Plötzlich steht da ein Haus: Eine gigantische Burg aus weißem Holz, errichtet von einem New Yorker Finanz- und Kunstspekulanten. Eine Halbkugel aus Beton, die ein Filmregisseur für sich und seine Geliebte am Strand von Sardinien versenkt hat. Eine Hütte in Mexiko, in die sich ein amerikanischer Ex-Banker nach den Anschlägen vom 11. September zurückgezogen hat. Exzentrische Bauherren gönnen sich bisweilen recht seltsame Häuser, denen Niklas Maak in der ganzen Welt auf der Spur war. Er hat sie gründlich besichtigt und erforscht, mit Architekten und Bewohnern gesprochen und dabei viel über die Träume, Ängste und Obsessionen unserer Gegenwart erfahren.

Häuser erzählen die tollsten Geschichten. Niklas Maak hat sie aufgeschrieben – nicht nur für Architekturfans

 

Hanser E-Book

Niklas Maak

 

Atlas der seltsamen Häuser und ihrer Bewohner

 

 

Carl Hanser Verlag

INHALT

USA, Long Island

MARC DREIERS HAUS IN EAST QUOGUE

 

Italien, Sardinien

MONICA VITTIS UND MICHELANGELO ANTONIONIS KUPPEL

 

Kanada, Granby

BEI DEN RAELIANERN

 

Frankreich, Tourrettes-sur-Loup

ANTTI LOVAGS KUGELHAUS

 

Frankreich, Limoges

JACQUES BARRIÈRES MOSCHEE

 

Frankreich, Neuilly

DAS HAUS, DAS AUF DER POSTKARTE STAND

 

Japan, Tokio

JAPANISCHER RAUM

 

Italien, Gaeta

IN CY TWOMBLYS BURG

 

Mexiko, Tulum

LANGBEINS HÜTTE

 

Kenia, Nairobi

EIN RÄTSELHAFTER MORD

 

USA, New York

VOR DEM GRAMERCY PARK HOTEL

 

USA, Palo Alto

LOVE NEST UND FÜNF-MILLIARDEN-DONUT

 

Deutschland, Manheim

DAS HAUS VON HUSSEIN BALO

 

Deutschland, Berlin

EIN BUNGALOW IM WESTEN

 

Frankreich, St Girons Plage

DAS FERIENHAUS VON MADAME VITRAC

 

 

Nachwort

 

 

USA, Long Island

 

MARC DREIERS HAUS IN EAST QUOGUE

 

 

Wenn man vom Sunrise Highway in Richtung Süden durch das Sumpfland zum Ponquogue Beach fährt, trifft man auf ein kleines Warnschild: Die Dune Road, steht dort, die einzige Straße auf einer abenteuerlich schmalen Halbinsel, die vor Long Island zwischen der Bucht und dem offenen Meer liegt, könne bei Flut unter Wasser stehen, und das tat sie auch: Die Straße sah aus wie ein Fluss, die entgegenkommenden Autos hatten feuchten Sand auf der Windschutzscheibe, und die gelbe Mittellinie verschwand vor der Motorhaube in der Tiefe, als sei dies hier die Ortseinfahrt von Atlantis. Nur die alten Telegraphenmasten verrieten, wo die Fahrbahn aufhörte und die Düne begann.

Hier steht, hinter einem weißen Tor und einem perfekt gemähten Rasen, das Haus, das Marc Dreier gehörte, Nummer 111, eine Achthundert-Quadratmeter-Villa, 1992 gebaut, mit acht Schlafzimmern und eigenem Tennisplatz. Sie sieht nicht wie eine große Villa aus, sondern so, als hätte eine gigantische Welle acht klassische graue Holzhäuser zu einem großen Haufen zusammengeschoben. Dreier kaufte die Anlage im Juli 2004 für rund 9 Millionen Dollar. Auch das kleinere Haus neben der Villa gehörte ihm.

Die Strandvilla, die so groß ist wie acht Häuser, sieht nicht aus wie ein großes Haus, eher wie das Ergebnis eines Crashs, ein außer Kontrolle geratenes Hausmonster, ein Menetekel der großen Immobilienkrise, die vier Jahre später alles in den Abgrund riss.

Freunde hatten mir von Marc Dreier erzählt, von seinen Auftritten in Galerien und bei Museumspartys, von seinem Strandhaus in den Hamptons, in das jeder eingeladen war, der irgendetwas mit Kunst zu tun hatte. Bei öffentlichen Veranstaltungen sah man ihn nicht oft; einmal, zwei Jahre vor seiner Verhaftung, war ich ihm bei einer Galerie-Eröffnung begegnet. Er war ein eher kleiner Mann mit schmalen Lippen und einer graumelierten Tolle, die wie eine Welle über seinen Kopf zu schlagen schien; dies, sagten die Menschen ehrfürchtig, sei Marc Dreier, er gebe allein bei Gagosian jedes Jahr zweistellige Millionenbeträge für Kunst aus.

Die Einfahrt zu seinem Haus ist mit grauen Steinen gepflastert, jemand hat einen schraubenförmigen Zierbaum und Primeln und Lavendel neben das Tor gepflanzt, der Sturm hat den Sand in die Beete geweht. Auf dem Pfosten des weißen Holzgitters sind stilisierte Pinienzapfen befestigt, das barocke Symbol für Reichtum, Fruchtbarkeit und Lust. Hinter dem Haus stolpert eine weiße Treppe zum Strand hinunter, es riecht nach Sand und Pinien und warmem Holz, man sieht den Atlantik und die grauen Wellen, die auf den Strand rollen, und wenn man sich umdreht, sieht man das überflutete Marschland, den Sumpf, die versunkene Welt.

Manchmal fuhr Marc Dreier mit seinem Schnellboot in die Hamptons. Ein Foto aus dem Sommer des Jahres 2008 zeigt ihn auf dem Vorderdeck zwischen jungen Kuratorinnen, Studentinnen und anderen Gästen auf dem Long Island Sound. Dreier krault seinen Hund und starrt in die Ferne. Sie sind auf dem Weg zu einem Hafen, wo sie in ein paar Autos umsteigen, die sie zu Dreiers Strandhaus bringen werden.

Auf dem Foto wirkt Dreier abwesend; das Wasser glitzert, hinten zieht ein Segelboot vorbei. Er wusste in diesem Moment, in dem er zwischen all diesen schönen Frauen auf seinem Boot über das stille, klare Wasser des Sound glitt, was ihm bevorstand, er wusste, dass er sehr bald Kredite von über 150 Millionen Dollar zurückzahlen würde müssen, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er das machen sollte.

Für ein paar Jahre fanden in seiner Villa in East Quogue erstaunliche Feste statt: Am Wochenende reisten Hunderte von Leuten aus New York in Booten und Limousinen an, Anwälte, Künstler, Kunstberater, MoMA-Mitarbeiter, viele kamen einfach, ohne eingeladen zu sein, weil sie jemanden kannten, der jemanden kannte, der Marc Dreier kannte. Man konnte die Wochenenden bei ihm verbringen und schwimmen gehen im Atlantik, es gab Champagner und Canapées, die unter Zellophanfolien auf silbernen Tabletts auf der Terrasse standen, es gab Angestellte, die fragten, ob man übernachte, obwohl man nur ein mitgebrachter Gast war, und nur manchmal tauchte der Gastgeber kurz auf, wie Jay Gatsby in F. Scott Fitzgeralds Roman: eine schillernde, undurchsichtige Figur, das leere Zentrum dieser Partys, auf denen sich Finanzexperten mit Künstlern, Galeristen, Spekulanten, Anwälten und anderen Gestalten trafen.

Kaum einer wusste, was genau Dreier machte, und es interessierte auch niemanden. Auch am Strand regierte der gut gelaunte Gleichmut der Kunstszene: Egal, wo das Geld herkommt, Hauptsache, es macht Spaß.

Ich sah Marc Dreier am 5. Dezember 2008 wieder – in der New York Times. Auf dem Foto war er unrasiert, die Haare standen, wie Antennen, die versuchen, Peilung aufzunehmen, in verschiedene Richtungen ab. Im Hintergrund war Dreiers Sohn zu sehen. In der Bildunterzeile stand: »Marc Dreier, on Friday, after his release from a Toronto jail on charges of impersonating a lawyer.« Dreier war in Toronto verhaftet worden, weil er sich gegenüber einem Hedgefonds-Manager als kanadischer Anwalt ausgegeben hatte und in dessen Namen einen 44-Millionen Dollar-Vertrag unterschreiben wollte. Was die Ermittler in den folgenden Monaten herausfanden, ist einer der größten Betrugsfälle in der amerikanischen Geschichte: Am Montag, den 11. Mai 2009, bekannte sich Mark Dreier vor dem US-District-Court-Richter Jed Rakoff zu allen Vorwürfen schuldig, die gegen ihn erhoben wurden: Veruntreuung von 700 Millionen Dollar. Betrug von dreizehn Hedgefonds. Allein Eton Park Capital Management verbuchte einen Verlust von 84 Millionen Dollar, Fortress Credit Opportunities einen Verlust von 61,9 Millionen Dollar. Zweihundert weitere Schuldner warteten auf 450 Millionen Dollar.

Man möchte in New Yorks Galerien nicht mehr über Marc Dreier sprechen. Bei Gagosian, wo Dreier allein 2008 zweistellige Millionenbeträge gelassen haben soll, stellte man sich tot, Anfragen wurden nicht beantwortet. Bei Marian Goodman teilte die ansonsten sehr auskunftsfreudige Leslie Nolen kühl mit, man kenne Dreier nicht und habe nichts an ihn verkauft. Nur in Kalifornien waren die Galeristen entspannter: Louis Stern schreibt, dass man ein Gemälde des für seine »Magical Space Forms« bekannten Malers Lorser Feitelson tatsächlich 2007 direkt an Marc Dreier verkauft habe.

Zwei Jahre später, im Herbst 2009, sitzt Marc Dreier in seinem Penthouse an der 58th Street und darf das Gebäude nicht verlassen, er hat Hausarrest, sie haben ein GPS-Gerät an seinem Bein angebracht und alle Bilder abgehängt, nur die Möbel haben sie ihm gelassen. Auf seinem Sofa sitzt ein pensionierter FBI-Agent, dessen Stundenlohn Marc Dreiers damals achtundachtzigjährige Mutter bezahlen muss. So lebt Dreier noch ein paar Wochen als Gefangener in seinem New Yorker Apartment, bevor er für zwanzig Jahre nach Minnesota ins Gefängnis geht.

Es gibt einen Film aus dieser Zeit, ein Journalist der Sendung »60 Minutes« durfte ihn am 4. Oktober 2009 interviewen; man sieht Dreier, wie er im T-Shirt und in weißen Trainingshosen auf sein Urteil wartet. Neben ihm liegt sein Hund, die Wand hinter ihm ist leer. Hier hing einmal ein sehr schönes, dunkelrot leuchtendes Gemälde von Mark Rothko.

Wer hat Dreier beraten?

Auch dazu bei den großen New Yorker Galerien: eisiges Schweigen, kein Kommentar. Aber wenn man die Websites der New Yorker Kunstberater einmal googelt, kommt man schnell auf eine Spur. Auf der Website von Heidi Lee Komaromi sieht man, als optische Visitenkarte, eine »Private Collection« in New York, in der eine »Jackie« von Warhol und ein dunkelroter Rothko hängen. Die Website verschweigt, dass das, was man hier sieht, Geschichte ist: Es ist Marc Dreiers Apartment.

Heidi Lee Komaromi hat ihre Kunstberatung, die HLK Art Group, 2002 gegründet, ungefähr zu der Zeit, in der Dreier den großen Betrug plante. Wenn man sie nach Dreier fragt, bleibt sie ganz ruhig, oder sie tut so, als ob sie es sei. Dreier. Ja, den habe sie durch Freunde kennengelernt.

Und wie war das mit seiner Sammlung?

Heidi Lee Komaromi holt Luft. Man hört Sirenen tief unten in den Straßen, das Fauchen einer überanstrengten Klimaanlage, das pittoreske Geklapper von sehr schnellen Fingern auf einer Laptop-Tastatur, irgendjemand bekommt jetzt, pingding, eine Nachricht.

 – Er war sehr charmant. Er hatte eine richtige Leidenschaft für Kunst. Er war jemand, der ständig lernen wollte.

Die sogenannten Nuller-Jahre wirken schon jetzt wie eine vergangene Epoche, die mit den Anschlägen vom 11. September 2001 begann und, ebenfalls im Süden Manhattans, im Financial District, mit dem großen Crash im September 2008 endete. Die Jahre dazwischen werden nicht als die sorgloseste Zeit Amerikas in Erinnerung bleiben – mit einer Ausnahme. Die Kunstszene dieser Jahre war eine Insel der Seligen, eine große goldene Badewanne, in die unendlich viel Geld strömte. 2006 brachten die großen Auktionen allein in New York über eine Milliarde Dollar Umsatz, mehr als je zuvor. Was war passiert? Wer waren diejenigen, die dieses Geld für Gegenwartskunst und Nachkriegsmoderne ausgaben; wem war das Geld so egal, dass er es mit vollen Rohren in eine Kunstwelt pumpen konnte, die erstaunt auf diesen Überfluss starrte wie auf einen geplatzten Hydranten?

Marc Dreier war einer von ihnen. Er kaufte für rund 40 Millionen Dollar Kunst, Damien Hirst und John Baldessari, Rothko und einen Warhol, ein paar »Jackies«, Siebdrucke, die so heißen wie seine Tochter. Kunstberater hofierten ihn. Seine New Yorker Privatwohnung, in der er einen Teil der Kunst, die er wie im Rausch zusammenkaufte, an die Wände brachte, lag an der Lexington Avenue. Der argentinische Architekt César Pelli hatte den Turm entworfen, an dem vor allem die entschlossene Verbindung von sehr viel Geld und sehr wenig Geschmack auffällt; schon der Innenhof sieht, von oben betrachtet, aus wie eine gigantische Kloschüssel aus Edelstahl, in der große BMWs und Bentleys langsam im Kreis treiben.

Hier besaß Dreier ein Zweihundertachtzig-Quadratmeter-Apartment, von dessen Küchenfenster aus man den Firmensitz von Bernard Madoff sehen konnte – und wenn der Name Marc Dreier heute nicht jedem etwas sagt, dann nur deswegen, weil ein paar Tage nach seiner Verhaftung Madoffs apokalyptischer 65-Milliarden-Dollar-Betrug aufflog und Dreiers 700-Millionen-Dollar-Betrug von den Titelseiten verdrängte.

Marc Dreier wuchs in Long Island auf. Er wurde 1950 hier geboren, sein Vater, ein Jude, der aus Polen geflohen war, verdiente sein Geld mit dem Bau von Lichtspielhäusern. Als Kind galt Marc Dreier als Ausnahmetalent. 1972 machte er seinen Abschluss in Yale, 1975 schloss er die Harvard Law School mit einem Doktortitel ab, 1976 bekam er seine Zulassung als Anwalt – und alles deutete auf eine rasante, atemberaubende, dem Wunderkind angemessene Karriere hin: Er wurde bei Rosenman, Colin, Freund, Lewis & Cohen angestellt, verbrachte die späten siebziger und frühen achtziger Jahre mit Hundert-Stunden-Wochen, er war einer von den Tausenden hier, die alles daransetzten, masters of the universe zu werden. Und er war brillant. Er konnte reden und die Leute mitreißen, für viele, sagt Dreiers Verteidiger Gerald Shargel, war Dreier einer der besten Anwälte, die Manhattan je zu sehen bekam. Kaum über dreißig, wurde er zum Partner bei Rosenman befördert. Aber wenn zu jeder großen Begabung, jeder erarbeiteten Chance ein Minimum an Glück gehört, damit daraus etwas wird, war es genau dieses Glück, das Dreier mehr als einmal in seinem Leben fehlte.

Der Kanzlei, die ihn befördert hatte, ging es nicht gut; er war der aufsteigende Star in einer sterbenden Galaxie. 1987 heiratete Marc Dreier eine Kollegin, Elisa Peters; Rabbi Philip Hiat traute das Paar. 1989 wurde sein Sohn Spencer geboren, drei Jahre später seine Tochter Jackie. In den kommenden zehn Jahren arbeitete Dreier noch mehr, zog mit seinem Büro an die Park Avenue, tat sich mit anderen Anwälten zusammen, wurde von Klienten ausgebremst und um greifbare Siege gebracht, hatte trotzdem Erfolg, aber dieser Erfolg reichte ihm nicht. Er war nicht das geworden, was er gedacht hatte – und was die anderen von ihm gedacht hatten. Der Anschlag auf das World Trade Center, sagte er vor Gericht, erschütterte ihn nachhaltig.

Dann trennte sich seine Frau von ihm. Dreier war jetzt zweiundfünfzig: kein junges Genie mehr, allenfalls ein vom Leben zerbeultes. Leute mit weniger Talent hatten mehr Glück gehabt und verdienten Millionen. Sein Jahresgehalt dümpelte bei einer halben Million Dollar.

Später, als alles aufgeflogen war, gibt er der Zeitschrift Vanity Fair ein Interview, in dem er beschreibt, wie er 2003 am Strand von Westhampton spazieren ging. Er war gerade geschieden worden. Er hatte ein Haus in den Hamptons, aber inland; er konnte das Meer nicht sehen. Er verspürte das dringende Bedürfnis, etwas zu tun, was ihn beruhigen würde. »Nein, nicht beruhigen«, korrigiert Dreier, »um mich zu belohnen.« Mit einem Haus mit direktem Zugang zum Meer. Damit habe alles begonnen. Das Haus am Meer. »Ich dachte, das würde mich glücklich machen. And I wanted to be happy again.«

The pursuit of happiness, das Streben nach Glück, ist ein Grundrecht, das in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verbürgt ist. Dreier trennt sich von seinen Partnern. Er stellt vierzig Leute ein. Im Sommer 2004 kauft er für ein paar Millionen das Strandhaus in East Quogue. Er brauchte jetzt sehr viel Geld.

Der Milliardär Sheldon Solow, geboren 1928 in Brooklyn als Sohn des Maurers Isaac Solow, besitzt eine beachtliche Kunstsammlung, über die immer wieder geschrieben wird, etwa wenn er einen seiner Modiglianis für 40 Millionen Dollar verkauft oder seinen Botticelli wieder einmal nicht verkauft, weil er es nicht nötig hat.

Solow ist das, was die Wirtschaftsteile einen »Immobilientycoon« nennen, und wie alle Tycoone hat Solow einen Hang zur Rechthaberei, weswegen er sich mit großer Dickschädeligkeit noch in die aussichtslosesten Rechtsstreitigkeiten stürzt. Der Anwalt, der ihn in den neunziger Jahren bei diesen Eskapaden begleitet, war Marc Dreier. Solow hatte unfassbar viel Geld, und weil er unfassbar viel Geld hatte, bekam er leicht sehr viel Geld geliehen: Diese unwiderlegbare Regel brachte Dreier auf eine Idee.

Er teilte verschiedenen Hedgefonds mit, Solow habe ihn gebeten, für die Solow Realty & Development Company Schuldverschreibungen herauszugeben. Er fälschte alles, sogar die Gutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Berdon LLP. Er bot eine Verzinsung von zwölf Prozent bei Laufzeiten zwischen einem und zwei Jahren. Bei den Hedgefonds machte sich keiner die Mühe, diesem Angebot auf den Grund zu gehen: Man kannte und bewunderte Solow, man kannte Dreier. Kein Anruf bei Solow, keiner bei Berdon LLP – ein paar Wochen später bekam Dreier 20 Millionen Dollar überwiesen.

Im Deutschen ist Betrug Betrug. Im Französischen gibt es mehrere Wörter dafür, tricher, beschummeln, und corriger la fortune, was wörtlich »das Schicksal korrigieren« bedeutet. Es bedeutet auch, das, was einem passiert, nicht als unabänderlich hinzunehmen. Tricher ist etwas Kleinliches, im Heimlichen und Hektischen auch Erbärmliches, der Versuch, einen kleinen Vorteil herauszuschlagen, sich um einen Platz in der Schlange vorzudrängeln. Corriger la fortune ist etwas Großes und Ernstes. Es ist die Kunst, sich mit den Göttern anzulegen. Es bedeutet, daran zu glauben, dass man die Ungerechtigkeit von Zufällen, schlechtem Timing, unvorhersehbaren Ärgernissen, all dem, was man Schicksal nennt, ausgleichen, dass man um sein Glück mit allen Mitteln kämpfen und nie aufgeben darf.

Marc Dreier wusste, dass er viel besser war, als die Welt es bisher anerkannt hatte. Er war wie ein Pianist, der noch nicht in der Carnegie Hall spielen durfte, aber wusste, dass er dort alle verzaubern würde, wenn er nur die Chance bekäme. Er hatte die Aussicht auf ein gelungenes Leben nicht aufgegeben. Er beschloss, das Schicksal zu korrigieren.

Wenn dies ein Drehbuch wäre, dann wäre es ab hier vollkommen unglaubwürdig. Aber es war genauso einfach, dass kein Catch-me-if-you-can-Plot, keine Fiktion, die ja im Kern realistisch wirken soll, es mit dieser Realität, die immer spekulativer wurde, aufnehmen könnte.

Dreier machte weiter. Er bot Anlegern gefälschte Immobilienpapiere an, und mit den Einzahlungen neuer Kunden bezahlte er die anderen aus. Er bekam bis zu 100 Millionen Dollar – und keiner prüfte irgendetwas.

Was machte Dreier mit diesem Geld? Er stellte Anwälte ein, er vergrößerte seine Kanzlei, bis sie so groß war, wie er es sich in den dunklen Tagen in den späten neunziger Jahren, als nichts voranging, erträumt hatte – und diese Kanzlei funktionierte erstaunlich gut: 2007 hatte er 175 Mitarbeiter, in einem Artikel im National Law Journal durfte er sich selbst und das »Dreier Model« feiern. Seine Kanzlei machte zuletzt fast 100 Millionen Dollar Umsatz im Jahr. Bei Partys flogen Propellerflugzeuge über sein Haus in den Hamptons, sie zogen Banner in den Himmel, auf denen »Dreier LLP rocks« stand. Die Weihnachtsfeiern fanden im Waldorf Astoria statt. »Dreier«, erinnert sich der Journalist Bryan Burrough, »tanzte wild zu ›Shout‹ von Animal House.«

2008 arbeiteten über zweihundertfünfzig Anwälte für Dreier, sein Büro reichte über zehn Etagen, und diese Größe zog Größe an: Seine Kunden hießen jetzt Bill Cosby, Marija Scharapowa, Justin Timberlake und 50 Cent, er vertrat Manchester United und die New York Mets. »Je mehr du den Leuten zeigst, dass du kein Geld brauchst, desto mehr bekommst du«, sagte Dreier, und so gesehen gehörte das, was er mit den fiktiven Schuldverschreibungen noch alles kaufte, zu seinem Geschäftsmodell.

Einer Liste zufolge, die James Clarkson, Kläger für die US-Börsenaufsichtsbehörde für die Kontrolle des Wertpapierhandels, Anfang Januar 2009 aufstellte, kaufte Dreier unter anderem: für 18 Millionen Dollar eine rund vierzig Meter lange Motoryacht, für 10,5 Millionen Dollar das Apartment 34c im Beacon-Court-Haus in Manhattan, einen Mercedes S500 und einen SL500, einen BMW650i und einen Aston Martin DB9 Volante, den er in seiner kalifornischen Filiale fuhr, die beiden Häuser in East Quoque an der Dune Road, dazu Immobilien in Sag Harbour und auf Anguilla. Und er kaufte Kunst: Alex Katz, John Baldessari, Keith Haring, alles, was Amerika von Willem de Kooning über David Hockney bis Frank Stella seit Dreiers Geburt an Kunst hervorgebracht hatte. Sein Büro sah aus wie ein Seitenflügel des MoMA. Dreier besaß sechs Siebdrucke von Warhol – vier »Jackies«, einen »Rudolph Nurejew« von 1975 und einen »John Lennon« –, dazu drei Werke von Roy Lichtenstein aus den Jahren 1963, 1965 und 1975, zwei Gemälde von Damien Hirst, den Rothko …

Was wollte Dreier von der Kunst?

Jenny Schlenzka, die als Kuratorin am New Yorker Museum of Modern Art arbeitet und Dreier mit Freunden in seiner Villa in East Quogue traf, sagt: »Er sprach eigentlich nie über die Kunst, nur über seinen Hund und seine Kinder.«

Vieles spricht dafür, dass Dreier seine Kinder sehr liebt. Ein Foto zeigt ihn mit seinem Sohn während des Prozesses, Dreier ist unrasiert und sieht ramponiert aus, er wirft einen Blick auf seinen Sohn, in dem sich Stolz und Sorge mischen. Madoffs Kinder redeten, als sein Betruf aufflog, kein Wort mehr mit ihm. Dreiers Sohn unterschrieb, ohne zu zögern, eine Bürgschaft über 10 Millionen Dollar für seinen Vater.

Was bedeutete Kunst für Dreier? Was sagt seine Sammlung über ihn?

Da gibt es einmal die großen Würfe der amerikanischen Nachkriegsgeschichte, den heroischen Bogen von de Kooning zu Warhol, und auf der anderen Seite die Beschwörungen des schönen Lebens, die »Nadias« von Matisse, die »Jackies« von Warhol, Robert Indianas »Love«. Doch das schöne neue Leben geriet außer Kontrolle: »Ich merkte«, sagte Dreier in seinem letzten Fernsehinterview, »dass aus einem 20-Millionen-Dollar-Fehler ein Paar-100-Millionen-Dollar-Fehler geworden war.«

2006 läuft die große Maschine der Subprimes immer heißer. Millionen von Subprime-Krediten werden gebündelt, in neue Pakete gepackt und weltweit verkauft, kaum einer versteht mehr, was er da kauft, aber die toxischen Bündel bringen so gute Gewinne, dass niemand fragt, warum und wie sie das tun. Die Investmentbanker bauen immer verrücktere Risikopapierpakete, je mehr sie verkaufen, desto mehr verdienen sie, wenn die Sache schiefgeht, müssen sie nicht haften – sie dürfen mit dem Geld anderer verrückte Türme bauen und bekommen auch dafür Geld und lassen ihre Papiere von Rating-Agenturen bewerten, die von ihnen Geld bekommen und deswegen alles als triplesehr gut bewerten, es gibt für nichts Regeln, es werden Zweckgesellschaften gegründet, die jenseits aller Bilanzierung immer neue Finanzprodukte erfinden, die natürlich keine Produkte sind, sondern Behauptungen, Nebelkerzen, Annahmen und Tricksereien.

2007 gerät der amerikanische Immobilienmarkt ins Schleudern. Die Investmentbank Bear Stearns beginnt zu wackeln. Drei der von ihr aufgelegten Hedgefonds müssen Insolvenz anmelden. Die auf den Cayman Islands ansässigen Liquidatoren beantragen Gläubigerschutz beim U. S. Bankruptcy Court in New York. Gerüchte über Liquiditätsprobleme sorgen in einer Branche, in der vor allem mit Informationen und Hörensagen Geld gemacht wird, für ernsthafte Liquiditätsprobleme. Die Aktien von Bear Stearns brechen im Frühjahr 2008 fast um die Hälfte ein, schließlich übernimmt JP Morgan Chase & Co. Bear Stearns für rund 2 Dollar pro Aktie – die keine Woche davor noch 57 Dollar wert war. Milliardenwerte verpuffen einfach so.

An der Wall Street kommt es zu ersten Unruhen, die Hedgefonds wollen an ihr Geld. Dann plötzlich brechen die Aktienmärkte zusammen. Während Lehman Brothers Insolvenz beantragt und eine Massenpanik an den Märkten auslöst, während sich eine globale Wirtschaftskrise aufbaut, während Angela Merkel das Volk zu beruhigen versucht und erklärt, »dass diejenigen, die unverantwortliche Geschäfte gemacht haben, zur Verantwortung gezogen werden«, aber die »Einlagen sicher sind« – während all das passiert, versucht Dreier verzweifelt, an Geld zu kommen.

Schon im Sommer 2008, als er auf seinem Schnellboot sitzt und ins glitzernde Wasser des Long Island Sound schaut, weiß er, was passieren würde: 75 Millionen Dollar an fälligen Zahlungen bis Dezember, im Dezember 100 Millionen, über 50 Millionen im Januar 2009. Dreier versucht es mit Dumpingangeboten: Solow wolle 500 Millionen Dollar für ein Projekt mit Schuldverschreibungen zusammenbekommen, die nur ein paar Monate später fällig werden würden und zwölf Prozent brächten; den Prüfbericht dazu hatte Dreier gefälscht.

Ein Hedgefonds, Whippoorwill Associates, der 2006 bis 2007 bei Dreier 115 Millionen Dollar investiert hat, verlangt jetzt ein persönliches Treffen in Solows Büro. Dreier überzeugt einen alten Bekannten, Kosta Kovachev, einen Serben, der einmal für Morgan Stanley gearbeitet hat, mit ihm zu Solow zu kommen und sich in Solows Konferenzräumen als dessen Controller auszugeben. Der Betrug funktioniert.

Dreier versucht, in Katar und Dubai Geld aufzutreiben, aber Dubai ist selbst schon eine Ruine, ein sandiges Nichts. Zuletzt hatte er Fortress gefälschte Schuldverschreibungen für 33 Millionen Dollar angeboten, die, so Dreier, von der kanadischen Telefongesellschaft BCE und vom Lehrerpensionsfonds des kanadischen Bundesstaats Ontario gedeckt seien. Jetzt wollten auch die Fortress-Leute den Anwalt der Pensionskasse persönlich treffen.

Hier könnte die Geschichte von Marc Dreier aufhören. Aber Dreier gibt nicht auf. Er macht für Fortress einen Termin in Kanada. Am 3. Dezember 2008 setzt er sich in ein Flugzeug, fliegt nach Toronto und lässt sich zum Büro des Ontario Teacher’s Pension Plan fahren.

Die Yonge Street ist die längste Straße der Welt. Sie beginnt am Ufer des Ontariosees, folgt einem alten Pfad der Wyandot-Indianer, der von den Engländern um 1800 zu einer Straße ausgebaut und nach dem damaligen britischen Kriegsminister George Yonge benannt wurde, und läuft dann aus Toronto hinaus nach Westen, an Thunder Bay und Rainy River vorbei bis zur Grenze zu Minnesota – dem Bundesstaat, in dem Dreier heute im Gefängnis sitzt. Sie ist fast tausendneunhundert Kilometer lang.

An der Hausnummer 5650 stauen sich die Autos vor einem Geschäftshochhaus mit einer Fassade aus polierten graubraunen Granitplatten. Im Erdgeschoss befindet sich ein Starbucks. Ein verspiegelter Fahrstuhl fährt lautlos in den dritten Stock. Das Büro des Ontario Teacher’s Pension Plan sieht aus wie eine Zahnarztpraxis: weiße Wände, Neonlicht, weiße Fliesen, ein in verschiedenen Grautönen gestreifter Fußboden. Ein stilisierter silberner Apfel, das Symbol der Pensionskasse, ist in die Glastüren eingefräst. Vor einer neonblau leuchtenden Milchglaswand sitzt die Empfangsdame.

Dreier hat hier einen Termin. Er trifft den Anwalt des Pensionsfonds, Michael Padfield. Die beiden besprechen mögliche Geschäfte, nichts Konkretes, sie tauschen Visitenkarten, Dreier bittet ihn, ein Konferenzzimmer im Gebäude des Pensionsfonds benutzen zu dürfen, da sein Flug erst später gehe und er noch einen Freund treffen wolle. Padfield sagt, Dreier solle sich ganz wie zu Hause fühlen. Das tut Dreier. Er nimmt den Fahrstuhl hinunter in die Lobby und wartet, bis der Fortress-Manager Howard Steinberg eintrifft.

Im Foyer stehen schwarze Kunstledersessel, in großen Kübeln müssen ein paar Hartlaubgewächse Dschungel spielen, in einem Granitbrunnen plätschern kleine Fontänen, die von unten beleuchtet werden. Hinter einer Säule wird ein Kunstwerk von Max Leser ausgestellt, ein Glaskasten, in dem ein Boxhandschuh aus dem Jahr 1984, der preisgekrönte Roman Not wanted on the voyage von Timothy Findley und Zeitungen vom 3. Dezember 1986 liegen. Das Werk heißt »Time Capsule« und wurde an diesem Tag des Jahres 1986 versiegelt und aufgestellt.

Auf den Tag genau zweiundzwanzig Jahre danach steht Marc Dreier neben dieser Säule und wartet auf Howard Steinberg – besser, er fängt ihn ab, lotst ihn in das Büro und händigt ihm Padfields Visitenkarte aus. Dreier, der Mann, der über zweihundertfünfzig Anwälte regiert, dessen Gesicht auf allen Websites von Dreier LLP zu finden ist, spielt Steinberg vor, er sei Padfield. Er legt gefälschte Verträge vor. In einem kleinen Raum, an einem runden Holztisch, neben einer Zimmerpflanze, die im Neonlicht versucht, nicht zu sterben, an einem Tisch, an dem man eher pensionierte Lehrer erwartet, unterzeichnet Dreier als Michael Padfield einen Vertrag, der Dreiers Firma retten wird. Aber plötzlich bittet Steinberg Dreier, er möge kurz einen Kollegen dazurufen, mit dem der Fortress-Manager offenbar im Vorfeld gesprochen hatte. Dreier reagiert falsch. Er kennt den Namen des Mannes, aber er hat seine Nummer nicht. In einer anderen Version der Geschichte kommt eine Putzfrau herein, die den Raum putzen sollte, und fragt, wer die Anwesenden seien, Dreier versucht, sie hinauszuwerfen und sagt, er sei Padfield, und die Putzfrau sagt: »Nein, den kenne ich, Sie sind nicht Padfield.«

Steinberg wird jedenfalls misstrauisch. Er entschuldigt sich und fragt am Empfang nach, ob dieser Mann dort oben Padfield sei. Die Empfangsdame verneint erstaunt; Dreier flüchtet in Panik aus dem Gebäude.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen ein paar alte, heruntergekommene Backsteinbauten. Die rotweißen Busse der Linie 53B fahren vorbei. Eine Neonreklame wirbt für Kontaktlinsen und Sprachkurse, in einem verschmutzten Gelbklinkerhaus befinden sich eine Karaokebar mit dem Namen »Shout Karaoke«, ein koreanisches Restaurant, eine mexikanische Grillstation und »Mamma’s Pizza – Since 1957« – die Läden der Einwanderer, die hier ihr Glück versucht haben. Die Worte »Cash« und »Money« gelb und rot über einer kleinen Bankfiliale. Graue Mülltonnen mit grünen Deckeln, Rollsplitt im Schneematsch, lange Peitschenmasten, Cash, Money, mexikanische Pizza, Spiegelglastürme, kanadischer Eiswind.

Dreier dreht um. Er geht zurück in den Turm, fährt wieder in den dritten Stock, um eine weitere Ausrede zu improvisieren. Nie aufgeben. Corriger la fortune.

Aber Steinberg hat schon die Polizei gerufen, der Sicherheitsdienst ist da, Dreier wird wegen »Verkörperung eines kanadischen Anwalts« verhaftet. Ein halbes Jahr später beginnt der Prozess gegen ihn. Die Verteidigung schlägt zehn Jahre vor, der Staatsanwalt fordert einhundertfünfundvierzig Jahre.

Als Dreiers Villa in East Quogue am 17. Juni 2009 versteigert wird, sitzt Marc Dreier unter Hausarrest in seinem Apartment in Manhattan. Die Kunst ist abgehängt worden. Der kahle Raum ist das Bild des Zusammenbruchs zweier fiktiver Systeme, die sich gegenseitig für die Realität hielten – oder als Realität benutzten.

Die Kunstwelt war begeistert über Kunden wie Marc Dreier, weil er die fiktiven Werte, die Behauptung, ein Werk habe einen enormen kulturellen und finanziellen Wert, mit richtigem Geld objektivierte; die Behauptung von Galeristen und Museumsdirektoren, etwas sei bedeutend, wurde dank des Kunden aus der Finanzwelt Realität.

Denn vor allem die hochspekulative Finanzwelt brauchte anerkannte Symbole, um ihren Erfolg zu dokumentieren – und dafür brauchte sie Kunst. Wer einen Rothko und einen Pollock hat, muss erfolgreich sein und zieht Menschen an, die mit Geld zu tun haben. Auch wegen seiner Vernetzung in die Kunstwelt hinein wollten alle mit Marc Dreier befreundet sein; hätte er sein Geld für Polopferde und Rennwagen ausgegeben, hätte er Tierärzte, argentinische Großgrundbesitzer und Mechaniker um sich herumgeschart, wäre er nicht so attraktiv gewesen. Bei einer Party, zu der die Kunstwelt geladen ist, zur Einweihung einer Kunstsammlung, kommt auch Hollywood, weil nicht nur Geld zu besichtigen ist, sondern auch Sinnstiftung und tiefere Einsicht ins Menschsein versprochen wird; die Kunstvernissagen dieser Jahre waren der einzige Ort, an dem Kapitalismus und Kunstreligion, Spekulation und Philosophie, Gesellschaftskritik und Komplizentum in einer einzigen großen Zentrifuge so lange ineinandergeschleudert wurden, bis sie ein untrennbares Ganzes, ein toxisches Gebräu aus Ästhetik und strategischen Interessen ergaben: contemporary art.

Weil der derivative Kapitalismus nicht mehr mit Objekten handelt, sondern mit Behauptungen und Vorhersagen, müssen die Objekte, die seinen Erfolg beweisen sollten, das Physischste und Unspekulativste sein, was an kultureller Produktion zu haben ist: Ölgemälde, Sportwagen, Schnellboote – und Villen.

The Great Gatsbyfortune

Das Haus in East Quogue steht leer an der überfluteten Straße, ein Dodge rollt vorsichtig, wie auf Zehenspitzen, ins Wasser hinein und verschwindet Richtung Shinnecock Bay.

Ich fuhr auf die 7th Avenue und bis zur Nummer 745, dem früheren Goldman-Sachs-Gebäude, das 1999, mitten im Boom der Neuen Märkte, in nur einem Jahr für Morgan Stanley gebaut wurde, aber dann war der Boom vorbei, und statt Morgan Stanley zogen Lehmans Banker ein. Noch lange nach dem 15. September 2008, als alles zusammenbrach, konnte man auf Google Street View ein Foto sehen, das vor der Finanzkrise aufgenommen worden war, man sah dort in eine untergegangene Welt, in der an der Fassade des Hochhauses immer noch »Lehman Brothers« und »Where Vision gets built« stand, und vor der Tür warteten Chauffeure von schweren amerikanischen Limousinen auf die Banker, Passanten schlenderten vorbei, ohne zu ahnen, dass es ihr Geld, das sie hinter der Glasfassade gut betreut glaubten, längst nicht mehr gab. Bezogen kurz nach dem 11. September 2001, verlassen am 15. September 2008; die Türme stehen für die beiden großen amerikanischen Krisen, die das Jahrzehnt rahmen, für den Angriff von außen und die Zerstörung von innen.

Man muss genau sein. Dreier hat sich nicht nur Geld geliehen, um davon Kunst zu kaufen oder es bei Strandpartys zu verbrennen. Er hat von dem Geld Anwälte gekauft, die sehr viel Geld für ihn verdienten, er hat es in Projekte investiert, die anfingen, Geld zu bringen, er hat es als das behandelt, was es war – Risikokapital. Nur dass er es nicht so eingesetzt hat, wie er behauptete. Das war sein Betrug. Aber es ist eine andere Form von Betrug als der, den Madoff begangen hat. Madoff musste an einem gewissen Punkt wissen, dass er Menschen bestiehlt und ihnen ihr Geld nie würde wiedergeben können; seit Anfang der neunziger Jahre hatte er die Gelder seiner Geldgeber nicht mehr angelegt. Die Fair Food Foundation of Ann Arbor, die die Armen von Detroit mit Lebensmitteln versorgte, musste aufgeben, weil sie von einer unbekannten Person finanziert wurde, die ihre Einlagen bei Madoff verwalten ließ. Der britische Kriegsveteran William Foxton, der durch Madoff all seine Ersparnisse verlor, erschoss sich in einem Park.

Wollte Marc Dreier vor allem die Macht, die plötzlichen Auftritte schöner Frauen in seinem Leben, den Klang des Aston-Martin-Zwölfzylinders morgens in der Tiefgarage, das seltsame Glühen des Rothkos – oder war all das nur eine Entschädigung, eine verdiente Belohnung, der sichtbare Beweis dafür, dass er nicht falschgelegen hatte; dass sich die Aufopferung gelohnt hatte, die Hundert-Stunden-Wochen in den achtziger und neunziger Jahren, in denen seine Jugend zerfiel und seine Ehe; der zehn Jahre dauernde, sinnlose, unvollendete, abgebrochene Riesenprozess, der sein Triumph hätte werden können, aber nicht wurde, weil sein Klient aus irgendwelchen Gründen aufgab und ihn so um den Erfolg brachte, den er gehabt hätte, wenn er ihn hätte zu Ende führen können; all die Abende, an denen er nicht seine Kinder ins Bett gebracht hatte, die ihn manchmal besuchten und die er gern häufiger gesehen hätte; all die Tage, an denen er nicht mit seiner Frau – und nicht – und nicht …