cover.jpg

Birgit Dechmann; Elisabeth Schlumpf

Lieben ein Leben lang

Wie Beziehungen immer besser werden

 

 

 

 

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.beltz.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

1. Auflage

© 2008 Beltz Verlag • Weinheim und Basel

Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal

Umschlagabbildung: © Plainpicture, Hamburg

Konvertierung e-book Zentrale Medien, Bochum

e-book ISBN: 978-3-407-22431-6

Menü

Inhaltsübersicht

Vorwort

TEIL I

Einleitung

1. Kapitel Faszination und Grenzen der romantischen Liebe

Das Glück der Liebe im Spiegel der Wissenschaft

Warum der schöne Zustand nicht ewig bleiben kann

2. Kapitel Wie wird die Liebe lebenstauglich?

Die romantische Liebe ist kein Verhaltensrezept

Himmlische und irdische Visionen der Liebe

Die Kunst, berührende Visionen ins Leben zu tragen

3. Kapitel Ein Paar macht sich auf den Weg

4. Kapitel Du und ich sind nicht dasselbe

Die Spannung zwischen Verschmelzung und Individuierung

Der Wunsch nach Verharren am Pol der Verschmelzung

Unterschiede ausblenden oder anerkennen

Einen Übergang finden zur Individuierung

Der Liebesstil als Indikator der Individuierungstoleranz

Die Love-Map als Hilfe für das Verständnis von Unterschieden

Praktische Hinweise zum Umgehen mit Verschiedenheiten

Biologisch bestimmte Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Wie der visionäre Blick helfen kann

5. Kapitel Der Weg ins Licht führt durch die Schatten der Vergangenheit

Die Kindheit als ein Störsender in Beziehungskrisen

Wie man aus der negativen Übertragung ein Geschenk macht

Wie visionäre Liebesqualitäten beim Auflösen von Übertragungen helfen, und wie dadurch Neues entsteht

Unauflösbare Übertragungen

Kompetenzen zur Verbannung der chronischen Übertragungsmuster

Visionäre Liebesqualitäten helfen auch bei unauflösbaren Übertragungen

6. Kapitel Der verflixte Alltag

Übergänge als Phasen der Verunsicherung

Die Ernüchterung im Alltag

Wenn die Aufgaben des Alltags emotionale Themen triggern

Die Falle der Überverantwortlichkeit

Anleitung zum Erhalten der Liebe im Alltag

Stolpersteine im Alltag und wie man damit umgehen kann

Mit üblen Gewohnheiten im Alltag umgehen

Noch einmal: die visionären Liebesqualitäten

TEIL II

7. Kapitel Intensiv, und das für immer

Sexualität im ganz normalen Alltag

Die sexuelle Revolution und ihre Folgen für die langjährige Zweisamkeit

Wie Liebe und Lust in einer langen Beziehung ganz neu erfunden werden können

8. Kapitel Vom Umgang mit Konflikten

Kategorien von Konflikten

Erhöhen der Konfliktfähigkeit

Strategien und Regeln für den Umgang mit lösbaren oder Alltagskonflikten

Umgang mit Konstellationskonflikten, den »Ewigen«

Das Mögliche vom Unmöglichen unterscheiden

Ein Kurz-Pfad durch den Dschungel der ewigen Konfliktschleifen

Gerade bei »ewigen Konflikten« brauchen wir die visionären Liebesqualitäten

9. Kapitel Hoffnung – trotz allem

Resilienz

Salutogenese

Flow oder die nachhaltige Form von Glück

Ein Mantra der positiven Psychologie

10. Kapitel Am Du zum Ich werden und Heimat finden

Wie uns das DU am Anfang der Beziehung bereichert

Du bist der tiefe Teich, in dem sich mein wahres Gesicht spiegelt

Die Gleichzeitigkeit ersetzt die Kausalität und erschafft den gemeinsamen Wachstumsraum

Wie die gemeinsame Suche und die Erfüllung von Lebensaufgaben das ICH wachsen lassen

Für immer beheimatet: DU bei mir und ICH bei DIR, mit allem, was wir sind

Epilog

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

|4|Für Manfred und Wolfgang

 

|5|Liebe ist gesteigertes Leben.

Ohne Liebe bleiben wir an der Oberfläche der Dinge.

 Zenta Maurina, 1897–1968

|9|Vorwort

Wir alle sehnen uns nach Intensität, Liebe und Geborgenheit. Und wohl die meisten Paare haben die Absicht, sich ein Leben lang genau diese Nähe zu schenken. Wenn sie dann nach vielen Jahren unvermutet in ständigen und oft harten Auseinandersetzungen oder in einer schrecklichen Leere landen, sind sie entsprechend desorientiert. In einer Welt, in der alles leicht gehen soll und angenehm bleiben muss, werden Schwierigkeiten, Unstimmigkeiten oder gar Krisen eben nicht als ein normaler Teil vom Beziehungsgeschehen angesehen.

Leben ist wie Wasser ständig im Fluss, und keine Form der Liebe lässt sich für immer festhalten. Gerade die Auseinandersetzungen mit den dunklen Seiten in uns selber und im Gegenüber helfen dabei, dass das Schöne nicht erstarrt und leblos wird, sondern frisch und in ungewohnten Formen aus gemeinsamen Klärungsprozessen neu entsteht. Dann kann Liebe wirklich unerschöpflich werden.

In unserer therapeutischen Arbeit begleiten wir Menschen gerne auf ihrem Wege zu dieser Art von Begegnung, die Abgründe nicht scheut. Und wir denken darüber nach, wie es möglich werden kann, dass jener Glanz in die Beziehung kommt, der von den Stürmen des Lebens nicht zerstört wird, der sogar immer schöner wird – gerade, weil man sich mit allen Seiten einander konfrontiert.

Dabei gleiten wir nicht in unrealistische Vorstellungen ab, denn auch unsere eigenen Partner haben uns nichts erspart an Höhen und Tiefen in der Beziehung. Und gerade deshalb haben sie uns die Chance gegeben, einen guten Teil unserer Schattenseiten zu transformieren und in diesem Prozess zu wachsen, zu reifen und Glück zu erfahren. Wir fühlen uns dankbar, dass wir so viele Fehler machen durften, bevor wir daraus gelernt haben, wie es einfacher geht.

Auch Freundespaare und die Paare, die wir aus unserer Arbeit kennen – Beispiele im Text sind von ihnen freigegeben –, haben uns vieles gelehrt. Ihre Leidens- und ihre Glücksgeschichten haben uns berührt und uns gezeigt, welche Wandlungskräfte in jedem Menschen liegen. Wir haben gelernt, niemals den Ausgang der Therapie anhand der Schwere der Probleme vorherzusagen, denn immer wieder haben uns Paare unglaublich erstaunt.

|10|Aus allem ist schließlich dieses Buch entstanden. Es formt die gefundenen Weisheiten, die Tiefe und den unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Herzen um: in Gedanken, Geschichten, Übungen, hilfreichen Rat und in viele Ausblicke auf ein ganz besonderes Glück, das aus den Herausforderungen des Alltags erwächst.

Wenn Sie Ihre Vorstellung, dass alles leicht gehen muss, verlassen können, wird das Buch Ihnen helfen, sich nicht mehr negativ miteinander zu verstricken, sondern vorwärtszuleben in eine sich wandelnde Herzensliebe hinein, die auch eine neue und durchaus unerschöpfliche Sexualität enthalten kann.

Für uns beide war die Zusammenarbeit befruchtend und inspirierend. Das Ergebnis ist tief befriedigend.

|11|TEIL I

|12|Einleitung

Jiddhu Krishnamurti, der Weisheitslehrer, schrieb einmal, dass Menschen ihre Beziehungen normalerweise ohne Konflikte leben wollten und er dies für unmöglich hielte. Denn Beziehungen seien so ungefähr das Schwierigste, was wir alle in diesem Leben zu bewältigen hätten, und es wäre wichtig, sich auf diese Tatsache einzustellen. Es hat uns gutgetan, von einem Menschen, der so viel Liebe ausgestrahlt hat und dessen Bewusstsein so präsent war, solche Worte zu hören.1

 

Schön ist die Liebe, und sie weckt unser aller Sehnsucht, aber einfach ist sie nicht.

Viele Menschen kennen die damit verbundene wunderbare Hingabe und Zugehörigkeit, Leidenschaft und Innigkeit. Aber es scheint wenigen zu gelingen, dies alles ein Leben lang zu bewahren. Enttäuscht geben immer mehr Menschen auf, die Liebe in ihrem Leben mit einer einzigen Person zu verwirklichen.

Warum, so haben wir uns gefragt, gelingen denn überzeugende langjährige Beziehungen so selten? Warum sehen wir den erotischen Tändeleien der jungen Paare gerne zu, meiden aber das etwas dumpf nebeneinander schweigende ältere Paar mit unseren Blicken?

Was können wir tun, dass die uns so unermesslich berührenden ersten Kontakte nicht ähnlich traurig enden müssen und unsere Augen in Zukunft genauso magisch von liebevollen und erotischen älteren Paaren angezogen werden wie von den eng umschlungenen jungen Leuten?

Wie können Innigkeit und Leidenschaft mit Alltag und Konflikt in Einklang gebracht werden? Wie kann die ersehnte Liebe auch nach langen gemeinsamen Jahren bestehen bleiben oder sogar noch weiterwachsen? Und könnte ein Buch dabei helfen, dass uns in Zukunft viele solcher faszinierenden Paare dazu inspirieren, sie nachzuahmen?

Wir meinen schon. Allerdings müssen wir uns dafür den aktuellen gesellschaftlichen Hintergrund vergegenwärtigen.

In der Liebeslandschaft haben in den letzten Jahrzehnten nämlich rasante Veränderungen stattgefunden. Viele dieser Veränderungen sind zwar wünschenswert, machen das Zusammenleben |13|aber nicht nur spannender, sondern auch schwieriger. Bücher können dabei helfen, diese neuen Realitäten bei der Beziehungsgestaltung besser zu berücksichtigen. Schauen wir uns also zunächst an, welches die Hauptveränderungen im Liebesleben sind:

  • Es ist noch nicht lange her, da starben die Menschen bereits, als ihre Kinder gerade flügge waren. Heute können Paare durchaus 50 bis 60 Jahre gemeinsam verbringen – eine eindrückliche Zeitspanne, die sich für einige schier endlos ins Leere zu erstrecken scheint.

  • Immer mehr Paare leben ohne Trauschein zusammen. Oft definieren sie nicht einmal, ob es sich um eine Beziehung auf Zeit oder um eine lebenslange Verbindung handelt.

  • Die Einbettung der Menschen in ihrer beider Herkunftsfamilien wird dadurch erschwert. Das offiziell abgesegnete Zugehörigkeitsetikett fehlt, und die Bedeutung familiärer Bindungen nimmt ab.

  • Die Notwendigkeit, aus wirtschaftlichen Gründen zusammenzubleiben, entfällt mit der gesteigerten Konjunktur und der Emanzipation der Frauen. Kinder können nun auch in getrennten Beziehungen aufgezogen werden.

  • Kinder kommen wegen der beruflichen Karrieren beider Eltern immer später auf die Welt. Viele Paare verzichten sogar ganz auf Nachwuchs.

  • Sexualität ist moralisch nicht mehr an eine Heirat gebunden und kann jederzeit frei gewählt werden.

  • Auch Treue wird gesellschaftlich nicht mehr vorgeschrieben, sondern darf vom Paar selber ausgehandelt werden. Die meisten Paare scheinen trotzdem die monogame Lebensform zu wählen. Die gleichzeitig vorhandene Zugänglichkeit von Sexualität mit anderen Partnern und die grundsätzliche Freiheit, diese auch auszuleben, stellen die verabredete Treue jedoch auf eine harte Probe. Im daraus entstehenden Spannungsfeld scheitern viele Beziehungen. Das Resultat ist die so genannte serielle Monogamie, d. h. eine Aneinanderreihung von treuen Beziehungen, die dann bei einem Seitensprung abgebrochen werden.

  • Die romantische Liebe, ein sehr emotionales Beziehungsmodell, ersetzt die alte Vorstellung der Ehe als Schicksals- und Wirtschaftsgemeinschaft. Nun hat man ideale Ansprüche an die Partner |14|und Partnerinnen, denn alles muss so schön bleiben wie zu Beginn: die Innigkeit, die Intensität, das Verstehen, die Treue, die Hingabe, die Gestaltung des Zusammenlebens – einfach alles. Gleichzeitig wachsen die Komplexität und der Stress im täglichen Leben beständig an. Vorstellungen darüber, wie die ideale Liebe in diesem schwierigen Alltag Platz finden soll, werden nicht entwickelt, weil das Modell impliziert, dass alles gelingt, wenn man nur die »Richtigen« findet.2

Und damit kommen wir zu einem wichtigen Punkt. Das alte Beziehungsmodell war solide, unromantisch, pragmatisch, nachwuchsorientiert, stabil, frauenfeindlich und enthielt viele Zwänge einer engen Moral. Es hatte jedoch hinsichtlich gemeinsamer Werte, der Rollenverteilung und Arbeitsteilung in der Beziehung eine solide Grundlage. Gesellschaftlich fand es weitgehende Unterstützung und war deshalb stabil und dauerhaft. Es war sicherlich nicht besonders aufregend, aber es funktionierte lebenslang.

Das neue Modell verspricht den Himmel auf Erden und hat sich zur Freiheit hin geöffnet. Alle Liebenden dürfen in diesem Rahmen nun die eigenen Werte verwirklichen und ihre Handlungen persönlich gestalten, solange dies auf gegenseitigem Konsens beruht, also nicht unter Machtausübung auf das Gegenüber zustande kommt. Diese Freiheit ist wunderbar, aber sie führt auch zu neuen Komplikationen. Der Kern der romantischen Liebe ist verheißungsvoll, den Teufel finden wir erst im Detail.

Die strikte Frauenfeindlichkeit ist vorbei, allen Beteiligten sind grundsätzlich Würde und Selbstverwirklichung gestattet, aber es existieren wenig konkrete Vorstellungen, wie man das nunmehr erlaubte Glück in unserer immer komplexer werdenden Wirklichkeit praktisch umsetzen kann. Hierfür sind Paare leider weiterhin auf die in der Gesellschaft vorhandenen Rollenmuster angewiesen. In Bezug auf die Arbeitsteilung sind diese noch immer viel zu traditionell, und Ziele wie Wachstum, Innigkeit und eine lebenslang lebendige Liebe kommen darin nicht vor.

Diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die eigentlich ein Abgrund ist, wollen wir mit unserem Buch schließen oder wenigstens überbrücken helfen. Vor allem Menschen in langjährigen Verbindungen werden heute vor Fragen gestellt, die sie hinsichtlich der im Raum stehenden Idealvorstellungen nicht mehr beantworten |15|können. Sie bräuchten dringend bessere Modelle und alltagswirksame Verhaltenskompetenzen für ihre Liebe.

Der Anspruch des romantischen Liebesmodells ist sehr hoch.

Vorstellungen, wie man es dauerhaft umsetzen kann, existieren kaum.

Bevor wir jedoch solche Neuerungen vorschlagen, möchten wir das beliebte Ideal in seiner ganzen Schönheit schildern. Es gibt nämlich eine Zeit im Paarleben, wo die Menschen sich wirklich im Einklang mit dem romantischen Modell fühlen: in der Phase erfüllter Verliebtheit. Und wenn wir die Ergebnisse insbesondere der Neurowissenschaften über dieses Phänomen betrachten, verstehen wir, dass sich diese Faszination jenseits der Vernunft in unseren Körpern formt.

|16|1. Kapitel

Faszination und Grenzen der romantischen Liebe

Als Erstes wollen wir mithilfe der Forschung über verliebte Paare die Hoffnungen genauer verstehen, die mit der romantischen Liebe verbunden sind. Erst dann werden wir uns mutig zu den Schattenseiten dieser schönen Vorstellung vorwagen.

Das Glück der Liebe im Spiegel der Wissenschaft

Jana erzählt: »Ich kenne Mike schon seit mehr als 20 Jahren. Da war schon immer das gewisse Etwas zwischen uns, aber richtig zulassen konnte ich es erst, seit ich mich von meinem Mann getrennt habe.

Wenn wir uns berühren, steht die Zeit still. Es ist unglaublich schön. Dazu kommt, dass wir über alles reden können. Und wir lachen so viel miteinander. Alles kann uns dazu inspirieren: ein geheimnisvoller Hinterhof, Mikes manchmal ein wenig steife Höflichkeit, ein Krach mit meinem schwierigen Chef und meine diesbezüglichen heftigen Rachegelüste, wirklich alles. Ich schwärme immer ein bisschen vor mich hin, am Morgen ist die Welt heller, weil er mich bald anruft, am Abend erinnert mich meine Müdigkeit daran, wie gerne ich in seine Arme sinke, und wenn ich seine Stimme höre, macht mein Herz einen Sprung. Alles bekommt durch ihn eine neue Bedeutung. Wenn wir auseinandergehen, freue ich mich schon aufs nächste Mal. Es ist ein bisschen wie eine Sucht. Nur dass wir hinterher nie einen Kater haben. Manchmal macht es mir Angst, ob das vielleicht einmal aufhört.«1

Viele Liebende waren sich – wie Jana und Mike – nicht fremd, als sie zusammenfanden. In einer Umfrage bei tausend Verliebten fand Aron, dass die Hälfte von ihnen schon lange mit dem Partner oder der Partnerin bekannt war, bevor es zwischen ihnen funkte. Das Wunder »Liebe« entsteht also nicht wirklich »auf den ersten Blick«, sondern dann, wenn die Wahrnehmung kippt und plötzlich |17|schmelzend, ungewöhnlich und intensiv wird und wenn man sich vom Gegenüber auf wunderbare Weise ganz tief beachtet und geschätzt fühlt. Verliebte verbringen viel Zeit miteinander, erzählen sich Dinge, die sie noch niemandem erzählt haben und binden sich durch solche Offenbarungen des eigenen Inneren immer enger aneinander.2

Dem Phänomen des plötzlich auftretenden Naturereignisses »Liebe« kann also durchaus eine gewisse Kenntnis des alltäglichen Anderen zugrunde liegen. Woran könnte nun diese besondere Wahrnehmung liegen, die beim Verlieben entsteht und aus dem Gewöhnlichen das Besondere macht?

 

Helen Fischer versucht diese Frage zu klären, indem sie sich diesem Geheimnis aus neurophysiologischer Perspektive annähert. Sie zoomte sich mitten hinein in die Körper der verliebten Menschen. Ihre Untersuchungen ergaben, dass drei verschiedene biochemische Reaktionen ablaufen. Sie fand:3

1. Die erste Phase beginnt mit der Lust

Anfangs bestimmen Hormone die Szene. Östrogen und Testosteron wecken Suchverhalten und Leidenschaft bei Männern wie bei Frauen. Das Ganze kann jedoch wieder abgebrochen werden. Wie wild und heftig die Begegnungen auch immer ausfallen mögen, ohne die nächste Phase werden sie unverbindlich bleiben.

2. In der zweiten Phase findet der Pfeil Amors sein Ziel – das eigentliche Verlieben beginnt

Biochemisch hat dies mit der Ausschüttung von Neurotransmittern, also von Botenstoffen wie Dopamin, Adrenalin, Noradrenalin und Serotonin zu tun. In den Motivations- und Belohnungszentren des Gehirns steigt der Dopaminspiegel an und sorgt, unterstützt vom Stresshormon Adrenalin und Noradrenalin, für Euphorie. Verliebte essen kaum noch, aber sie bersten auch fast vor Energie.

Gleichzeitig sinkt der Serotoninspiegel, was die psychische Ausgeglichenheit verhindert und eine zwanghafte Beschäftigung mit dem Gegenstand der Begeisterung in Gang setzt.

Es entsteht also eine seltsame Mischung aus großer Erregtheit, Glück und einer Art von Wahnsinn. Das wundert kaum: Dopamin wird auch von Kokain und Nikotin stimuliert, Adrenalin mobilisiert |18|Energiereserven, Noradrenalin aktiviert uns gelegentlich bis zum Herzrasen und lässt Schweiß ausbrechen, und der Mangel an Serotonin ist bei Zwangserkrankungen und Depressionen bekannt.

Diese Prozesse sind aufregend. Für eine längere Beziehung braucht es jedoch unbedingt die dritte Phase.

3. In der dritten Phase gehen die beiden eine Bindung ein

Nun werden die Hormone Oxytocin und Vasopressin ausgeschüttet.4 Mit ihrer Hilfe verwandelt dich der tolle Zauber allmählich in Geborgenheit, Ruhe und Vertrauen. Beide Hormone fördern nämlich enge emotionale Bindungen.

Oxytocin und Vasopressin entstehen durch körperliche Berührungen, wie Streicheln und Massagen, sowie während und nach dem Orgasmus. Neuere Untersuchungen zeigen auch, dass Angst und Aggression durch Oxytocin gemindert wird, Stress besser reguliert werden kann und Selbstbewusstsein gefördert wird. Der Entspannungsort im Nervensystem wird also gestärkt.5

 

Eine weitere Tür zum Geheimnis hin öffnet sich, wenn wir die Artikel von Andreas Bartels und Semir Zeki hinzuziehen. Die beiden Forscher untersuchten die Gehirnaktivität von stark Verliebten und von Müttern, während sie Bilder der für sie so wichtigen Personen betrachteten. Sie unterschieden bei den Verliebten jedoch, anders als Helen Fischer, nicht in verschiedene Phasen. Ihre Methode war das funktionelle Magnetresonanz-Imaging (fMRI), ein Verfahren, bei dem man auf einem Bildschirm sichtbar machen kann, welche Hirnareale von Fotos angeregt werden, die man jemandem zeigt.6

Ihre erste interessante Entdeckung war, dass Mütter wie Verliebte, wenn sie die geliebten Wesen betrachten, einige wichtige Areale ihres Gehirns ausblenden. Diese Bereiche betreffen vor allem negative Emotionen, wie Wut, Furcht und Angst sowie die Fähigkeit der kritischen Beurteilung von Mitmenschen.

Die zweite Entdeckung war eine Aktivierung von klar definierten Teilen des schon erwähnten Belohnungssystems beim Anschauen der Bilder. Diese Gehirnareale werden angesprochen, wenn etwas gelingt, aber auch bei der Einnahme von harten Drogen, wie zum Beispiel Kokain. Auch diese Forschung zeigt also, dass es sich |19|hier um besonders euphorische Belohnungsgefühle handeln. Außerdem sind die aktivierten Strukturen noch dicht besetzt mit Rezeptoren für die bereits erwähnten Hormone Vasopressin und Oxytocin. Dies bedeutet, dass die Angst sinkt und das Selbstbewusstsein steigt, und es weist auch auf die bereits erwähnte Stimulierung der gegenseitigen Bindung hin.7

Die Liebe in der Phase der Verliebtheit ...

... ist sehr intensiv;

... führt uns in euphorische Zustände;

... nimmt uns die Angst;

... macht uns stark und selbstbewusst;

... gibt Sicherheit;

... macht uns einzigartig füreinander;

... gibt das Gefühl tiefer Verbundenheit;

... lässt uns die Fehler des Gegenübers ausblenden;

... fällt uns einfach zu, ohne dass wir etwas dafür tun müssen.

In diesen Worten würden wir auch das romantische Liebesmodell beschreiben. Deshalb mögen wir es so. Aber wie sehr wir auch daran hängen, es entschlüpft uns meistens schneller, als uns lieb ist.

Warum der schöne Zustand nicht ewig bleiben kann

Wenn die Jahre vergehen und immer mehr Alltag die Beziehung bestimmt, nimmt das herrliche oben geschilderte Gemisch aus Hormonen, Glück und Idealisierung leider unaufhaltsam ab. Ein Gefühl von Hilflosigkeit breitet sich aus. Traurig müssen die Menschen erfahren, wie sie Schritt um Schritt aus dem Paradies vertrieben werden.

Fast alle, die den schönen Zustand kennen gelernt haben, wünschen ihn sich wieder zurück. Aber wäre das sinnvoll?

Solange alle Hormone und Botenstoffe schwungvoll ihre stimulierenden Runden drehen, werden bei den Beteiligten wahrscheinlich nicht nur Wahrnehmungen für die Fehler des Gegenübers, sondern auch die Aufmerksamkeit für andere Menschen und Tatsachen herabgesetzt bleiben. Liebe in dieser Phase macht nicht nur sehend, sie macht gleichzeitig blind. Wie sollen Paare ihre Arbeitsteilung |20|gestalten oder ihre Kinder erziehen und sie vor Gefahren bewahren, ohne den Zugang zu einem kritischen Bewusstsein zu haben? Es hilft nichts, die Natur muss die kritikfähigen Stellen im Neokortex wieder einrichten, und die Verliebten werden damit konfrontiert, dass es ihnen jetzt nicht mehr gelingt, die Fehler der anderen locker auszublenden oder positiv umzudeuten.

Gleiches gilt für die starke Euphorie. Wie wir geschrieben haben, erzeugen Dopamin, Adrenalin und Serotonin nicht nur Erregtheit und Glück, sondern auch Stress, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit und eine Art von Wahnsinn. Die Euphorie hat also einen Preis.

Wenn Paare diesem Gefühl allzu lange und allzu ausschließlich nachgeben, geht es ihnen ein wenig ähnlich wie jenen armen Ratten, die in einem wissenschaftlichen Versuch freiwillig immer wieder eine Taste betätigten, die mit einer Vorrichtung verbunden war, welche die für Euphorie zuständigen Teile des Belohnungszentrums erregte. Die Tiere waren so versessen auf die Stimulierung dieser Gehirnareale, dass sie darüber jegliche Nahrungsaufnahme vernachlässigten und verhungerten.8

Das Belohnungssystem hat aber, wie sein Name schon verrät, eigentlich einen anderen Sinn als den in diesem Experiment konstruierten. Es soll für Anstrengungen und Leistungen belohnen, damit man diese weiterhin auf sich nimmt. Es schenkt jene köstlichen Momente des unbeschreiblichen Glücks nach einer langen, mühsamen Wanderung, oder die tiefe Befriedigung, wenn eine Arbeit gelungen ist, oder den Stolz, wenn man besonderen Mut aufgebracht hat, oder den Schmelz der sexuellen Vereinigung, wenn man erfolgreich um den Liebespartner geworben hat.

Erst in unserem Zeitalter, wo häufige Affären sowie Lebensabschnittspartnerschaften Mode geworden sind, und sich auf diese Weise bei vielen Menschen immer wieder heftige Hormonausschüttungen aneinanderreihen, kann diese körpereigene Drogenproduktion überhaupt zum Selbstzweck werden. Nun regt sie nicht mehr Anstrengung oder Suchverhalten an, an dessen Ende der Genuss winkt, sondern sie soll uns auf Dauer ins Schlaraffenland katapultieren. Wie die geschilderten Ratten, die wegen der direkten Aktivierung des Belohnungssystems jede Futtersuche aufgaben, wollen Liebende genauso wie sonst Drogenkonsumenten ihre Verzückung möglichst nie wieder loslassen.

|21|Dauereuphorie und Alltagsnotwendigkeiten aber widersprechen sich. Das beständige Hochgefühl hat nicht nur bei Testratten einen hohen Preis. Verliebtheitsfans, Alkoholiker, Kaufsüchtige und alle anderen, die ihren Freudepegel immer oben halten wollen, negieren den grundsätzlichen Lebensrhythmus. Anstrengung kann zu Freude, bewältigtes Leiden zu tiefer Zufriedenheit führen. Probleme machen uns stolz, wenn wir eine Lösung finden. Schwierigkeiten bringen unseren Körper, unsere Seele und unseren Geist in Bewegung. Die Bewohner des Schlaraffenlandes, denen die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, während sie auf dem Rücken faulenzen, würden auf die Dauer ihren Muskeltonus verlieren und immer dicker werden, bis sie nicht mehr in der Lage wären, aufzustehen und schließlich in ihrem Paradies elendiglich verendeten.

Lebendigkeit und echte Belohnung sind ohne Wechsel zwischen Bemühung und daraus folgendem Gewinn undenkbar. Leben ist Pulsieren. Der Körper handelt also weise, wenn er die Hormone, die Verliebte ständig im Hochgefühl halten, wieder zurückschraubt. Ein Kurzüberblick fasst diese Gedanken zusammen:

Das wunderbare romantische Liebesmodell lässt sich nur kurze Zeit realisieren, da es beständiges Glück verspricht und ein dauerhaft aktiviertes Belohnungssystem voraussetzt. Im Alltag muss man Schwierigkeiten überwinden, um das Belohnungssystem zu aktivieren und immer wieder schöne Zustände zu erleben.

|22|2. Kapitel

Wie wird die Liebe lebenstauglich?

Was tun? Wir können das Liebesmodell niemals so vollkommen umsetzen, wie wir das von uns und von unserem Gegenüber fordern, und zwar nicht nur wegen des geschilderten Mangels an Verhaltensnormen, sondern auch, weil das Belohnungssystem nur mithilfe von aktueller Verliebtheit oder Suchtmitteln einigermaßen dauerhaft aktivierbar ist. Müssen wir daher den Kritikern folgen und in längeren Beziehungen die schönen Idealvorstellungen aufgeben? Oder könnten wir sie vielleicht doch irgendwie unserem Alltag anpassen?

Die romantische Liebe ist kein Verhaltensrezept

Eigentlich ist den meisten Menschen klar, dass Beziehungen nicht einfach sind. Und trotzdem halten sie zumindest mit den unbewussten Schichten ihrer Person an der Vollkommenheit der romantischen Liebe fest. Die Folge ist eine Welle von Trennungen in den ersten vier1 beziehungsweise sieben2 Jahren, wenn das reine Glück durch das reale Leben getrübt wird. Damit stehen wir vor einem richtigen Dilemma: Das Konzept der romantischen Liebe und die damit verbundenen Vorstellungen lassen sich nicht abschaffen, während sie gleichzeitig für massive Probleme sorgen.

In ihrem Buch »Vom Ende zum Anfang der Liebe« schlagen Birgit Dechmann und Christiane Ryffel eine interessante und unerwartete Lösung vor. Sie meinen, dass die große Diskrepanz zwischen dem romantischen Modell und der langfristig gar nicht so romantischen Paarrealität nicht heißt, dass die schöne Idee nicht richtig ist, sondern dass Paare sie falsch benutzen. Die Autorinnen deuten die herrlichen Zustände während der Verliebtheit als Blick in die besten Möglichkeiten der Liebe und nicht als eine ernst zu nehmende Anleitung für das Paarleben im Alltag.

Die romantische Liebe ist für sie eine Vision.3

Eine Vision, so sagen sie, ist nicht die Erfüllung selber, sondern so etwas wie ein Kompass oder ein Wegweiser. Auch wenn sich die Vision der Liebe am Anfang für kurze Zeit verwirklicht, heißt dies |23|nicht, dass es beständig so weitergehen müsse. Das wäre nämlich so, als würde man sein Leben als Dauerurlauber verbringen wollen. Die meisten Menschen brauchen Ferien, um auszuruhen, um Abstand vom täglichen Einerlei zu finden und um neue, wesentliche Eindrücke zu gewinnen. Sie kehren aber auch sehr gerne wieder zu ihren gewöhnlichen Aufgaben in ihrem gewöhnlichen Alltag zurück. Dank der Ferien haben sie nun einen frischen Blick, freuen sich wieder mehr am Leben oder packen voller Energie neue Aufgaben an und bewältigen ungeliebte Konflikte.

In Bezug auf die Liebe ist es ebenso wichtig, die ewige Feriensonne, also die Essenz der Liebe in Form einer Vision, mit vielen anderen Alltagszutaten zu mischen. Liebe zeigt sich dann nicht nur bei den innigsten Kontakten, sondern auch beim Wäschewaschen für Partnerin und Kinder, im treulichen Geldverdienen oder in einem sanften und gar nicht spektakulären Händedruck. Auch Küsse mögen gelegentlich flüchtiger ausfallen, wenn sie spät am Abend nach einem arbeitsreichen Tag ausgetauscht werden. Dafür enthalten diese Liebesmischungen den ganz einzigartigen Stoff, den wir Realität nennen.

Aber ach, der Höhenunterschied zwischen den himmlischen Visionen, die in der Verliebtheit so einfach gelebt werden, und den Niederungen eines langjährigen Paaralltags ist manchmal einfach zu groß. Die Liebesmischungen wollen nicht gelingen.

Ist das Leben nicht visionsgerecht, oder sind die Visionen doch nicht lebensgerecht?

Himmlische und irdische Visionen der Liebe

Die romantische Liebesidee ist in unserer Gesellschaft bisher die einzige akzeptierte visionäre Vorstellung für Paare. Daneben gibt es nur nüchterne Ideen, die sich mit Anpassung an die Realität befassen, die bescheidene, vielleicht auch ein wenig resignative Vorstellungen des Zusammenlebens propagieren. Diese Ideen inspirieren zu wenig und bewirken nur blasses Funktionieren.

Wir lieben die romantische Vision wie alle Menschen und möchten sie daher nicht abwerten. Nach der Verliebtheit muss sie jedoch eine Kernverwandlung |24|durchmachen, wenn sie nicht zum Patt auf dem Schachbrett des Lebens führen soll.

Sie muss und sie darf sich in eine Vision verwandeln, die das neuropsychische Belohnungssystem nicht mehr auf Dauer immer wieder befeuern will, sondern Anstrengungen als notwendigen und sogar inspirierenden Teil des Lebens einbezieht.

Dann kann nach vollbrachter »Leistung« im Belohnungssystem durchaus wieder Euphorie entstehen. Für diese Euphorie kennen wir sogar gangbare Wege für Alltagspaare. Wir werden davon im Kapitel 9 noch berichten.

Wir brauchen aber auch noch einige weitere, etwas irdischere Visionen. Wenn wir diesen folgen, entstehen subtilere Emotionen wie Ruhe, Befriedigung, Stolz, In-die-Tiefe-Sinken, Erleichterung, Weichheit, Dankbarkeit, Klarheit oder Empfindungen, die einem inneren Buddhalächeln gleichkommen. Empfangen wir sie mit Achtsamkeit, können sie uns auf ganz eigene Weise beglücken.

Insgesamt schlagen wir vier visionäre Liebesqualitäten vor. Es sind mächtige Türöffner der Liebe, der Begegnung, des Sichfindens. Alle führen zu innerem Reichtum.

Sie inspirieren auch dann,

  • wenn Schicksalsschläge uns überwältigen,

  • wenn unsere Freude im mühseligen Alltagseinerlei verloren ging,

  • wenn wir chronisch überarbeitet sind,

  • wenn wir uns verraten und tief verletzt glauben,

  • wenn die Beziehung in der Krise gelandet ist,

  • wenn die Liebe neben Kindern oder Beruf kaum Platz findet,

  • wenn alles leer geworden ist,

  • wenn wir meinen, die Beziehung sei zu Ende.

Zunächst werden wir sie Ihnen erst einmal vorstellen und in den folgenden Kapiteln immer wieder konkret damit arbeiten. Es sind kleine Wunderwerke der Blickausrichtung, es sind Suchstrategien der Liebe.

1. Die Euphorie

Mit der bekannten visionären Blickausrichtung suchen wir weiterhin nach Euphorie, Vollkommenheit, Verschmelzung und dem Gefühl |25|»Alles ist wunderbar«. Anders als im romantischen Modell vorgesehen entstehen die Endorphine jedoch nicht einfach, weil man mit »dem Richtigen« oder »der Richtigen« liiert ist, sondern eher als das Resultat von großen Anstrengungen. Vielleicht kennen Sie das Gefühl beim Joggen. Anfangs ist die Bewegung – besonders für unsportliche Menschen – mühsam. Aber mit der Zeit stellt sich dieses Endorphin-High ein. Nun laufen die Füße wie von selber, und der weiterhin vorhandene Stress wird gegenstandslos.

2. Das Herz

Mit der zweiten visionären Blickausrichtung suchen wir nach dem Verstehen, dem Mitgefühl, dem Weichwerden des Herzens, dem Gebenwollen, dem Dasein füreinander und der tief empfundenen Empathie. Viele Menschen meinen, diese Ausrichtung sei in der romantischen Liebe schon vorhanden. Aber die Qualität des Herzens hat nicht viel mit Begeisterung, Bewunderung und schon gar nichts mit Vollkommenheit zu tun. Sie lässt sich, anders als die romantische Liebesvision auch noch in schwierigen Situationen anwenden, auch Verrat und andere Unvollkommenheiten setzen sie nicht unbedingt außer Kraft. Man darf sie ebenfalls nicht mit Pflichterfüllung oder mit der »Gewohnheit, es dem anderen recht machen zu wollen« verwechseln. Wer mit dem Herzen verbunden ist, fürchtet sich auch nicht so schrecklich vor Unterschieden und Differenzen.

Mit dieser Ausrichtung sucht man nicht nach Glück, sondern nach Echtheit, Wahrhaftigkeit, Lebendigkeit, Wärme, Zuwendung und nach dem Einklang mit dem Lebensfluss. Die Freude in dieser Dimension entsteht nicht aus dem Bedürfnis, etwas zu bekommen, sondern aus dem hingebungsvollen Geben.

Diese Sichtweise fällt uns nicht so einfach zu, wie es die erste, die euphorische, während der Verliebtheit tut. Sie wird durch eine langjährige Hinwendung zur Beziehung erworben und kann uns dann tiefer beglücken als jede Verliebtheit. Ohne die dritte Sichtweise wird sie uns jedoch kaum gelingen.

3. Die Tiefe

Mit der dritten visionären Blickausrichtung wendet man sich der Dimension der Tiefe zu. Hier steigt man über vordergründige Deutungen hinweg, sucht nach Verletzungen in der Vergangenheit, die auf die Gegenwart einwirken, wagt die dunklen Seiten der Persönlichkeit zu betrachten und forscht auch dort nach Sinn oder nach |26|Ressourcen, wo die Welt in Schmerz zu enden scheint. Diese Dimension erlaubt Traurigkeit und Wut, ja sogar Schuld und Unrecht. Sie geht einfach liebevoll damit um. Das bedeutet, dass die Liebenden nicht ausschließlich ihr Glück anstreben, sondern das Verstehen und Aufsuchen der verborgenen Schichten der Person. Wenn dieser Blick in der Liebe angewendet wird, entstehen oft Ruhe, ein sehr ernstes Glück, Erleichterung oder ein angenehmer Schmerz, ein Schmerz also, der chronische Spannungen auflöst und nicht einer, der in die Resignation führt.

Die Dimension hat mit Erkunden, Verstehen, Sichbeistehen und gelegentlich auch viel mit Verzeihen zu tun. Manchmal setzt sie Herzensliebe voraus, aber bei vielen Menschen löst sie die Qualen, die ihr Herz verschlossen haben, erstmals auf und macht daher die Blickrichtung des Herzens überhaupt möglich.

Wenn Menschen einander solche tiefen Schichten zeigen dürfen, fühlen sie sich endlich richtig geliebt.

Diese Dimension ist im therapeutischen Rahmen sehr wichtig. In einer realen Lebensbeziehung muss man ziemlich viel üben, bis man gut damit umgehen lernt. Aber dieses Üben lohnt sich. Wir werden uns besonders in den Kapiteln 5 (Übertragung) und 8 (Konflikt) mit dieser Dimension befassen.

4. Die Weite des Geistes

Bei dieser visionären Blickrichtung geht es um ein weites und nicht mehr rein intellektuelles Bewusstsein. Wenn dem Geist Flügel wachsen, lassen sich Probleme leichter überstehen, auflösen oder gar transformieren und in etwas Konstruktives umwandeln.

Die Vision verhilft zu einem Abstand vom Geschehen, und eine Art von neutraler Wahrnehmung entsteht. So können Paare aus ihrer »Opferhaltung« herauskommen und ihr Leben nicht einfach nur erleiden, sondern mitgestalten, auch unter erschwerten oder gar traumatischen Umständen. Der Abstand hilft, Freiheit zu gewinnen. Neue Ebenen tun sich auf, und man kann Kraft finden, wo man vorher kraftlos war. Festgefahrene Situationen werden nun anders gedeutet, und das eigene Beziehungsskript kann umgeschrieben werden.

Wir werden uns immer wieder mit dieser Perspektive verbinden, aber die beiden letzten Kapitel über Selbstwerdung und positive Psychologie stehen besonders in ihrem Licht.

|27|Die Weite des Geistes inspiriert und kann für eine gesteigerte Wahrnehmung sorgen, was die Liebenden natürlich begeistert. Neutralität und Abstand oder gar das Zulassen von ungeliebten Wahrheiten über sich selber fallen hingegen oftmals schwer. Noch immer ist die romantische Idee, die Wärme und dauerhaftes Glück verspricht, die liebste von allen. Aber eine Liebesvision, die im Alltag funktioniert, kann nicht simpel und einseitig, sondern sie muss multidimensional sein:

Ein kurzer Überblick über die verschiedenen visionären Blickrichtungen auf die Liebe

1) Die Euphorie

Wenn man diesen Blickwinkel einnimmt, sucht man nach der Begeisterung, nach wirklicher Stimmigkeit, nach Intensität, heftiger Sexualität und nach einem speziellen Glück, das nicht nur in schnellem Genuss, sondern in einer vertieften und lang nachklingenden Daseinsfreude besteht.

 

2) Das Herz

Wenn man diesen Blickwinkel einnimmt, sucht man nach Echtheit, Wahrhaftigkeit, wirklicher Zuwendung, Mitgefühl, Weichheit des Herzens, dem zärtlichen Lebensfluss, nach einer tief bezogenen Wahrnehmung und Anerkennung in Bezug auf sich selber und auf das Gegenüber.

 

3) Die Tiefe

Wenn man diesen Blickwinkel einnimmt, sucht man nach den verborgenen Teilen der Persönlichkeit in sich und im Gegenüber, lässt den Schatten vom Leben und in den Seelen zu und geht sorgsam damit um. Man sucht nicht nach Glück, sondern nach Verständnis und Wachstum.

 

4) Die Weite des Geistes

Wenn man diesen Blickwinkel einnimmt, sucht man nach Erkenntnis, nach Umdenken zum Lieben und nach Transformation. Hier bettet man die Liebe in Philosophie und Spiritualität ein, aber nie in eine traditionelle, schematische, sondern in eine wahrgenommene und gefühlte.

|28|