen, als sowohl Männer wie Frauen die bekannte weiße Bauta-Maske trugen, die ich so unheimlich finde. Sie erinnert mich an den Tod in Venedig.«

»Du guckst zu viele Filme, mein Schatz. Wo liegt das Museum?«, fragte er durch die Maske mit dumpfer Stimme.

»Soviel ich weiß, in einem der Paläste am Canal Grande.«

»Das schaffen wir bestimmt noch.«

Sie saßen eine Weile ohne zu reden da, damit beschäftigt, Leute zu beobachten. Die meisten waren mit aufwendigen und originellen Kostümen verkleidet.

»Die beiden Mädchen da drüben sind Däninnen. Bisher haben wir nicht viele Dänen getroffen. Die eine kommt sogar auch aus Aarhus«, sagte Kaspar beiläufig, und sie versuchte seinem Blick zu folgen. Sie saßen an der Bar, ein Stückchen von ihnen entfernt, und trugen beide Masken.

»Woher weißt du das? Hast du mit ihnen geredet?«

»Ja, mit der Blonden da stand ich in der Schlange an der Bar.« Sara verbarg ein kleines Lächeln.

»Natürlich mit der Blonden.«

»Was meinst du damit?«

»Ach, es hätte mich bloß gewundert, wenn du dich mit der Brünetten unterhalten hättest. Du weißt doch, Männer und Blondinen.« Sie sagte das ohne Eifersucht, weil sie Kasper vertraute. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit und die Freundschaft aus diesen Tagen hatte sich genau so ruhig und stetig entwickelt, wie sie aufgewachsen waren. Nur ein paar Jahre waren sie getrennt, als Kasper im Ausland studiert hatte. Dann kam er nach Aarhus zurück, sie wurden ein richtiges Paar und zogen in eine kleine Zweizimmerwohnung in Trøjborg. Als sie einen Job als Gesundheitspflegerin und Kasper als Kameramann bei Danmarks Radio bekam, kauften sie ein gemütliches kleines Haus ein bisschen außerhalb von True. Kinder und Ehe waren noch kein Thema gewesen, und Sara wartete geduldig, ohne Kasper zu drängen.

»Sie hat mich angesprochen, nicht umgekehrt. Sie muss wohl gehört haben, dass wir Dänen sind. Sie hat gefragt, ob ich Fotograf wäre, weil ich die große Kameratasche über der Schulter hatte, und als ich geantwortet habe, dass ich ein Kameramann fürs Fernsehen bin, war sie sofort Feuer und Flamme.«

»Gute Anmache!« Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu und nippte an dem Sambuca.

»Die jungen Leute heutzutage wollen partout bekannt werden, so ist das einfach. Scheißegal, ob sie Talent haben oder nicht. Heute berühmt, morgen vergessen. Guck dir nur an, wie beliebt Sendungen wie ›X-Factor‹, ›Teenie-Mütter‹, ›Paradise Hotel‹ oder ›Der Bachelor‹ sind. Das ist eine einfache und schnelle Art, ein Promi zu werden, die nicht allzu viel Hirn erfordert – im Gegenteil.« Sara warf wieder einen Blick zu den beiden jungen Mädchen an der Bar hinüber, die die Aufmerksamkeit der italienischen Baristi genossen. Sie flüsterten geheimnistuerisch miteinander und kicherten. Sie sann darüber nach, ob sie wohl allein oder mit ihren Eltern verreist waren, ob sie Schwestern oder bloß Freundinnen waren. Vielleicht hatten sie sich gerade erst getroffen.

»Du kannst das doch nicht verallgemeinern, Kasper. Hast du ihr denn eine Chance gegeben, vor deiner Kamera zu posieren?«

»Ich habe sie schlecht gesehen. Sie hat ja eine Maske auf, es ist irgendwie nicht genug, bloß eine Blondine zu sein. Übrigens wer weiß, ob es eine Perücke ist? Das kannst du also gleich vergessen, Kleine. Warum glaubst du, habe ich mich in dich verliebt?« Er nahm eine ihrer langen, kupferfarbenen Locken zwischen seine Finger und kitzelte sie neckend damit am Ohr. »Vielleicht bevorzuge ich Rotschöpfe.«

Sie lächelte, schließlich wusste sie das ja auch.

Es lichtete sich in der Bar, je weiter die Nacht fortschritt. Die meisten Gäste verschwanden draußen im Nachtleben. Kasper hatte gerade an der Bar Espresso geholt, als die beiden dänischen Mädchen angetrunken und leise lachend auf dem Weg nach draußen an ihrem Tisch vorbeikamen. Plötzlich blieb die eine stehen. Sie nahm ihre Maske ab und reichte sie schnell Sara. »Die kannst du haben, ich bin sie leid«, sagte sie, bevor das andere Mädchen sie wegzog. Sara schaffte gerade noch zu sehen, dass es die Blondine gewesen war, die ihr ihre Maske verehrt hatte, bevor sie draußen im Gewimmel verschwanden.

»Die ist doch gut, dann müssen wir dir morgen vielleicht gar keine mehr kaufen?«

»Ich hätte mir eigentlich gerne selbst eine ausgesucht, aber die hier ist schon okay.«

Es war eine silberne Maske mit raffinierten Gold- und Glitzermustern, rund um die Augenlöcher zog sich eine Reihe von kleinen Steinen, die wie Diamanten aussahen, der Mund war schwarz angemalt und sinnlich. Kasper half ihr dabei, das Band hinter ihrem Kopf zuzubinden. Die Maske roch schwach nach dem Parfüm der Blondine. Sie lehnte wieder den Kopf zurück gegen seinen Arm. Irgendwie war es ziemlich angenehm, sich zu verstecken, es war ein bisschen, als ob sie völlig vergaß, wer sie war.

Sara fühlte sich ein bisschen betrunken, als sie aus dem Bad kam. Der Sambuca knallte ordentlich, weil er so unschuldig schmeckte. Der Anisgeschmack war nicht verschwunden, obwohl sie Zähne geputzt hatte. Kasper lag im Bett und wartete auf sie.

»Zieh die Maske auf«, kommandierte er. Er hatte seine eigene nicht abgenommen.

»Wir werden ja wohl nicht damit schlafen?«

»Nein! Wir werden absolut nicht schlafen.«

Seine Augen schimmerten in der Maske, während sie ihre umband, ohne sich zu beeilen, damit er reichlich Zeit hatte, ihren Körper durch das dünne Nachthemd anzuschauen. Es war, als ob sie sich hier in Venedig auf eine ganz andere Art liebten. Viel intensiver. Schärfer. Vielleicht war es bloß die Urlaubsstimmung, die dafür sorgte. Dass sie Zeit für einander hatten und die Sorgen in Dänemark geblieben waren. Sie war freier als sonst und spürte deutlich, dass Kasper diese neue Seite an ihr genoss.

Der Klang heulender Sirenen weckte sie. Zuerst wusste sie nicht so recht, was sie hörte und wo sie war, aber als sie das orangefarbene Interieur des Hotelzimmers erkannte, wurde es ihr schnell klar, und sie wunderte sich noch mehr über die Sirenen in einer Stadt ohne Autos. Der Sambuca-Geschmack war immer noch nicht verschwunden. Es pochte in ihrem Kopf; sie griff danach, als wollte sie feststellen, ob der Druck im Gehirn weniger geworden war. Sie wollte Kasper wecken, brachte es aber doch nicht übers Herz. Stattdessen wand sie sich vorsichtig aus seinem Arm, schlich aus dem Bett und schob die schweren Vorhänge ein bisschen auseinander. Von ihrem Fenster im Albergo San Marco hatte man Aussicht auf den Kanal und eine kleine Brücke.

Die blinkenden Blaulichter des Polizeiboots warfen ein gespenstisches Licht in den Nebel, der leicht über der Wasseroberfläche lag. Es war noch nicht hell. Sie kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht erkennen, was sich dort unten abspielte. Einige Schaulustige hatten sich um die Stelle versammelt. Ohne zu viel Lärm zu machen öffnete sie den Schrank, zog ihre Jacke über das Nachthemd und schlüpfte mit den nackten Füßen in ein Paar Sandalen. Kasper drehte sich im Bett um. Sie wartete, bis er wieder ruhig atmete, ging leise aus der Tür und lief die Treppe hinunter. Der Morgennebel schlang sich wie kalte Zungen um ihre Füße und nackten Beine. Ein schwacher Geruch von Salzwasser und Tang, von dem ihr übel wurde, lag in der Luft. Die kleine Schar, der sie sich langsam näherte, stand ganz am Rand des Kanals. Die Gruppe war still, fast wie gelähmt oder versteinert. Jemand schubste sie nach vorn, und, ohne es zu wollen, stand sie plötzlich in der ersten Reihe. Ein Polizist hielt sie zurück, aber sie schaffte es, einen zweiten hinter ihm wahrzunehmen, der den Reißverschluss eines schwarzen Leichensacks schloss, schaffte es, eine blutige Masse unter blonden Haaren zu erspähen, die nass vom schmutzigen Wasser zusammenklebten und dunkel wirkten, schwach gelblich. Der Beamte schob die vordersten Schaulustigen wieder weiter zurück und rief etwas auf Italienisch, das sie nicht verstand. Sie nahm daher nicht wahr, dass sich ihr jemand von hinten genähert hatte. Ihr kalter Körper zuckte, als sie fest an den Schultern gepackt wurde. Kasper stand hinter ihr. »Was ist da los?«

»Sie … haben eine junge Frau im Kanal gefunden; sie … ist tot.« Ihre Stimme klang vor Kälte und Entsetzen abgehackt. Kasper drehte sich um und sprach Englisch mit einem Paar hinter ihnen, sie hörte nicht zu, damit beschäftigt, dem Polizeiboot nachzuschauen, das in dem schmalen Kanal wegsegelte und Kielwasser aufwirbelte, das die ersten Gondeln des Morgens ins Schwanken brachte. Ein Klumpen aus einer Plastik-Colaflasche, zerknüllten Zigarettenschachteln, Eispapier und Kippen schlug gegen die algengrüne Mauer bei der Brücke, von den Wellen nach vorne geworfen, als ob sie den Abfall wieder an Land drücken wollten: zurück zu denen, die ihn weggeworfen hatten.

»Komm, lass uns gehen. Es ist zu kalt. Komm jetzt.« Kasper hielt sie wieder an den Schultern. Schwach und willenlos folgte sie ihm zurück zur Treppe des Hotels. Es war das erste Mal, dass sie einen toten Menschen gesehen hatte, und das Gesicht war weg gewesen. Zerschmettert.

»Was haben die, mit denen du geredet hast, gesagt?« Die Stimme zitterte.

»Sie wussten nicht so viel, aber einer der beiden meinte, es sei ein dänisches Mädchen, vielleicht eine von denen an der Bar heute Abend. Sie muss in den Kanal gefallen sein. Die beiden waren ja auch ziemlich betrunken. Schrecklich.«

»Was ist dann mit dem anderen Mädchen?«

Kasper zuckte die Schultern.

Das Hotel wirkte auch wie ausgestorben. Es kam nicht der übliche Lärm aus der Küche und das Klirren mit Tassen aus dem Speisesaal, der sie sonst morgens um diese Zeit immer geweckt hatte. Sie waren sich einig, mit dem Kofferpacken anzufangen, da ohnehin keiner von ihnen schlafen konnte. Sie stopfte den Laptop in ihr Handgepäck. In den Zimmern gab es kein WLAN, nur in den Gemeinschaftsräumen, und es kostete zehn Euro pro Stunde. Kaspers Gesicht hatte gestrahlt, als sie sich darüber beschwert hatte, dann hatte er aber begriffen, auf sie verzichten zu müssen, wenn sie mit dem Laptop unterm Arm verschwand. Ihre Facebook-Freunde wären enttäuscht, wenn sie nicht mit täglichen Berichten und direkten Fotos von der Reise auf den neuesten Stand gebracht werden würden. Sie hatte es ihnen versprochen.

»Hast du meine Tasche gesehen, Kasper?« Sie suchte immer verzweifelter, verwirrt und fassungslos, als sie nicht auf dem Stuhl an der Tür stand, wo sie sie für gewöhnlich hinstellte, und auch sonst nirgendwo in ihrem Zimmer zu finden war.

»Nee. Hattest du sie eigentlich aus der Bar mitgenommen?«

Sie versuchte sich zu erinnern, wie es war, als sie spät in der Nacht aufs Zimmer gegangen waren. Hatte sie die Tasche dabeigehabt? Hatte sie sie in der Bar liegen gelassen? Alles verschwamm wie im Nebel. Sambucanebel. Normalerweise hatte sie nicht besonders oft eine Tasche mit, daher wäre es nicht so abwegig, dass sie sie vergessen hatte.

»Verdammter Mist! Wie blöd kann man sein?!«, rief sie aus und gestikulierte ärgerlich mit den Armen.

»Das kann doch mal passieren. Du warst sicher auch nicht ganz du selbst heute Nacht. Die Maske hat etwas mit dir gemacht.« In seinem Blick lag ein gespielter Vorwurf, aber sie konnte spüren, dass auch ihn der Zwischenfall vor dem Hotel erschüttert hatte.

Die Maske! Sie starrte auf den Nachttisch. Da lag die Maske des toten Mädchens. Sie war sich beinahe sicher, dass sie diejenige war, die in dem Leichensack gelegen hatte, obwohl sie ihr Gesicht nicht gesehen hatte. Plötzlich kam sie ihr unheimlicher vor als die weißen Baute-Masken. Eine noch eindrücklichere Erinnerung an den Tod in Venedig.

»Wie kannst du mit dieser Maske Witze machen, Kasper. Das war ihre! Das war die, die ich gesehen habe … tot.«

»Du hast das tote Mädchen gesehen?«

Sie nickte und konnte die Panik unter der Haut spüren.

Kasper legte schnell einige zusammengefaltete Hemden in seinen Koffer und nahm sie in den Arm.

»Wieso bist du auch da runtergegangen, Schatz? Warum hast du mich nicht geweckt? Das mit der Katze, du weißt schon.«

Sie bemühte sich vergeblich um ein Lächeln.

»Wir kannten sie doch nicht, Sara. Und was können wir tun?«

Sie verbarg das Gesicht an seiner Schulter. »Was ist denn mit meiner Tasche?«, murmelte sie in den weichen Baumwollstoff des T-Shirts, das nach Kasper duftete. Klammerte sich an ihn und an etwas, das ihre Gedanken von dem Anblick der Toten ablenken könnte.

»Ich laufe runter zur Bar und hör mal, ob sie sie gefunden haben. Hast du Wertsachen da drin, außer Kreditkarten, die wir sperren lassen, falls sie weg ist?«, fragte er.

Was war in der Tasche? Das Ganze rotierte wie eine Zentrifuge in ihrem Kopf.

»Ich glaube nicht, ich … doch! Mein Pass! Wir hatten ihn doch gerade von der Rezeption zurückbekommen. Verdammt noch mal, mein Pass ist in der Tasche!«

»Wir finden sie«, versprach Kasper.

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