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DENIZ YÜCEL, geboren 1973 in Flörsheim am Main und seit Mai 2015 Türkei-Korrespondent der WELT. »Journalist des Jahres 2014« (Sonderpreis), Träger des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 2011. Hat in Berlin Politikwissenschaft studiert und vor seinem Wechsel zur WELT als Redakteur der tageszeitung und zuvor als Redakteur der Wochenzeitung Jungle World sowie als freier Autor für verschiedene Medien gearbeitet. Veranstaltet seit 2012 mit Yassin Musharbash (Die Zeit) und Mely Kiyak (Berliner Zeitung) die Lesung »Hate Poetry«, eine Bühnenshow mit rassistischen Leserbriefen.

DENIZ YÜCEL

TAKSIM IST ÜBERALL

DIE GEZI-BEWEGUNG
UND DIE ZUKUNFT DER

TÜRKEI

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Für Berkin Elvan

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Die Arbeit an diesem Buch wurde mit einem Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2014

Erstausgabe Februar 2014

Autorenporträt Seite 2: Frauke Böger

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Eine erweiterte und überarbeitete Fassung erschien Februar 2015 als E-Book

Die vorliegende Ausgabe ist die darauf basierende 3., korrigierte und um das Vorwort ergänzte Auflage, April 2017

ISBN E-Book ePub 978-3-96054-060-1

Inhalt

Vorbemerkung des Verlags

Vorwort zur Solidaritätsausgabe

1. Taksim: Ein politischer Platz

Ein Foto in der Vitrine meiner Eltern

Das Heiligtum der Linken

Das letzte Gefecht der Islamisten

Das Gesicht der Republik

Projekte, Projekte, verrückte Projekte

2. Gezi: Der Park der Anderen

Das Gezi-Gefühl

»Unser Park, unser Friedhof«

Miss Gezi und sein Park

»Rechenschaft für meine Tränen«

3. Tarlabaşı: Das Kurdistan im Herzen der Stadt

Tee, Köfte, Gasmasken

Die letzten Tage eines Armenhauses

»Wir kennen diesen Staat«

Der Mann vorm Bagger

4. Cihangir: Die Promis von nebenan

Berühmt, rebellisch, verschreckt

Der Archäologe am Mischpult

Kommissar Nevzat und die Machtfrage

5. Beşiktaş: Ein Viertel und sein Fußballclub

»Wir haben gewonnen«

Jeder Park eine Agora

Ruhm und Repression

6. Nişantaşı: Die Çapulcu-Bürger

Nicht mehr Chefin, bloß Ceren

Und plötzlich politisch

Auf dem Absprung

7. Kadıköy: Atatürks neue Enkel

Lice ist überall

Tanten und Soldaten

Der Schwarm von Gezi

8. Gazi: Die beinah befreite Zone

Die Barrikadenmädchen

Aufstand und Anstand

ML-Pop für die Revolution

9. Fatih: Die Grenzgänger

Fastenbrechen auf der İstiklal

Allah ist anarchistisch

Hände weg von meinem Kopftuch

10. Internet: Eine Plage namens Twitter

Pinguine und andere Medien

Die roten Hacker

Das Wissen des Universums

11. Ankara: Kurz vor der Revolution

Eine Moschee zu viel

Geisterbeschwörung im Uniwald

12. Dersim: Immer marginal

Der Fluss und sein Anwalt

Die freieste Stadt des Ostens

13. Kayseri: Im Herzen des Tigers

Zwei Suppenläden für Mustafa Kemals Soldaten

Graue Wölfe auf Wanderschaft

14. İzmir: Bei den Ungläubigen

Der Wink mit dem Knüppel

Prekär fürs Prekariat

15. Antakya: Am Rand des Krieges

Atatürk und Assad

Zwei Brüder

16. Ausland: Çapuling Diaspora

Vergesst Europa!

Warum ich in İstanbul bin

Teşekkürler

Abkürzungsverzeichnis der Parteien, Institutionen & Organisationen

Vorbemerkung des Verlags

Die Neuauflage dieses Buches ist eine Solidaritätsausgabe. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens im April 2017 befindet sich Deniz Yücel in Untersuchungshaft in der Türkei. Vorgeworfen wird ihm »Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung«, als Grundlage für diese Anschuldigungen dienen der türkischen Staatsanwaltschaft seine journalistischen Texte.

Deniz Yücel ist ein brillanter Journalist. Jemand, dessen Name für Presse- und Meinungsfreiheit steht; jemand, der sich mit selbstloser Leidenschaft in Themen vertiefen kann; jemand, der unbequeme Fragen stellt und aufklärerische, mitreißende Artikel verfasst. Sein Buchprojekt, das wir im Frühjahr 2014 realisieren durften, ist eine beeindruckende Darstellung des großen Aufbäumens des jungen, liberalen und demokratischen Teils der türkischen Bevölkerung sowie der Anfänge der Präsidialdiktatur Erdoğans. Mit dieser Sonderausgabe möchten wir unserem Autor und Freund unsere Solidarität aussprechen und fordern die sofortige Freilassung Deniz Yücels und aller in der Türkei inhaftierten Journalistinnen und Journalisten.

Die Edition Nautilus dankt der Bookwire GmbH, die die Erstellung dieser E-Book-Ausgabe übernommen hat, für die Unterstützung.

Ein Solidaritätseuro pro verkauftem Exemplar geht, zusätzlich zum regulären Honorar, an den Autor.

Hamburg, im März 2017

Vorwort zur Solidaritätsausgabe

»Hallo Deniz, wie geht es dir?« – »Super. Ich muss nur grad noch schnell jemanden treffen, der unbedingt ins Buch muss, und das Kapitel muss heute fertig werden. Wir telefonieren morgen länger, ja?« So liefen die Gespräche mit Deniz über Monate, während er an diesem Buch schrieb. Wie viele Menschen er für Taksim ist überall getroffen hat, weiß Deniz sehr genau. Wie viele Zigaretten er dabei geraucht hat, nicht. Ein paar Schachteln halt. Als Deniz am 13. Februar dieses Jahres in Polizeigewahrsam genommen wurde, durfte er nicht mehr rauchen. Die türkische Justiz hat ihm aber nicht nur seine Zigaretten weggenommen. Er darf auch nicht mehr schreiben. Deswegen konnte er die Korrekturen für die Neuauflage dieses Buches nicht selbst besorgen. Er hat Freunde und Kollegen gebeten, diesen Job zu übernehmen: Mely Kiyak, Ronald Düker, Arno Frank, Regina Stötzel, Leo Fischer, Christoph Ehrhardt, Yasemin Ergin, Silke Mülherr, Yassin Musharbash, Jörg Sundermeier, Enrico Ippolito, Paul Wrusch, Can Merey und uns drei, die wir auch dieses Vorwort schreiben.

Die Behörden haben Deniz auch die Freiheit genommen, mit all seinen geliebten Istanbulern stundenlang zu reden, Tee zu trinken und zu rauchen, und die Freiheit, stundenlang zu erzählen, was seine geliebten Istanbuler ihm erzählt haben. Als Deniz dieses Buch schrieb, war er Redakteur der tageszeitung. 2015 bekam er seinen Traumjob: Türkei-Korrespondent in Istanbul. Wenn man Deniz nun besuchte und er gerade nicht mit der WELT telefonierte oder für sie schrieb, blieb man ständig irgendwo stehen: vor einem Köftegrill, vor einer Moschee, vor einem Hotel, vor einem Taxistand. Überall musste Deniz eine Geschichte loswerden, über Leute, die er in seinem Buch porträtiert hatte und über Leute, die es nicht ins Buch geschafft hatten. Taksim war eben überall. Auch 2014 noch, als dieses Buch ein Jahr nach dem Ende der Gezi-Proteste zum ersten Mal erschien.

Doch inzwischen hat sich viel verändert.

Seitdem muss die Türkei erdulden, was kaum zu erdulden ist. Das Land findet nicht mehr zur Ruhe und fügt sich neue Wunden zu, während die alten noch nicht geheilt sind. Was nach der ersten Parlamentswahl am 7. Juni 2015 begann, setzt sich bis heute fort: eine politische Dauerkrise und eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, die kein Ende zu kennen scheint. Da sind die wieder aufgeflammten Kämpfe zwischen den türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Aktivisten und Kämpfern; da sind die Anschläge, verübt von Anhängern des sogenannten Islamischen Staates oder der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und anverwandten Splittergruppen – und zwar nicht mehr irgendwo in der Provinz, ganz weit im Osten. Nein, sie finden im Westen statt, mitten in Istanbul oder Ankara. Und da ist eine Regierung, die sich offensichtlich dazu entschieden hat, den autoritären Weg einzuschlagen. Besonders deutlich wird dies seit dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli 2016.

Es gab eine Zeit, da der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan als Hoffnungsfigur für das Land galt. Er setzte Reformen durch, öffnete das Land für Europa und die EU, er begann Friedensgespräche mit dem Staatsfeind PKK und ging damit ein hohes politisches Risiko ein. Heute geht es ihm darum, mit einer Verfassungsänderung die Macht zu konzentrieren – auf sich selbst, den starken Präsidenten.

Und immer sterben junge Menschen. Ob Soldaten, Demonstranten, Polizisten, Nachtschwärmer wie im Club Reina an Silvester. Der 21-jährige Medizinstudent, der einfach nur zur falschen Zeit am Beşiktaş-Stadion vorbeifuhr und bei einem Attentat getötet wurde. Oder all die namen- und gesichtslosen jungen Frauen und Männer, die die PKK in die Schlacht mit der Staatsmacht schickt wie seit vierzig Jahren.

Ist Taksim noch überall? Gibt es in der Türkei von heute noch diese Möglichkeit des Aufbruchs, für die der Platz im Herzen Istanbuls steht? Jetzt, wo sie sogar den Autor dieses Buches eingesperrt haben?

Auf den folgenden Seiten beschreibt Deniz Yücel auch, wie die Erzählung von den Aufbrüchen der Vergangenheit selbst Jahrzehnte später Einzelne beflügeln kann, ganze Generationen vielleicht. Selbst wenn die Revolten von damals gescheitert sind, zeigen ihre Geschichten, dass sich selbst unter den abstrusesten Verhältnissen Menschen aus unterschiedlichsten Richtungen kommend begegnen und sich gemeinsam etwas Besseres einfallen lassen können als das, was ist. Und dass daraus eine Kraft entstehen kann, die in wenigen Wochen einen über Jahrzehnte zementierten Zwangsstaat infrage stellt.

Ja: So schnell, wie das entsteht, kann es auch zerfallen. Aber es wird immer wieder kommen, solange Menschen freien Austausch und Gemeinsamkeit als klügere Grundlage für ihr Zusammenleben erkennen können.

Darum ist Taksim immer noch überall. Die Menschen, die dem Leser in diesem Buch begegnen, gibt es noch immer. Wo sie verschwunden sind, bleiben ihre Geschichten, und wo Geschichten sind, gibt es Chancen. Auch im Gefängnis.

In der Haftanstalt Silivri diktierte Deniz Anfang März 2017 einer Besucherin eine Nachricht für seine Freunde und Unterstützer. Sie handelt von der Qual des Alleinseins. Aber zum Schluss lässt er seine Besucherin Folgendes aufschreiben: »Weder meine eigene Situation noch die dieses Landes, das ich trotz allem liebe, werden so bleiben, wie sie sind.«

Berlin, im März 2017
Doris Akrap, Daniel-Dylan Böhmer, Özlem Topcu

1. Taksim: Ein politischer Platz

Ein Foto in der Vitrine meiner Eltern

Meine früheste Erinnerung an den Taksim-Platz ist ein Foto. Es stand im Vitrinenschrank meiner Eltern, in ihrer Wohnung im südhessischen Flörsheim am Main, wo meine Schwester İlkay und ich als Kinder einer Arbeiterfamilie aus der Türkei aufgewachsen sind. Vielleicht ist es mir deshalb in Erinnerung geblieben, weil es nicht zu den übrigen Fotos passte. Diese waren allesamt Porträts oder Gruppenbilder: ein Hochzeitsfoto meiner Eltern, meine Mutter Esma in jungen Jahren mit ihren Schwestern, mein Vater Ziya mit Geschwistern, meine Großeltern, außerdem das verschwommene Foto eines bärtigen Mannes mit grimmiger Miene, von dem ich irgendwann erfuhr, dass es sich um meinen Urgroßvater väterlicherseits handelte, Opa Alim, und dass diese Aufnahme die einzige war, die von ihm existierte. Die Menschen auf diesen Bildern hatten sich herausgeputzt und blickten feierlich. Und alle Fotos waren in Schwarz-Weiß, vielleicht wirkten sie deshalb auf mich wie Dokumente aus einer fernen Zeit.

Nur eins der Bilder in der Vitrine war anders. Darauf zu sehen war eine Menschenmenge. Ihre Gesichter waren kaum zu erkennen, man konnte aber gut sehen, dass viele ihre geballten Fäuste in die Luft streckten. Hinter ihnen war ein riesiges Transparent mit der Aufschrift »1. Mai« und dem Bild eines stilisierten Arbeiters mit Schnauzbart und traurigem Gesichtsausdruck, eine Hand an eine Kette gefesselt, in der anderen eine rote Fahne haltend. Der Stil der siebziger Jahre.

Auch meine zweite Erinnerung an Taksim ist eine indirekte. Es ist die Strophe aus einem Lied: »Es waren fünfhunderttausend Arbeiter / Wir kamen auf den Taksim-Platz / Was für ein İstanbul haben wir gesehen / Man wird fragen, eines Tages.« Es ist ein Lied des Musikers Ruhi Su. Ruhi Su war ein Überlebender des Völkermordes an den Armeniern, ein gelernter Opernsänger mit tiefer Bassstimme, der als Erster die türkische Volksmusik politisierte.

Ich weiß nicht, wann ich dieses Lied zuletzt gehört hatte, es war vielleicht zwanzig Jahre her oder mehr. Aber als ich in jenen Tagen im Juni 2013, als sich die Polizei aus dem Stadtzentrum zurückgezogen hatte und Zehntausende auf dem Taksim-Platz wie im anliegenden Gezi-Park eine riesige Party feierten, zum ersten Mal über den Taksim-Platz lief, waren diese Zeilen das Erste, das mir durch den Kopf ging: »Was für ein İstanbul haben wir gesehen …« Ja, pathetisch und kitschig. Aber es gibt keine Revolution ohne Pathos. Vielleicht gibt es auch keine ohne ein bisschen Kitsch.

Auch das Foto mit der Menschenmenge, die sich vor demselben Gebäude, dem Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz, versammelt hatte, fiel mir wieder ein. Dort hingen nun zahlreiche Transparente und ein Konterfei: das von Deniz Gezmiş, dem 1972 hingerichteten Anführer der türkischen Studentenbewegung, nach dem mich meine Eltern benannt haben.

Mit den Protesten von Gezi, mit der dort entstandenen Parole »Taksim ist überall, Widerstand ist überall«, ist der Taksim-Platz zu einem Symbol geworden. Aber für türkische Linke und Linksliberale, Kommunisten und Anarchisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter und für all jene, die von Herzen irgendwie links sind, war Taksim vorher schon ein heiliger Ort. Und das hat mit jenen Ereignissen zu tun, die Ruhi Su in diesem Lied besang und die auf dem beschriebenen Foto dokumentiert waren. Die Rede ist vom 1. Mai 1977.

Das Heiligtum der Linken

Am 1. Mai 1977 versammelt sich eine riesige Menge rund um den Taksim-Platz. Eine halbe Million Menschen sollen es sein, die bis dahin größte Demonstration der neueren türkischen Geschichte. Zum Ende der Rede von Kemal Türkler, dem später von Mitgliedern der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) erschossenen Vorsitzenden des Gewerkschaftsverbands DİSK, fallen Schüsse – just in dem Moment, als er fragt: »Wollt ihr, dass dieser Platz in ›Platz des 1. Mai‹ umbenannt wird?« Vom heutigen Marmara-Hotel sowie vom Dach der Wasserbehörde wird geschossen. Panik bricht aus, die von der Polizei verstärkt wird, die mit Panzerwagen in die Menge fährt. Die meisten Menschen aber sterben im Gedränge in einer steilen Nebengasse, wo ein abgestellter Kleinlastwagen den Fluchtweg versperrt. Mindestens 34 Menschen kommen ums Leben.

Die Täter und Auftraggeber wurden nie ermittelt. Doch bis heute hat sich ein Verdacht erhalten, den Bülent Ecevit, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) und fünfmaliger Ministerpräsident, kurz nach dem Massaker formulierte: Es war ein Werk der Konterguerilla. Viele gehen davon aus, dass es eine Abschreckungsmaßnahme war. Manche vermuten zudem, dass es sich um die Putschvorbereitung eines Teils der Armee handelte.

Das denkt auch Celalettin Can. Er war an diesem Tag auf dem Taksim-Platz, als İstanbuler Vorsitzender des Studentenverbandes Devrimci Gençlik (Revolutionäre Jugend). Zwei Jahre zuvor war er als 19-Jähriger aus der kurdisch-alevitischen Provinz Tunceli zum Studieren gekommen. »Naja«, sagt er, »eigentlich kam ich, um Revolution zu machen.« Aus seinem Studentenverband entstand die Zeitschrift Devrimci Yol (Revolutionärer Weg), die an diesem 1. Mai 1977 erstmals erschien und um die sich eine unorthodoxe, linke Massenorganisation entwickeln sollte. Am Taksim-Platz stellte Devrimci Gençlik den größten Demonstrationsblock; die meisten derer, die dort starben, stammten aus ihren Reihen.

Heute ist Can 57 Jahre alt, arbeitet als Kolumnist der prokurdischen Tageszeitung Gündem und als Buchautor. Er gehörte dem »Rat der Weisen« an, einer von der Regierung eingesetzten Kommission, die den Friedensprozess mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) begleiten soll. Und er ist Vorsitzender der 78er-Stiftung, die sich um die Aufarbeitung der Verbrechen der Junta bemüht. Was seine Generation von den 68ern unterscheidet? »In den Siebzigern wandelte sich die Türkei von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft«, sagt Can. »Und es war eine Zeit, in der die Linke erstmals Millionen auf die Straße brachte.« Aus seiner Generation seien weitaus mehr Menschen umgebracht worden als vor und nach dem Putsch von 1971. Über 4.000 Tote, einschließlich der hingerichteten oder von Linken getöteten Anhänger der Grauen Wölfe. »Die Putschisten von 1971 haben zwar Deniz Gezmiş gehängt, Mahir Çayan, İbrahim Kaypakkaya und andere getötet. Aber sie haben es nicht geschafft, deren Andenken zu beschmutzen. Dafür hat man später so getan, als seien die 68er Figuren aus einem Märchen und hätten nichts mit dieser Gesellschaft zu tun. Meiner Generation erging es anders. Nach dem Putsch von 1980 erzog der Staat die Kinder nicht mehr mit der Angst vor Dracula, Frankenstein und Tepegöz, sondern mit der Angst vor den Ereignissen vor 1980.«

Can hat sein Büro in einer Seitengasse der Einkaufsstraße İstiklal. Aus den großen Fenstern sieht er das Abbruchviertel Tarlabaşı. Und wenn er den Blick ein wenig schräg richtet, sieht er ein Stück des Gezi-Parks und des Taksim-Platzes. »Wenn ich hier sitze, ist mein Blick immer dahin gerichtet«, sagter. »Unser Blick ist immer auf den Taksim-Platz gerichtet.«

Dabei spielte der Taksim-Platz für die türkische Linke bis zur Mai-Kundgebung im Jahr vor dem Massaker keine Rolle. Die einzig nennenswerte Demonstration dort richtete sich 1969 gegen die Landung der 6. US-Flotte und wurde von Rechtsextremisten und Islamisten angegriffen. Zwei linke Studenten starben dabei, die Angreifer kamen aus jener Moschee am Dolmabahçe-Palast, in die über vierzig Jahre später die Demonstranten flüchten sollten. Als »Blutsonntag« ging dieses Ereignis in die türkische Geschichte ein – ein Ereignis freilich, das heute nur den wenigsten jungen Leuten bekannt ist. Anders die Ereignisse von 1977, an die zahlreiche Plakate im Gezi-Park erinnerten. Warum ist diese Erinnerung so lebendig?

»Bis dahin war die Linke am Wachsen gewesen. Es gab einen gesellschaftlichen Aufbruch, am Taksim-Platz herrschte bis zu den Schüssen eine euphorische Stimmung. Der 1. Mai war ein Bruch«, sagt Can. Manche Menschen hätte es verschreckt, dass der Staat gegen eine derart große Menge vorging, noch dazu an einem so sichtbaren Ort. Andere hätten der Behauptung geglaubt, dass das Massaker Folge einer innerlinken Rivalität gewesen sei – eine bis heute vorgetragene These, der Can widerspricht: »Es gab Spannungen zwischen der Gewerkschaft und der moskauorientierten Türkischen Kommunistischen Partei auf der einen Seite und den maoistischen Gruppen auf der anderen. Aber als die Schüsse fielen, hatten die Maoisten den Platz gar nicht betreten. Das ist eine Propagandalüge, der die Linken aber mit ihren Konflikten untereinander Vorschub geleistet haben.«

Auch diese linke Selbstzerfleischung habe sich nach dem 1. Mai verstärkt. Davon bleibt auch die Devrimci Yol nicht verschont. Die İstanbuler Gruppe drängt auf eine militantere Politik und spaltet sich unter dem Namen Devrimci Sol ab, dem Vorläufer der bis heute tätigen Organisation DHKP-C. Can geht 1978 in den Untergrund, wird 1981 verhaftet und gehört zu den wenigen, die 1991 nicht auf Bewährung entlassen werden. Erst 1999 kommt er frei; von der Devrimci Sol hat er sich während seiner Haft getrennt.

1978 findet eine weitere Mai-Kundgebung am Taksim-Platz statt, danach wird dort keine Demonstration mehr erlaubt. Erst im neuen Jahrtausend versuchen Demonstranten erneut, am 1. Mai auf den Taksim-Platz zu kommen. Stets stellt sich die Polizei ihnen entgegen, stets kommt es zu Auseinandersetzungen. Taksim ist da schon ein mythischer Ort. Und es ist ein Spiel: Wer schafft es, die Polizeiabsperrungen zu durchdringen und auf den Platz zu gelangen? Unter den Demonstranten sind nicht mehr so viele Industriearbeiter im Blaumann und Schnauzbart wie 1977, dafür sind nun organisierte Fußballfans dabei oder schwul-lesbische Gruppen, die es einmal tatsächlich auf den Platz schaffen. Der 1. Mai bleibt auch für das linksliberale Milieu von Bedeutung, vielleicht gerade des Verbots wegen. Erst ab 2010 werden am Taksim-Platz Mai-Kundgebungen erlaubt. Im Jahr 2013 erlässt der Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu erneut ein Verbot, das er mit dortigen Bauarbeiten begründet. İstanbul erlebt darauf die schwersten Straßenschlachten seit Jahren. Ein paar Wochen später wird der Gezi-Park besetzt.

Haben die alten Linken und ihre Geschichten durch Gezi ausgedient, wie von manchen seiner alten Weggefährten zu hören war? »Quatsch«, ruft Can. Diese Frage hat ihn geärgert. »In der Geschichte wird nicht einfach etwas durch das andere ausgetauscht. Die Dinge bauen aufeinander auf. Im Gezi-Park waren unsere Kinder. Fragen Sie die jungen Leute, und fast alle werden Ihnen erzählen, dass ihre Eltern vor dem Putsch von 1980 in der Linken aktiv waren.« Immerhin lässt er eines gelten: »Nach dem Putsch war die Gesellschaft verängstigt. Diese Angst ist jetzt weg.«

Das letzte Gefecht der Islamisten

Nicht allein für die türkische Linke, sondern ebenso für die Islamisten ist der Taksim-Platz symbolisch bedeutsam. Diese Bedeutung hängt eng mit der Geschichte jener Kaserne zusammen, die anstelle des Gezi-Parks rekonstruiert werden sollte. »Wir werden dort die Geschichte wiederbeleben«, sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan einmal. Doch welche Geschichte meinte er?

Errichtet wurde die Kaserne unter Sultan Selim III. Als dieser 1789 den osmanischen Thron besteigt, befindet sich das Imperium seit einem Jahrhundert im Niedergang. Selim III. ist der erste Sultan, der eine grundlegende Reform in Angriff nimmt. Er lässt ein neues Armeekorps ausheben, genannt Nizam-ı Cedid, »Neue Ordnung«, verpflichtet Ausbilder aus Europa, gründet Militärakademien und lässt neue Kasernen bauen. Eine davon entwirft vermutlich der armenische Architekt Krikor Balyan am damaligen Rand des Viertels Pera, dem heutigen Beyoğlu. Im Jahr 1806 wird der Neubau fertiggestellt, in den das Artillerieregiment der neuen Truppe einzieht. Topçu Kışlası heißt die Kaserne daher, Artilleriekaserne.

Doch der Sultan stößt auf Widerstand. Vor allem die Janitscharen fürchten um ihre Privilegien. Die Elitetruppe rekrutiert sich da nicht mehr aus verschleppten Kindern christlicher Familien. Auch von ihrer einst berüchtigten Schlagkraft ist nicht mehr viel übrig. Dafür haben sie sich zu einem Staat im Staate entwickelt. Im Mai 1807 rebellieren sie mit weiteren Einheiten. Der Kabakçı-Mustafa-Aufstand wird von der Geistlichkeit und Teilen der Bevölkerung unterstützt, denen die Orientierung des Sultans an Europa so suspekt ist wie ihnen die zusätzlichen Steuern, die für die neuen Institutionen erhoben werden, zuwider sind. Selim III. muss zurücktreten. »Kein Herrscher und Kalif zu sein, ist besser als Herrscher und Kalif solch aufrührerischer Untertanen zu sein«, soll er bei seiner Abdankung gesagt haben.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Janitscharen einen Sultan absetzen. Es ist aber das erste Mal, dass sich dieser Machtkampf als Konflikt zwischen Modernisierung und Tradition darstellt. Nach zwei Jahren der Wirren, in denen Selim III. und sein Nachfolger sterben, gelangt Mahmud II. auf den Thron. Er versucht, das Werk seines Onkels Selim III. fortzusetzen und eine neue Armee aufzubauen, in die er die Janitscharen eingliedern will. 1826 erheben die sich erneut. Doch diesmal bleiben sie allein. Sie verschanzen sich in ihren Kasernen, unterliegen aber der Artillerie des Sultans. 6.000 Janitscharen werden niedergemetzelt, weitere danach hingerichtet oder verbannt. Ihre Kasernen werden abgerissen. Nichts soll an sie erinnern.

Die Zerschlagung des Janitscharenkorps, die Mahmud II. Vaka-i Hayriye, »segensreiches Ereignis«, nennt, ist für lange Zeit – bis zur Machtübernahme der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2002 – das letzte Mal, dass sich die formelle Autorität im Land gegen die informelle behauptet. Der Konflikt zwischen der politischen Führung und der Armee aber setzt sich in anderer Gestalt fort.

Asâkir-i Mansure-i Muhammediye, »Siegreiche Truppen Mohammeds«, heißt die neue Truppe des Sultans anfangs. Trotz des religiösen Titels, mit dem Mahmud II. dem Verdacht vorbeugen will, seine Militärreform richte sich gegen den Glauben, wird diese Truppe nach französischem Vorbild geformt. Dies zeigt sich nicht nur in der Organisation und Ausbildung. Die »Siegreichen Truppen Mohammeds« werden zwar die meisten Schlachten verlieren, aber sie sind die ersten osmanischen Soldaten, die europäische Hosen tragen.

Die beiden Nachfolger Mahmuds II., Abdülmecid und Abdülaziz, setzen die Reformen fort. Es ist die »Tanzimat«-Periode, eine Ära der Neugestaltung von Staat und Gesellschaft. Man führt moderne Straf- und Handelsgesetze und die allgemeine Wehrpflicht ein; die nichtmuslimischen Untertanen werden – allerdings nicht vollständig – den muslimischen gleichgestellt und das Lehnswesen wird abgeschafft. Aus der wirtschaftlichen Not des Reiches heraus schließt man mit mehreren europäischen Staaten Handelsabkommen, die »Kapitulationen«, die nur für die Europäer vorteilhaft sind. In dieser Zeit wird auch die Topçu-Kaserne runderneuert. Sie erhält einen großen Innenhof und ein prunkvolles, aber kitschiges Eingangsportal mit Zwiebeltürmen nach russischer Art und eine Fassade mit indischen und osmanischen Stilelementen.

Die Tanzimat-Reformen führen zur ersten osmanischen Verfassung, die die Rechte des Sultans einschränkt und die Schaffung eines Parlaments vorsieht. Sie wird im Dezember 1876 von Abdülhamid II. verkündet, der kurz zuvor den Thron bestiegen hatte. Doch nach der vernichtenden Niederlage im Krieg gegen Russland 1877/78 setzt der Sultan die Verfassung außer Kraft. Er gründet den ersten osmanischen Geheimdienst und lässt Oppositionelle verfolgen. Der Islam erlangt wieder große Bedeutung, der Panislamismus wird Staatsideologie.

Doch Abdülhamid II. ist kein Fanatiker. Er sucht die Zusammenarbeit mit dem deutschen Kaiserreich und versucht mit Hilfe deutscher Experten, sein Rest-Imperium finanziell zu sanieren und technologisch zu modernisieren, etwa mit dem Bau der Eisenbahnlinie von İstanbul nach Bagdad. Ein Ergebnis dieser Verbundenheit kann man heute noch in Berlin bewundern: den Pergamon-Altar, den deutsche Archäologen ausgraben und den Abdülhamid II. seinem Freund, dem deutschen Kaiser Wilhelm II., überlässt.

Wie so mancher seiner Vorgänger hat Abdülhamid II. im Militär Gegner. Doch die Konstellation hat sich seit den Tagen der Janitscharen geändert. Es gibt zuhauf jüngere Offiziere und Bürokraten, die die absolutistische Herrschaft des Sultans beenden und einen Nationalstaat nach europäischem Vorbild gründen wollen. Die wichtigste Oppositionsgruppe ist das konspirative »Komitee für Einheit und Fortschritt«, das der jungtürkischen Bewegung entstammt und verschiedene säkulare, republikanische und nationalistische Strömungen vereint.

1908 rebelliert die von Mitgliedern des Komitees geführte 3. Armee auf dem Balkan. Die jungtürkische Revolution beginnt. Der Sultan wird dazu gezwungen, die Verfassung wieder in Kraft zu setzen und Parlamentswahlen durchzuführen. Zunächst genießt das Komitee auch in der nichtmuslimischen Bevölkerung Sympathien. Doch nach den Balkankriegen 1912/13 und der Absetzung der Regierung Anfang 1913 schlägt das Komitee eine pantürkische Linie ein und errichtet eine Diktatur. Unter dem Triumvirat der Paschas Enver, Cemal und Talat zieht das Osmanische Reich an deutscher Seite in den Ersten Weltkrieg und verübt eines der blutigsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte: den Völkermord an den Armeniern.

Der Machtergreifung der Jungtürken geht ein Ereignis voraus, bei dem die Kaserne von Beyoğlu eine zentrale Rolle spielt. Am 31. März 1909 (dem 13. April im gregorianischen Kalender) rebellieren die Besatzungen der Topçu-Kaserne und der benachbarten Taşkışla-Kaserne gegen das konstitutionelle Regime. Die Aufständischen sind einfache Soldaten und Unteroffiziere ohne militärakademische Ausbildung, denen sich Teile der Geistlichkeit und der Bevölkerung anschließen. Mit der Parole »Wir wollen die Scharia« ziehen sie durch die Stadt, die sie unter ihre Kontrolle bringen.

Elf Tage später marschiert eine Interventionsarmee in İstanbul ein. Sie besteht aus Freiwilligen vom Balkan sowie aus Armeeeinheiten aus Thessaloniki und Edirne, die unter dem Kommando jungtürkischer Offiziere stehen. In İstanbul kommt es zu Gefechten, bei denen einige hundert Soldaten sterben. Der Aufstand endet dort, wo er begonnen hatte: in den Kasernen der Aufständischen, wo sich diese verbarrikadieren. Die heftigsten Kämpfe toben vor der Topçu-Kaserne, die von der Interventionsarmee bombardiert wird.

Bis heute ist umstritten, wer diesen Aufstand angezettelt hat: Islamisten, jungtürkische Agents Provocateurs, britische Spione oder der Sultan selbst? War es überhaupt eine islamistische Rebellion oder handelte es sich, wie Ahmet Altan 2001 in seinem viel beachteten Roman Die Liebe in Zeiten des Aufstands nahelegte, um einen Machtkampf innerhalb des Militärs? Unbestritten ist nur eins: Die Folgen des 31. März 1909 reichen bis in die Gegenwart.

Abdülhamid II. muss nach 32 Jahren abtreten. Damit endet faktisch nach 600 Jahren die osmanische Regentschaft. Denn sein Nachfolger Mehmet V. ist eine Marionette der Jungtürken, während Sultan Vahdettin, der 1918 den Thron besteigt, lediglich die Anweisungen der Alliierten ausführt. Im November 1922, nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen griechische und alliierte Truppen, erklärt die neue nationale Regierung in Ankara das Sultanat für abgeschafft. Die mit der Republik beginnenden Umwälzungen sind immens. Doch zugleich treten die Kemalisten, von denen viele aus den Reihen der Jungtürken stammen, deren jakobinisches Erbe an. Die autoritäre Modernisierung ist auch ihre Sache, ihr Nationalismus schwankt zwischen republikanischen und völkischen Ideen.

»Die Armee hat an den 31. März erinnert, weil sie damit ihre Rolle legitimiert hat«, sagt der Historiker Mehmet Ö. Alkan. »So, wie die von den Jungtürken geführte Armee eigenmächtig eingriff, um die Verfassung zu wahren, hat sich die Armee in den folgenden Jahrzehnten dazu befugt gesehen, gegen Chaos und Reaktion einzuschreiten.« Alkan lehrt an der Universität İstanbul und spricht regelmäßig in einer Fernsehsendung über historische Themen. »Ich frage die Erstsemester immer nach bestimmten Daten aus der osmanischen Geschichte«, erzählter. »Dabei habe ich festgestellt, dass kein Datum aus dieser Zeit so geläufig wie dieses ist. Die offizielle wie die inoffizielle Geschichtsschreibung haben ein Interesse daran, die Erinnerung daran wachzuhalten. Für die Kemalisten ist es ein Tag des Sieges der fortschrittlichen Kräfte über die Reaktion, für die Islamisten der Beginn einer hundert Jahre währenden Bevormundung durch das Militär. Und der Taksim-Platz ist der symbolische Ort dieser Niederlage.«

Alkan ist davon überzeugt, dass es bei dem Plan zum Wiederaufbau der Topçu-Kaserne nicht nur um kommerzielle Interessen ging. Dafür spricht, dass Erdoğan widersprüchliche Angaben darüber gemacht hat, welchem Zweck der Bau dienen soll. Erst war von einem Einkaufszentrum und einem Hotel die Rede, dann von einem Stadtmuseum, schließlich gar von einem Opernhaus. Die Nutzung schien weniger wichtig als der Bau selbst.

Denn für die türkischen Islamisten ist Abdülhamid II. nicht irgendein Sultan und Kalif. Sie verehren ihn, weil er eine Wiederbelebung des Islams mit wissenschaftlich-technischem Fortschritt verbunden hat, und bezeichnen ihn als Ulu Hakan, »Großen Herrscher«. Diese Formulierung stammt von Necip Fazıl Kısakürek, einem 1983 verstorbenen islamistischen Theoretiker, Autor und Dichter, einem ordinären Antisemiten, der dazu aufrief, Aleviten und andere Abweichler vom sunnitischen Islam »wie Unkraut auszureißen und wegzuwerfen«. Einer seiner größten Verehrer der Gegenwart ist kein geringerer als Ministerpräsident Erdoğan.

Als dieser in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 2013 von einer mehrtägigen Nordafrika-Reise zurückkehrt – der Gezi-Park und der Taksim-Platz sind da in der Hand der Demonstranten – hält er noch am Flughafen eine Rede. »Erlaub es uns, wir ziehen los, wir treten Taksim nieder«, rufen seine Anhänger. Erdoğan beendet seine Rede mit einem Vers von Kısakürek. Auf den hat er sich zuvor schon bezogen, so etwa im Jahr 2011 bei einer Rede im türkischen Parlament. »Es gibt Bücher, die verändern Ihr Leben«, sagt er damals. Dazu gehöre für ihn das Buch Die unterdrückten Muslime der letzten Epoche von Necip Fazıl Kısakürek. »Was die offizielle Geschichtsschreibung verschweigt, haben wir dort gelernt.« Lernen kann man in diesem Buch Folgendes: Die Ereignisse vom 31. März waren der »Wegbereiter der späteren Unterdrückung der Religion«, das Komitee für Einheit und Freiheit war eine »Marionette der Juden und Freimaurer«, der Aufstand deren Intrige, um »den glänzenden großen Herrscher« zu stürzen. Und bei der Interventionsarmee handelte es sich um eine »Horde mazedonischer Marodeure«, wörtlich: »eine Horde çapulcu«. Und genau so, als çapulcu, beschimpfte Erdoğan mehrfach die Demonstranten vom Gezi-Park. Doch diese Verleumdung wurde zum Geusenwort, zu einer Bezeichnung also, die die Demonstranten trotzig-ironisch übernahmen. So heterogen diese Bewegung war, dank Erdoğan gab es ein gemeinsames Label. Jetzt waren alle çapulcu. Durch ein vielzitiertes Graffito gelangte das Wort sogar ins Englische und dann in weitere Sprachen: »Everyday I’m çapuling

Ob Erdoğan mit diesem Begriff wissentlich Kısakürek zitiert hat oder nicht, er wäre jedenfalls nicht der Einzige, der einen Bezug zwischen den aktuellen Kämpfen am Taksim-Platz und denen des Jahres 1909 hergestellt hätte. Insbesondere kemalistische Autoren und Aktivisten interpretierten den Wiederaufbau der Kaserne als Rache an der Republik. Schließlich hätten Mustafa Kemal Atatürk und dessen Nachfolger İsmet İnönü in den Reihen der Interventionsarmee gekämpft.

Sicher ist, dass in İnönüs Amtszeit die Kaserne abgerissen und der Gezi-Park errichtet wurde. Doch ob er auch an der Niederschlagung des Aufstands beteiligt war, lässt sich nicht nachweisen. Selbst in seinen Memoiren finden sich darüber nur vage Andeutungen. Fast ebenso unklar ist die Faktenlage bei Atatürk, der zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt und als Hauptmann in Thessaloniki stationiert war. Zwar berichtet er in seiner berühmten Rede Nutuk, er sei Stabschef der Interventionsarmee gewesen und habe sie auf den Namen Hareket Ordusu getauft. Doch als Atatürk 1927 diese – in 36 Stunden vorgetragene – Rede hielt, die zur Grundlage der staatlichen Geschichtsschreibung werden sollte, war der Personenkult um ihn bereits im Gange. In der ersten Biografie hingegen, einer während des Unabhängigkeitskrieges erstellten Propagandabroschüre mit dem hübschen Titel Das bescheidene Leben des Mustafa Kemal, findet sich kein Wort über diese Episode.

So vermuten einige Historiker, dass Atatürk nur Stabschef einer Division war, anderen zufolge war er anfangs Stabschef der gesamten Interventionsarmee, musste diesen Posten aber an den aus Berlin herbeigeeilten Enver Pascha abgeben. Einige bestreiten, dass er überhaupt an der Operation teilnahm. Dass in der offiziellen Geschichtsschreibung den Gründungsvätern der Republik bei den Ereignissen rund um die Topçu-Kaserne eine größere Rolle zugeschrieben wurde, als sie womöglich innehatten, verdeutlicht aber, welche Bedeutung man diesem Datum beimaß.

Egal, wer sonst noch beteiligt war, sicher ist jedenfalls, dass ein junger Bauer aus dem Dorf Kişina bei Köprülü, dem heutigen Veles in Mazedonien, in den Reihen der Interventionsarmee kämpfte. Mein Urgroßvater Alim. Der aus der Vitrine meiner Eltern.

Das Gesicht der Republik

İstanbul gilt als »Brücke zwischen Orient und Okzident«. Doch wenn es im alten İstanbul eine Brücke gab, die beide Zivilisationen miteinander verband, war dies nicht die ohnehin erst 1973 fertiggestellte Bosporus-Brücke, sondern die Brücke über das Goldene Horn, einen Seitenarm des Bosporus. Geografisch liegen dessen Ufer beide auf der europäischen Seite. Kulturell aber trennte das Goldene Horn zwei Welten: am Südufer die türkisch-muslimische Altstadt, im Norden Galata, das heutige Karaköy, im Bezirk Beyoğlu.

Der byzantinische Kaiser hatte Galata als Dank für die Hilfe bei der Rückeroberung Konstantinopels aus der Hand venezianisch-französischer Kreuzfahrer im Jahr 1261 der Republik Genua als Handelskolonie überlassen. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 blieb Galata ein nichtmuslimisches Viertel. Genuesische, venezianische und katalanische Kaufleute lebten hier, außerdem Armenier, Griechen, Georgier und Juden.

Im 17. Jahrhundert beginnt Galata, auf die hinter der Stadtmauer liegenden Hügel zu wachsen. Zur byzantinischen Zeit nannte man dieses Gebiet die Pera-Felder, nach dem griechischen Wort für »drüben«. Um die neuen Stadtteile mit Wasser zu versorgen, wird 1732 am höchsten Punkt Peras eine Anlage zur Wasserverteilung errichtet, was dieser Gegend seinen späteren Namen geben sollte: Taqsīm ist das arabische Wort für »teilen«.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich europäische Kaufleute hier nieder, die infolge der »Kapitulationsabkommen« in die Stadt kommen. In dieser Zeit entwickelt sich die Grande Rue de Pera, die heutige İstiklal-Straße, die mit ihren Jugendstilhäusern, Ladenpassagen, Cafés, Theatern, Salons und Botschaftsgebäuden hinauf zum Taksim-Platz führt und an deren anderen Ende 1875 die zweite U-Bahn der Welt fertiggestellt wird. Hinzu kommen Nobelhotels wie das Pera Palas, wo Agatha Christie ihren Mord im Orient-Express verfasste. Komplettiert wird das Bild durch neue Kirchen, die katholische St.-Antonius oder die griechisch-orthodoxe Hagia Triada. War Galata ein mittelalterlich-europäischer Stadtteil, wird Pera zum modern-europäischen. Wohnen rund um die Grande Rue de Pera die reicheren Nichtmuslime, siedeln sich im westlichen Viertel Tarlabaşı die ärmeren an.

Oben auf dem Hügel, der Gegend um den Wasserverteiler und die Topçu-Kaserne, befinden sich Mitte des 19. Jahrhunderts Friedhöfe. Ein armenischer Friedhof, unterteilt in einen apostolischen und einen katholischen Teil, der Taksim vom neuen, teilweise ebenfalls nichtmuslimischen Viertel Şişli trennt, und ein muslimischer Friedhof. Dieser wird ab den 1870er Jahren eingeebnet, nur das Grab eines Paschas bleibt im Garten des deutschen Konsulats erhalten.

Die Topçu-Kaserne wird nach dem Aufstand von 1909 nur notdürftig restauriert. Als nach dem Ersten Weltkrieg İstanbul von französischen, britischen und italienischen Truppen besetzt wird, beziehen dort französische Einheiten Quartier. Dann wird der Hof einem Investor überlassen, der eine Tribüne für 8.000 Zuschauer errichtet. Das Taksim-Stadion, wie die Spielstätte nun heißt, ist das erste Fußballstadion der Stadt.

In den Besatzungsjahren spielen dort Soldatenmannschaften der Alliierten gegen die İstanbuler Clubs. Vor allem ein Spiel vom Juni 1923 ist in Erinnerung geblieben. Zu diesem Zeitpunkt ist der Unabhängigkeitskrieg gewonnen und der Abzug der Besatzungstruppen beschlossen. Während die türkische Delegation unter İsmet İnönü in Lausanne mit den Alliierten über einen Friedensvertrag verhandelt, fordert der britische Kommandant Charles Harington zu einer Art Finale auf. Die Briten bilden eine Auswahl aus den Teams der Regimenter, auf türkischer Seite nimmt der Club Fenerbahçe aus dem asiatischen Teil der Stadt die Herausforderung an. Die Briten gehen durch den schottischen Nationalspieler Willie Ferguson in Führung. Doch nach der Pause schießt Zeki Rıza mit zwei Toren Fenerbahçe zum Sieg. Die İstanbuler jubeln, İnönü gratuliert per Telegramm. Dass im britischen Team nur vier Profifußballer spielen, kümmert damals wenig und danach noch weniger. In die türkischen Geschichtsbücher geht der »General-Harington-Cup« mit einem Wort des Spielers Bedri Gürsoy ein: »Wir sind das einzige Land, das sowohl mit dem Mörser als auch mit dem Ball einen Krieg gewonnen hat.«

Bald darauf, drei Tage vor der Proklamation der Republik am 29. Oktober 1923, läuft die fast identische Mannschaft erneut im Taksim-Stadion auf. Aber diesmal nicht in den blaugelben Trikots von Fenerbahçe, sondern in weiß-roten. Das erste Länderspiel. Der Gegner heißt Rumänien, das Spiel endet 2:2, wieder trifft Zeki Rıza zweimal. Im Zuge der Namensreform wird Atatürk ihm später den Nachnamen Sporel verleihen, »Sportland«.

Im Folgenden nutzen die Clubs Beşiktaş und Galatasaray das Taksim-Stadion. Doch dessen Tage sind gezählt. Hatten sich die stadtplanerischen Anstrengungen der jungen Republik zunächst auf die neue Hauptstadt Ankara und das im Unabhängigkeitskrieg niedergebrannte İzmir konzentriert, gerät nun İstanbul in den Blick. Von 1938 bis 1950 wird der französische Architekt Henri Prost als Generalplaner engagiert. Seine Hauptaufgaben: İstanbul durch Verkehrsschneisen autotauglich zu machen und einen repräsentativen Platz zu schaffen.

In der Stadt gibt es zu diesem Zeitpunkt zwei große Plätze, den Sultanahmet-Platz vor der gleichnamigen Moschee (der »Blauen Moschee«) und den Beyazıt-Platz zwischen der namensgebenden Moschee, dem alten Basar und der Universität. Aber diese Plätze sind mit der osmanischen Herrschaft belegt. Und sie stammen aus der byzantinischen Epoche. Denn der osmanische Städtebau sah keine öffentlichen Plätze vor, an denen Männer und Frauen zusammenkommen konnten. Die Männer trafen sich in den Moscheen, die Frauen waren aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen.

Das soll sich nun ändern. Und natürlich eignet sich für so einen Platz kein Viertel besser als das westliche Beyoğlu. Als Prost seine Arbeit aufnimmt, ist der erste Schritt dazu bereits getan. War die Gegend hinter dem Wassserverteiler zuvor eine Brache zwischen Friedhöfen und Stallungen, wird hier 1928 ein vom italienischen Bildhauer Pietro Canonica geschaffenes, elf Meter hohes Monument eingeweiht. Das Denkmal der Republik wird zur zentralen Gedenkstätte der Stadt, wo an nationalen Feiertagen Zeremonien abgehalten werden. Nur der offizielle Name Cumhuriyet Meydanı, »Platz der Republik«, kann sich nicht durchsetzen.

Prost macht sich daran, die Umgebung dieses Platzes neu zu gestalten. Er lässt die Topçu-Kaserne abreißen und eine Parkanlage einrichten. Nun wird auch der armenische Friedhof eingeebnet. Ein Teil des Geländes wird dem Stadtpark zugeschlagen, der Rest mit neuen Wohn- und Geschäftshäusern bebaut. Getauft wird der 1947 fertiggestellte und knapp vier Hektar große Park zunächst auf den Namen İnönü-Gezi-Park (Gezi bedeutet zu Deutsch »Reise«, aber auch »Spaziergang«). Einigen Quellen zufolge werden für die Marmortreppen, die vom Taksim-Platz zum Park führen, Grabsteine des armenischen Friedhofs verwendet.

In einer Ecke wird ein Hochzeitssaal eröffnet, in einer anderen eine Vergnügungsstätte, das »Taksim Stadt-Kasino«, in denen eine neue urbane Mittelschicht essen geht und abendlichen Konzertaufführungen beiwohnt. Als Ersatz für das abgerissene Stadion wird am nördlichen Hang des Hügels ein neues gebaut: das İnönü-Stadion. Die Säkularisierung Taksims geht so weit, dass man zeitweise die einzige repräsentative Moschee in der Umgebung, die Dolmabahçe-Moschee, zu einem maritimen Museum umfunktioniert.

In der Ära Prost, den dreißiger und vierziger Jahren, leben in Beyoğlu, Pera, weiterhin viele Armenier, Griechen und Juden. »Für die Minderheiten, die die französischsprachigen Zeitungen Le Journal d’Orient und Stamboul