Mami 1869 – Kleine Mädchen – großes Leid

Mami –1869–

Kleine Mädchen – großes Leid

Miriam und Rebecca sind plötzlich Waisen

Lisa Simon

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-706-7

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot

Fassungslos legte Ilona Struve den Hörer auf. Noch weigerte sich ihr Verstand zu glauben, was der freundliche Polizeibeamte gerade gesagt hatte.

Volker Gundlach, Ilonas Verlobter, hatte nichts von dem Telefongespräch mitbekommen – zu spannend war das Golfturnier im Fernsehen. Er bickte daher auch nur flüchtig auf, als Ilona wieder ins Wohnzimmer trat.

»Ich glaube, der Australier gewinnt«, sagte er verärgert. »Dabei hätte ich dem Iren den Sieg viel mehr gegönnt.«

Erst als Ilona nicht antwortete, sondern sich stumm neben ihn setzte, wandte Volker erneut den Blick von der Mattscheibe.

»Was ist denn mit dir los?« fragte er erschrocken. »Du bist ja leichenblaß.«

Starr blickte Ilona an Volker vorbei, ohne seine Worte zu registrieren.

»Jetzt sage doch was!« Er war unsicher geworden angesichts des Gesichtsausdruckes seiner Verlobten. »Was, um Gottes willen, ist passiert?«

Ilona senkte plötzlich den Kopf. Am Zucken ihrer Schultern bemerkte Volker, daß sie weinte.

»Liebling, was ist geschehen?« Volker stellte augenblicklich den Fernseher aus und legte seinen Arm um ihre bebenden Schultern. »Willst du es mir nicht endlich sagen?«

»Sabine«, schluchzte sie hemmungslos. »Es ist etwas mit ihr passiert.«

»Was ist mit deiner Schwester passiert?« bohrte er leicht ungeduldig weiter.

»Sie hatten einen schweren Verkehrsunfall«, kam es unter Schluchzen zurück. »Sie und mein Schwager Uwe hatten auf regennasser Straße einen Unfall – es war nicht ihre Schuld, hat der Polizeibeamte gesagt.«

»Du meine Güte«, erwiderte Volker ergriffen. »In welchem Krankenhaus liegen die beiden?«

Ilona schüttelte kraftlos den Kopf. »Sie sind in keinem Krankenhaus…«

»Soll das heißen, daß…?«

»Ja, sie haben das schreckliche Unglück beide nicht überlebt.«

Volker starrte Ilona ungläubig an. Er wußte, wie sehr sie an ihrer um drei Jahre älteren Schwester gehangen hatte und was der Verlust für seine lebenslustige Verlobte bedeutete.

Hilflos hob er die Arme, ließ sie jedoch gleich wieder sinken. Wie sollte er Ilona trösten? Schließlich räusperte er sich.

»Wann… ist es denn passiert?«

»Vor ungefähr zwei Stunden. Die Polizei brauchte eine Weile bis sie mich als einzige nähere Verwandte in der Nähe ausfindig gemacht hatte.«

»Ist Uwes Bruder Jörg auch schon benachrichtigt worden?«

Ilona nickte. »Er sollte gleich nach mir angerufen werden. Oh Gott, warum mußte es ausgerechnet ihnen passieren? Sie waren doch noch so jung und hatten so viel vor.« Ruckartig hob sie den Kopf. »Und was wird jetzt aus den Kindern?«

»Sie werden wohl in ein Waisenhaus kommen, fürchte ich«, gab er langsam zurück. Er mochte die fünfjährige Miriam und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Rebecca nicht sonderlich; für seinen Geschmack waren sie zu laut und überhaupt nicht erzogen.

»Das kann ich nicht zulassen!« rief Ilona in diesem Moment, und sie wischte sich mit einer heftigen Geste die Tränen von den Wangen.

»Was kannst du nicht zulassen?« fragte Volker zurück, obwohl er eigentlich schon ahnte, was kommen würde.

»Miriam und Rebecca dürfen nicht ins Waisenhaus gebracht werden, dafür sorge ich.«

Volker legte seinen Arm um ihre Schultern. »Jetzt beruhige dich erst einmal. Ich bringe dir einen Kognac, und dann reden wir in Ruhe darüber – immerhin geht es um unsere Zukunft.«

»Ich verstehe nicht«, gab sie tonlos zurück, »du kannst doch nicht erwarten, daß meine Nichten abgeschoben werden, wo sie eine Tante haben, die sich um sie kümmern möchte.«

»Ilona, sei doch vernünftig. Wie willst du dich bei deinem Job um zwei quirlige Mädchen kümmern?«

»Ich kann meinen Job aufgeben«, sagte sie mit fester Stimme.

Volker hielt ihr das gefüllte Kognacglas hin. »Das meinst du sicherlich nicht so. Du hast nicht so hart dafür gearbeitet, eine erfolgreiche Grafikerin zu werden, um jetzt all deine Pläne über den Haufen zu werfen.«

»Ich kann auch später noch Karriere machen«, erwiderte sie. »Das Wohl der Kinder geht jetzt vor. Du weißt, wie sehr mich Miriam und Rebecca mögen, ihnen ist es bestimmt auch lieber, bei mir statt im Waisenhaus zu leben.«

Volker schüttelte den Kopf. Für ihn als Geschäftsmann war es unbegreiflich, daß es für jemanden etwas Wichtigeres gab als die berufliche Karriere. »Du weißt doch selbst, wie schnellebig heutzutage alles ist. In ein paar Jahren kennt dich niemand mehr, und ich glaube nicht, daß du dann noch einmal ganz von vorne anfangen möchtest. Außerdem denke ich, daß deine Nichten viel besser bei Jörg aufgehoben sind, immerhin ist er Uwes Bruder. Er hat eine reizende Frau und einen gutgehenden Tischlereibetrieb. Sicher wird er die Kinder mit Kußhand zu sich nehmen.«

Ilona blickte grübelnd in ihr Kognacglas, aus dem sie noch keinen einzigen Schluck getrunken hatte. »Ja, bestimmt wird Jörg die Mädchen zu sich nehmen, zumal seine eigene Ehe bisher kinderlos geblieben ist.«

»Na, siehst du!« rief Volker erleichtert und goß sich bereits den zweiten Kognac ein. »Wo sind die Mädchen eigentlich im Moment?«

»Bei einer Nachbarin. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes bringt ihnen gerade schonend bei, daß ihre Eltern nie wieder zurückkehren werden.« Wieder schossen Ilona Tränen in die Augen; diesmal wischte sie sie nicht ab, sondern ließ sie achtlos über die Wangen rollen. »Morgen sollen sie bereits ins Waisenhaus gebracht werden – aber das kommt nicht in Frage. Solange, bis geklärt ist, ob Jörg sich in Zukunft um sie kümmert, werden Rebecca und Miriam bei mir leben.«

»Natürlich, Liebling.« Volker hauchte einen Kuß auf Ilonas dunkles Haar. Er war erleichtert, daß er ihr die Idee hatte ausreden können, die nächsten Jahre für die Mädchen zu sorgen.

Als das Telefon erneut mitten in die Stille läutete, eilte Ilona mit schnellen Schritten zum Apparat. Es war Jörg, der gerade das Unfaßbare gehört hatte.

Volker lehnte sich zurück. Er konnte trotz der angelehnten Tür hören, wie Ilona über die Zukunft der Kinder sprach. Und wie es schien, war Uwes Bruder durchaus einverstanden, die Mädchen zu sich zu nehmen.

Als Ilona das Gespräch beendet hatten, sah ihr Volker erwartungsvoll entgegen. »Nun, wie hat Jörg das Ganze aufgenommen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist genauso schockiert wie ich, kann noch immer nicht glauben, was passiert ist. Er kommt morgen aus Nürnberg und wird bis nach der Beerdigung bleiben. Susanne kann ihn allerdings nicht begleiten, wegen ihrer Arbeit als Chefsekretärin bekomme sie nicht von heute auf morgen frei.«

»Klar. Wie hat sich Jörg übrigens zu der Zukunft der Mädchen geäußert?« Dieses Thema interessierte Volker am meisten.

»Er schlug es mir sogar von sich aus vor«, gab Ilona zurück. »Allerdings müßte er sich erst einmal in Ruhe mit seiner Frau darüber unterhalten, immerhin geht sie in ihrem Beruf auf und könnte ihn dann nur noch stundenweise ausüben.«

»Es wird alles wieder gut werden«, sagte Volker und streichelte Ilonas Hand. »Und für die nächsten Wochen läßt du dir Urlaub geben, damit alles geregelt werden kann.«

»Ja, es gibt so viel zu tun.« Ilona fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch das Haar. »Ob Miriam und Rebecca inzwischen wissen, was mit ihren Eltern geschehen ist? Bestimmt können sie heute nacht nicht schlafen und werden nur weinen – und ich bin nicht da, um sie zu trösten. Der Polizeibeamte meinte, es wäre besser, wenn ich mich erst morgen um die Kinder kümmern würde.«

»Du willst sie tatsächlich vorübergehend hier unterbringen?« fragte Volker skeptisch. »Deine Wohnung ist doch viel zu klein.«

»Unsinn, im Arbeitszimmer steht ein Bett, und ein Klappbett habe ich noch im Keller stehen. Fürs erste wird es genügen.«

»Aber dein Computer steht doch auch dort. Wie willst du abends arbeiten, wenn die Mädchen schlafen?«

Ilona seufzte. »Das wird sich finden. Volker, ich bin todmüde und würde gerne schlafen – obwohl ich weiß, daß ich nicht schlafen kann.«

»Dann nimm eine Schlaftablette. Es wird dir helfen, ein paar Stunden tief zu schlafen.«

Sie nickte ergeben. Wenn sie doch die Zeit für ein paar Stunden zurückdrehen und damit das Unglück rückgängig machen könnte…

*

Ängstlich klammerten sich die beiden blonden Mädchen aneinander, als Ilona das altmodisch eingerichtete Wohnzimmer von Frau Mertens betrat. Die rundliche Nachbarin von Sabine und Uwe erzählte mit Tränen in den Augen: »Sie können noch immer nicht begreifen, daß ihre Mama und ihr Papa nicht zurückkommen werden. Die Mädchen denken bei jedem Klingeln an der Tür, ihre Eltern holen sie wieder ab.«

Ilona kämpfte mit den Tränen und setzte ein Lächeln auf, als sie zu Rebecca und Miriam trat. »Kommt doch einmal her zu mir, ihr beiden Süßen.«

Zögernd lösten sich die Kinder voneinander und kamen langsam näher.

»Tante Ilona«, sagte Miriam mit ihrem feinen Stimmchen, »es stimmt doch nicht, was uns gestern die fremde Frau gesagt hat, nicht wahr? Sie wollte uns nur Angst machen.«

Ilona bückte sich und drückte die Kleine liebevoll an sich.

Mit dem anderen Arm umfing sie die kleine Rebecca. »Ich fürchte, diese Frau hat die Wahrheit gesagt.«

»Wo sind Mama und Papa jetzt, Tante Ilona?« fragte Rebecca kaum hörbar.

Ilona schluckte hart. »Sie sind im Himmel, mein Schätzchen.«

»Und wann kommen sie wieder zurück zu uns?«

»Wenn man einmal dort ist…« Verzweifelt suchte Ilona nach den richtigen Worten, »… dann kann man niemals wieder zurückkommen.«

»Aber warum sind denn Mama und Papa dorthin gegangen, wenn sie nicht mehr zu uns können?« Der Kleinen rollten dicke Tränen über die rosigen Bäckchen, und sie sah ihre Tante hilfesuchend an. »Ich glaube nicht, daß Mama und Papa irgendwo hingegangen sind, ohne uns mitzunehmen.«

»Paßt mal auf, ihr beiden.« Ilona gab ihrer Stimme einen hoffnungsvollen Klang. »Wir packen jetzt ein paar Sachen für euch zusammen, und dann kommt ihr mit zu mir.«

»Und wie lange?« fragte Miriam mit traurigem Gesichtchen.

Eine Moment überlegte Ilona. »Das werden wir sehen.«

An der Wohnungstür sagte Frau Mertens mit unterdrücktem Schluchzen zu Ilona: »Die Mädchen sind noch so klein und hilflos. Bitte geben Sie gut auf sie acht.«

»Das werde ich, Frau Mertens«, versprach sie und erwiderte den Händedruck der anderen. »Das werden ich ganz gewiß.«

*

Die Beerdigung, die Auflösung der Wohnung und den Schreibkram mit den Behörden nahm Ilona nur wie durch einen dichten Schleier wahr.

Jörg nahm seiner Schwägerin soviel wie möglich von den Belastungen ab, doch er konnte nur ein paar Tage in Kiel bleiben. Er war froh, daß Miriam und Rebecca fürs erste bei Ilona untergekommen waren, denn noch hatte er nicht mit seiner Frau Susanne über die Kinder gesprochen.

Noch immer waren die Mädchen verstört, lachten kaum, aßen und schliefen schlecht. Wenn Volker da war, wurden sie noch stiller und zogen sich in das kleine Gästezimmer zurück. Sie spürten, daß Volker sie ablehnte, und mochten ihn aus diesem Grund auch nicht besonders.

Drei Wochen nach dem Unfall sagte Ilona eines Abends, als die Kinder schliefen: »Das Zimmer ist für zwei Betten viel zu klein, die Mädchen können sich kaum dort rühren. Ich werde mir morgen mal ein paar Etagenbetten in den Möbelhäusern ansehen.«

Volker horchte überrascht auf. »Warum diese unnötige Geldausgabe? In ein paar Wochen sind die Kinder längst in Nürnberg bei Jörg.«

»Das kann sich noch etwas hinziehen, wie mir das Jugendamt bestätigte. Jörg erkärte mir erst gestern am Telefon, daß sich Susanne noch immer nicht entschlossen hat, sich beruflich einzuschränken.«