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Als Ravensburger E-Book erschienen 2017

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2017 Ravensburger Verlag GmbH

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Shield of Kuromori bei Egmont UK Limited, The Yellow Building, 1 Nicholas Road, London W11 4AN.

The author has asserted his moral rights. All rights reserved.

Copyright © 2015 Jason Rohan
Umschlaggestaltung: Miriam Weber unter Verwendung von Fotos von Fotolia/SeanPavonePhoto, Fotolia/Caito und Fotolia/Ihboucault

Katana: CanStockPhoto/oorka

Aus dem Englischen von Jacqueline Csuss
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-40815-3

www.ravensburger.de

Für meinen Vater.
Er wäre stolz gewesen.

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»Jetzt mach schon!«

Der Planen-Lastwagen rumpelte im ersten Gang die Honan Dori entlang in Richtung Stadtzentrum. Kenny Blackwood rannte ihm hinterher und schnappte vergeblich nach der ausgestreckten Hand.

Kiyomi hing über der Heckklappe. »Das gibt’s doch nicht!«, rief sie. »Schneller!«

Kenny senkte den Kopf, ballte die Fäuste und nahm noch einmal Anlauf.

»Oyama, yukkuri shiro!«, dröhnte es in diesem Moment von der Ladefläche.

Der Laster hielt so abrupt an, dass der völlig unvorbereitete Kenny in den Stoßdämpfer donnerte, abprallte und auf den Hintern fiel.

»Autsch.« Er saß im rötlichen Schimmer der Bremslichter auf dem Asphalt und rieb sich das schmerzende Hinterteil. »Spinnt ihr, oder was?«

Kiyomi sprang von der Ladefläche und half ihm auf die Beine. »Bist du verletzt?«

»Nein, nur mein Stolz«, brummte Kenny. »Wohin fahren wir überhaupt?«

Kiyomis Vater Harashima war an die Heckklappe getreten. »Kuromori-san, du hältst uns auf. Steig jetzt bitte ein.«

Kenny kletterte auf die Ladefläche. Er nickte den vierzehn Männern auf den schmalen Bänken im Inneren zu. Die meisten von ihnen kannte er seit ihrer gemeinsamen Aktion vor knapp zwei Monaten, als sie einen Wahnsinnigen daran gehindert hatten, die Westküste Amerikas auszulöschen. Sie waren schwarz gekleidet, mit Maschinengewehren bewaffnet und erwiderten seinen Blick mit ernsten, entschlossenen Mienen.

Der Laster fuhr wieder los und beschleunigte. Kenny setzte sich Kiyomi gegenüber. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Kenny betrachtete sie und spürte einen Stich im Herzen. Er fand sie so schön wie immer, aber da waren auch diese dunklen Schatten unter ihren Augen und die tiefen Furchen auf der Stirn. Er kannte Kiyomi noch nicht lange, ein paar Monate erst, doch seither war so viel passiert, dass es ihm viel länger vorkam. Ihr Anblick war ihm inzwischen so vertraut, als wären sie schon ewig miteinander befreundet.

Sie hatte sich verändert. Irgendetwas stimmte nicht. Kenny spürte das in seinem Innersten, auch wenn er dafür keine Erklärung hatte.

Er stieß mit der Spitze seines Turnschuhs sanft gegen Kiyomis Lederstiefel. Ihre Augen gingen flatternd auf und sie blickte ihn ärgerlich an.

»Was ist?«

»Du siehst müde aus.«

»Was du nicht sagst. Und warum, glaubst du, versuche ich ein wenig zu dösen?«

»Nein, ich meine … ist alles in Ordnung? Du bist nicht mehr dieselbe seit …«

»Mann, ich kann es nicht mehr hören!«, fuhr sie ihn an. »Ja, ich bin müde. Ja, ich bin genervt. Und ja, ich wünschte, ihr würdet endlich damit aufhören, mich wie ein rohes Ei zu behandeln. Es reicht, okay?«

Harashima stand auf und hielt sich in dem schwankenden Fahrzeug an einer Schnur fest. Er warf einen besorgten Blick auf Kiyomi, verkniff sich aber eine Bemerkung und wandte sich an seine Männer.

»Vor nicht allzu langer Zeit haben wir in Kashima gekämpft und eine Katastrophe verhindert. Akamatsu, der Narr, dachte, er könnte mit dem Drachen Namazu den Lauf der Welt aufhalten.«

Einige Männer nickten mit dem Kopf und scharrten mit den Füßen. Das Unbehagen, das wie eine Welle durch die Gruppe lief und jedem Einzelnen anzusehen war, überraschte Kenny nicht. Viele von ihnen waren an jenem Tag verletzt worden und hatten Freunde verloren.

»Mit Kuromori-sans Hilfe haben wir ihn aufgehalten«, fuhr Harashima mit einem Nicken auf Kenny fort, der verlegen lächelte. »Als wir jedoch noch nicht wussten, dass sich die Höhle des Drachen in Kashima befand, suchten wir sie auch in der Kanalisation von Tokio.«

»Ja, das war eine Superidee«, murmelte Kiyomi in Kennys Richtung. »Noch so ein genialer Schachzug von dir.«

»Und fanden das hier.« Harashima reichte eine schmale Mappe herum, die jeder der Männer rasch durchblätterte, ehe er sie weitergab.

Als die Mappe bei Kenny ankam, beugte Kiyomi sich vor und beobachtete ihn. Es dauerte einen Augenblick, bis Kenny registrierte, was er auf den Fotos sah, doch dann drehte sich ihm der Magen um.

»Das erste Foto wurde im Juli aufgenommen«, erklärte Harashima. »Die anderen erst vor Kurzem.«

»Zeig her.« Kiyomi nahm Kenny die Mappe aus den Händen.

»Es dürfte sich um die Überreste dreier Männer handeln«, fuhr Harashima fort. »Vermutlich Obdachlose, die in der Kanalisation Schutz suchten.«

»Aber …« Kenny rang nach Worten. »Einer von ihnen … er sieht aus, als wäre er … in zwei Hälften zerbissen worden.«

»Das ist richtig.«

»Wer … ich meine … was ist dazu imstande?«

Kennys entsetzter Gesichtsausdruck ließ Harashima sanfter werden. »Es gibt viele Wesen, die im Dunkeln lauern und eine Vorliebe für Menschenfleisch haben, Kuromori-san. Einigen von ihnen bist du sogar selbst schon begegnet.«

»Und wir fahren …?«

»Nach Kasukabe. Zum Shutoken Gaigaku Hosuiro, dem größten Kanalisationssystem der Welt, besser bekannt als das G-Cans-Projekt.«

Kenny fürchtete die Antwort, aber er konnte sich die Frage nicht verkneifen: »Warum fahren wir dorthin?«

»Weil heute Abend der Jäger zum Gejagten wird. Ein yokai ist zu weit gegangen und unser Eid verpflichtet uns, ihn zur Strecke zu bringen.«

Kenny blickte sich im Laderaum um. »Nichts für ungut, aber haben Sie dafür überhaupt genug Leute?«

Harashima lächelte. »Aber ja, Kuromori-san. Wir haben dich.«

Zwei Stunden später hallten Kennys Schritte durch das schmale Treppenhaus, das fünfzig Meter tief unter die Erde führte.

Der Laster hatte am Eingang zum G-Cans-Projekt gehalten, wo sie vom Chefingenieur der Anlage erwartet wurden. Während Harashima ihn mit den anderen bekannt machte, verstand Kenny fast nichts, hörte aber mehrmals den Namen Sato fallen. Kiyomis Onkel arbeitete für den japanischen Geheimdienst, und wenn jemand ein bewaffnetes Kommando in eine öffentliche Einrichtung einschleusen konnte, ohne Gründe dafür angeben zu müssen, dann war es er.

»Hey!« Kenny hatte den vorletzten Treppenabsatz erreicht und warf einen Blick über die niedrige Betonbrüstung. »Das musst du dir ansehen.« Er stützte sich mit den Händen auf der feuchten Mauer ab, während Kiyomi zögerlich zu ihm herunterstieg.

Kenny wusste auch, warum. Als sie sich das letzte Mal unter die Erde gewagt hatten, hatte Kiyomi mit ihrem Leben dafür bezahlt. Es wäre also kein Wunder, wenn sich alles in ihr dagegen sträubte, noch einmal in die kalte und klamme Dunkelheit hinabzusteigen – auch wenn Kiyomi das nie zugegeben hätte.

»Ist das eine Wolke?«, fragte sie, als sie neben ihm stand. »Unter der Erde? Im geschlossenen Raum?«

Vor ihnen erstreckte sich eine gigantische Kaverne aus Beton, mindestens so lang und so breit wie Westminster Abbey und so hoch wie der Buckingham Palace. Gewaltige Stützpfeiler ragten wie die Säulen einer Riesenkathedrale zur nebelverhangenen Decke hinauf, Wasser schwappte träge glucksend gegen die Sockel der Pfeiler und in der Luft hingen gespenstisch wabernde Dunstschwaden.

»Sieht ganz danach aus.« Kenny ging weiter. »Ein so großer Ort entwickelt offenbar sein eigenes Klima.« Ihm fröstelte in der nasskalten Luft. »Wo sind eigentlich die anderen?«

»Wenn dein Japanisch nicht so miserabel wäre, hättest du verstanden, was Dad uns erklärt hat. Es gibt noch vier andere solcher Wasserspeicher. Sie sind durch sechs Kilometer lange und elf Meter breite Rohre miteinander verbunden. Je zwei Leute suchen in den Tanks und die anderen überprüfen die Tunnel. Jeder von uns hat einen Bewegungsmelder, Leuchtraketen und Funkgeräte. Der Plan lautet, das Ding zu finden, Hilfe zu rufen und abzuhauen.«

Kenny dachte darüber nach, dann sah er sie mit großen Augen an. »Soll das heißen, wir sind allein?« Durch das verstärkende Echo klang die Beunruhigung in seiner Stimme fast schon wie Angst.

»Wieso? Hast du Schiss? Du bist doch der Superheld mit dem Schwert.«

»Es ist nur … Hast du Herr der Ringe gesehen? Das hier erinnert mich an die Szene in den Zwergenhallen, in der plötzlich massenhaft Orks von der Decke kriechen.« Kenny spähte nach oben in die Finsternis.

»Danke. Als wäre es nicht schon gespenstisch genug.« Kiyomi schauderte. »Ich hasse es, unter der Erde zu sein.« Sie zog eine Taschenlampe hervor, drückte auf den Schalter und sandte einen Lichtstrahl in den Dunst.

Kenny trat platschend in das eisige und bis über die Hüften reichende Wasser. »Bäh! Falsches Wetter für Turnschuhe.«

Von der Decke fiel das Licht mächtiger Scheinwerfer, die auf die blassgrauen Pfeiler gerichtet waren und deren Lichtsäulen durch die Schwaden auf der Wasseroberfläche schnitten.

»Das ist alles deine Schuld«, brummte Kiyomi, während sie durch das Wasser watend in die Kaverne vordrangen.

»Wieso sollte ich schon wieder schuld sein?«, presste Kenny zwischen den Lippen hervor, um nicht mit den Zähnen zu klappern.

»Wenn du Dad und seine Männer nicht hierhergeschickt hättest, um nach Namazu zu suchen, hätten sie auch keine Überreste gefunden.«

»Und woher hätte ich wissen sollen, dass die hier liegen?« Verärgert wechselte er das Thema. »Wozu ist das Ding überhaupt gut? Ist doch nur ein Abfluss.«

»Nur ein Abfluss? Hast du echt keine Ahnung, wie wichtig diese Anlage ist?«

Kenny schaltete den Bewegungsmelder ein, der wie ein Navi aussah. »Nein, woher auch?«

»Schon mal von Taifunen gehört? Das sind Wirbelstürme mit Windgeschwindigkeiten von hundertzwanzig Stundenkilometern und Niederschlagsmengen von bis zu einem Meter Regen pro Tag. Als Tokio noch regelmäßig überflutet wurde, sind Tausende Menschen umgekommen. Deshalb wurde das hier gebaut. Die fünf Riesenbehälter fangen die Überschwemmung von fünf Flüssen auf und funktionieren wie ein gigantischer Abfluss. Dieser Tank ist der letzte. Von hier wird das Wasser in den Edogawa-Fluss gepumpt. Gäbe es diese Anlage nicht, würden immer noch regelmäßig ganze Stadtteile unter Wasser stehen.«

»Okay, alles klar.« Kenny beugte sich vor und schnupperte an der schimmernden Oberfläche. »Das ist also nur Regenwasser? Kein Abwasser, auf dem die Kacke rumschwimmt oder so?«

»Nein, außer du machst dir vor Angst … WAAAAHHH

Kenny erschrak so sehr, dass ihm der Bewegungsmelder beinahe aus der Hand gefallen wäre. Im Schein von Kiyomis Taschenlampe war ein pelziges Wesen aufgetaucht und gleich wieder im Dunst verschwunden.

»Was war das?«, stieß Kenny hervor.

»Eine Ratte.« Kiyomis Stimme bebte vor Ekel. »Noch dazu eine richtig große.«

»Warum hat sich das Teil dann nicht gemeldet?« Kenny hielt den Bewegungsmelder hoch. »Ist er kaputt?«

»Nein, er ist auf größere Objekte eingestellt, weil er sonst jede Ratte und jede Schabe melden würde.«

»Größeres Zeug? Wie dieser blaue Fleck da?«

»Zeig her!« Kiyomi griff nach seiner Hand mit dem Gerät. »Scheiße! Kenny, wir haben keine Deckung. Schnell, nichts wie weg hier!«

»Wieso? Was ist?«

Aus dem Nebel weiter hinten löste sich eine flache Welle. Sie rollte rasch auf sie zu und wurde vom aufgeregten Quietschen Hunderter Ratten begleitet.

»Oh nein!« Kiyomi tauchte ins Wasser und war weg.

Kenny wirbelte herum, ließ sich auf alle viere fallen und zog den Kopf ein. Er spürte, wie sich die fiependen Nager über ihn ergossen und ihre kleinen Pfoten und Krallen über seinen Rücken, seine Schultern und seinen Nacken rannten.

Den Bewegungsmelder immer noch in der Hand, öffnete er ein Auge und warf blinzelnd einen Blick darauf. Die Ratten hatten sich in alle Richtungen zerstreut und suchten schwimmend das Weite. Der blaue Fleck war jedoch immer noch hinter ihm.

Kenny stand auf und drehte sich in dem Moment um, als eine Fontäne aus dem Wasser explodierte und sich ein weißes Ungeheuer aus dem Dunst katapultierte, dessen Riesenmaul zu einem ohrenbetäubenden Brüllen aufgerissen war.

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Die Zeit schien stillzustehen. Kennys Verstand erfasste zwar, was er sah, weigerte sich aber, es für echt zu halten. Sein Blick lag wie hypnotisiert auf dem Albino-Krokodil, das aus dem Nichts aufgetaucht war, das fürchterliche Maul zum tödlichen Biss aufgesperrt – als plötzlich Kiyomi aus dem Wasser hechtete, ihn rammte und umwarf.

Der Kälteschock holte Kenny aus seiner Erstarrung. Er trat hektisch mit den Beinen aus und ruderte wild mit den Armen, um sich von dem Monsterreptil zu entfernen. Als er den Sockel einer der Säulen erreicht hatte, zog er sich daran hoch und stemmte sich aus dem Wasser.

Er schrie nach Kiyomi.

»Hier bin ich!« Hinter einem Stützpfeiler in seiner Nähe leuchtete die Taschenlampe auf.

»Was jetzt?« Zitternd vor Kälte suchte Kenny mit den Augen die dunkle Wasseroberfläche ab. »Wo ist es?«

»Wahrscheinlich zieht es Kreise für den nächsten An… PASS AUF

Kenny reagierte, ohne nachzudenken. Er stieß sich nach hinten ab und sprang sechs Meter hoch in die Luft. Unter ihm hatte sich das Riesenreptil aus dem Wasser katapultiert und war sofort wieder abgetaucht.

Kenny schlug unsanft auf dem Wasser auf. Das Bild von dem schneeweißen Ungeheuer mit den kleinen ausdruckslosen Augen, dem breiten Rücken und dem gezackten Schwanz tanzte vor seinem inneren Auge.

»Ein Plan wäre jetzt nicht schlecht«, sagte Kenny. Er rief das Himmelsschwert Kusanagi und fühlte sich schon deutlich besser, als er es in der Hand hielt.

»Okay, du lenkst es ab und ich erledige den Rest.« Kiyomi schaltete die Taschenlampe aus und verschwand im Dunkeln.

»Was soll das für ein Plan sein?«, schrie Kenny. »Warum lenkst du es nicht ab und ich …?« Er schwang das Schwert hin und her. »Kiyomi?« Er spähte angestrengt in die Dunkelheit und hielt nach verräterischen Luftblasen oder kleinen Wellen Ausschau. »Hierher, kleiner Fisch. Komm zu Kenny. Ich habe was Feines für dich.«

Plötzlich stellten sich seine Nackenhaare auf. Kenny wirbelte herum und stieß sich mit den Beinen von dem Pfeiler ab.

Das Krokodil schoss an ihm vorbei ins Leere, erwischte ihn aber noch mit seinem mächtigen Schwanz und versetzte ihm einen heftigen Stoß.

Kenny schnappte nach Luft und ließ das Schwert fallen. Während das Monster um einen anderen Pfeiler herumschwamm und wie ein Wasser aufschäumender Flussdampfer zum nächsten Angriff überging, suchte Kenny panisch nach dem Schwert. Er sah das Maul des Krokodils aufklappen und fast schien es ihm, als würde es grinsen.

»Kenny, jetzt!« Kiyomi trat sich vom Vorsprung eines Pfeilers ab und landete mit dem gezückten tanto in der Hand auf dem Rücken des Reptils. Sie hob das kurze Schwert und holte aus.

Unterdessen hatte Kenny seine Unterwassersuche aufgegeben und kanalisierte seine Energie – das ki – in seine rechte Hand. Knisternde Energiefäden kringelten sich um die Knöchel seiner Finger, als er dem Krokodil auswich. Es war ihm inzwischen so nah, dass er seinen heißen Atem spürte.

Mit einem lauten »Chikara!« ließ Kenny seine Faust heruntersausen. Sie schlug wie ein Meteor auf dem Schädel des Monsters ein und versank in ihm wie in einem Krater. Das Reptil hielt so plötzlich an, als wäre es gegen eine Wand gekracht. Sein Körper bäumte sich auf, vollführte eine Art Salto und schleuderte Kiyomi von seinem Rücken.

Kenny zog fluchend seinen Arm aus dem Schädel, schüttelte die glitschige Hirnmasse ab und machte sich auf die Suche nach Kiyomi.

Die Mühe hätte er sich sparen können.

»Du Idiot!«, schrie sie, während sie aus dem Wasser watete. »Ich hatte es! Ich wollte es gerade erledigen und dann das!«

Kenny streckte die Hände aus. »Ich hatte das Schwert verloren. Was hätte ich denn tun sollen?«

»Du hast Glück, dass ich meins fallen gelassen habe, sonst würde ich jetzt Hackfleisch aus dir machen«, knurrte Kiyomi. Sie stieß ihn zur Seite und marschierte zum Treppenaufgang.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, murmelte Kenny. Laut fragte er: »Und überhaupt: Seit wann kannst du im Dunkeln sehen?«

»Das war eine Falle!«, rief Kiyomi und hieb mit der Faust auf den Tisch.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Harashima. »Unsere Informationen waren richtig, davon bin ich überzeugt.«

»Also Dad, du wirst mir doch nicht erzählen wollen, dass du an das Märchen vom Krokodil in der städtischen Kanalisation glaubst?«

Sie befanden sich auf Harashimas Anwesen und saßen im Hauptraum des Hauses. Kenny hatte einen Bademantel an und schlürfte heiße Schokolade, während er den beiden zuhörte.

»Erstens: Krokodile sind Kaltblüter. In so kaltem Wasser können sie nicht lange überleben. Zweitens: Sie brauchen viel mehr Fressen, als sie dort finden.« Kiyomi hielt eine Hand hoch und streckte für jedes ihrer Argumente einen Finger aus. »Drittens: Wie schaffen es ein paar Obdachlose in das G-Cans-Projekt und von dort auf den Speiseplan dieses Monsters? Und viertens: Kann es Zufall sein, dass gerade wir diese Monsterechse finden und sonst niemand? Das war ein Hinterhalt.«

Harashima wandte sich an Kenny. »Kuromori-san, was denkst du? War die Kreatur natürlich oder yokai

Kenny wiegte den Kopf. »Irgendwie schien sie echt, aber ich finde, Kiyomi hat recht. Das Ganze stinkt zum Himmel.«

Harashima nickte. »Also gut. Ich sorge dafür, dass der Kadaver geborgen und genau untersucht wird.« Er schlug Kenny anerkennend auf die Schulter. »Das hast du gut gemacht, Kuromori-san. Sehr gut.«

»Und ich?«, brauste Kiyomi auf. »Ich war es, die Kenny wieder einmal den Arsch gerettet hat. Und ich hätte das Scheusal auch erledigt, aber dieser Angeber musste ja unbedingt mit ihm kuscheln.«

»Kuscheln?«, erwiderte Kenny. »Du bist ja nur neidisch, weil ich diesen ganzen magischen Scheiß besser draufhabe als du.«

»Neidisch? Auf dich? Träum weiter!«

»Es reicht!«, bellte Harashima. »Kiyomi-chan, auf dein Zimmer. Sofort.«

Kiyomi sah ihn wütend an und stürmte aus dem Raum. Harashima schloss die Augen, atmete tief ein und hielt die Luft an. Nach zehn Sekunden stieß er sie langsam wieder aus.

»Ich wollte euch beide aus einem bestimmten Grund heute dabeihaben«, sagte er zu Kenny. »Wie würdest du Kiyomis … emotionalen Zustand beschreiben?«

»Äh … also …« Um Zeit zu schinden, fuhr sich Kenny mit den Fingern durch die feuchten Haare. Er wollte Kiyomi nicht in noch mehr Schwierigkeiten bringen. Andererseits hatte sie sich wirklich danebenbenommen.

»Wie ich es mir dachte«, beantwortete Harashima seine Frage selbst. »Sie hat offenbar ein Problem mit ihrer Aggressionsbewältigung, wie man das heutzutage nennt.«

»Das können Sie laut sagen«, stimmte Kenny ihm zu. »Ich meine, aufbrausend war sie schon immer, aber in letzter Zeit platzt ihr bei jeder Kleinigkeit der Kragen.«

»Irgendetwas stimmt nicht«, meinte Harashima nachdenklich. »Du weißt, dass meine Familie einen Eid geschworen hat, die Kräfte zu bekämpfen, die das Chaos herbeiführen und Japan in die Vergangenheit zurückwerfen wollen. Und dazu gehört auch, die yokai in Schach zu halten.«

»Ja«, antwortete Kenny.

»Aber wie soll das gehen, wenn sich meine eigene Tochter selbst zerfleischt? Kuromori-san, ich möchte, dass du mir etwas versprichst.«

Kenny ahnte, dass ihm das, was er als Nächstes hören würde, nicht gefallen würde. Er konnte sich aber auch nicht weigern. »Okay.«

»Wenn mir etwas zustößt und ich die Organisation nicht mehr anführen kann, möchte ich, dass du das Kommando über meine Männer übernimmst.«

Kenny schluckte. »Das kann ich nicht. Dafür bin ich viel zu jung. Und noch dazu ein gaijin. Sie würden mich niemals akzeptieren. Ihr Bruder ist viel besser geeignet. Ganz abgesehen davon, dass Ihnen nichts passieren wird.«

Harashima verneigte sich. »Kuromori-san, früher oder später läuft für jeden von uns die Zeit ab. Ich hatte gehofft, Kiyomi-chan würde meine Nachfolgerin werden, aber so wie es ihr jetzt geht …«

Ein sanftes Pochen an der Tür kündigte an, dass das Auto da war, das Kenny nach Hause bringen sollte.

Es war kurz nach Mitternacht, als Kenny wieder in Shibuya war und vor der Tür der Zweizimmerwohnung seines Vaters stand. Er schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete sie leise.

»Kenny? Bist du das?«, rief sein Vater aus dem Hauptraum – einer Kombination aus Wohn- und Esszimmer samt Kochnische.

»Ja. Hallo, Dad!« Kenny schlüpfte aus seinen durchnässten Turnschuhen und ging zu ihm.

Charles Blackwood stand von seinem Computer auf und trat an seinen Sohn heran, um ihn zu umarmen.

»Deine Sachen sind feucht«, bemerkte Charles. Er roch an Kennys Haaren. »Und du riechst, als wärst du in einen Sumpf gefallen. Geh vor dem Schlafengehen noch unter die Dusche.«

»Okay.« Kenny gähnte. »Und Schule habe ich morgen auch.«

»Hausaufgaben erledigt?«

»Nicht ganz. Den Rest mache ich morgen früh im Zug.«

»Optimal ist das nicht. Möchtest du etwas essen? Was Heißes trinken?«

»Nein, ich habe schon bei Kiyomi gegessen.«

Charles verschränkte die Arme. »Und, wie lief es bei der Arbeit?«

»Du weißt, dass ich nicht darüber sprechen darf. Zu deiner eigenen Sicherheit.«

»Worüber darfst du dann sprechen?« Charles ließ seinen Blick an ihm rauf und runter wandern. »Kenny, versteh mich nicht falsch, aber du siehst fürchterlich aus.«

Kenny lachte. »Na, danke.«

»Ich meine es ernst. Mir ist klar, dass das, was du tust, wichtig ist, aber du machst es mir schwer, ein Vater für dich zu sein. Du bist fast nie zu Hause. Wenn du nicht bei den Harashimas bist, bist du in der Schule. Wann hast du mal Zeit für uns?«

Kenny lehnte im Türrahmen und ließ die Schultern hängen. »Dad, ich weiß … Hey, da fällt mir was ein: Morgen nach der Schule finden die Probespiele für die Fußballmannschaft statt. Komm doch hin und schau mir zu. Danach können wir zusammen essen gehen.«

»Einverstanden. Ich möchte dich gerne spielen sehen.«

»Fein.« Kenny atmete tief durch, bevor er weitersprach. »Da wäre noch was.«

»Ja?«

»Liegt es an mir oder sind alle Mädchen bescheuert?«

Charles lachte. »Was hat Kiyomi denn diesmal angestellt?«

»Nichts, es ist nur … Ich mache mir Sorgen um sie. Irgendwas stimmt nicht. Das spüre ich.«

Charles runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

Kenny sprach auf einmal ganz leise, als fürchtete er sich davor, die Worte auszusprechen. »Es ist wie damals bei Mum. Ich glaube, sie ist krank. Schwer krank, so als … als könnte sie daran sterben.«

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Kenny trug sein Essen zu einem der leeren Tische im Speisesaal der Schule und setzte sich. Er war schon so oft der Neue gewesen, dass er genau wusste, wie der Hase lief. Alle waren freundlich zu ihm, warteten aber noch ab und schätzten ihn erst mal ein. Wer wirst du sein? Der Clown, der Nerd, der Klugscheißer? Eher der sportliche oder der coole Typ? Das geborene Opfer, der Liebling der Lehrer? Jede Klasse hatte ihre eigenen Cliquen und Grüppchen. Die konnten keinen Neuen gebrauchen. Das waren geschlossene Gesellschaften.

Übrig blieben die Außenseiter, die Leute, die sich allein durchschlugen. Sie fühlten sich von jedem neuen Schüler angezogen, weil sie hofften, in ihm einen Verbündeten zu finden.

Das Problem war nur, dass Kenny längst gelernt hatte, alleine zurechtzukommen. Er hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, sich Freunde zu suchen. Wozu auch? Früher oder später müsste er ohnehin wieder weg. Da war es besser, erst gar keine zu haben und sich die unangenehmen Abschiedsszenen zu ersparen.

Nur, diesmal war es anders. Er ging jetzt in die amerikanische Schule von Tokio, und wie es aussah, würde das die nächsten Jahre auch so bleiben. An den Gedanken musste er sich erst mal gewöhnen.

Und dann fiel ihm noch ein, was Inari – immerhin eine Göttin – damals zu ihm gesagt hatte: dass er emotional unterentwickelt bleiben und sein Potenzial nie voll ausschöpfen würde, wenn er nicht lernte, auf andere zuzugehen.

»Willst du einen Witz hören?«, platzte die Stimme eines Mädchens in seine Gedanken. »Was sagt ein Pferd zum anderen Pferd?«

Kenny hob den Kopf und blickte in ein von blonden Strähnen umrahmtes sonnengebräuntes Gesicht mit einem umwerfenden Lächeln.

»Hä?«

»Warum das lange Gesicht?« Dazu ein Glucksen wie das leise Gurgeln eines Bachs an einem Sommertag. »Stacey Turner«, sagte sie, während sie mit der einen Hand ihr Essenstablett balancierte und ihm die andere hinstreckte.

Kenny stand halb auf und schüttelte sie.

»Ist hier noch frei?«, fragte Stacey mit einem Blick auf die leeren Stühle.

»Ja. Bitte setz dich doch.«

»Das ist so nett.« Stacey stellte ihr Tablett ab und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Du bist der Neue, nicht wahr? Und bei deinem Akzent würde ich auf Australier tippen, richtig?«

»Nein, ich komme aus England.«

Stacey machte große Augen. »Echt? Das ist so cool. Ich liebe den englischen Akzent. Sag mal was.«

Kenny lehnte sich zurück. »Na ja, lieber nicht …«

»Oh mein Gott, du wirst ja rot. Ist das süß!« Stacey drehte sich in ihrem Stuhl um und winkte.

Am Nachbartisch standen drei Mädchen auf, eilten herbei und nahmen den verdatterten Kenny in ihre Mitte.

»Das ist Julianne, das ist Nikki und das hier ist Sarah«, stellte Stacey die drei vor. »Mädels, das ist der Neue. Er ist aus England und heißt …«

»Äh, Kenny«, sagte er. »Kenny Blackwood.« Er fühlte sich überrumpelt und dachte kurz, dass ihn diese Situation mehr überforderte als der Kampf mit einem Riesenkrokodil.

»Er ist so niedlich!«, rief Julianne aus.

»Seht nur, er wird rot«, bemerkte Nikki.

»Aus England? Echt?«, fügte Sarah hinzu.

»Ich muss dir was beichten«, wandte sich Stacey an Kenny. »Nikki hat tausend Yen gewettet, dass ich mich nicht trauen würde, dich anzusprechen. Aber ich erlasse ihr die Schulden.«

»Wieso?«, fragte Kenny.

»Weil du zum Anbeißen bist, deshalb!« Die Mädchen brachen in Gelächter aus, während Kenny so rot wurde, dass seine Wangen glühten. »Och, du hast so arm ausgesehen, so ganz allein. Ich wollte dich aufheitern«, sagte Stacey. »Das ist unser Job. Wir sind die Cheers.«

»Was? Die Cheerleader?«

»Ja.« Stacey legte eine Hand auf seinen Arm. »Spielst du Fußball?«

»Ab und zu.«

»Dann solltest du dich heute Nachmittag für die Mannschaft bewerben. Wir werden auch da sein.«

»Ja, äh, das hab ich eh vorgehabt …«

»Das ist so toll! Dann bis später!«

»Dann können wir auch gleich ein Auge auf deine Beine werfen«, fügte Julianne mit einem Zwinkern hinzu.

Kenny hob sein Tablett auf. Ihm war der Appetit vergangen.

Nach dem Unterricht lief Kenny in den Umkleideraum, zog sein Fußballdress an und rannte auf den Rasen, um seine Streckübungen zu machen und sich aufzuwärmen. In einer Mischung aus Hoffnung und der Erwartung, wieder einmal enttäuscht zu werden, warf er einen Blick zur Tribüne. Doch bis auf ein paar Leute war noch niemand da.

Coach Heagney ging die Namen auf der Liste durch, dann sagte er den zehn Bewerbern, was sie zu tun hatten. Er wollte, dass sie den Ball um mehrere Kegel herumdribbelten, einander rasche Dreieckspässe zuspielten und Flanken schossen, während nicht weit von ihnen die eigentliche Schulmannschaft trainierte.

»Als Nächstes versucht ihr, den Ball so lange wie möglich in der Luft zu halten, und danach spielt ihr ein Probematch. Es gibt zwei freie Plätze. Wenn ihr es ins Team schaffen wollt, müsst ihr mich beeindrucken«, sagte Heagney Kaugummi kauend.

»Hey, Kenny! Kee-nny!«, schallte plötzlich Staceys Stimme von der Seitenlinie zu ihm herüber.

Kenny stöhnte auf und versuchte, die vier Cheerleader zu ignorieren, die ihre Pompons auf und ab schwangen und ihre Tanzschritte übten.

»Wow, was für Beine!«, fügte Julianne lachend hinzu.

Kenny konzentrierte sich auf den Ball. Er war bei achtundzwanzig angelangt, als eine Stimme rief: »Tut mir leid, Coach, musste nachsitzen.«

»Schon wieder?«, hörte er Heagney missmutig sagen. »Lass das nicht zur Gewohnheit werden, Brandon. Ich will nicht, dass du deswegen ein Match versäumst. Hast du mich verstanden?«

»Ja, ja.« Brandon deutete eine spöttische Habachtstellung an und ließ sich fallen, um fünfzig Liegestütze zu machen.

Coach Heagney rief die Bewerber zu sich und teilte Überzieher fürs Training aus. Vor Kenny blieb er stehen. »Wie heißt du?«

»Kenny, Sir.«

»Ich hab dir zugeschaut. Du machst dich gut. Hast du schon mal gespielt?«

»Ja. Mittelfeld.«

Heagney nickte. »Okay, Leute. Dort ist meine erste Auswahl.« Er deutete auf die zehn Spieler im Schuldress, die an der Seitenlinie warteten. »Jeder spielt zwei Partien, immer fünf Bewerber gegen fünf aus meiner Auswahl. So sehe ich, wie ihr gegen jeden aus der Auswahl spielt. Noch Fragen? Gut. Trinkt was und dann fangen wir an.«

Kenny nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Ein großer, dünner Spieler der ersten Auswahl stand neben ihm.

»Ich heiße Dean«, sagte er. »Du bist der Neue, Kevin, stimmt’s?«

»Fast. Ich heiße Kenny.«

»Kenny«, wiederholte Dean, um sich den Namen zu merken. »Du hast ein paar starke Tricks drauf. Du bist ziemlich gut, was?«

»Geht so.«

»Ich gebe dir einen Rat: Sei nicht zu gut.« Dean wurde jetzt leiser. »Da drüben, der Große, siehst du ihn? Das ist Brandon, der Sohn vom Coach. Er ist der Star im Team und will, dass das so bleibt. Nimm dich vor ihm in Acht, er kann richtig fies sein.«

»Fangen wir an!«, rief Heagney und die Spieler liefen aufs Feld.

Das erste Match endete mit einem hart erkämpften 5:5, bei dem Kenny zwei Tore geschossen und zwei vorbereitet hatte. Als er vom Platz ging, jubelten ihm die Cheerleader zu.

Beim Anstoß zum nächsten Spiel stand er Brandon gegenüber.

»Hältst dich wohl für was Besonderes«, murmelte der viel größere Brandon. »Wart’s ab.«

Als der Anpfiff kam, gab Brandon den Pass an den Linksaußen-Spieler Dean weiter, dann stürmte er an Kenny vorbei und rempelte ihn dabei so heftig an, dass es ihn umwarf. Kenny rollte sich ab, wie Kiyomi es ihm beigebracht hatte, und war sofort wieder auf den Beinen, doch da war es schon zu spät. Dean gab den Pass an Brandon zurück, der zwei Verteidiger niederwalzte und den Ball an dem fuchtelnden Torhüter vorbei in die Maschen pfefferte.

Gleich darauf schoss die erste Auswahl auch schon das nächste Tor. Brandon rannte einen Spieler einfach um, als dieser versuchte, an ihm vorbeizudribbeln. Er übernahm den Ball und beförderte ihn mit einem langen Pass in die Box, wo einer seiner Teamspieler bereitstand und ihn im Tor versenkte.

»Die machen uns fertig«, brummte einer aus Kennys Mannschaft. »Außerdem lässt uns der Schiri hängen.«

»Ich habe eine Idee«, sagte Kenny. »Ihr zwei lauft die beiden Flanken entlang und lockt die Verteidiger in eure Richtung. Du und du, ihr bleibt hinten, falls es zu einem Konter kommt. Überlasst mir das Mittelfeld.«

»Sicher?«, fragte einer von ihnen.

»Wir haben nichts zu verlieren. Wir liegen jetzt schon mit zwei Toren im Rückstand.«

Coach Heagney signalisierte den Anstoß. »Seid ihr so weit?« Er hob die Pfeife an die Lippen.

Kenny schloss die Augen und dachte an seine Ausbildung: Jede Art von Materie setzt sich aus Energie zusammen. Diese Energie kann genutzt und mit der eigenen Willenskraft gestaltet werden. Ihm war gesagt worden, er solle üben, warum also nicht jetzt?

Als der Pfiff kam, spielte Dean den Ball an und Brandon galoppierte darauf zu wie ein wild gewordenes Nashorn. Kenny war jedoch schneller, nahm den Ball mit der linken Spitze auf und schleuderte ihn im Fallen mit dem rechten Fuß kerzengerade in die Luft.

Das Spiel kam zum Stillstand. Alle reckten die Köpfe und sahen dem Ball zu, der wie eine Rakete höher und immer höher in den Himmel schoss.

Coach Heagney blinzelte ihm hinterher, sein Mund ging auf und als der Ball nicht mehr zu sehen war, fiel der Kaugummi heraus. Er schüttelte ungläubig den Kopf, dann stotterte er: »Wa-was zum Teu-Teufel war das? Hast du gerade den Ball verloren?«

Kenny trabte zum gegnerischen Tor und stellte sich neben den Pfosten.

»Du da! Blackwood! Hörst du ni…?« Der Coach verstummte, denn der Ball war gerade wieder aufgetaucht und fiel jetzt herunter. Doch noch bevor er aufprallen konnte, war Kennys linker Fuß da und beförderte ihn ins Tor.

»Das gibt’s doch nicht«, murmelte Heagney und rieb sich verblüfft die Augen.

»Das ist unfair!«, brüllte Brandon. »Der Ball war aus dem Spiel! Der Tormann stand nicht einmal im Tor!«

»Zwei zu eins!«, rief Heagney und zeigte mit erhobenen Fingern den Spielstand an. »Letzte Runde. Das nächste Tor gewinnt.«

»Du bist tot«, zischte Brandon Kenny zu.

BZZZ! Kennys Handgelenk prickelte. Er warf einen Blick auf das Display seiner Smartwatch. Eine Nachricht von Kiyomi.

Der Text, trocken wie immer, lautete: Wir treffen uns draußen – sofort. Es gibt Ärger.

Kenny verzog das Gesicht. »Coach? Wie lange haben wir noch?«

Heagney sah auf seine Stoppuhr. »Ungefähr drei Minuten.«

Kenny überlegte rasch. Das musste jetzt schnell über die Bühne gehen.

Der Pfiff erklang. Nach mehreren kurzen Pässen war der Ball bei Kenny. Er rannte auf das gegnerische Tor zu, wich zwei Angreifern aus und wollte gerade schießen, als er aus dem Augenwinkel einen Schatten wahrnahm – Brandon kam mit den Beinen voran angeflogen und wollte ihm in die Kandare springen.

Ohne anzuhalten, schlenzte Kenny den Ball hoch, beförderte ihn mit der Hacke über seinen Kopf und wich Brandons schlitternden Beinen mit einem Hechtsprung aus.

Als seine Handflächen den Rasen berührten, vollführte Kenny eine Vorwärtsrolle und rannte sofort weiter. Er holte den Ball ein und schoss ihn an dem verdutzten Tormann vorbei ins Netz. Hinter ihm schlug Brandon auf dem Rasen auf.

»Aaahh! Mein Knöchel!« Brandon umklammerte seinen Fuß mit beiden Händen und wälzte sich hin und her.

»Darf ich jetzt gehen, Sir?«, fragte Kenny.

»Was? Wie? Ja, du kannst gehen, Blackwood.« Heagney hob seinen Erste-Hilfe-Koffer auf und eilte zu Brandon, der heulend dalag.

Kenny rannte vom Feld.

»Kenny, das war … Hey, wo willst du hin?«, rief Stacey, als er an ihr vorbeisauste.

»Die Welt retten!«, rief Kenny über seine Schulter.

Stacey schleuderte ihre Pompons auf den Boden. »Kenny Blackwood, komm sofort zurück!«

Kiyomi erwartete ihn auf ihrem Hightech-Motorrad. Ihr Fuß wippte nervös auf und ab, während sie ein paarmal ungeduldig am Gashebel drehte. Sie trug ihre schwarze Lederkluft und im hochgeschobenen Visier ihres schwarzen Helms spiegelte sich das Blau des Himmels.

Kennys Herz schlug um einige Takte schneller, wie so oft, wenn er sie sah. Er verlangsamte seinen Schritt und fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare.

Kiyomi blickte ihn erbost an. »Wieso dauert das so la…?« Sie riss die Augen auf und gegen ihren Willen stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Was hast du da an? Nein!«

»Doch.« Kenny breitete die Arme aus. »Ich schätze, ich hab’s ins Team geschafft. Der Coach sagte, wir müssten ihn beeindrucken, und ich war so gut, dass ich mich selbst beeindruckt habe.«

Kiyomis Augenbraue wanderte nach oben. »Bescheiden wie immer.« Sie wies auf den Rücksitz. »Wir müssen los. Oni im Anmarsch.«

»Am helllichten Tag? Wie viele?«

»Mindestens zwei. Dad meint, da ist was Großes im Gange. Wir sollen sie aber nur beschatten.«

Kenny stieg auf. »Nur beschatten? Schaffst du das?«

»Fordere dein Glück nicht heraus. Ich bin immer noch sauer auf dich. Wegen gestern Abend. Und weil du mich hast warten lassen.« Kiyomi schob das Visier herunter.

»Wann bist du mal nicht sauer auf mich?«, murmelte Kenny.