In zahllosen Zuschriften ist Hermann Hesse mit den Schicksalen der unterschiedlichsten Zeitgenossen konfrontiert worden. In seinen Werken, mit denen er seine eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Krisen darzustellen und zu meistern versuchte, haben sie sich wiedererkannt und dem Verfasser so sehr vertraut, dass sie ihm schrieben und Rat in schwierigen Lebenslagen erhofften.

Dieser Band versammelt – sowohl aus Hesses Werken als auch aus seinen Antworten auf Leserbriefe – die originellsten und hilfreichsten Winke und Ermutigungen in den Kapiteln »Wenn das Leben schwer zu tragen ist«, »Religion und Kirche«, aber auch über die Bewältigung des Verlustes von Angehörigen und Freunden.

Hermann Hesse, geboren am 2.7.1877 in Calw/Württemberg als Sohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines württembergischen Indologen, starb am 9.8.1962 in Montagnola bei Lugano. Er wurde 1946 mit dem Nobelpreis für Literatur, 1955 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im insel taschenbuch sind zuletzt erschienen: Lieben, das ist Glück. Gedanken aus seinen Werken und Briefen (it 4577) und Lagunenzauber. Aufzeichnungen aus Venedig (it 4449).

HERMANN HESSE

Ermutigungen

Gedanken aus seinen Werken und Briefen

Zusammengestellt von
Volker Michels

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4576.

© Insel Verlag Berlin 2017

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-458-75196-0

www.insel-verlag.de

Wenn das Leben schwer zu tragen ist

Auch in diesen dunklern Stunden,

Liebe Freunde, laßt mich gelten;

Ob ich’s hell, ob trüb gefunden,

Nie will ich das Leben schelten.

Sonnenschein und Ungewitter

Sind desselben Himmels Mienen;

Schicksal soll, ob süß ob bitter,

Mir als liebe Speise dienen.

Seele geht verschlungene Pfade,

Lernet ihre Sprache lesen!

Morgen preist sie schon als Gnade,

Was ihr heute Qual gewesen.

Aus dem Gedicht »An die Freunde in schwerer Zeit«, 1915

*

Der Mensch, so wie ihn Gott gedacht und wie die Dichtung und Weisheit der Völker ihn manche tausend Jahre lang verstanden hat, ist geschaffen mit einer Fähigkeit, sich zu freuen an Dingen, auch wenn sie ihm nicht nützen, mit einem Organ für das Schöne. An der Freude des Menschen am Schönen haben stets Geist und Sinne in gleichem Maße teil, und solange Menschen fähig sind, sich mitten in den Drangsalen und Gefährdungen ihres Lebens solcher Dinge zu freuen: eines Farbenspieles in der Natur oder im gemalten Bilde, eines Anrufes in den Stimmen der Stürme und des Meeres oder einer von Menschen gemachten Musik, solange ihnen hinter der Oberfläche der Interessen und Nöte die Welt als Ganzes sichtbar oder fühlbar werden kann, worin vom Kopfdrehen einer spielenden jungen Katze bis zum Variationenspiel einer Sonate, vom rührenden Blick eines Hundes bis zur Tragödie eines Dichters ein Zusammenhang, ein tausendfältiger Reichtum an Beziehungen, Entsprechungen, Analogien und Spiegelungen besteht, aus deren ewig fließender Sprache den Hörern Freude und Weisheit, Spaß und Rührung zuteil wird – solange wird der Mensch seiner Fragwürdigkeiten immer wieder Herr werden und seinem Dasein immer wieder Sinn zuschreiben können, denn der »Sinn« ist ja eben jene Einheit des Vielfältigen, oder doch jene Fähigkeit des Geistes, den Wirrwarr der Welt als Einheit und Harmonie zu ahnen.

Aus »Glück«, 1949

*

Man muß sich nur immer wieder an das Lebendige halten. Der »Geist« läßt uns oft im Stich, und selten ist er so viel wert wie das, was uns nur für ein wenig Liebe und Geduld die Natur gibt: mit einer Katze spielen, oder ein Feuer anzünden, oder den Wolken zusehen, das alles sind Quellen, an die man bloß zu klopfen braucht.

Aus einem Brief vom Februar 1923 an seine Schwester Marulla

*

Je verrückter und kränker die Gemeinschaften und die Staatsapparate sind, desto mehr müssen wir uns von den Gräsern und Blumen erfreuen und belehren lassen, die auch auf Schlachtfeldern und zwischen Trümmerhaufen verbombter Städte das Ihre tun.

Aus einem Brief vom Oktober 1951 an Ludwig Tügel

*

Trost liegt in der Einsicht, daß unser Ich nichts Festes und Dauerndes ist, und sich stets an der Einheit der Welt wieder heilen kann.

Aus einer Postkarte, 1926 an Martha Wegmann

*

Voll Blüten

Voll Blüten steht der Pfirsichbaum,

Nicht jede wird zur Frucht,

Sie schimmern hell wie Rosenschaum

Durch Blau und Wolkenflucht.

Wie Blüten gehn Gedanken auf,

Hundert an jedem Tag –

Laß blühen! Laß dem Ding den Lauf!

Frag nicht nach dem Ertrag!

Es muß auch Spiel und Unschuld sein

Und Blütenüberfluß,

Sonst wär die Welt uns viel zu klein

Und Leben kein Genuß.

1918

Ich wollte [die Menschen] lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind. Ich wollte daran erinnern, daß gleich den Liedern der Dichter und gleich den Träumen unsrer Nächte auch Ströme, Meere, ziehende Wolken und Stürme Symbole und Träger der Sehnsucht sind, welche zwischen Himmel und Erde ihre Flügel ausspannt und deren Ziel die zweifellose Gewißheit vom Bürgerrecht und von der Unsterblichkeit alles Lebenden ist.

Aus »Peter Camenzind«, 1903

*

Ob ich ein Moos, einen Kristall, eine Blume, einen goldenen Käfer bewundere oder einen Wolkenhimmel, ein Meer mit den gelassenen Riesen-Atemzügen seiner Dünungen, einen Schmetterlingsflügel mit der Ordnung seiner kristallenen Rippen, dem Schnitt und den farbigen Einfassungen seiner Ränder, der vielfältigen Schrift und Ornamentik seiner Zeichnung und den unendlichen, süßen, zauberhaft gehauchten Übergängen und Abtönungen der Farben – jedesmal wenn ich mit dem Auge oder mit einem andern Körpersinn ein Stück Natur erlebe, wenn ich von ihm angezogen und bezaubert bin und mich seinem Dasein und seiner Offenbarung für einen Augenblick öffne, dann habe ich in diesem selben Augenblick die ganze habsüchtige blinde Welt der menschlichen Notdurft vergessen, und statt zu denken oder zu befehlen, statt zu erwerben oder auszubeuten, zu bekämpfen oder zu organisieren, tue ich für diesen Augenblick nichts anderes als »erstaunen« wie Goethe, und mit diesem Erstaunen bin ich nicht nur Goethes und aller andern Dichter und Weisen Bruder geworden, nein, ich bin auch der Bruder alles dessen, was ich bestaune und als lebendige Welt erlebe: des Falters, des Käfers, der Wolke, des Flusses und Gebirges, denn ich bin auf dem Weg des Erstaunens für einen Augenblick der Welt der Trennungen entlaufen und in die Welt der Einheit eingetreten, wo ein Ding und Geschöpf zum andern sagt: »Tat twam asi«. (»Das bist Du.«)

Aus »Über Schmetterlinge«, 1935

*

Je mehr der Mensch in der Hölle lebt, desto nötiger braucht er eine Melodie, einen Vers, ein Bild, eine Erinnerung an alles, was im Moment vernichtet scheint und es doch nicht ist.

Aus einem Brief vom Februar 1939 an Alfred Kubin

*

Es gilt inmitten einer übergewaltigen Maschinerie die Natur zurückzuerobern, nach einem erschöpfenden Tagwerk die Einkehr zu ermöglichen, es gilt den Mittelpunkt der Zentrifuge zu erreichen. Hilfreiche Mächte dabei sind die Natur, die Musik, vor allem aber die eigene Schöpferkraft.

Aus einem Brief vom Dezember 1958 an einen unbekannten Leser

Zusammenhang

Aus lang verschwundener Völker Liedern her

Klingt oft ein Ton verwandt uns bis ins Herz,

Daß wir betroffen und mit halbem Schmerz

Hinüberlauschen, ob dort Heimat wär.

So auch ist unsres Herzschlags Ab und Auf

In festem Bann geknüpft ans Herz der Welt,

Das unsern Schlaf und unser Wachen hält

Im Einklang mit der Sonn’ und Sterne Lauf.

Und unsrer wildesten Wünsche trübe Flut

Und unsrer frechsten Träume Fieberbrand

Ist Geist vom Urgeist, der noch nie geruht.

So gehn wir, unsre Fackeln in der Hand,

Gezeugt, genährt von uralt heiliger Glut

Und ewig neuen Sonnen zugewandt.

1912

*

Durch die Düsterkeit der Welt und ihre teuflische Bedrohung sollen wir uns nicht einschüchtern und verbittern lassen. Ob diese Welt morgen untergehe oder nicht, ist nicht unsre Sorge noch unsre Verantwortung, wir müssen und wollen das, was uns an ihr noch erfreulich ist, und sei es nur der Himmel mit seinem zauberhaften Gewölk, so lang kosten und preisen, als wir da sind.

Aus einem Brief vom August 1959 an Hanns Meinke

Alle Tage rauscht die Fülle der Welt an uns vorüber; alle Tage blühen Blumen, strahlt das Licht, lacht die Freude. Manchmal trinken wir uns daran dankbar satt, manchmal sind wir müde und verdrießlich und mögen nichts davon wissen; aber immer umgibt uns ein Überfluß des Schönen.

Aus »Lindenblüte«, 1907

*

Der Wein als Ausgleicher, Tröster, Besänftiger und Träumespender ist ein viel vornehmerer und schönerer Gott, als seine vielen Feinde uns neuestens glauben machen möchten. Aber er ist nicht für jedermann. Ihn künstlerisch und weise zu lieben und zu genießen und seine schmeichlerische Sprache in ihrer ganzen Zartheit zu verstehen, dazu muß einer so gut wie zu anderen Künsten von Natur begabt sein.

Aus »Die Kunst des Müßiggangs«, 1904

*

Beim Wein

Zuweilen freut es mich, still und allein

In kühler Stube ruhevoll zu zechen,

Mit einem alten, liebgewordenen Wein

Ein gutes, treues Freundeswort zu sprechen.

Dann wünsch ich hoffend mir die Zeit herbei,

Daß mir und meiner Pilgerfahrt auf Erden

Doch noch einmal, ob es auch in Schmerzen sei,

Der reinen Reife Tage kommen werden.

Dann aber sei ein Freund mir auch beschert,

Der meines Lebens überfüllten Becher

Mit dankbar schonendem Genusse ehrt,

Dem reifen Wein ein ebenbürtger Zecher.

1902

*

Er hat mich Einsiedler und Bauern zum König, Dichter und Weisen gemacht. Leer gewordene Lebenskähne belastet er mit neuen Schicksalen und treibt Gestrandete in die eilige Strömung des großen Lebens zurück. So ist der Wein. Doch ist es mit ihm wie mit allen köstlichen Gaben und Künsten. Er will geliebt, gesucht, verstanden und mit Mühen gewonnen sein.

Aus »Peter Camenzind«, 1903

*

Schönes Heute

Morgen – was wird morgen sein?

Trauer, Sorge, wenig Freude,

Schweres Haupt, vergoßner Wein –

Du sollst leben, schönes Heute!

Ob die Zeit im schnellen Flug

Wandelt ihren ewigen Reigen,

Dieses Bechers voller Zug

Ist unwandelbar mein eigen.

Meiner losen Jugend Brand

Lodert hoch in diesen Tagen.

Tod, da hast du meine Hand,

Willst du mich zu zwingen wagen?

1903

Ein in Freude oder Zorn getrunkener Rausch kann befreiend, lustig, liebenswürdig sein, während der halbwache Dusel des Wirtshausbruders, der sein Leben auf eine bequeme, langsam träge Weise zerstört, stets ein Jammer und Ekel ist.

Aus »Freunde«, 1907/08

*

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