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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-680-0
Länger als alle anderen blieb Johannes Roteck am offenen Grab stehen. Noch immer konnte er nicht daran glauben, daß seine Frau nie mehr zurückkommen würde. Nie mehr würde er ihre Stimme hören, Felicitas nie mehr in seine Arme schließen. Dabei war sie noch so jung, zweiunddreißig erst, und sie hatten noch so viele Pläne. Auf dem Skihang war sie vor fünf Tagen so unglücklich gestürzt, daß jede Hilfe zu spät kam. Johannes hatte seither kaum geschlafen, kaum etwas gegessen. Er war von Schmerz und Verzweiflung wie betäubt. Die Formalitäten für die Trauerfeier hatten die Schwiegereltern erledigen müssen. Er war nicht dazu in der Lage.
Äußerlich völlig unbeteiligt, in seinen Empfindungen aber aufgewühlt und grenzenlos traurig, nahm er an der Zeremonie teil. Er sah und hörte nicht, was um ihn herum vorging. Er war wie ein entwurzelter Baum: haltlos, kraftlos, herausgerissen aus einem Leben, das glücklich und erfüllt war.
Erst als es dunkel wurde, tappte er den Weg zurück. Er erinnerte sich nicht dran, daß sein Auto auf dem Parkplatz stand, und ging den ganzen Weg zu Fuß. Länger als eine Stunde war er unterwegs, doch auch das nahm er nicht wahr. In dem Haus, das sie bewohnten, ließ er sich in einen Sessel fallen und lehnte sich stöhnend zurück. Weinen konnte er schon lange nicht mehr, und doch brannten seine Augen.
Die ganze Nacht über rührte er sich nicht vom Fleck, und auch am nächsten Tag blieb er sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, ein Bild des Jammers.
Das Telefon läutete, doch Johannes hörte es nicht. Er war in Gedanken weit weg. An die erste Zeit seiner Ehe dachte er und an den Tag, da Jessica, das Kind ihrer Liebe, geboren wurde. Felicitas und er waren unbeschreiblich glücklich gewesen. Das alles war unwiderruflich vorbei.
Später klingelte es an der Tür, doch auch das registrierte Johannes nicht. Niemand konnte seine Trauer stören. Vor elf Jahren hatte er Felicitas bei einem Skiurlaub kennengelernt, und seither waren sie unzertrennlich. Eine ungewöhnlich intensive Zuneigung war es, die sie beide verband. Daß es der gemeinsame Lieblingssport sein würde, der sie für immer trennte, hätte Johannes nie gedacht. Jetzt machte er sich Vorwürfe darüber, daß er den Unfall nicht verhindern konnte. Doch wer hätte geglaubt, daß so etwas passieren würde, denn die Abfahrtsstrecke, auf der das Unglück geschah, galt als sicher und nicht besonders schwierig.
Johannes merkte nicht, daß sich ein Schlüssel im Schloß drehte und seine Schwiegermutter das Haus betrat. Sich neugierig umschauend ging sie durch alle Räume, überzeugt davon, daß niemand zu Hause war. Sie zog Schubladen auf, öffnete Schränke und inspizierte deren Inhalt.
Da sie sich unbeobachtet glaubte, erschrak sie, als sie im Wohnzimmer plötzlich ihrem Schwiegersohn gegenüberstand. Sie stieß einen schrillen Schrei aus und wich unwillkürlich einige Schritte zurück, wobei sie ihre hochmütige Haltung ablegte und ganz gegen ihre Gewohnheit Angst zeigte.
»Du bist hier?« fragte sie und ließ die gekünstelt vornehme Sprechweise vermissen.
Gleichgültig sah Johannes hoch. »Wo sollte ich sonst sein?« murmelte er, den Körper vornüber gebeugt, das dunkle Haar zerwühlt, grau das Gesicht.
»Hast du Jessicas Sachen gerichtet?« fragte Elfi Schumann. Sie hatte sich gefangen und rasch erkannt, daß ihr von dem gebrochenen Mann keine Gefahr drohte. Deshalb klang ihre Stimme jetzt wieder hochmütig und ironisch, was ihr nirgends Freunde einbrachte. Elfi hob den Kopf und straffte herrisch die Schultern. Wo sie auch hinkam, signalisierte sie ihren Reichtum, der ihr Macht über andere gab. Eine Macht, die sie mit sadistischer Freude ausnutzte.
Johannes öffnete die geröteten Augen und sah seine Schwiegermutter verständnislos an. »Wieso sollte ich Jessis Sachen richten? Wo ist sie überhaupt?« Schwerfällig drehte Roteck den Kopf, um festzustellen, ob sein Töchterchen in der Nähe war.
Doch er konnte nur Elfis große Gestalt ausmachen. Die eitle Frau des Fabrikanten Karl Schumann trug ein elegantes graues Ensemble und darüber einen Nerz von ausgesuchter Schönheit. Diese Nebensächlichkeiten wären Johannes bestimmt nicht aufgefallen, doch die Art, wie sich Elfi präsentierte, zwang sie ihm auf.
»Jessica ist vorübergehend bei uns, nachdem du ja nicht in der Lage warst, sich um sie zu kümmern.«
»Das ist gut. Danke. Ich war so durcheinander und bin es auch jetzt noch, daß ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Nur eines ist mir bewußt: Ich habe Felicitas verloren.« Rotecks imponierend breite Schultern sanken noch ein Stück tiefer.
»Ph!« machte Elfi und setzte sich mit verblüffender Herzlosigkeit über den Schmerz des Schwiegersohns hinweg. »Wir haben unsre Tochter schon vor elf Jahren verloren. Damals, als du ihr voller Berechnung den Kopf verdreht hast.«
»Das ist nicht wahr«, murmelte Johannes, doch seiner Stimme fehlte die Überzeugungskraft. »Ich habe Felicitas geliebt…«
»Wen interessiert das?« fragte Elfi hochmütig. Den verhaßten Schwiegersohn so demütig zu sehen, verschaffte ihr Genugtuung. »Unsere Tochter hätte eine andere Partie machen können. Sie war hübsch, gebildet und vermögend. Aber du hast ihr alle Chancen verdorben.« Elfis schwarze Augen blitzten leidenschaftlich. Sie standen in krassem Kontrast zu den blondgefärbten Haaren, denen ein geschickter Friseur Volumen verlieh.
Johannes hatte diese Vorwürfe oft genug gehört. Früher hatte er sich dagegen gewehrt. Beruflich hatte er im Werk des Schwiegervaters sein Bestes gegeben und entscheidend dazu beigetragen, daß sich die Firma ständig vergrößerte und in diesen Jahren ein Unternehmen von Weltruf geworden war. Jetzt hatte e nicht die Kraft, auf Elfis Gehässigkeit zu antworten. Er wünschte sich, sie möge wieder gehen.
Doch die arrogante Elfi Schumann dachte gar nicht daran. Es machte ihr Freude, den unerwünschten Schwiegersohn noch etwas zu quälen.
»Vielleicht erhebst du dich demnächst und packst Jessicas Koffer. Sonst wäre ich gezwungen, ein Hausmädchen herzuschicken, das diese Arbeit verrichtet.
»Jessi braucht keinen Koffer. Ich werde sie später bei euch abholen.«
»Hast du dir gedacht«, höhnte Elfi feindselig. »Du kannst das Kind nicht versorgen. Du hast es ja nicht einmal vermißt.«
Johannes seufzte laut. »Entschuldige, das war eine Ausnahmesituation. In Zukunft werde ich selbstverständlich für meine Tochter sorgen. Ich werde eine verläßliche Haushälterin einstellen, die Jessi tagsüber beaufsichtigt.«
»Nichts wirst du, denn das ist alles längst entschieden«, belehrte ihn Elfi mit der ihr eigenen Überheblichkeit. »Jessica kommt in ein Schweizer Internat. Das ist eine sehr teure, aber hervorragende Institution. Es werden nur Kinder aus vermögenden Familien aufgenommen. So zum Beispiel der Nachwuchs aus einigen europäischen Fürstenhäusern. Jessica soll eine Ausbildung bekommen, die dem Stand ihrer Großeltern entspricht. Auf diese Weise kann sie vielleicht den Makel ausgleichen, der dadurch entstanden ist, daß ihre Mutter dummerweise den falschen Mann geheiratet hat.« Verächtlich sah Elfi ihren Schwiegersohn an. Er sah gut aus, auch jetzt, und er war ein tüchtiger Ingenieur. Doch nie und nimmer hätte Elfi das anerkannt, denn Johannes stammte aus kleinen Verhältnissen. Sein Vater war ein biederer Handwerker und seine Mutter eine tüchtige Schneiderin, fleißig und ehrlich, aber eben weit unter Elfis Niveau. Sie verkehrte nur mit Leuten, die entweder viel Geld hatten oder hochrangige Titel.
Johannes wußte aus Erfahrung, daß seine Schwiegermutter gern übertrieb. Deshalb maß er der Schilderung des Internats auch keine Bedeutung zu. Dagegen empörte es ihn, daß er nicht gefragt worden war. »Ihr habt Jessi in einem Internat angemeldet, ohne mich darüber zu informieren?« keuchte er und konnte nicht glauben, daß man ihn derart übergangen hatte. »Das ist doch völlig unnötig. Das Kind bleibt selbstverständlich bei mir!« Beim letzten Satz gewann Rotecks Stimme endlich wieder etwas Festigkeit.
Elfi lachte dunkle und voll Hohn. »Weshalb hätten wir dich einbeziehen sollen? Deine Zeit ist um, Johannes. Du wirst dorthin zurückgehen, woher du gekommen bist. In die Gosse!«
Roteck blinzelte irritiert. Was sollte das nun wieder heißen? Er war daran gewöhnt, daß ihm die Schwiegereltern nur Schwierigkeiten machten, doch glaubte er nicht, daß es noch viel schlimmer kommen würde.
Rotecks Schweigen brachte Elfi erst so richtig in Fahrt. Endlich konnte sie dem Schwiegersohn heimzahlen, was sie elf Jahre lang geärgert hatte. Sie hatte damals für ihre Tochter einen reichen Engländer als Ehemann ausgewählt. Einen, der in den allerersten Kreisen verkehrte. Er besaß ein Schloß in Schottland und ausgedehnte Ländereien in Wales. Elfi war der Ansicht, daß dies der richtige Umgang und die angemessene Umgebung für sie waren. Doch dann mußte Felicitas Johannes Roteck heiraten, weil sie ein Kind von ihm erwartete. Damit waren Elfis ehrgeizige Pläne gescheitert. Die Schuld daran gab sie Johannes, auch jetzt noch.
»Wie willst du denn für das Kind sorgen, nachdem du dich zunächst selbst über Wasser halten mußt?«
»Wie soll ich das verstehen?« fragte Johannes und ahnte Schlimmes. Felicitas zuliebe war er mit seiner kleinen Familie in der Nähe der Schwiegereltern geblieben und hatte manches gute berufliche Angebot ausgeschlagen. Jetzt zeigte sich, daß das ein Fehler war.
»Hast du denn nicht mit meinem Gatten gesprochen?« fragte Elfi herausfordernd. Ihren Ehemann nannte sie im Gespräch mit anderen stets ihren ›Gatten‹, weil sie das für vornehm hielt. Dazu gehörte auch, daß sie die Lippen spitzte und wirkungsvoll die Augenlider senkte.
Johannes fand das lächerlich, aber er nahm es hin. »Karl war nicht hier.«
»Ich weiß, daß er mehrmals versucht hat, dich telefonisch zu erreichen, aber du hast ja nicht abgenommen.«
»Tut mir leid.« Zerknirscht zuckte Johannes die Schultern. Karl Schumann war sein Chef, und er wäre gut mit ihm ausgekommen, hätte Elfi ihn nicht ständig gegen den Schwiegersohn beeinflußt.
»Nun wirst du dich in unsere Villa bemühen müssen«, meinte Elfi schadenfroh.
Johannes dachte daran, daß er dieses Haus immer widerwillig betreten hatte, weil man ihm nur zu offen zeigte, daß er dort nicht willkommen war. »Kannst du mir nicht sagen, worum es geht?« fragte er und wußte im gleichen Moment, daß er von Elfi kein Entgegenkommen erwarten durfte. Sie konnte wohl nie vergessen, daß er es war, der ihr den Zugang zum englischen Adel vermasselt hatte.
»Nein, ich kann dir den Weg nicht ersparen«, erklärte sie stolz. »Und falls du dein Auto brauchst, es steht noch am Friedhof. Die Verwaltung hat bei uns angerufen, weil du nicht zu erreichen warst. Ich habe ihnen gesagt, daß wir über den verblödeten Schwiegersohn auch nicht glücklich sind, daß sich das Problem aber nun löst. Die übergangenen Telefongespräche und die Sache mit dem Auto sind doch der Beweis dafür, daß es ratsam ist, Jessica deinem schädlichen Einfluß zu entziehen.
Schließlich soll sie später einmal keinen armen Schlucker heiraten, wie es ihre Mutter dummerweise getan hat. Vielleicht hat der englische Earl noch Interesse.« Die ehrgeizige Elfi machte bereits neue Pläne.
Johannes schüttelte verständnislos den Kopf. »Jessi ist noch ein Kind. Und dieser Earl war schon für Felicitas viel zu alt. Mit ihm wäre sie kreuzunglücklich geworden.«
»Jessica ist zehn. Wenn sie ihrer Mutter nachschlägt, wird sie ein sehr hübsches junges Mädchen, und wenn sie dann noch in diesem vornehmen Schweizer Internat erzogen wurde, ist sie genau die richtige Partnerin für einen Mann von Welt, wie es der Earl ist.«
Johannes hielt sich demonstrativ die Ohren zu, denn er konnte die unangenehm laute Stimme seiner Schwiegermutter nicht mehr hören.
»Typisch für dich«, fauchte sie. »Du weißt einfach nicht, was sich gehört. Und du wirst es auch nie lernen!«
*
Johannes hätte seinen Schwiegervater lieber allein gesprochen, doch Elfi ließ es sich nicht nehmen, bei dieser Unterredung dabei zu sein. Herausfordernd schaute sie Karl Schumann an.
»Wir haben dich gestern nach der Trauerfeier vermißt. Viele haben nach dir gefragt«, begrüßte der Unternehmer seinen Schwiegersohn.
»Ich wollte allein sein«, antwortete Johannes wahrheitsgemäß. »Wo ist Jessi?« Roteck hatte erwartet, sein Töchterchen hier zu sehen.