Meine Schuld 10 – Was Frauen berichten: Schonungslos - Indiskret

Meine Schuld –10–

Was Frauen berichten: Schonungslos - Indiskret

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Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-715-9

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Geschichte 1

Familiendrama

Roman von Maria S. (62)

»Als es ums Erbe ging, wurden sie zu Aasgeiern.«

Meine Nichte Irma und ich hatten uns all die Jahre um meine kranke Schwester gekümmert. Die beiden anderen Kinder hatten ihre Mutter offenbar vergessen. Doch als es ums Erbe ging, waren sie plötzlich zur Stelle.

Frau Maria und Irma Schröder?«, fragte die Schwester, die eben den Kopf aus der Tür zur Intensivstation gesteckt hatte.

Wir nickten wortlos, standen auf und folgten ihr in den Vorraum, um die grünen Kittel anzuziehen.

»Es ist gut so«, sagte ich und drückte die Hand meiner Nichte. »Sie hat so viel gelitten.«

Tapfer nickte Irma. Für ihre einunddreißig Jahre hatte sie viel geleistet. In den letzten Jahren hatte die Pflege ihrer Mutter allein auf ihren und meinen Schultern gelastet.

»Kommen die anderen Kinder noch?«, fragte die Schwester leise.

»Ich denke nicht«, antwortete ich ebenso leise.

»Die sind seit zehn Jahren nicht mehr aufgetaucht.« Irmas Stimme klang erschreckend tonlos. »Die werden auch jetzt nicht auftauchen.«

Ein Pfleger führte uns zum Bett meiner Schwester und zog sich verständnisvoll zurück. Irma und ich wechselten uns ab in dieser Nacht. In den frühen Morgenstunden, als Irma mich gerade ablösen wollte, war es so weit.

Meine Schwester wurde nur noch ein Mal kurz wach und flüsterte: »Ihr müsst mir versprechen, dass ihr mein Testament respektiert.«

Ich wusste nichts von einem Testament. Doch ich war mir sicher, dass wir es finden würden. Meine Schwester war immer sehr ordentlich gewesen.

»Das werden wir, versprochen«, hatte ich gesagt und ihre Hand liebevoll gedrückt.

Kurz danach hörte sie auf zu atmen und schlief ruhig ein. Irma stand auf der anderen Seite des Bettes und hatte immer noch den gleichen starken Ausdruck im Gesicht, wie ich ihn schon seit Tagen sah. Seit wir alle drei wussten, dass es keine Rettung mehr gab und das schreckliche Leiden bald ein Ende haben würde, hatte sie beschlossen, für ihre Mutter stark zu bleiben.

*

Wir saßen noch eine Weile an ihrem Bett, dann nahmen wir Abschied und verließen das Zimmer. Im Auto begann Irma zu weinen. Wir sprachen nicht. Ich fuhr zu meiner Wohnung. Auf meinem Balkon saßen wir in Decken eingewickelt und betrachteten schweigend den Sonnenaufgang. Ich hatte den Arm um meine Nichte gelegt.

»Wir müssen immer daran denken: Für sie war es eine Erlösung«, sagte ich leise.

Irma nickte. »Schwer ist es trotzdem. Ich hätte ihr noch ein paar Jahre gegönnt. Fünfundsechzig waren zu wenig.«

Ich dachte das Gleiche. Doch ich sagte nichts dazu. Gegen eine so schwere Krankheit ist niemand gefeit.

»Geh ein bisschen schlafen. Ich kümmere mich um alles.« Es war Vormittag, und ich wollte sie nach Hause schicken.

Doch sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte, dass wir das zusammen machen.«

Ich meldete mich an meinem Arbeitsplatz im Amtsgericht ab. Heute würde jemand anders die Protokolle der Verhandlungen tippen müssen. Heute mussten Irma und ich zum Beerdigungsinstitut.

»Selbstverständlich«, hatte Richter Sebastian gesagt, den ich schon seit seiner Kindheit kannte und deshalb immer noch duzte.

Auch Irma gab in ihrem Büro bei der Versicherung Bescheid, dass sie an diesem Tag nicht kommen konnte. Dann machten wir uns auf den Weg zum Bestatter.

*

Als wir zurückkamen, legten wir gerade die Jacken ab, als es klingelte. Meine Freundin Helene stand in der Tür. Schlagartig fiel mir unsere Verabredung ein.

»O je!«, rief ich. »Es tut mir leid, das habe ich völlig vergessen, weil…«

Helene sah Irmas und mein Gesicht. Wir kannten uns seit unserer Schulzeit, seit über fünfzig Jahren nun. Sie wusste, wie es um meine Schwester gestanden hatte, und begriff sofort.

»Mein Beileid.« Sie drückte uns beiden die Hand und nahm uns nacheinander in den Arm.

»Das ist erst recht ein Grund, hier zu sein. Ihr braucht jetzt Ablenkung. Ich mach mal Kaffee«, sprach sie und nahm sofort das Zepter in die Hand.

So war sie schon immer gewesen. Wenn es eine Krise gab, so packte sie mit an. Irma und ich wehrten uns nicht gegen ihre resolute Art. Wir ließen uns zum Esstisch schieben und besprachen leise die Wahl des Sargs und der Traueranzeige. In dieser Zeit taute Helene eine eingefrorene Torte im Mikrowellenherd auf und brühte Kaffee auf.

Wenige Minuten später hatten Irma und ich uns vom Tatendrang meiner Freundin anstecken lassen. Wir erhoben uns und deckten den Tisch für uns drei.

»Genau!«, kommentierte Helene. »Elisabeth hätte nicht gewollt, dass ihr euch hier hängen lasst. Ihr dürft jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken. Für sie war es eine Erlösung«, betonte sie noch einmal. »Und ihr müsst jetzt tun, was für sie wichtig gewesen wäre.«

»Alles regeln, so wie sie es sich gewünscht hatte«, pflichtete ich ihr schweren Herzens bei.

Irma schluckte, nickte aber tapfer. Plötzlich fiel mir das Testament ein, von dem Elisabeth auf dem Sterbebett gesprochen hatte.

»Weißt du etwas davon?«, fragte ich meine Nichte.

Sie schüttelte den Kopf.

»Mal etwas anderes«, sprach Helene jetzt, »habt ihr Andrea und Steffen schon informiert?«

»Ich habe sie vorgestern angerufen und ihnen gesagt, wie es um unsere Mutter steht«, sagte Irma.

»Es ist aber keiner von beiden gekommen.« Dieses Thema wollte ich sofort beenden.

»Soll ich das Informieren übernehmen?«, bot Helene trotzdem an.

»Ja, gern«, antwortete Irma erleichtert. »Lasst uns jetzt in den Ordnern nach dem Testament sehen. Alles ist besser, als hier zu sitzen und nichts zu tun.«

»Stopp«, bremste uns Helene. »Nicht, bevor mindestens ein Stück Kuchen gegessen ist!«

Erst jetzt wurde uns beiden bewusst, dass wir den ganzen Tag nichts gegessen hatten.

*

Wir setzten uns wieder und aßen. Danach aber machten wir uns gleich an die Arbeit. Meine Freundin räumte die Küche auf, während Irma und ich die Ordner durchsahen.

Als wir die Deckel unverrichteter Dinge wieder zuklappen mussten, hörten wir Helene telefonieren. Sie hatte offenbar die beiden Kinder aus der zweiten Ehe meiner Schwester in der Leitung.

»Sehen Sie, das geht mich alles gar nichts an«, sagte sie klar und deutlich. »Meine Aufgabe war es lediglich, Sie über den Tod Ihrer Mutter zu informieren. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«

Dann beendete sie das Gespräch und stellte das Telefon ungewöhnlich heftig auf die Ladestation zurück. Fragend sah ich sie an.

»Was war das denn?«

»Du wirst es nicht glauben, aber die haben sich aufgeregt. Ihnen hätte niemand etwas gesagt, und sie hätten damit nichts zu tun. Außerdem wären sie für die Beerdigungskosten nicht zuständig.«

Irma schnaubte verächtlich und zog ihr Handy hervor. Sie zeigte uns die Verbindungsliste und Nachrichten, die sie an ihre Halbgeschwister geschrieben hatte.

»Ach ja? Nicht informiert? Ich habe vier Mal auf den Anrufbeantworter gesprochen und mehrere SMS geschickt, bis ich überhaupt eine Antwort bekommen habe«, erklärte sie wütend.

Wir schüttelten den Kopf.

»Wie kann man nur so sein?«, sagte Helene verwundert. »Sie war doch immerhin ihre Mutter!«

»Das hat die doch schon seit zehn Jahren nicht mehr interessiert!«, entgegnete Irma wütend.

Mein Blick fiel wieder auf die Unterlagen vom Bestatter. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter und zeigte auf den Tisch. »Wir müssen uns darum kümmern. Deine Mama hätte es so gewollt.«

Wir erledigten die Formalitäten und bestellten Blumen.

Bei der Beerdigung sah ich zum ersten Mal seit Jahren Andrea und Steffen wieder. Sie sahen uns nicht einmal an. Nach der Beerdigung saßen Helene, Irma und ich in einem kleinen Bistro noch eine Weile zusammen. Plötzlich stand Andrea wie aus dem Boden gewachsen neben unserem Tisch.

»Schön, dass ihr es euch auf unsere Kosten gut gehen lasst!« Ihre Stimme klirrte kalt durch die Luft. »Ich gehe davon aus, dass ich in den nächsten Tagen eine passende Überweisung auf meinem Konto habe. Das Gleiche gilt natürlich für Steffen.«

Damit warf sie verächtlich zwei Kärtchen mit Bankverbindungen auf unseren Tisch.

»Wie bitte?«, fragte ich fassungslos.

»Du brauchst gar nicht so begriffsstutzig zu tun, Tante Maria. Wir wissen, dass Mama nicht gerade wenig Geld hatte. Und wir kennen die Erbfolge.«

Ruckartig drehte sie sich herum und schritt hart mit den Absätzen klappernd durch die Tür nach draußen. Dort ging sie zu ihrem Bruder, der gewartet hatte. Beide drehten uns den Rücken zu und verschwanden aus unserer Sichtweite.

»Das ist doch wohl die Höhe!«, rief meine Freundin verärgert aus.

»Nein«, hörte ich Irma traurig, »Das sind meine ach so lieben Halbgeschwister. Eigentlich möchte ich mit denen nicht einmal halb verwandt sein.«

»Das kann ich verstehen«, pflichtete Helene ihr bei. »Deine Mutter hätte nach dem Tod deines Vaters und deiner Schwester nie mehr heiraten sollen!«

Sofort biss sie sich auf die Lippen. Irmas Vater war bei einer Explosion in der Chemiefabrik, in der er gearbeitet hatte, ums Leben gekommen. Ihre drei Jahre ältere Schwester war einem Autounfall zum Opfer gefallen, als sie dreiunddreißig war.

»Schon okay«, sagte Irma leise. »Jetzt bin ich eben allein auf der Welt. Und komme auch allein gegen diese Biester an.«

»Du bist nicht allein. Mich gibt es schließlich auch noch!«, widersprach ich.

»Und mich auch!«, fiel auch Helene ein. »Und was die beiden angeht, lassen wir dich auf keinen Fall allein!«

»Und nachher sehen wir noch einmal nach dem Testament«, sagte ich mit fester Stimme. »Ich will auf jeden Fall, dass Elisabeths letzter Wille respektiert wird. Ich habe es ihr auf dem Sterbebett versprochen.«

Irma und ich suchten und suchten. Aber wir fanden nichts. Nur ordentlich abgeheftete Rechnungen, Verträge und Garantiebelege. Endlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn.

»Dass ich daran nicht früher gedacht habe!«, rief ich.

»Woran?«, wunderte sich Irma über meinen plötzlichen Ausbruch.

»An das Amtsgericht! Man kann Testamente beim Amtsgericht hinterlegen!«, erklärte ich meiner Nichte.

»Darauf wäre ich jetzt aber auch nicht gekommen«, gab sie zu.

»Aber ich arbeite dort! Ich bin zwar nur Sekretärin, aber ich hätte schon mal ein bisschen früher darauf kommen können!«

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Als ich mich in mein Auto setzen wollte, fand

ich einen Zettel hinter dem Scheibenwischer festgeklemmt. Ich nahm ihn mit ins Auto und überflog ihn dort. Mir klappte die Kinnlade runter.

»Was ist los? Etwas Wichtiges?«, wollte Irma wissen.

»Wie man’s nimmt!«, sagte ich. »Andrea und Steffen erinnern an die Überweisung. Sie drohen mit einem Anwalt, wenn ihr Erbteil nicht binnen drei Tagen bei ihnen auf dem Konto ankommt.«

Entgeistert zog meine Nichte mir den Zettel aus der Hand und las selbst. Kurz entschlossen zerknüllte sie ihn, stieg aus und steckte ihn in den öffentlichen Mülleimer neben meinem Auto. Dann setzte sie sich wieder neben mich.

»Die werden schon abwarten müssen, bis wir wissen, was Mamas Wille war«, grollte sie.

»Das sehe ich genauso«, stimmte ich ihr zu und fuhr los.

Bei meinen Kollegen beim Amtsgericht wurden wir tatsächlich fündig. »Die Testamentseröffnung können Sie heute beantragen. Wir informieren Sie dann, wann es eröffnet wird«, erklärte uns der Rechtspfleger.

»Meine Halbgeschwister stellen aber jetzt schon Forderungen. Was muss ich denn da jetzt machen?«, wollte Irma wissen.

»Vor der Eröffnung des Testaments gibt es keine Möglichkeit, überhaupt irgendetwas zu machen.«

*

Zwei Tage später begann für Irma und mich der Alltag wieder. In den ersten beiden Tagen tat ich mich schwer. Ich hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, und tippte sechs Fehler in ein Protokoll von lächerlichen zwei Seiten. Am dritten Tag fand ich auf dem Weg zur Arbeit tatsächlich einen Umschlag vom Anwalt in meinem Briefkasten. Ich riss ihn auf und las, noch bevor ich losfuhr. Sie wollten Irma und mich tatsächlich auf den Pflichtteil verklagen.

»Es ist unzulässig, den Kindern den Pflichtteil des Erbes vorzuenthalten«, las ich.

Mir wurde übel. Ich steckte den Brief in die Tasche und fuhr zur Arbeit.

»Frau Schröder, ist alles in Ordnung?« Sebastian stand zwischen zwei Verhandlungen mit dem Unterschriftenordner vor mir.

»So weit schon.« Ich wunderte mich über seinen Besuch. »Stimmt etwas nicht mit den Protokollen?«

»Ich habe ein paar Markierungen reingeschrieben. Bitte gucken Sie doch noch einmal drüber«, bat er freundlich.

Als ich die Seiten noch einmal durchsah, stellte ich fest, dass in all meinen Protokollen grobe Fehler waren. Obwohl niemand zusah, wurde ich hochrot. Das war ja unglaublich peinlich! So etwas war mir noch nie passiert! Um den Schaden wiedergutzumachen, hängte ich zwei Überstunden an meine normale Arbeitszeit dran. Die Mappe mit den korrigierten Protokollen brachte ich persönlich ins Richterzimmer. Sebastian, den ich schon als Nachbarskind gekannt hatte, war auch noch bei der Arbeit.

»Danke«, sagte er, freundlich lächelnd. »Aber wollen Sie mir nicht doch sagen, was Sie so sehr in Aufregung versetzt, dass Ihre Konzentration so nachlässt?«

Müde sah ich ihn an. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Junge, der früher vor meiner Haustür Fußball gespielt hatte, unglaublich ernst und erwachsen geworden war. Ich erzählte ihm von dem Problem mit den gierigen Kindern meiner Schwester.

»Das ist leider oft so«, seufzte er. »Und leider hat der Anwalt der beiden fast recht. Es gibt kaum eine Möglichkeit, den beiden den Pflichtteil vorzuenthalten. Nur bei groben Verfehlungen oder grobem Undank wäre das möglich. Von welchen Werten reden wir eigentlich?«

»Meine Schwester hatte für das Alter vorgesorgt und immer für eine Eigentumswohnung gespart. Es müssten schon etwa dreißigtausend Euro sein. Wie sie das angelegt hat, weiß ich nicht genau. Ich hatte nicht mehr nachgesehen, weil das vor der Testamentseröffnung doch sowieso nicht wichtig ist.«

»Stimmt schon, aber wenn die beiden so giftig sind, sollten Sie sich vielleicht doch einen Überblick verschaffen. Und schreiben Sie dem Anwalt, dass noch nicht einmal das Datum der Testamentseröffnung feststeht. Dann wird er Sie bis dahin wenigstens in Ruhe lassen«, empfahl er.

Einen Augenblick sah ich ihn an. Er hatte das gleiche Lächeln wie als Kind. Doch er war jetzt Richter, ein Mann, der mir einen Rat gab, obwohl ihn diese Dinge gar nichts angingen.

Ich überlegte noch einen Moment, dann fragte ich ihn:

»Bist du nicht langsam zu alt dafür, um von der alten Nachbarin noch geduzt zu werden?«

»Mit knapp über vierzig ist man nicht alt. Aber an dem Tag, ab dem Sie mich siezen, Frau Schröder, werde ich um Jahre altern«, lächelte er. »Bitte nennen Sie mich weiter Sebastian. Das hält mich jung.«

Lächelnd verließ ich sein Büro. »Dann auf Wiedersehen, Sebastian.«

*

Später am Abend traf ich mich mit Helene und Irma in der Stadt. Wir wollten gemeinsam ins Kino gehen. »Ihr müsst auf andere Gedanken kommen!«, hatte Helene gemeint.

Doch als ich mich dem Kino näherte, sah ich an Irmas Gesicht sofort: Sie hatte den Brief auch bekommen. Helene stieß auch gerade zu uns. So berichtete ich beiden, was der Richter mir geraten hatte.

»Und was wäre grober Undank oder eine grobe Verfehlung?«, erkundigte sich Helene.

»Das ist eine gute Frage.« Ich hob ahnungslos die Schultern.

»Ich hab’s im Internet nachgesehen«, seufzte Irma. »Bedrohungen, Diebstahl oder körperliche Gewalt. So etwas fällt unter groben Undank oder grobe Verfehlungen.«

»Ach, du lieber Himmel!«, rief Helene. »So etwas ist aber hoffentlich nicht passiert, oder?«

»Eben. Andrea ist zwar geldgierig, und Steffen wird vermutlich immer noch irgendeiner Freundin arbeitslos auf der Tasche liegen. Aber von Gewalt weiß ich nichts.«

Die Lust auf Kino war uns vergangen. Stattdessen setzten wir uns in ein Café und beratschlagten, was zu tun sei. Ich berichtete von Sebastians Rat.

»Ich denke, das werde ich genauso machen. Dann haben wir wenigstens bis zur Testamentseröffnung Ruhe«, beschloss meine Nichte.

Die hatten wir nicht ganz. Der Anwalt meldete sich nicht mehr. Aber Andrea und Steffen hatten mich noch einmal nach der Arbeit vor meiner Wohnung abgefangen. Beide forderten vorab fünftausend Euro.

»Das Geld steht uns zu!«, kreischte Andrea hysterisch, als ich sie auf die Testamentseröffnung hinwies.

Steffen stellte sich mir offen in den Weg. »Du rückst die Kohle raus, sonst kannst du was erleben!«, drohte er mir.

Ich sah ihn an. »Keinen Finger habt ihr gerührt, um eurer Mutter zu helfen, als sie euch brauchte. Und jetzt steht ihr vor mir wie die Aasgeier. Schämt ihr euch nicht?«, kanzelte ich ihn ab und ging im Bogen an ihm vorbei ins Haus.

»Ich will nur, was mir zusteht«, brüllte er mir noch durch die zufallende Tür nach.

Ich drückte die Tür sicherheitshalber noch einmal hinter mir ins Schloss. Diese beiden wollte ich auf keinen Fall im Haus haben. Und ich war mir sicher, dass auch kein Nachbar darauf Wert legte.

*

Endlich stand der Tag der Testamentseröffnung fest. Ein Kollege brachte mir die Notiz des Rechtspflegers aus der Nachlassstelle. »Da wir Kollegen sind, würde ich das Testament gern im persönlichen Rahmen übergeben«, las ich halblaut.

Darunter fand ich Datum und Uhrzeit des Treffens im Büro des Nachlasspflegers. Am Schluss stand: »Die Kinder Ihrer Schwester habe ich selbstverständlich ebenfalls informiert. Mit herzlichen, kollegialen Grüßen.«

Entsetzt schlug ich die Hand vor den Mund.

»Der Mann hat es bestimmt gut gemeint. Aber was das wird, wenn Andrea und Steffen auch da sind?«, teilte ich meine Befürchtungen meiner Nichte am Telefon mit.

»Mach dir nicht so viele Sorgen«, beruhigte mich Irma. »Ich bin ja schließlich auch noch da. Und es ist ein Gerichtsgebäude, in dem wir uns treffen. Ich denke, da werden die beiden sich ein bisschen zusammenreißen.«

Das hoffte ich inständig. Wie stünde ich denn sonst vor meinen Kollegen da?

*

Am Tag der Eröffnung holte ich Irma am Haupteingang ab. Wir betraten gemeinsam das Büro des Rechtspflegers. Andrea und Steffen saßen bereits unruhig auf ihren Stühlen.

»Meine Damen und Herren, ich möchte nochmals mein Beileid ausdrücken«, begann der Rechtspfleger, den Akt korrekt abzuwickeln, bis er uns die Unterlagen reichte.

In diesem Moment betrat Richter Sebastian den Raum. Er nickte mir freundlich zu und nahm neben dem Rechtspfleger Platz. Ich las gleichzeitig mit Irma und den anderen das Dokument. Elisabeth hatte es erst ein halbes Jahr vor ihrem Tod verfasst.

»Liebe Irma, liebe Maria, Ihr werdet Euch vielleicht wundern, dass Ihr das Testament erst auf diesem Wege erhaltet. Es ging nicht anders, da ich mit allem rechnen musste. Andrea und Steffen sind vor Jahren in meine Wohnung eingebrochen und haben das Geld gestohlen, das ich für eine Eigentumswohnung im Alter zurückgelegt hatte. Sie sind von dem Geld nach Spanien gereist und haben es sinnlos verprasst, wie ich später erfahren habe. Die Kripo konnte sie anhand der Spuren identifizieren. Ich habe damals meine Anzeige zurückgezogen. Zu tief saß die Scham über das, was mein eigen Fleisch und Blut mir angetan hatte. Aus diesem Grunde verweigere ich den beiden den Pflichtteil ihres Erbes. Ich setze zu meinen Erben zu gleichen Teilen die Personen ein, die in der schweren Zeit für mich da waren: Maria und Irma Schröder.

Bis zum letzten Jahr hatte ich wieder gespart. In einem Bankschließfach bei meiner Bank findet ihr die Beweise für den Einbruchdiebstahl und etwa fünfzigtausend Euro. Macht etwas Sinnvolles damit. Ich wünsche Euch alles erdenklich Gute auf Eurem Lebensweg und danke Euch nochmals dafür, dass ihr an meiner Seite wart. Meinen Kindern Andrea und Steffen wünsche ich, dass sie irgendwann den Weg in ein geradliniges Leben finden. In Liebe, Elisabeth.«

»Das fechte ich an!.« Steffen sprang auf.

Richter Sebastian erhob sich nun und räusperte sich. »So etwas hatte ich mir gedacht. Deshalb habe ich mir erlaubt, als Zeuge hier zugegen zu sein. Der nachgewiesene Einbruchdiebstahl ist ein ausreichender Grund für die Verweigerung des Pflichtteils. Ich wünsche den Damen und Herren noch einen angenehmen Tag.«

Sprachlos sank Steffen auf den Stuhl neben seiner ebenfalls verstummten Schwester. Sebastian zwinkerte mir mit einem Auge zu und verließ das Büro.

Irma und ich haben uns das Geld geteilt und für unsere Altersvorsorge verwendet. Wir sind uns sicher: Elisabeth hätte es so gewollt.

– ENDE –

Geschichte 2

Mysteriöse Geschichten

Roman von Michaela J. (37)

»Ist ein Geist der Vater unseres Kindes?«

Irgendwie würden wir das halbe Jahr der Trennung schon überstehen. Dominik musste beruflich für sechs Monate nach Ankara, ich wollte meinen Job in Deutschland keinesfalls aufgeben. Als er fort war, hatte ich seltsame Träume.

Wenn du dauernd unter Stress stehst, ist es kein Wunder, dass du nicht schwanger wirst«, sagte meine Kollegin Petra. Eine Stunde später bat sie mich, ihre Unterlagen fertig zu machen, weil sie ihren kleinen Sohn vom Kindergarten abholen musste.

Ich stöhnte und nickte dann hilflos. Ich würde also wieder Überstunden machen, und Dominik würde sich darüber aufregen. Mein Mann mochte es nicht, wenn er Abend für Abend allein zu Hause saß. Ich kam immer sehr spät heim und brachte oft auch noch Arbeit mit, die ich nach Feierabend erledigen musste.

»So geht das nicht weiter!«, schimpfte er, als ich an jenem Abend müde nach Hause kam. »Mir reicht es! Entweder du nimmst dir Zeit für uns, oder ich gehe.«

Kleinlaut entschuldigte ich mich und nahm mir vor, in Zukunft pünktlich Schluss zu machen.

*

In der folgenden Nacht passierte es zum ersten Mal. Ich hörte Geräusche aus dem Wohnzimmer. Irgendjemand schlich durch unsere Wohnung. Aufgeregt weckte ich Dominik.

»Da ist jemand im Wohnzimmer«, flüsterte ich.

»Unsinn!«, erwiderte er.

Doch dann schien er es auch zu hören. Er stand auf und sah nach. Ängstlich wartete ich.