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Einführung

Die Klage über die rasch sich wandelnde Welt ist notorisch. Sie wiederholt sich im Rhythmus der Generationenfolge. So ist es immer gewesen und so wird es auch des weiteren sein. Gleichwohl schwant den Zeitgenossen, dass die gegenwärtig vor aller Augen sich vollziehenden Veränderungen tiefer reichen, dass sie weitreichender sind als das, was in zurückliegender Zeit erfahren worden war. Nicht was Zerstörung, nicht was kurzzeitig einschneidende Katastrophen wie Krieg und Revolution meint und wofür die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts steht, sondern ein Umbruch, der auf Dauer die als firm und fest erachteten Kategorien von Wahrnehmung und Urteilen erfasst und dabei jene Gewissheiten in Mitleidenschaft zieht, auf denen die Welt, jedenfalls seit der frühen Neuzeit, zu ruhen schien. Gemeint sind die gewaltigen technologischen Veränderungen und die ihnen auf den Fuß folgenden sozialen wie politischen Verwerfungen. Alles scheint von dieser Veränderung ergriffen, alles, was die Humanitas zusammenhält – Kommunikation, Arbeit bis hin zur Geltung der sie stützenden Begriffswelten.

Mit der Epochenbezeichnung die »frühe Neuzeit« und dem Wort von der »Welt« findet sich eines der die großen Veränderungen aufrufenden Probleme angezeigt – nämlich die Frage nach der universellen Geltung bislang als gültig erachteter Kategorien und Begriffe, die zu einem Grundverständnis eines menschheitlichen Daseins beitrugen. Solcher Anspruch auf eine Allgemeingültigkeit von Begriffen und Kategorien wird gleichwohl als anmaßend zurückgewiesen. Um wessen »frühe Neuzeit« handelt es sich; und von wessen »Welt« ist die Rede? Bei der frühen Neuzeit ebenso wie bei der gängigen Trias historischer Epocheneinteilung – von Antike, Mittelalter und Neuzeit – handelt es sich recht eigentlich um eurozentrische räumliche Zuweisungen von Zeitalter. Die Antike meint wesentlich den Raum des Mittelmeeres, das Mittelalter Kontinentaleuropa in west-östlicher Ausdehnung und die Neuzeit greift auf die Gefilde des Atlantiks über. Außereuropa bleibt einem solchen Blick fern, jedenfalls bleibt unbeachtet, was über dessen Bedeutung als Objekt europäischer Begierden hinaus geht. Damit erweist sich die Rede von der »frühen Neuzeit« und der modernen »Welt«, deren Fundamente damals allem Dafürhalten nach gelegt worden waren, als eingeschränkt. Dass aber so gesprochen wird, so gesprochen werden konnte, scheint gleichwohl eine nicht von der Hand zu weisende Wirklichkeit widerzuspiegeln: dass die Welt, wie wir sie kennen, nach dem Bilde Europas bzw. des Westens gestaltet worden war, gestaltet werden konnte. Dieser Umstand ist erklärungsbedürftig.

Erklärungsbedürftig ist die Tatsache, dass die europäischen, die westlichen Lebenswelten, sowohl die materiellen wie die ideellen, von einem gewissen Zeitpunkt an nicht nur ihre räumlichen Grenzen überschritten, sondern auch die Zeichen, Begriffe und Konzepte setzten, mittels derer die Welt gedeutet, verstanden und nicht zuletzt sich auch angeeignet werden konnte.

Die frühe Neuzeit war eine Epoche des Umbruchs. Sie kreierte eine neue Welt. Gemeint ist das seiner Wirkung nach revolutionäre Zusammenspiel von Buchdruck, Reformation und der »Entdeckung« Amerikas. Damals bildeten sich die Voraussetzungen dessen aus, was später als Aufklärung bezeichnet und in seiner lebensweltlichen Bedeutung mit dem Wort von der Moderne zur Deckung kommen wird. So hat die frühe Neuzeit Europa oder genauer: die in einem Prozess steter Säkularisierung sich befindende westliche Christenheit privilegiert. Sprache und Begriffe von moderner Weltsicht und moderner Welterklärung sind dem Humus eines christlich-europäisch geprägten Kanons erwachsen. Daran knüpft die eingangs gestellte große Erkenntnisfrage der Gegenwart an: Wie steht es um die Geltung von Begriffs- und Bedeutungswelten, die, wie es scheint, einer Epoche und einem Kanon entsprangen, der allem Dafürhalten nach christlich-westlich imprägniert ist – und dies auch dann, wenn er sich zunehmend profaniert und universalisiert? Gelten die dort und damals gezeugten Begriffe, Kategorien und Erkenntnisbilder der Welterklärung auch für solche Kulturen, denen allem Anschein nach ein anderer Weg beschieden gewesen war, bis sie von den Auswirkungen einer westlichen Aufklärung und einer ihr entsprungenen Moderne behelligt wurden?

In der durch Globalisierung, Migration und moderne Kommunikationstechnologien in einem einen und einzigen Jetzt vernetzten Welt scheint mit der Frage nach der Geltung des westlichen Kanons und den westlichen Erfahrungswelten hervorgegangenen Wahrnehmungen und Begrifflichkeiten die Frage aller Fragen aufgeworfen. Um sich dieser Frage anzunähern, schlägt diese kleine Schrift einen Umweg insofern ein, indem sie zum Verständnis einer universellen Vielfalt auf der Grundlage menschheitlicher Einheit die Pluralität von Aufklärung und Moderne innerhalb des Westens zu thematisieren sucht. Dass dabei auch Bezüge zu nicht-europäischen wie auch zu nicht-westlichen europäischen Kulturen hergestellt werden, ist der sich globalisierenden Wirklichkeit und einer sich dabei einstellenden universellen Horizontverschmelzung geschuldet. Was die Pluralität von Aufklärung und Moderne innerhalb des Westens angeht, so wird der Variante der schottischen Aufklärung und der mit ihr verbundenen Moralphilosophie ein gewisses Privileg eingeräumt. Dies hat verschiedene Gründe und diese sollen in dieser kleinen Schrift dargeboten werden. Einer dieser Gründe ist der Umstand, dass die schottische Aufklärung, obwohl sie an historischer Modernität ihresgleichen sucht, im Unterschied zu radikalen Tendenzen der Aufklärung es gerade nicht darauf anlegte, die Verbindung zur Offenbarung gänzlich zu kappen. Damit vermag sie sich in der Gegenwart auch jenen Kulturen zu öffnen, für die eine fortwährende Bindung an die Transzendenz unentbehrlich scheint.

Bei diesem Text handelt es sich um eine überarbeitete Fassung einer Publikation, die in der Reihe der Vontobel-Stiftung im Jahre 2008 erschienen ist.

 

Jerusalem und Leipzig, Herbst 2016    Dan Diner

Verrufene Moderne

Der Moderne ist kein guter Leumund beschieden. Dass sie in Verruf geraten ist, hat verschiedene Gründe. Sie wird haftbar gemacht für die historischen Zivilisationsverbrechen des Westens, für die Blutspur der europäischen Expansion nach außen, nach Übersee. Haftbar gemacht wird sie auch für die nach innen gewandte drakonische Praxis frühneuzeitlicher Sozialdisziplinierung – der von Staates wegen erfolgten Zurichtung und Anpassung der Menschen an die in ihrem Zeichen angetretenen Ordnung der Maschinenwelt. Wo es um Moderne und Säkularisierung als materielle, als praktisch gewordene Aufklärung geht, werden willfährig ihre Schattenseiten herausgekehrt.

Die Fundamentalkritik an der Trias von Aufklärung, Säkularisierung und Moderne hat sich von einer zuvor eher randständigen Lage zunehmend ins Zentrum des intellektuellen Diskurses geschoben. Von einem solchen neuen diskursiven Zentrum der Sinnstiftung wird seit geraumer Zeit die weit ins 18. Jahrhundert zurückreichende westliche Kanon-Bildung herausgefordert. Beigetragen haben dazu in erster Linie die verheerenden historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, also die Weltkriege, der Holocaust, Kolonialverbrechen sowie die apokalyptische Erwartung eines möglichen nuklearen Weltuntergangs in der Zeit des Kalten Krieges. Vor diesem Hintergrund ist eine der Vernunft inhärente Selbstzerstörung diagnostiziert worden. Die Aufklärung wurde nicht mehr zitierbar, ohne dass ihre dunkle Seite in den Blick genommen wurde.

Geschichtsphilosophisch vollendet fand sich die Ernüchterung von den mit Aufklärung und Modernen verbundenen weltlichen Erlösungshoffnungen mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Zerfall der Sowjetunion. Nicht, dass die dort herrschend gewesene Ideologie einer buchstäblichen sozialen Gleichheit als ein ausgesprochen westliches Projekt verstanden worden wäre. Politisch war sie bekanntermaßen als ein antibürgerliches, antikapitalistisches Vorhaben angetreten. Gleichwohl waren beide, der politische Westen wie der politische Osten, dem Ideenkanon von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Großen Revolution entsprungen, bis sich diese Geschwister im Verlauf des 19. Jahrhunderts trennten und gegeneinander kehrten. Der Sozialismus war also nicht weniger ein Kind der Aufklärungsphilosophie, als sein mittels der Kategorie der Klasse erfasster bürgerlicher Gegner. So kam es, dass der zerbrochene sozialistische Machtstaat nicht nur als solcher untergegangen war, sondern dass auch jene Traditionen der Menschheitsbefreiung mit in den Abgrund gerissen wurden, die dem Projekt des Sowjetkommunismus und seiner weltanschaulichen Legitimität distanziert bis ablehnend gegenüber standen. Damit hatte die historische Aufklärungstradition eine weitere Niederlage zu verzeichnen.

Die ganz große Niederlage der Aufklärungstradition führt zu jener Blutspur zurück, die von den Expansionsverbrechen Europas wie des Westens gezogen worden war. Dass sie zum Sprechen gebracht wurden, war dem Prozess der Entkolonialisierung geschuldet. Die Befreiung von europäischer Bedrückung folgte auf den grausamsten aller europäischen Kriege – den Zweiten Weltkrieg. Parallel zur Praxis der Befreiung an der kolonialen Peripherie wuchs eine Kritik an der Herrschaft Europas heran, die das Denken in den Kategorien der Aufklärung als Verursacher kolonialen Elends anklagte. Es waren sogenannte postkoloniale und postmoderne Theorien, die auf Abstand zur Aufklärung gingen, die Segnungen der Moderne bezweifelten und schließlich auch die Vorzüge der Säkularisierung in Frage stellten. Einer der profiliertesten wie durchschlagendsten Versuche dieser Art war aus den Literaturwissenschaften hervorgegangen – so die Theorie des »Orientalismus« (Edward Said). Pauschal läuft sie auf die Überzeugung hinaus, dass dem westlichen Kanon durch die Geschichte hindurch die Tendenz eigen war, außereuropäische Kulturen zum jeweils »Anderen« zu verzeichnen, um sie umso gewisser der Herrschaft Europas zu unterwerfen, sie dem Westen gegenüber gefügig zu machen. Allein die konsequente Dekonstruktion des westlichen Kanons, die Weigerung, ihm universelle Geltung zuzugestehen, würde zu einer pluralistischen, die Mannigfaltigkeit der Menschheit umfassenden Weltkultur führen.

Mit den Theoriegebäuden der Postmoderne und des Postkolonialismus haben sich Denktraditionen etabliert, die von ihren Gegnern mit dem Vorwurf des Relativismus bedacht werden. Dieser Vorwurf ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, auch wenn dabei nicht zur Genüge berücksichtigt wird, dass die zunehmende Vielfalt in vormals homogen verfasstem Gemeinwesen, etwa durch Einwanderung, aber auch durch die von der Globalisierung bewirkten Nähen der Kulturen zueinander, so etwas wie ein diskursives Abgleichen von Verschiedenheiten zu einer größeren menschheitlichen Einheit erforderlich macht.

Der für die Postmoderne wie für den postkolonialen Diskurs signifikante Relativismus indes scheint vornehmlich deshalb so erfolgreich geworden zu sein, weil er weniger den materiellen Lebenswelten verpflichtet ist als den Maßgaben der Textinterpretation. Im polemisch verkürzenden, wenn auch nicht unzutreffenden, Urteil der Gegner ebensolcher postmoderner und postkolonialer Zugänge verwandelt diese um sich greifende Diskurstradition alle materielle Wirklichkeit in Text und unterwirft die in den Texten sich spiegelnde Wirklichkeit hermeneutischen Vorlieben. Eine solche Volte scheint dem nur schwer abzuweisenden Vorwurf Recht zu geben, derartige Diskurskulturen eröffneten relativistischen Strömungen Tür und Tor. Hingegen vermag eine Verteidigung der Trias von Aufklärung, Moderne und Säkularisierung insofern mit der Behauptung überzeugen, ihre Geltung wahre nicht etwa die Überlegenheit der einen Kultur über die andere, sondern gewährleiste in einer universellen Farbenblindheit und mittels Neutralisierungen kultureller Verschiedenheiten erst jene Offenheit, die jene relativistische Kritik am als ausschließlich westlich geschmähten Kanon doch zu zerstören beabsichtige.