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Wolfgang und Heike Hohlbein sind die erfolgreichsten und meistgelesenen Fantasyautoren im deutschsprachigen Raum. Seit ihrem Überraschungserfolg »Märchenmond« konnte sich die wachsende Fangemeinde auf zahlreiche weitere spannende Bestseller freuen. Ein besonderes Anliegen ist den Autoren die Nachwuchsförderung, wie z.B. die Verleihung des Hohlbein-Preises in Zusammenarbeit mit dem Verlag Ueberreuter.

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Über das Buch

Eltern sind schrecklich! Das findet auch Rebekka, als sie erfährt, dass sie ins Internat muss. Doch kaum ist sie in Schloss Drachental angekommen, traut sie ihren Augen nicht: Elfen flitzen zwischen den Blumen herum, ein Einhorn galoppiert durch den Schulwald und dann ist da noch der geheimnisvolle Junge Peer, den außer ihr niemand sehen kann. Hat das alles vielleicht mit dem Internat Märchenmond zu tun, von dem Rebekka träumt, und dem alten Magier Themistokles?

Als Rebekka versucht, dass Geheimnis um Schloss Drachental zu lösen, beginnt ein fantastisches Abenteuer …

Keine guten Nachrichten

Selbst im Lande Märchenmond, der Welt auf der anderen Seite der Wirklichkeit, in der Legenden Wahrheit sind und Realität nur Träume, bleibt die Zeit nicht stehen – auch wenn sie vielleicht anders vergeht als in der Welt, die die allermeisten Menschen für die einzig wirkliche halten. Die Zeit macht eben vor niemandem Halt, weder vor Menschen noch vor Tieren oder Pflanzen und auch nicht vor Elfen, Zwergen, Feen und Kobolden und allen anderen möglichen (und übrigens auch ein paar ganz und gar unmöglichen) Fabelwesen. Nicht einmal vor Zauberern.

Und so kam es, dass sie eines Tages sogar den größten und mächtigsten aller Magier einholte, Themistokles, den weisen Zauberer Märchenmonds. Als er an jenem Morgen, der sein Leben so gründlich verändern sollte, seine Zauberstube im höchsten Turm der gläsernen Stadt Gorywynn betrat, da fand er einen Brief auf seinem Schreibtisch vor und allein, dass er ihn sofort sah, war äußerst seltsam. Mit den Jahren war Themistokles nämlich ein bisschen unordentlich geworden, um nicht zu sagen: Sein Schreibtisch war ein einziges Chaos, auf dem sich irdene Töpfe und kleine Säckchen, kupferne Mörser und aufgerollte Pergamente, ledergebundene Bücher und Glaskolben mit bunten Flüssigkeiten, Schalen mit geheimnisvollen Pülverchen und Tinkturen und aller möglicher anderer Krempel zu einem einzigen Tohuwabohu stapelten, das nur deshalb nicht bis zur Decke reichte, weil die Zauberstube gut doppelt so hoch war wie ein normales Zimmer.

Aber der Briefumschlag – er war groß, aus schwerem dunkelbraunem Pergament, das fast wie altes Leder aussah, und mit einem dunkelroten Siegel aus Wachs verschlossen – lag nicht nur ganz oben auf diesem Stapel, sondern schwebte bei genauem Hinsehen sogar einen Fingerbreit darüber, wie von einer unsichtbaren Hand gehalten, und schon sein bloßer Anblick bereitete Themistokles Unbehagen.

Wer sollte ihm schreiben? Jeder, den er kannte, lebte hier in Gorywynn und davon abgesehen war dieser Brief ganz zweifellos mit der magischen Post gekommen, das bewies allein schon die Tatsache, dass er überhaupt da war. Die Tür seiner Zauberstube hatte zwar kein Schloss, aber er war trotzdem der Einzige, der einfach so hier hereinkonnte – schließlich war es ja eine Zauberstube und ein Zauberer hatte gewisse Möglichkeiten, sich und sein Eigentum zu schützen.

In diesem Brief musste also etwas von enormer Wichtigkeit sein, wenn sich jemand die Mühe machte, ihn trotzdem hereinzubringen.

Das gefiel ihm nicht.

Das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Themistokles stand eine ganze Weile nur da und sah den Brief an, der völlig unbeeindruckt weiter reglos über dem Tisch in der Luft schwebte und darauf wartete, gelesen zu werden. Bloß dass er gar keine richtige Lust hatte, ihn aufzumachen; und schon gar keine, ihn zu lesen. Themistokles hatte nämlich eine ziemlich unangenehme Ahnung, was den Inhalt dieses Briefes anging, und weil er ein Zauberer war und seine Ahnungen damit auch die eines Zauberers, hatte er sich angewöhnt, auf sie zu hören.

Unglückseligerweise hatte er aber auch zugleich die sichere Ahnung, dass dieser Brief darauf bestehen würde, gelesen zu werden.

Trotzdem: Wer sagte denn, dass er es sofort tun musste? Schlechte Nachrichten waren im Grunde wie alle anderen Nachrichten: Manchmal erledigten sie sich von selbst, wenn man nur lange genug wartete.

Themistokles drehte dem Brief demonstrativ den Rücken zu, ging am Schreibtisch vorbei und machte noch zwei weitere Schritte, bevor er wieder stehen blieb und sich fragte, warum er überhaupt in seine Zauberstube gekommen war. Das passierte ihm in letzter Zeit öfter. Themistokles war nicht nur ein bisschen unordentlich, sondern auch ein bisschen vergesslich geworden – um ehrlich zu sein, sogar mehr als nur ein bisschen. Er war an diesem Morgen früh aufgestanden und die genau fünfhundertzweiunddreißig Stufen hier heraufgekommen, um … um … um …

Der Brief summte.

Themistokles drehte sich um, zog die buschigen weißen Augenbrauen zusammen und betrachtete den summenden Briefumschlag misstrauisch. Er summte nicht nur, er zitterte, als wären Ameisen darin eingeschlossen oder ein ganzer Bienenschwarm. Natürlich wusste Themistokles, dass ihm niemand einen Umschlag mit Ameisen oder gar Bienen schicken würde – es war der Brief selbst, der mit Nachdruck darauf bestand, gelesen zu werden.

Offensichtlich war er doch ziemlich wichtig.

Aber musste er ihn deswegen sofort lesen?

Der Brief summte und zitterte noch heftiger, so als hätte er Themistokles’ Gedanken gelesen, und der weißhaarige Zauberer gab mit einem tiefen Seufzer auf und ging wieder zum Schreibtisch zurück. Der Brief hörte auf zu zittern und zu summen und flog ihm stattdessen entgegen, hin und her schwankend wie ein trockenes Blatt Herbstlaub, das der Wind vom Baum gepflückt hatte. Themistokles fing den Umschlag mit der linken Hand auf und hob die andere, um mit den Fingern zu schnippen. Das war seine Art, Briefe aufzumachen, denn Zauberer brauchen selbstverständlich keinen Brieföffner.

Das Siegel brach mit einem hörbaren Plopp auf und ein eng mit einer winzigen verschnörkelten Handschrift bedecktes Pergament glitt aus dem Umschlag und entrollte sich in Themistokles’ Hand. Der alte Magier überflog den Text, riss die Augen auf, überflog ihn noch einmal, keuchte, riss die Augen noch weiter auf und las den Brief dann zum dritten Mal und diesmal sehr aufmerksam. Dann machte er einen trippelnden kleinen Schritt zurück und ließ das Blatt fallen. Das heißt: Er ließ es los, aber es fiel nicht. Stattdessen blieb es einfach in der Luft hängen und begann unwillig mit den Ecken zu flattern.

»Aber das … das ist doch …«, keuchte Themistokles, »das ist doch einfach …«

Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Sogar sein Bart und das bis auf die Schultern reichende schlohweiße Haar schienen noch bleicher zu werden und für einen ganz kurzen Moment begann er am ganzen Leib zu zittern; beinahe so heftig wie der Umschlag gerade.

»Das ist ja geradezu ungeheuerlich!«, keuchte er schließlich. »Das … das können sie mit mir nicht machen! Nach allem, was ich für sie getan habe. Das lasse ich mir nicht bieten!«

Und so ging es weiter. Themistokles lief wie ein Tiger im Zoo in seiner Zauberstube auf und ab – allerdings wie ein Tiger mit Zahnschmerzen, der zu allem Überfluss auch noch gerade auf einen Knochen gebissen hatte. »Das lasse ich mir nicht gefallen!«

Themistokles wurde immer ärgerlicher. Zornig wie er war, begann er sogar gegen Möbel und Wände zu treten. »Das könnt ihr mit mir nicht machen!« Und – Peng! – trat er vor den Schreibtisch, dass der ganze Stapel vor ihm bedrohlich zu wackeln begann. »Nach allem, was ich für sie getan habe!« Und – Rrrums! – bekam die Kommode einen Fußtritt, der sie in allen Fugen erzittern ließ. »Das ist einfach nicht fair!« Und – Krach! – fing sich ein Schemel einen Tritt ein, der ihn quer durch den Raum an die gegenüberliegende Wand schleuderte, wo er in zahllose Stücke zerbrach.

Der Brief schwebte die ganze Zeit vollkommen unbeeindruckt in der Luft und bewegte nur manchmal eine Ecke, als wolle er ihm damit zuwinken. »Undankbar ist das, einfach undankbar!« Und damit trat er so wuchtig gegen ein Regal, dass ein paar Glasflaschen und Tontöpfe von den Brettern rutschten und klirrend auf dem Fußboden zerbarsten.

Hinter ihm erscholl ein gutmütiges grollendes Lachen. »Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?«

Themistokles drehte sich aufgebracht um und hörte wenigstens so lange damit auf, die Einrichtung zu zerlegen, wie Rangarig brauchte, um seinen nahezu droschkengroßen Schädel vollends durch das Fenster zu schieben.

»Ich meine: Wenn es dir nur darum geht, deine Einrichtung zu verwüsten, dann kann ich das bestimmt schneller für dich erledigen«, fuhr der riesige Golddrache fort. Er zwinkerte Themistokles mit einem Auge zu, das größer war als Themistokles’ ganzer Kopf.

»Das … das … das ist …«, begann Themistokles, verhaspelte sich vor lauter Aufregung und deutete schließlich anklagend auf den verzauberten Brief, der weiter reglos in der Luft hing, als ginge ihn das alles hier gar nichts an. »Weißt du, was da drinsteht?«

»Sicher«, antwortete Rangarig.

Themistokles blinzelte. »Woher?«

»Nachrichten haben Flügel«, sagte der Drache. »Und sie sind größer, je schlechter die Nachricht ist.«

Themistokles blickte einen Moment lang nachdenklich aus dem Fenster, wo sich der Rest von Rangarig befand. Der gewaltige Drache schlug träge mit den Flügeln, um sich in der Luft zu halten, und Themistokles kam in den Sinn, dass er sich wegen seiner Riesenschwingen wohl selbst für einen geflügelten Nachrichtenboten hielt. Aber dann wandte er sich ab und deutete anklagend auf den Brief. Mittlerweile schien sich die Schrift verändert zu haben und Themistokles hatte auch das Gefühl, dass ein paar Ausrufezeichen hinzugekommen waren.

»Das ist einfach nicht fair!«, schimpfte er. »Mein ganzes Leben lang habe ich den Menschen und Tieren in diesem Land gedient! So vielen habe ich geholfen und so viele hat meine Magie beschützt – und zum Dank werde ich jetzt aufs Altenteil geschoben!«

»Na, na, na«, sagte Rangarig tadelnd. »Also so würde ich das nun nicht ausdrücken. So viel ich weiß, ist das da …«, er machte eine Kopfbewegung in Richtung Brief, der zustimmend mit den Ecken wedelte, »… deine Ernennung zum neuen Leiter der berühmten Universität vom Drachenthal

»Berühmte Universität, pah!«, machte Themistokles. »Das ist doch kaum mehr als ein schäbiges Internat kurz vor dem Ende der Welt und was seinen Ruf angeht …«

»Bevor du weitersprichst«, unterbrach ihn Rangarig fast sanft, »sollte ich dich vielleicht daran erinnern, dass auch ich dort einst zaubern lernte. Wie alle Drachen meiner Generation, nebenbei bemerkt.«

»Na ja, das … das war doch etwas ganz anderes«, verteidigte sich Themistokles leicht verlegen – tatsächlich hatte er es einfach vergessen.

»Ach?«, fragte Rangarig. »Wieso?« Er kniff misstrauisch ein Auge zu.

»Nun, weil … weil«, begann Themistokles herumzudrucksen. »Weil das etwas ganz anderes war«, beharrte er schließlich. »Es ist Ewigkeiten her und du willst dich doch nicht etwa mit den Zauberlehrlingen von heute vergleichen.«

»Aber wieso denn nicht?«, erkundigte sich Rangarig.

»Weil wir früher anders waren, basta«, entschied Themistokles. »Früher, ja, da war Drachenthal die erste Adresse, zu der man Drachen schickte, sobald sie anfingen Feuer zu speien! Auch alle übrigen magisch begabten Zöglinge waren fleißig und haben gelernt und sie haben ihre Eltern und die Lehrer respektiert.«

»Aber heute wollen die jungen Leute ja nur noch Spaß«, sagte Rangarig. Er schüttelte zwar ernst den Kopf, aber in seinen Augen erschien trotzdem ein spöttisches Glitzern, so als hätte Themistokles einen besonders guten Witz gemacht, ohne es selbst zu merken. »Niemand will mehr arbeiten und sie sind aufsässig und faul und haben keinen Respekt vor ihren Lehrern.«

»Genau!«, triumphierte Themistokles. »Du sagst es!«

»Nein«, antwortete Rangarig. »Das hat mein Lehrer zu mir gesagt, als ich jung war und in die Schule kam.«

»Oh«, machte Themistokles.

»Ja, ja«, bestätigte der Drache. »Und ich erinnere mich da an einen gewissen Zauberlehrling, der um ein Haar von der Schule geflogen wäre, weil er …«

»Ja, ja, schon gut, schon gut«, fiel ihm Themistokles ins Wort. Aus irgendeinem Grund schien ihm das Thema plötzlich unangenehm zu sein. Er begann wieder im Raum hin und her zu tigern; diesmal aber wenigstens, ohne vor Möbel oder Wände zu treten. Dafür spießte er den Brief, der noch immer zwischen ihm und der Tür in der Luft schwebte und ihm manchmal spöttisch zuzuwinken schien, mit Blicken regelrecht auf.

»Ich lasse mich nicht einfach abschieben«, brummelte er. »Ich bin der oberste Zauberer von Märchenmond! Der Hüter der Magie!«

»Und das schon ziemlich lange, wenn ich mich richtig erinnere«, gab Rangarig zu bedenken.

»Was willst du damit sagen?« Themistokles blieb stehen. Seine Augen blitzten kampflustig.

»Vielleicht wird es langsam Zeit, für einen Jüngeren Platz zu machen«, antwortete Rangarig.

Themistokles ächzte. »Willst du behaupten, ich wäre zu alt?«, krächzte er. »Das … das …«

»Es ist keine Schande, in Ehren alt zu werden«, unterbrach ihn der Drache.

»Aber es ist eine Schande, jemanden, der in Ehren alt wird, einfach abzuschieben«, beschwerte sich Themistokles. »Bis jetzt bin ich meinen Aufgaben noch ganz gut gewachsen.«

»Also die Dürre im letzten Jahr …«, begann Rangarig.

»Habe ich sie etwa nicht beseitigt?«, fragte Themistokles.

»Doch, sicher«, bestätigte Rangarig. »Der Regen, den du gemacht hast, kam gerade noch rechtzeitig. Nur hat er vielleicht ein bisschen lange gedauert. Wie lange war es noch mal? Drei Monate?«

»Vier«, erwiderte Themistokles widerwillig. »Fast fünf.«

»Tja, das Land ist nicht verbrannt, aber dafür hat der Dauerregen den Bauern die Erde weggespült«, erinnerte ihn Rangarig. »Um ein Haar hätte es eine Hungersnot gegeben. Und im Jahr zuvor, als die Zwerge uns um Hilfe baten, weil ihre Höhlen einzustürzen drohten …«

»Habe ich ihnen etwa nicht geholfen?«, unterbrach ihn Themistokles beleidigt. »Die Zwergenhöhlen sind prima in Schuss. Sie stehen noch heute.«

»Ja, ja, weil die Zwerge immer noch damit beschäftigt sind, das Eis aus den Stollen zu hacken, das du hineingezaubert hast«, seufzte Rangarig. »Sie sind ziemlich schlecht auf dich zu sprechen, glaube ich. Und vor zwei Monaten, als du …«

»Ist ja schon gut!«, fiel ihm Themistokles ins Wort. »Man wird ja wohl mal einen Fehler machen dürfen!«

»Fehler, die ein Zauberer macht, können ziemlich übel ausgehen«, gab Rangarig zu bedenken.

»Und?«, grummelte Themistokles. »Ist das ein Grund, mich zum alten Eisen zu werfen?« Er warf dem Brief, der Rangarigs Worte mit einem Wippen zuzustimmen schien, einen giftigen Blick zu.

»Niemand will dich zum alten Eisen werfen, alter Freund«, antwortete Rangarig, stutzte, schüttelte leicht den Kopf und verbesserte sich hastig. »Mein Freund. Ein Internat für Magier und Drachen zu leiten ist eine respektable Aufgabe.«

»Ja, für einen alt gewordenen Zauberer, der zu nichts anderem mehr taugt«, sagte Themistokles böse.

Rangarig lachte – allerdings nicht sehr laut. Themistokles hatte einmal – vor sehr langer Zeit und bei einer anderen Gelegenheit – gesagt, dass Rangarig vermutlich das einzige Wesen war, das seine Feinde im wahrsten Sinne des Wortes totlachen konnte, und an dieser Behauptung war etwas dran. Obwohl der gewaltige Drache sich beherrschte, klirrten die Flaschen, Töpfe und Tiegel auf den Regalen hörbar.

»Sieh es ein, mein Freund«, sagte er noch einmal. »Wir sind beide alt geworden. Wir sollten Platz für die Jüngeren machen, ehe wirklich etwas Schlimmes passiert.«

Der Brief flatterte wieder energisch und Themistokles’ Gesicht verfinsterte sich noch weiter. »Niemals«, grollte er.

Rangarig lachte. Diesmal etwas lauter.

Abgeschoben ins Drachenthal

»Niemals!«, sagte auch Rebekka und stampfte so heftig mit dem Fuß auf, dass die Tassen und Teller auf dem Tisch zu hüpfen begannen. »Ich gehe nicht in dieses blöde Internat, und wenn ihr euch auf den Kopf stellt und mit den Ohren wackelt. Ich lasse mich doch nicht abschieben!«

Ihr Vater, der solche Töne von seiner Tochter ganz und gar nicht gewohnt war, zog überrascht die Augenbrauen zusammen. Aber Rebekka konnte auch spüren, wie sich seine Laune verdüsterte, und hören, wie er scharf einatmete. Bevor sich das Gewitter, das sich in seinen Augen zusammenbraute, jedoch auf Rebekka entladen konnte, legte ihm ihre Mutter beruhigend die Hand auf den Unterarm und ergriff das Wort.

»Niemand will dich abschieben, Liebling«, sagte sie lächelnd.

»Und nenn mich nicht Liebling«, fauchte Rebekka. »Das mag ich nicht.« Was nicht stimmte. Eigentlich mochte sie es ganz gern, nur eben heute nicht. Sie wollte wütend sein.

Vaters Augen verdüsterten sich noch weiter, aber das Lächeln ihrer Mutter war noch da. »Dann eben Rebekka«, sagte sie. »Aber es ändert nichts daran, dass niemand dich abschieben will. Es ist nun einmal die beste Lösung. Es geht einfach nicht anders.«

»Pah«, machte Rebekka. Trotzig ließ sie sich auf dem Stuhl zurücksinken, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ die Füße baumeln, wodurch sie in gleichmäßigem Takt immer wieder gegen das Tischbein stießen und das Geschirr einen kleinen klirrenden Tanz aufführte. Das drohende Unwetter in den Augen ihres Vaters wurde stärker, aber zu Rebekkas eigener Überraschung entlud es sich noch nicht.

»Dieser Lehrauftrag in Amerika ist eine Riesenchance für deinen Vater«, fuhr Mutter fort. »Und für mich auch. So eine Gelegenheit bekommen wir kein zweites Mal. Und es ist schließlich nicht für immer. In einem Jahr sind wir wieder hier.«

»Und warum kann ich dann nicht mitkommen?«, fauchte Rebekka. Eigentlich kannte sie die Antwort auf ihre Frage bereits. In den letzten Monaten hatten ihre Eltern sehr oft über die Zeit gesprochen, die Vater als Gastdozent an der Universität von Wisconsin verbringen würde, und sie wusste auch, dass er diese Chance einfach ergreifen musste, wenn er beruflich weiterkommen wollte. Sie hatte auch gewusst, dass ihre Mutter, die ebenfalls Lehrerin war, ihn begleiten würde. Und eigentlich hätte sie sich denken können, was das für sie bedeutete. Sie hatte es nur nicht wissen wollen.

»Aber darüber haben wir doch schon gesprochen«, sagte Vater seufzend. »Das amerikanische Schulsystem ist völlig anders als unseres. Du hättest große Probleme, dich zurechtzufinden. Ganz abgesehen von der Sprache …«

»Ich kann Englisch«, behauptete Rebekka – was ein bisschen übertrieben war. Sie hatte zwar seit der zweiten Klasse einen freiwilligen Englischkurs belegt, aber über Good Morning und How are you? reichten ihre Kenntnisse nicht hinaus. Vater ignorierte ihr Argument denn auch kurzerhand.

»Und wir hätten praktisch keine Zeit, um uns um dich zu kümmern«, fuhr er ungerührt fort. »Es ist die einzige Möglichkeit, die Sinn macht. Du gehst ein Jahr auf dieses hervorragende Internat, danach kommen wir zurück und alles ist beim Alten.«

»Vielleicht gefällt es dir dort ja sogar, wer weiß?«, warf ihre Mutter ein.

»Gar nichts wird beim Alten sein!«, behauptete Rebekka mürrisch. »Alle meine Freunde sind hier. Ich werde niemanden mehr kennen, wenn ich zurückkomme.«

Das stimmte nur zum Teil. Ihr Vater seufzte, aber in den Augen ihrer Mutter erschien ein Ausdruck, der Rebekka klar machte, dass sie die Wahrheit besser wusste. Sie waren vor zwei Jahren in diese Stadt gezogen und wirkliche Freunde hatte Rebekka in dieser Zeit noch nicht gefunden.

»Und es gefällt mir dort ganz bestimmt nicht«, fügte sie trotzig hinzu.

»Weil du es nicht willst«, behauptete ihr Vater. »Du kennst das Internat doch gar nicht.«

»Es ist sehr schön dort«, fügte Mutter hinzu. »Wir haben es uns schon angesehen. Es ist ein wunderschönes altes Schloss, das mitten in den Bergen liegt. Die Lehrer sind nett und in jeder Klasse sind höchstens zwölf Schüler …«

»Was das Schulgeld natürlich in schwindelerregende Höhen treibt«, unterbrach sie ihr Vater. »Aber das nehmen wir in Kauf, weil Drachenthal einen ausgezeichneten Ruf genießt – und wir dich dort gut untergebracht wissen.«

»Es kommt euch doch viel billiger, wenn ich hier bleibe«, sagte Rebekka unbeeindruckt.

»Sei nicht albern«, sagte ihr Vater.