Renate Kunze

»Ich bin müde, kraftlos und herzleer«

Wie Mütter die Magersucht und Bulimie ihrer Töchter erleben und bewältigen

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Beltz Taschenbuch 171

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© 2006 Beltz Verlag,Weinheim und Basel

Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal

Umschlagabbildung: © mauritius images/AGE

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-22413-2

Über dieses Buch:

Verschiedene Theorien zur Psychosomatik essgestörten Verhaltens weisen besonders den Müttern eine Schlüsselrolle im Hinblick auf die Essstörung ihrer Kinder zu. Dies betrifft ihre Beteiligung sowohl an der Entstehung der Störung als auch an deren Aufrechterhaltung. Dabei fällt auf, dass die Mütter in der Literatur fast ausschließlich aus Sicht der Betroffenen und Therapeuten beschrieben werden. In diesem Buch melden sie sich das erste Mal selbst zu Wort: Was bedeutet die Essstörung ihrer Tochter für sie selbst und die übrigen Familienmitglieder, wie gehen die Mütter mit ihren Schuldgefühlen, mit ihrem Leid, ihrer Hilflosigkeit, aber auch mit ihrer Aggression und Wut um? Wer unterstützt sie im Kampf gegen die Krankheit ihrer Tochter und von wem fühlen sie sich im Stich gelassen?

Aus der Erfahrung von mehr als 70 Müttern essgestörter Mädchen und Frauen ergeben sich am Ende des Buches viele Ratschläge, wie mit der Situation am besten umzugehen ist und die Einsicht, dass die Krankheit in vielen Fällen erfolgreich bekämpft werden kann.

Die Autorin:

Renate Kunze ist promovierte Diplompsychologin und Psychotherapeutin und hat viele Jahre als Elternberaterin und Therapeutin für Essstörungen am Zentrum für Diagnostik und Psychosoziale Beratung an der Universität Bremen gearbeitet. Ihr Buch beruht auf einem Artikel und Leserbriefen in der Zeitschrift »Brigitte« und einer anschließenden Studie an der Universität Bremen, in deren 6-jährigem Verlauf über 70 Mütter magersüchtiger oder bulimischer Töchter nach ihren Erfahrungen befragt wurden. Renate Kunze lebt in Bremen.

VORBEMERKUNG

Ich bin müde, kraftlos und herzleer...

Mein Mann richtet mich immer wieder auf, ohne ihn wäre ich schon längst übergeschnappt.

Es gab schon Momente, da dachte ich, es geht einfach nicht mehr weiter, mehr erträgst du nicht!

Ich konnte den Anblick meines Kindes, welches zuvor ein Energiebündel gewesen war, nicht mehr ertragen. Sie war gelblich-bläulich, ihre Hände erinnern an ein Skelett, ihr Körper an die Leichen im KZ. Im August hatte ich einen Hörsturz.

Ich finde es eine ganz grausame Krankheit für die Kinder, die Mütter und die ganzen Familien, es erscheint alles kaputt.

Dieses sind Aussagen von Müttern, deren Töchter an einer Essstörung erkrankt sind. Was ist das für eine Krankheit, die Mütter so mitleiden lässt?

Unter Essstörungen werden seelische bzw. psychische Störungen erfasst, die sich vorrangig in Form eines auffälligen Essund Ernährungsverhaltens manifestieren. In diesem Buch geht es um Magersucht und Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder auch um eine Kombination von beiden (weitere Erläuterungen siehe Anhang).

Von Essstörungen betroffen sind hauptsächlich Frauen (ca. 95 Prozent der Erkrankten sind weiblich). Da es sich in der Regel um junge Frauen oder Mädchen handelt, leben viele Betroffene noch in den Familien oder haben eine starke Bindung an die Ursprungsfamilie. Daraus resultiert eine intensive Konfrontation der Familien – und hier insbesondere der Mütter – mit den Symptomen und Auswirkungen der Krankheit.

Verschiedene Theorien zur Psychosomatik essgestörten Verhaltens weisen besonders den Müttern eine große Bedeutung im Hinblick auf die Essstörung ihrer Kinder zu. Dies betrifft sowohl ihre Beteiligung an der Entstehung der Störung wie an deren Aufrechterhaltung. Dabei fällt auf, dass die Mütter in der Literatur fast ausschließlich aus der Sicht der Betroffenen oder der Therapeutinnen und Therapeuten beschrieben werden. Viele Mütter fühlen sich unverstanden, in Schubladen abgelegt oder als Sündenböcke. Für ihre eigene Betroffenheit, ihre Hilflosigkeit, ihr Leid und ihre Belastung im Zusammenhang mit der Essstörung ihres Kindes finden sie selten Gehör.

Deswegen erschien es mir sinnvoll, den Blickwinkel einmal zu verändern: nämlich Mütter zu fragen, was die Essstörung ihrer Tochter für sie bedeutet, und ihnen Gelegenheit zu geben, von ihrem Erleben zu berichten. Was belastet die Mütter und wie bewältigen sie die Probleme? In welcher Weise tragen Familie und Freunde zur Bewältigung oder auch im Gegenteil zu einer weiteren Belastung der Mütter bei? Wie verändert sich das Leben der Mütter?

Zunächst stand allerdings einer Realisierung dieses Projektes ein Problem im Wege: Wie genügend auskunftsbereite Mütter finden? So war es z.B. nicht möglich, über Fachkliniken oder Beratungsstellen an Adressen von betroffenen Müttern zu gelangen (Datenschutz), so dass ich das Projekt zunächst aufgab. Dann entschloss ich mich, über einen eher ungewöhnlichen Weg zu versuchen (Leserbrief an die Zeitschrift »Brigitte«), Mütter zu finden. Nach Veröffentlichung dieses Briefes erreichten mich viele Telefonanrufe und Briefe von Müttern, die nicht nur bereit waren, über ihr Erleben Auskunft zu geben, sondern darüber hinaus sehr froh waren, einmal ihre Sicht der Dinge darlegen zu können. Ich hatte offensichtlich bei ihnen einen Nerv getroffen.

Kommentare von Müttern:

Abgesehen von meiner Tochter durchwanderte ich eine sehr lange Leidenszeit, Hilfe bekam ich nirgends, im Gegenteil. Ganz bestimmt greifen Sie ein Thema auf, um das sich noch kaum jemand Mühe machte.

Endlich jemand, welcher auch mal an die leidgeprüften Eltern denkt ... Wir sind dabei, um es ganz deutlich zu sagen, fast vor die Hunde gegangen. Es war einfach furchtbar ...

Es tut gut, dass sich mal jemand Gedanken macht, wie es uns Müttern, Vätern und auch Geschwistern mit diesem Problem geht.

Mit Unterstützung durch die Universität Bremen habe ich dann gemeinsam mit meiner Kollegin Elke Niermann-Kraus eine Längsschnittstudie zum Belastungserleben und Bewältigungshandeln von Müttern magersüchtiger und bulimischer Töchter durchgeführt (Mütter von Söhnen hatten sich nicht gemeldet). Durch die Briefe der Mütter hatten wir schon einen Einblick in deren Denken und Fühlen erhalten und konnten so einen Fragebogen mit speziell auf diese Problematik zugeschnittenen Fragen entwerfen, die von den Müttern in freier Wortwahl beantwortet werden sollten (siehe auch Anhang). 94 Mütter von betroffenen Töchtern aus der gesamten Bundesrepublik (drei aus dem Ausland) waren bereit und motiviert genug, an der Befragung I teilzunehmen. Wir waren beeindruckt von der Offenheit und dem Engagement, mit dem viele Mütter sich die Mühe der schriftlichen Beantwortung der Fragen machten.

Uns ließen diese »Schicksale« nicht los, und es interessierte uns sehr, wie es den Müttern und Töchtern in der Folgezeit erging. So starteten wir eineinhalb Jahre später eine zweite Befragung mit denselben Müttern. Diesmal beteiligten sich 46 Mütter daran. So konnten wir erfahren, wie sich der Gesundheitszustand der Töchter verändert hatte, wie es den Müttern ergangen war und wie deren eigenes Befinden war.

Das Thema beschäftigte uns auch weiterhin sehr. Daher entschlossen wir uns nach weiteren viereinhalb Jahren, noch einmal alle Mütter anzuschreiben und sie erneut um die Beantwortung der Fragen zu bitten (Befragung III). 45 Mütter scheuten auch diesmal den Aufwand nicht, teilten uns ihr Erleben und Befinden mit und informierten uns über den weiteren Verlauf der Erkrankung bzw. Gesundung der Tochter.

Alle drei Befragungen wurden nach wissenschaftlichen Kriterien ausgewertet. Die Ergebnisse habe ich in Form einer Dissertation mit dem Titel »Belastungserleben von Müttern magersüchtiger und bulimischer Töchter unter Einbeziehung des familiären, sozialen und institutionellen Kontextes sowie Aspekte der Bewältigung« an der Universität Bremen veröffentlicht.

Das hier vorliegende Buch habe ich für die Mütter geschrieben. Die wichtigsten Ergebnisse der Befragungen werden vorgestellt und mit vielen Zitaten unterlegt (sie sind im Text – wie die obigen Zitate – jeweils kursiv gedruckt). So wird in lebendiger Weise die ganz persönliche Sicht der Mütter in Bezug auf die Essstörung ihrer Töchter deutlich und ihr subjektives Erleben nachvollziehbar.

Allen Müttern, die sich an den Befragungen beteiligt haben, schulde ich großen Dank. Sie waren bereit, ihre Gedanken und Gefühle in großer Offenheit mitzuteilen und haben dadurch unser Blickfeld in Bezug auf die Situation der Familien sehr erweitert.

Ferner gilt ihnen meine ganz besondere Achtung und Anerkennung für ihre jeweils sehr persönliche und mutige Auseinandersetzung mit dieser Krisenerfahrung in ihrem Leben.

Renate Kunze

TEIL I
KRANKHEITSBEGINN UND KRANKHEITSVERLÄUFE

1

Wie fing alles an?
»Zuerst ist mir die Veränderung meiner Tochter gar nicht so aufgefallen ... «

Ja, wie fing es an? Diese Frage kann ich nicht einmal beantworten. Es fiel mir nur mehr und mehr auf, dass die Esssachen wesentlich schneller aus dem Kühlschrank verschwanden, als sie reingekommen sind. Es war ein schleichender Prozess. Manchmal denke ich, dass schon vor einigen Jahren alles anfing. Meine Tochter war oft mittags allein zu Haus, weil ich meine Mutter betreuen musste.

Viele Mütter, besonders von bulimischen Töchtern, können einen genauen Beginn nicht angeben. Erst im Nachhinein erinnern sie sich an Auffälligkeiten und Begebenheiten, denen sie aber bei deren Auftreten keine besondere Beachtung schenkten. So kann es Monate dauern, bis die Essstörung in ihrem Ausmaß erkannt wird, besonders da die bulimischen Mädchen und Frauen vom äußeren Erscheinungsbild meist unauffällig schlank sind. Ihren Essanfällen und dem nachfolgenden Erbrechen geben sie in der Regel nur heimlich nach, wie sie überhaupt versuchen, ihre Situation zu verheimlichen.

Am Anfang merkte man nur, dass dieses Mädchen nicht mehr regelmäßig zu den Mahlzeiten erschien und auf Bitten nicht reagierte, zum Essen zu erscheinen ... Bis ich dann durch Zufall nach einem Essen, das meine Tochter kochte und auch mitaß, am Bad vorbeikam. Meine Tochter war mit Erbrechen beschäftigt und verhielt sich auf meine Fragen sehr abweisend. Ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen, mal schlecht sein ist keine Krankheit ... Jetzt endlich begriff ich die fehlenden Lebensmittel, die ich manchmal gesucht hatte.

Die Schwierigkeit ist, dass man schon tief in der Krankheit drinsteckt, ehe man konkrete Anzeichen selbst feststellt. Mütter und Töchter müssten besser aufgeklärt werden und »hellhöriger« gemacht werden für beginnende Anzeichen.

Die später magersüchtigen Töchter kündigen ihre Diätbemühungen durchaus an und die Mütter finden das Diätverhalten ihrer Tochter zunächst ganz normal. Das verwundert nicht, denn welche Mutter ist nicht mit Diäten vertraut? Selbst wenn sie selber nicht hin und wieder Diät hält, so wird sie doch – wie auch ihre Tochter – ständig mit den vielen Diätlebensmitteln und neuen Schlankheitskuren konfrontiert. Kann man sich ein Frühjahr vorstellen ohne Aufforderung in den Illustrierten und Frauenzeitschriften, nun aber an den Sommer und die Bikinizeit zu denken und anzufangen, den Körper in Form zu bringen, die Pfunde purzeln zu lassen? So ist nachzuvollziehen, dass ein Teil der Mütter die Diätbemühungen der Tochter zunächst positiv beurteilte, ja sogar voll Bewunderung für die Tochter war wegen ihres Durchhaltevermögens.

Hatte zuerst nichts dagegen, wenn sie ein paar Pfund abnimmt. Sie war ja körperlich nicht unterernährt und wog bei einer Größe von ca. 1,60 m immerhin ca. 120 Pfund.

Ich habe lange geglaubt, dass meine Tochter eine erfolgreiche Leistungssportlerin werden wolle, und empfand auch Stolz dabei. Dann imponierte mir die Konsequenz in der Ernährung, bis ich große Angst aufgrund des Abmagerns bekam.

So schöpfen die meisten Mütter erst allmählich Verdacht. Sie merken, dass die Tochter auch nach Erreichen des ursprünglich angestrebten Gewichtes mit ihrem Diätgehabe nicht aufhört, sondern immer konsequenter wird. Sie sehen diese Situation zunächst als Herausforderung an, weil sie aufgrund ihrer mütterlichen Fähigkeiten erwarten, die Tochter schon wieder zum Essen und zu einem vernünftigen Verhalten zu bringen.

Ich konnte mir damals allerdings noch nicht vorstellen, wie schlimm alles war. Und ich träumte noch davon, als Mutter wieder alles in Ordnung bringen zu können.

Eine Reihe von Müttern hatte noch nie etwas von Magersucht oder Bulimie gehört, ihnen waren Essstörungserkrankungen unbekannt. Der Gewichtsverlust der Tochter ließ sich für sie ganz einfach erklären: Der kommt daher, dass die Tochter so wenig isst. Sie muss eben nur wieder mehr essen, dann wird sie auch wieder zunehmen. Solche Gedanken beruhigen die Mütter zunächst, denn es liegt außerhalb ihres Vorstellungsvermögens, dass ein Mensch nicht wieder anfängt, ausreichend zu essen.

Unsere Tochter ist seit dem Sommer voll in ihrer Krankheit, und es hat lange gedauert, bis wir richtig begriffen, was das eigentlich bedeutet. Denn obwohl ich einen medizinischen Beruf habe (MTA), wusste ich nichts über diese

Krankheit ... Jedenfalls, als bei uns der Groschen rutschte, war es bei ihr schon viel zu spät.

Die meisten Mütter ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es nicht wirklich um Essen bzw. Nichtessen geht, sondern dass das Essverhalten nur das Symptom für etwas anderes ist. Sie ahnen nicht, dass ihre bis dahin meist in Schule und Sport erfolgreiche, hübsche und in der Familie unauffällige, »normale« Tochter mit sich, ihrem Leben und ihrem Körper höchst unzufrieden ist. So unzufrieden, dass sie glaubt, unbedingt etwas ändern zu müssen.

Dann taucht bei ihr z.B. plötzlich der Gedanke auf: »Wenn ich nur dünner wäre, eine so gute Figur hätte wie meine überall beliebte und dazu noch erfolgreiche Klassenkameradin, dann wäre alles ganz anders.« Und sie beginnt mit einer Diät.

Sie hat Erfolg damit, fühlt sich plötzlich nicht mehr klein und unzulänglich, sondern stark und besonders. Sie schafft etwas, was ihre Freundin oder ihre Mutter oder Schwester nicht schaffen. Sie ist wer. Sie hat Kontrolle über ihren Körper und – wie sie glaubt – damit über ihr Leben. Was ihr vorher Angst gemacht hat, tritt zurück. Sie glaubt, damit endlich den perfekten Weg zu einem zufriedenen Leben gefunden zu haben.

Das Fatale ist, dass die anderen Probleme, die sie vorher hatte, tatsächlich abnehmen, und zwar je länger und tiefer sie in die Welt der Essstörungen rutscht. Nicht, weil sie gelöst wären, sondern weil sie sie nicht mehr wahrnimmt. Ihre Welt ist so begrenzt und so reduziert, dass sie eine täuschende Sicherheit bietet. Es interessiert sie nichts anderes mehr als ihr Gewicht, deshalb berührt sie auch nichts anderes mehr wirklich. Die Essstörung bedeutet zu dieser Zeit erfolgreiche Lebensbewältigung für sie, und deshalb ist sie eisern entschlossen, daran festzuhalten, egal, was ihre Mutter meint oder wünscht.

Schließlich bemerken die Mütter, dass etwas Gravierendes mit ihrer Tochter nicht stimmt, sie beobachten das Verhalten der Tochter genau. Vielleicht haben sie in einer Zeitschrift einen Artikel über Essstörungen gelesen und sind nun sehr hellhörig. Sie besorgen sich Literatur oder versuchen sich anderweitig zu informieren, drängen auf einen Arztbesuch.

Eine Bedrohung gleich zu Beginn der Wahrnehmung einer Veränderung der Tochter empfinden nur solche Mütter, die über Essstörungserkrankungen informiert sind.

Zu Beginn der Krankheit war ich »fassungslos«. Als »Fachfrau« kannte ich die Krankheit und wollte zuerst auch nicht wahrhaben – uns hat es getroffen!

Ich erkannte rasch, dass meine Tochter magersüchtig war. Zunächst konnte ich es nicht fassen, dass das, was doch höchstens nur anderen zustößt, nun mich selbst betreffen sollte.

Es war für mich nicht vorstellbar, dass unsere Familie betroffen sein könnte.

Und so kommt es ebenfalls vor, dass wahrgenommene Symptome erst einmal abgewehrt werden (weil nicht sein kann, was nicht sein darf).

Gedanken an die Krankheit »Magersucht« kamen schon ziemlich früh und wurden dann für Monate verdrängt. Dann aber war ich mir sicher und der Hausarzt bestätigte mich. Sofortige Suche nach Hilfe.

Man kann aus den Zitaten erkennen, dass die Essstörung der Tochter von diesen Müttern nicht nur als eine Bedrohung für die Tochter selbst wahrgenommen wird, sondern ebenfalls als eine Bedrohung für die eigene Person und die ganze Familie.

Anhand der Ausführungen der Mütter kann festgestellt werden, dass häufig die Mütter die Diagnose Magersucht vor den Ärzten stellten und – zumindest in den hier vorliegenden Fällen – immer Recht hatten. Nicht selten beurteilten die Ärzte die Situation zunächst falsch.

Zuerst ist mir die Veränderung meiner Tochter gar nicht so aufgefallen. Erst als es immer extremer mit dem Verlust des Gewichtes wurde, ergriff ich Maßnahmen und ging zum Hausarzt. Der sagte, das wären Pubertätsprobleme, ich sollte ihr nur Nahrungsmittel geben, auf die sie Appetit hat. Sorgen wären null angebracht.

Im Sommer mit meinem Hausarzt gesprochen, der aber nichts Gefährliches an ihrem Verhalten entdecken konnte und sie über Monate mit Mineralien versorgte. Im Herbst mit ihrem Klassenlehrer, der »aus allen Wolken fiel« und mich als überbetuliche Mutter abservierte. Ich war verunsichert und wurde es noch mehr, als ich im gleichen Herbst den Nervenarzt aufsuchte, den meine Tochter von sich aus um Rat gefragt hatte und der ihr dann Medikamente – Antidepressiva (pflanzliche) – verordnete.

Schickte sie zur Blutuntersuchung zur Hausärztin (schon sichtbarer Gewichtsverlust auf 49 kg) ... Überweisung und Ergebnisse unter Druck für Internisten abgeholt. Ergebnis: Leichte Schleimhautentzündung nach Magenspiegelung. Über meine Besorgnis »Magersucht« bekam ich eins aufs Dach. Ich bin der Arzt, merken Sie sich das! Antwort: Ja, aber ich bin die Mutter! Inzwischen Mitte Januar, 45 kg. Neuer Hausarzt. Sie hat Seh- und Hörprobleme, Schwindel, Konzentrationsschwierigkeiten, fällt in der Schule stark ab, fehlt oft oder muss früher abgeholt werden. Tagsüber schläft sie sehr viel ... Blutwert-Ergebnisse miserabel. Neuer Anlauf auf Essstörung wird total abgeblockt. Langsam fange ich an zu verzweifeln. Vitamine, Eisen werden verschrieben, aber den überbehütenden Müttern schenkt man ein müdes Lächeln ...

Es gibt auch Mütter, die angeben, nichts gemerkt zu haben und erst durch den Hinweis von außenstehenden Personen aufmerksam geworden zu sein, z.B. wenn die Tochter zum Studieren in einer anderen Stadt lebt und dadurch ihre Krankheit lange Zeit verbergen kann.

Über den Anfang der Krankheit kann ich keine Angaben machen. Wir wurden durch gemeinsame Bekannte, denen sich unsere Tochter anvertraute, informiert ... Ich war schockiert und betroffen.

Besonders bei Müttern von rein bulimischen Töchtern hängt es sehr von der jeweiligen Situation ab, ob sie etwas merken oder nicht. Verfügt die Tochter über genügend eigenes Geld, um damit ihre Essanfälle zu finanzieren, die sie in aller Regel heimlich abhält, beseitigt sie die Spuren gründlich, dann kann es sehr lange dauern, bis die Mutter aufmerksam wird. Isst die Tochter allerdings den Kühlschrank leer oder bedient sich anderer Vorräte, dann tritt die Essstörung zutage und die Konflikte sind vorprogrammiert.

Ich hatte zu der Zeit Wutausbrüche, weil ich genau wusste, dass ich oder mein Mann die Lebensmittel gekauft hatte, sie waren ja nicht mehr da, spurlos verschwunden. Ich dachte immer, verrückt zu sein.

Fragt man, wie viele Monate zwischen dem Zeitpunkt des Aufmerksamwerdens der Mutter bis zur offiziellen Diagnose Magersucht bzw. Bulimie gelegen haben, so kann nach einem groben Raster gesagt werden, dass ca. die Hälfte der Mütter über einen Zeitraum von einem halben bis zu einem Jahr berichtet, bei der anderen Hälfte dauerte es sogar länger als ein Jahr.

Wie ging es weiter?

Die Wahrnehmungen der Mütter decken sich mit den aus der Fachliteratur bekannten Verhaltensweisen von Betroffenen. Sie sollen hier aber trotzdem kurz dargestellt werden, weil sie die Konfrontation mit den Essstörungen anschaulicher machen als die nüchterne klinische Sprache.

Auffälligkeiten im Ess- und Ernährungsverhalten der Tochter
»Sie aß so gut wie nichts mehr ... «

So registrieren Mütter von magersüchtigen Töchtern das Meiden/Ablehnen bestimmter Nahrungsmittel, meist beginnend mit kalorienreichen Nahrungsmitteln wie Kuchen, Süßigkeiten, Fetten (Butter, Sahne, Soßen), Kartoffeln, Nudeln. Allmählich oder auch recht schnell und rigoros – das ist individuell ganz unterschiedlich – werden dann weitere Einschränkungen praktiziert, so dass nur noch kalorienarme Nahrungsmittel wie Knäckebrot, Diätlebensmittel, Joghurt, Magerquark, Obst und Gemüse übrig bleiben. Selbst diese Nahrungsmittel konsumiert die Tochter nur in geringen Mengen, teilweise genauestens (z.B. mit einer Briefwaage) abgewogen. Dazu werden große Mengen Mineralwasser, Tee, Gemüsebrühe, Lightsäfte getrunken.

Erst keine Kartoffeln, Reis, Nudeln mehr, keine Soßen, dann kein Schulbrot mehr.

Sie trank zum Frühstück Wasser, aß trockenes Brot, nahm Karotten und Gurken mit zur Schule und aß nur kalorienarme Sachen. (Die Liste ist lang.)

Alle Speisen wurden genau geprüft auf den Inhalt und am meisten die Kalorien. Sie wusste alle Kalorienzahlen der verschiedenen Nahrungsmittel. Beim Kochen stand sie hinter mir und beobachtete genau, was ich an Zutaten verwendete.

Mütter von bulimischen Töchtern beschreiben den Verzehr großer Mengen z.B. von Käse, Margarine, Süßigkeiten, Schokolade, Keksen. Sie schließen dies aus dem Verschwinden von Nahrungsmitteln oder auch aus dem Auffinden entsprechender leerer Verpackungen. Oft greifen die Töchter, ohne Rücksicht zu nehmen, auf die Vorräte für die Familie zurück. Sie nehmen in Kauf, dass die anderen Familienmitglieder sie als rücksichtslos empfinden und voller Wut darüber sind.

Sie macht das alles heimlich und doch wieder offen. Mit uns zusammen isst sie nicht und leer gegessene Packungen lässt sie offen liegen.

Aber m. E. sind es auch die praktischen Auswirkungen der Bulimie, die einen in den Zustand der Verzweiflung treiben: Vorräte werden radikal weggegessen; riesige Essensberge vertilgt, die Wohnung durchzieht ein ständiger Fettgeruch nach Pommesfrites, dann die Geräusche im Bad usw. usw.

Ich kaufe am Samstag ein und Montag habe ich nichts mehr im Kühlschrank, bzw. wenn ich sie frage, sagt sie, ich hätte das nicht kapiert, sie wäre krank.

Nichts Essbares konnte irgendwo stehen bleiben. Im Keller die Einmachgläser, egal, was drin war, mussten dran glauben. War zu Hause nichts Essbares, ging sie in die Stadt und kaufte sich ganze Kuchenberge, um sie irgendwo in sich hineinzustopfen.

Bei mehr als einem Drittel der Betroffenen dieser Befragung haben sich im Laufe der Erkrankung die Symptome vermischt: besonders magersüchtige Töchter halten ihr strenges Hungern nicht mehr durch und zeigen auch bulimische Symptome, so dass typische Verhaltensweisen von Magersucht und Bulimie auftreten.

Manchmal hat sie Unmengen gegessen und dann wieder ausgespuckt, aber es gab auch Zeiten, in denen sie wenig gegessen hat. Sie hat dafür Unmengen getrunken. Tee ohne Zucker natürlich.