Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Pursuit of Honor

erschien 2009 im Verlag Atria Books, Simon & Schuster.

Copyright © 2009 by Vince Flynn

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Dean Samed

eISBN 978-3-86552-523-9

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Hinweis: Dieser Roman ist Band 12 der Mitch-Rapp-Saga.

Die Handlung spielt fast 20 Jahre nach

AMERICAN ASSASSIN – WIE ALLES BEGANN und

KILL SHOT – IN DIE ENGE GETRIEBEN.

Für meine Verleger von heute und damals –

Carolyn Reidy, Judith Curr,

Louise Burke, Jack Romanos

und

in stillem Gedenken an Kent Mosher

1

New York City

Kurz vor 22 Uhr entschied Mitch Rapp, dass es Zeit wurde, in Aktion zu treten. Er stieg aus der Limousine, ließ den Regenschirm in der kühlen Aprilnacht aufschnappen, schlug den Kragen des schwarzen Trenchcoats hoch und überquerte die regenüberflutete East Twentieth Street. Er umkurvte die Pfützen und vollgelaufenen Abflussrinnen, ohne sich daran zu stören. Das Wetter war ein Segen. Es hielt ungebetene Zuschauer von den Straßen fern und lieferte ihm einen Vorwand, sein Gesicht vor der ständig wachsenden Armee städtischer Überwachungskameras zu verbergen.

Rapp war nach New York gekommen, um das Schicksal eines Mannes zu besiegeln. Zuvor hatte er sich die Frage gestellt, ob es klug war, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Abgesehen von dem Risiko, dabei erwischt zu werden, gab es noch ein weiteres, deutlich drückenderes Problem. Vor gerade mal sechs Tagen hatte eine Reihe von Explosionen Washington, D. C. erschüttert, 185 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt. Drei der Terroristen befanden sich noch auf freiem Fuß. Rapp hatte die Anweisung erhalten, natürlich unter der Hand, sie unbedingt zu finden. Bislang gestaltete sich die Suche jedoch unglaublich kompliziert. Er wartete nach wie vor auf eine konkrete Spur. Die drei Männer waren komplett von der Bildfläche verschwunden, was eine Cleverness suggerierte, die ihnen nur wenige zugetraut hätten. Aber dass er sich immer noch um diese andere Baustelle kümmern musste, überraschte Rapp weitaus mehr. Nach den Attentaten in der Hauptstadt hatte er damit gerechnet, dass dieser Narr endlich zur Besinnung kam.

Es ging nicht allein um die Entscheidung, ob der Kerl leben oder sterben sollte, sondern auch um die möglichen Auswirkungen. Mit dem Tod des Mannes schuf er möglicherweise mehr Probleme, als er löste. Wenn der andere nicht mehr zur Arbeit erschien, warf das zwangsläufig Fragen auf – die meisten davon würde man Rapp und seiner Chefin Irene Kennedy stellen, die auch Chefin der Central Intelligence Agency war. Ein kleiner Fehltritt reichte, um ihnen den größten Shitstorm aller Zeiten zu bescheren.

Der Leiter des Überwachungsteams hatte versucht, ihm die Aktion auszureden, aber Rapp gehörte nicht zu den Leuten, die von einem klimatisierten Büro aus, Hunderte Meilen entfernt, den Befehl zum Zugriff gaben. Er musste mit eigenen Augen sehen, ob ihnen etwas entgangen war, irgendwelche unvorhersehbaren Überraschungen, die den Bürokraten vom rechten Weg abgebracht hatten.

Rapp war sich seiner tiefen Abneigung für den Mann, den er hier in New York jagte, vollauf bewusst. Es gab eine Menge Leute im Undercover-Bereich, die diesem Scheißkerl den Tod wünschten. Ein Grund mehr für Rapp, ganz sicherzugehen, dass kein Zweifel an seiner Schuld bestand. Seine Abneigung für den anderen machte es verdammt verlockend, einfach den Abzug durchzudrücken. Rapp wusste, dass er gegen diesen Drang ankämpfen musste. Dieser Idiot verdiente trotz allem die Chance, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, bevor sie etwas taten, das sich nicht rückgängig machen ließ.

Trotzdem durfte man sich auf keinen Fall zu sehr auf Rapps Zurückhaltung verlassen. Sobald er auf Beweise stieß, war Schluss mit vorsichtigem Abwägen und Anfassen mit Samthandschuhen. Er hatte schon zu viele Menschen getötet, um so etwas nicht konsequent durchzuziehen. Ja, der andere war ebenfalls Amerikaner, aber eben aller Wahrscheinlichkeit nach auch ein Verräter. Und zwar kein kleines Licht, das Akten auf dem Schreibtisch von einem Stapel auf den anderen schob, sondern jemand mit einer der höchsten Sicherheitsfreigaben innerhalb der US-Regierung. Wie es aussah, hatte seine Scheinheiligkeit einen von Rapps Agenten das Leben gekostet.

Rapp schlenderte in gemäßigtem Tempo über den Bürgersteig in Richtung Park Avenue. Er trug so ähnliche Kleidung wie mehr als tausend andere Chauffeure, die ihre Kunden an diesem regnerischen Abend durch die Stadt kutschierten – schwarze Schuhe, schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte und schwarzer Mantel. Wer ihn zu Gesicht bekam, sah in ihm nur einen typischen Fahrer, der sich kurz die Beine vertrat und ein wenig Zeit von der Uhr nahm, bis sein Auftraggeber das Dinner beendet hatte und sich in die nächste Bar oder nach Hause fahren ließ.

Rapp postierte sich auf der anderen Straßenseite, ein Haus von der Gramercy Tavern entfernt, griff in die Tasche des Trenchcoats und fischte eine Packung Marlboros heraus. Wenn man untätig im Regen von New York herumstand, lenkte man unnötig Aufmerksamkeit auf sich. Das änderte sich, sobald man eine Zigarette ins Spiel brachte und sich wie all die anderen Süchtigen benahm, die trotz der Naturgewalten nicht auf ihren Nikotinschub verzichten konnten. Er drehte sich von der Straße weg zur schmucklosen Mauer des Gebäudes in seinem Rücken, hielt sich den Schirm vors Gesicht, als wollte er den Wind abschirmen, und ließ das Feuerzeug aufflackern. Im Prinzip war ihm der Wind egal, aber er wollte nicht riskieren, dass einer der anderen Fahrer im Schein der Flamme sein Gesicht erkannte.

Nach einem tiefen Zug aus der Zigarette spähte Rapp beiläufig unter dem klatschnassen Schirm hindurch über die Straße. Die Zielperson saß hinter einem der raumhohen Fenster des Restaurants und machte sich mit einem anderen Mann, den Rapp noch nie gesehen hatte und gar nicht näher kennenlernen wollte, über Essen und eine Menge Alkohol her, während er ununterbrochen redete. Der Begleiter war eine Komplikation, keine Frage, aber Rapp hielt nichts davon, Unbeteiligte einfach deshalb zu töten, weil sie das Gefasel eines verbitterten Typen ertrugen, der seine beste Zeit hinter sich hatte.

Trotz aller Bemühungen um eine andere Lösung ging Rapp davon aus, dass es heute Abend ernst wurde. Das Überwachungsteam hatte das Restaurant verkabelt und ihn die letzten zwei Stunden in einer Lincoln-Limo mithören lassen, wie sein Kollege die Agency in den Dreck zog. Rapp beobachte, wie der Kerl am Wein nippte, und überlegte, was ihn mehr störte: das eigennützige Gejammer oder die Sorglosigkeit des anderen. Man sollte doch meinen, dass jemand, der für die CIA arbeitete, deutlich vorsichtiger war, wenn er Verrat beging.

Bislang hatte sich der Kollege darauf beschränkt, seine politischen und philosophischen Ansichten zum Besten zu geben. Mieser Stil, klar, aber bislang kein eindeutiger Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht. Rapp ahnte jedoch, dass es bald dazu kommen würde. Der Mann soff wie ein Loch, hatte zwei Martini und vier Gläser Rotwein in kürzester Zeit hinuntergestürzt. Hinzu kamen die Drinks, die er sich beim Hinflug aus Washington und wahrscheinlich auch an der Hotelbar genehmigt hatte. Rapp hatte die Jungs von der Observierung angewiesen, die Flughäfen auszuklammern. Zu viele Kameras und Sicherheitspersonal. Wenn sich der Abend weiter so entwickelte, würde sowieso jede Sekunde im Leben dieses Typen unter die Lupe genommen und seziert. Angefangen bei der US-Airways-Maschine, die ihn am Nachmittag vom Reagan National zum LaGuardia Airport geflogen hatte.

Rapp zog beiläufig an seiner Zigarette und beobachtete, wie der Kellner zwei Cognacschwenker vor den Gästen abstellte. Vor ein paar Minuten hatte Rapp mitgehört, wie der andere Besucher den Verdauungsschnaps ablehnen wollte. Er schien diese Verabredung zum Abendessen zunehmend als Zeitverschwendung zu betrachten. Rapps Kollege jedoch bestand darauf, dass sich auch sein Gast einen Drink genehmigte. Den habe er definitiv nötig, wenn er erst hörte, was er ihm mitzuteilen hatte.

Während die Tropfen vom Schirm auf den Boden klatschten, beobachtete Rapp die Szene. Der Kellner befand sich noch in Rufweite, als der Mann aus Langley sich bereits vorlehnte und mit seiner Geschichte begann. Rapp entging über das drahtlose Headset kein einziges Wort. In den ersten paar Minuten blieb es bei versteckten Andeutungen. Der CIA-Mann servierte seine Informationen als Reihe von Hypothesen, die von den Anwälten im Justizministerium garantiert als unverfänglich eingestuft wurden. Trotzdem bestätigten sie seine Vorahnungen über das leichtsinnige Vorgehen des anderen. Jeder, der so weitgehend in nationale Geheimnisse eingeweiht war, wusste, worüber er sprechen durfte und welche Grenzen er dabei besser nicht überschritt.

Rapp kämpfte mit dem Anzünden einer weiteren Zigarette, da verlagerte sich das Gespräch vom Abstrakten ins Konkrete. Zuerst wurde konkret eine Operation erwähnt, in die nur eine Handvoll Leute eingeweiht war, darunter auch der Präsident. Er tut es wirklich. Dieser Idiot tut’s wirklich.

So unauffällig, wie er konnte, richtete Rapp die Augen zurück auf das große Fenster des Restaurants. Dort saßen die beiden Männer über den Tisch gebeugt, ihre Gesichter kaum einen halben Meter voneinander entfernt. Der eine sprach in gedämpften Tonfall, der andere wirkte von Sekunde zu Sekunde fassungsloser. Die streng geheimen Informationen prasselten als Maschinengewehr-Stakkato aus Daten und Zielen auf ihn ein. Ein Geheimnis nach dem anderen landete auf dem Haufen wie bedeutungslose Small-Talk-Häppchen. Der angerichtete Schaden war deutlich größer als von Rapp befürchtet. So groß, dass er für einen Moment überlegte, schnurstracks über die Straße zu marschieren, die Waffe zu ziehen und diesen Schwachkopf auf der Stelle zu exekutieren.

Ebenso schnell, wie alles angefangen hatte, kam es auch wieder zum Erliegen. Wie ein aggressiver Betrunkener, der einen zu viel über den Durst getrunken hatte, packte der Mann aus Langley seine Geheimnisse wieder ein und verkündete, das sei nur ein Bruchteil dessen gewesen, was er wisse. Um mehr zu verraten, müsse erst eine Vereinbarung getroffen werden.

Bis zu diesem Moment hatte Rapp seinem Kollegen unterstellt, dass ihn dessen strikte Überzeugungen zu diesem riskanten Schritt verleiteten. Nun, wo sich die beiden auf die finanziellen Rahmenbedingungen ihrer künftigen Zusammenarbeit verständigten, löste sich dieser Rest von Respekt jedoch in Luft auf. Rapp musterte den Verräter durch den Regenschleier und erkannte, dass er von denselben Motiven getrieben wurde wie Hunderte Abtrünnige vor ihm. Seine gern zur Schau gestellten Ideale zu verraten war am Ende nur eine Frage des Geldes, genau wie bei all den übrigen Bastarden.

Rapp schnippte die Kippe in den Rinnstein. Hüpfend und tanzend verschwand sie in der Kanalisation. Er setzte sich Richtung Park Avenue in Bewegung und verspürte nicht das geringste Bedauern über den Prozess, den er in Gang gesetzt hatte. Ohne sich noch einmal umdrehen zu müssen, wusste er, dass ein Mann, der dem Verräter zum Verwechseln ähnlich sah, gerade auf der Rückbank einer Lincoln-Limousine Platz nahm. Sämtliche Details stimmten überein: von der Brille über den Schlips bis hin zur Haarfarbe – selbst den schwarz-orange gestreiften Regenschirm aus dem Hotel hatten sie organisiert. Rapp musste nur noch ein, zwei Kreuzungen weiterlaufen und auf den Idioten warten.

2

New York City

Glen Adams ließ sich den letzten kostbaren Tropfen Remy Martin aus dem bauchigen Cognacschwenker schmecken und verspürte ein gewisses Bedauern, kein zweites Glas von dieser samtigen, wärmenden Köstlichkeit trinken zu können. Sein heutiger Tischgefährte und früherer Mitstudent der juristischen Fakultät war zwar ein brillanter Denker, aber auch extrem langweilig. Und er bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen. Vor 26 Jahren hatten sie zusammen an der NYU School of Law studiert und sich seitdem ein- oder zweimal im Jahr getroffen, entweder bei Ehemaligentreffen oder aus beruflichen Anlässen. Ab und zu gingen sie gemeinsam essen und brachten sich gegenseitig auf den neuesten Stand. Allerdings verband sie nicht mehr viel miteinander. Keiner von beiden konnte etwas dafür. Karriere und Familie ließen einem kaum Zeit zur Pflege alter Freundschaften.

Die beiden Männer hatten nach ihrem Abschluss denkbar unterschiedliche Wege eingeschlagen. Urness ergatterte einen begehrten Job als Pflichtverteidiger in New York. Nach drei Jahren Knechtschaft wechselte er in den privaten Sektor und machte sich rasch einen Namen als gnadenloser Staatsanwalt. Mit Mitte 30 hatte er bereits zwei wichtige Fälle vor dem Supreme Court ausgefochten. Mit 39 gründete er eine eigene Kanzlei und führte sie in einer Stadt, in der an sündhaft teuren, qualifizierten Rechtsverdrehern wahrlich kein Mangel herrschte, in Rekordzeit an die Spitze.

Adams war zwar nicht annähernd so erfolgreich gewesen, aber trotzdem stolz auf das, was er erreicht hatte. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters und heuerte bei der CIA an. In den ersten zwei Jahren lernte er eine Menge, machte dabei allerdings schwere Zeiten durch. Seit seiner Kindheit träumte er von einer Karriere als Spion. Allerdings stimmten Vorstellung und Realität nicht mal ansatzweise überein. Adams’ Vater hatte im Zweiten Weltkrieg als Soldat gekämpft und war anschließend in der Special Activities Division der Agency gelandet. Deshalb bekam sein Sohn ihn nicht oft zu Gesicht und spann sich die wildesten Theorien über Heldentaten und waghalsige Abenteuer zurecht. Selbst in seiner Abwesenheit prägte der Mann so das Leben und die Erwartungshaltungen seines einzigen Kindes.

In der wahren Welt lernte Adams die Führungsebene in Langley als Ansammlung derber, unhöflicher und geistig beschränkter Ex-Militärs kennen, die sich schwertaten, in der Welt außerhalb der Schlachtfelder Abstufungen jenseits von Schwarz und Weiß wahrzunehmen. Als Absolvent einer der besten Universitäten des Landes fand es Adams unerträglich, von so vielen Einfaltspinseln umgeben zu sein. Nach zwei Jahren im Dienst und begleitet von massiven Protesten seines Vaters verließ Adams die CIA und heuerte beim Justizministerium an. Diese Entscheidung beschädigte das Vater-Sohn-Verhältnis irreparabel. Der jüngere Adams hatte jahrelang daran zu knabbern. Letztlich stellte der heutige Abend einen entscheidenden Schritt im Bemühen dar, den Familienstreit hinter sich zu lassen.

Trotz der Reaktion seines Vaters fand Adams nach wie vor, dass sein Abschied bei der CIA die richtige Entscheidung gewesen war. Beim Ministerium vertraute man ihm zunehmend anspruchsvollere Fälle an, was seine Karriere stetig beförderte.

Dann kam 9/11 und veränderte alles. In den ersten beiden Jahren nach den Anschlägen verfing sich Adams im selben patriotischen Eifer wie jeder andere. Irgendwann jedoch geriet er ins Nachdenken und kam zu dem Ergebnis, dass Teile seiner eigenen Regierung eine mindestens genauso große Bedrohung darstellten wie die Terroristen. Eine lautstarke Minderheit auf dem Hill sprach sich für eine stärkere Überwachung der CIA aus und ehe Adams wusste, wie ihm geschah, landete sein Name ganz oben auf der Liste. Sein Ruf als knallharter Strafverfolger gefiel den Politikern. Zusammen mit der Vorgeschichte seiner Familie in Langley und seiner kurzen Einsatzzeit bei der Behörde hielt man ihn für die perfekte Wahl, um Amerikas führendem Geheimdienst als Generalinspektor auf die Finger zu schauen.

Adams hoffte insgeheim, dass ihm der neue Posten dabei half, die Kluft zwischen ihm und seinem Vater zu überwinden. Dieser war mittlerweile hoch in den Achtzigern und ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Adams wollte eine der wenigen verbleibenden Gelegenheiten nutzen. Sein Optimismus erwies sich als völlig unbegründet. Der Nachmittag, an dem er seinem Vater von seinem neuen Posten berichtete, wurde zu ihrer letzten Begegnung. Adams hatte nicht gewusst, dass sein Vater die oberste Überwachungsbehörde der CIA derart verachtete. Statt Wunden zu heilen, endete das Treffen in einer Katastrophe und zerstörte jede Hoffnung, ihre Beziehung je zu reparieren. Vier Monate später starb der alte Adams.

Der überlebende Sohn widmete sich der neuen Aufgabe mit religiösem Eifer. Wie ein Missionar, der die Heiden zum Christentum bekehren will, versuchte er der wilden, ungehobelten Agentenmeute seine Leidenschaft für Gerechtigkeit und die Allmacht des Gesetzes zu vermitteln. Und genau wie die Missionare, die in den abgelegenen Winkeln Südamerikas arbeiteten, griff Adams notfalls zu gewaltsamen Mitteln. Überzeugungsarbeit mit dem Schwert. Er wollte seine beträchtlichen Talente einsetzen, um eine neue Ära in Langley einzuläuten. Eine Ära, auf die alle stolz sein konnten.

Zumindest redete er sich das selbst ein. Und er erzählte es seiner Frau und früheren Kommilitonen wie Urness. Dabei bestärkten ihn die alten Weggefährten in seiner Entschlossenheit. Auch sie hielten die CIA für eine verrottete, überkommene Institution. Hätte er damals gewusst, was er heute wusste, er hätte den Job vermutlich abgelehnt. War er zu idealistisch gewesen? Nein, versicherte er sich bei mehr als einer Gelegenheit, sie waren einfach zu korrupt. Die Verfassung und die Macht der Paragrafen waren wichtiger als Tausende Karrieren. Als Millionen Karrieren.

Adams lugte in sein Glas, als hoffte er, noch einen weiteren Tropfen aus der kleinen Vertiefung am Boden herauskitzeln zu können. Vergeblich. »Noch ist nichts verloren«, raunte er leise. Der heutige Abend lieferte den Beweis dafür. Sein Plan war gut. Nein, mehr als gut. Er war perfekt. Keiner von denen ahnte etwas. Ohnehin waren sie momentan viel zu beschäftigt damit, herauszufinden, an welcher Stelle sie komplett versagt hatten, sodass fast 200 Mitbürger am helllichten Tag getötet wurden. Sie waren am Ende nichts weiter als ein Haufen Gauner. Diese Attentate bewiesen, dass ihre Methoden den Feind letztlich nur zusätzlich ermutigten.

»Das ist ein gewaltiger Schritt«, sagte Urness und steckte seine schwarze American Express zurück in die Brieftasche. »Bist du sicher, dass du das durchziehen willst?«

»Komm schon, Kenny«, redete Adams auf den anderen Anwalt ein. »Du bist doch sonst nicht so zimperlich.«

»Ich wollte mich nur vergewissern.« Urness ließ ein zahnloses Grinsen aufblitzen. »Einige sehr mächtige Leute werden mächtig angepisst sein.«

»Keine Frage. Bist du sicher, dass du es durchziehen wirst?«

Der Anwalt dachte kurz nach. »Ich bin bereit für eine neue Herausforderung. Eine Sache, an die ich glauben kann. Ich habe genug Geld verdient. Jetzt möchte ich zur Abwechslung mal was verändern.«

Mit hochgezogener Augenbraue fragte Adams: »Wie Woodward und Bernstein?«

»Ja, allerdings bist in diesem Fall du Deep Throat«, sagte Urness in Anspielung auf den wichtigsten Informanten der Watergate-Affäre.

»Hoffen wir, dass ich nicht erst 90 werden muss, um meine Rolle in dieser Geschichte zu enthüllen.«

»Wenn ich das richtig sehe«, meinte Urness, »und üblicherweise tu ich das, wirst du höchstens zwei Jahre warten müssen. Bis dahin hab ich alles Nötige in die Wege geleitet. Man wird dich wie einen Helden feiern.«

»Nicht alle.«

Urness schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Scheiß auf den Rest.«

Adams lachte und stand ebenfalls auf. Dass ihm dabei die weiße Serviette vom Schoß auf den Boden rutschte, bemerkte er nicht.

»Ich mein’s ernst. Scheiß auf solche Leute! Diese politisch Rechten werden eh nie kapieren, warum wir tun, was wir tun. Also ist es am besten, sie direkt abzuhaken und zu ignorieren.«

»Du hast recht.« Adams grinste schelmisch und legte einen Arm um Urness’ Schultern, als dieser auf seine Seite des Tisches kam. Er überragte den Freund um fast einen Kopf. »Du bist ein anständiger Kerl, Kenny. Ich weiß echt zu schätzen, was du für mich tust.«

»Ich helf dir doch gern, Glen. Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Wenn niemand klar Stellung bezieht, möchte ich mir nicht ausmalen, in was für einer Welt unsere Kinder mal leben.«

Die beiden Männer gingen durch den Barbereich zum Ausgang. Adams’ Blick streifte die Flaschen hinter dem Tresen. Wie einer der pawlowschen Hunde fing er an zu sabbern. Er verlangsamte den Schritt und rieb sich mit der rechten Hand über den Bauch. »Wie wär’s? Noch ein Absacker, bevor wir nach Hause gehen?«

Urness blieb abrupt stehen und bedachte seinen Freund mit einem ernsten Blick, den er sonst für seine Klienten reservierte. »Ich hab das Gefühl, du trinkst zu viel«, platzte er heraus.

Adams schaute nervös zu Boden und kicherte. »Komm schon, Kenny«, sagte er mit erzwungener Lässigkeit. »Wenn man schon mal in New York auf der Rolle ist, spricht nichts dagegen, sich ein bisschen auf Touren zu bringen.«

»Nicht wenn du als Reifenverkäufer von Akron auf einer Messe bist. Aber du, mein Freund, bist kein Verkäufer. Du balancierst gerade auf einer äußerst schmalen, gefährlichen Klippe. Ein falscher Schritt und … platsch!« Urness klatschte mit den Händen, um den Aufprall anzudeuten.

»Ich weiß genau, was ich tue.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Und wenn wir das durchziehen, besteh ich drauf, dass du dein Saufen unter Kontrolle kriegst.«

»Hey«, versetzte Adams betont entspannt. »Ich geb ja zu, dass ich gern mal trinke, aber ich muss nicht mehr fahren. Ein bisschen Spaß wird doch erlaubt sein.«

»Ein bisschen schon. Aber als dein Freund sage ich dir, dass du es übertreibst. Das ist eine ernste Sache. Wenn du’s vermasselst, Glen, und Fehler machst, landest du im Knast oder noch Schlimmeres.«

»Okay. Ist angekommen.« Adams wirkte ein bisschen verlegen.

»Gut. Ich behalt dich nämlich von jetzt an im Auge. Komm, gehen wir zu deinem Auto. Ich muss nach Hause. Will noch einen Fall vor dem Einschlafen durcharbeiten.«

3

Wenig später standen Adams und Urness dicht gedrängt unter der schmalen Markise vor dem Restaurant und spannten ihre Regenschirme auf. Beide spähten in die regennassen Windschutzscheiben der Firmenfahrzeuge und hielten nach der weißen Karte Ausschau, auf der ihr Name stand. Adams hatte Glück. Seine Limo parkte nur wenige Meter entfernt. Urness verabschiedete sich eilig und huschte über den Bürgersteig, wobei er den Pfützen auswich. Bei jedem Fahrzeug, an dem er vorbeikam, schielte er kurz zur Seite, in der Hoffnung, seinen Namen zu entdecken. Adams bahnte sich unterdessen den Weg zum Rücksitz des Lincoln Town Car, schloss erst den Schirm und dann die Tür.

Der Fahrer nickte ihm höflich zu und begrüßte ihn mit einem leisen »Guten Abend«, gefolgt von: »Zurück zum Hotel, Sir?«

Adams spielte kurz mit dem Gedanken, ihn zu fragen, ob er eine gute Bar in der Nähe kannte, überlegte es sich dann jedoch anders. Urness’ Bemerkung zu seinem Alkoholkonsum hatte ihr Ziel nicht verfehlt.

»Ja, zum Hotel bitte.« Adams spähte aus dem Fenster und suchte nach einer Rechtfertigung für das Vergnügen, das ihm ein gutes Glas Schnaps oder eine Flasche Wein verschaffte. Männer wie Urness verstanden so etwas nicht. Sie waren zu fokussiert auf ihre Karriere, um zu genießen, was einem das Leben zu bieten hatte. Soweit er wusste, hatte der andere nicht mal ein richtiges Hobby oder eine Leidenschaft, die nichts mit dem Job zu tun hatte.

Außerdem, dachte er bei sich, würd ich gern mal sehen, wie Urness sich einen Monat lang mit meinen Aufgaben rumschlägt. Ganz zu schweigen von sechs Jahren. Adams fühlte sich gelegentlich wie General Custer, umringt von einer Horde Wilder, entschlossen, das Richtige zu tun. Jeden Tag beförderte er neue Täuschungen und Verrat ans Licht. Der gesamte Geheimdienst und Großteile der Führungsebene in Langley wurden von professionellen Lügnern und gerissenen Strippenziehern unterwandert. Männern und Frauen, die keinerlei Respekt für die Verfassung und gleichrangige Instrumente des Staates aufbrachten. An einem gelegentlichen Gläschen war nichts verkehrt, entschied er. Man durfte sich nur nicht dabei erwischen lassen.

Adams blickte nach draußen, während sie über eine Kreuzung mit regem Verkehr rollten. Trotz der Sorge wegen seiner Begeisterung für den Alkohol war er äußerst froh über den mit Urness geschlossenen Pakt. Angesichts der komplizierten Rahmenbedingungen hätte der Abend kaum besser laufen können. Adams lächelte, ein bisschen stolz über den mutigen Schritt. Er malte sich für einen Moment den süßen Triumph aus, die maroden Stützpfeiler von Langley wie ein Kartenhaus einstürzen zu sehen.

Adams stellte fest, dass er sich seit Monaten nicht mehr so gut gefühlt hatte. Eine gewaltige Last schien ihm von den Schultern genommen worden zu sein. Das versprach eine Menge Spaß – den Spieß zur Abwechslung mal umzudrehen. Ihm gefiel die Ironie, eines ihrer eigenen Täuschungsmanöver einzusetzen, um sie zur Strecke zu bringen. Genau genommen handelte es sich dabei um seine ganz private Geheimoperation.

Er musste nur weiter die Rolle als Generalinspektor mimen und mit vorgetäuschtem Eifer nach dem Maulwurf suchen. Allerdings galt es vorsichtig zu sein, um nicht zu eifrig zu wirken. Die meisten Spione waren nicht allzu clever, aber sie verfügten über gesunde Instinkte. Wenn er zu stark aus der Rolle fiel, bekamen sie das womöglich mit. Also musste er seinen Job so normal wie möglich erledigen, ihnen aber unterschwellig vorwerfen, dass er sie vor genau dieser Entwicklung gewarnt hatte. Adams konnte es kaum erwarten, ihre stupiden Gesichter zu sehen, wenn sie die Neuigkeit erfuhren.

Das Auto rollte durch ein Schlagloch und wurde langsamer. Er schaute auf und wollte den Chauffeur gerade fragen, wieso er bremste, da wurde die hintere Tür auf der Fahrerseite von außen geöffnet. Eine dunkle, klatschnasse Gestalt stieg ein und setzte sich neben ihn. Bevor Adams eine Gelegenheit erhielt, den anderen genauer in Augenschein zu nehmen, schloss sich die Tür bereits wieder und der Wagen nahm Fahrt auf. Unterbewusst registrierte er, wie die Zentralverriegelung mit einem entschlossenen Klack! einen Ausstieg verhinderte. Sein Verstand raste. Was ging hier vor? Warum war dieser merkwürdige Typ zugestiegen? Adams wollte die Fragen gerade laut aussprechen, da drehte sich der Fremde in seine Richtung.

Der Alkohol sorgte dafür, dass er etwas länger brauchte, aber mit etwas Verzögerung erkannte er, wen er vor sich hatte. Das rabenschwarze Haar mit einem Anflug von Grau an den Schläfen, die gebräunte Haut und Augen so dunkel wie Ölpfützen gehörten keinem Geringeren als dem führenden CIA-Gauner – Mitch Rapp. Aber was zum Teufel hatte der hier in New York verloren? In seinem Auto?

»Was«, stammelte Adams, »w-was machen Sie hier?«

»Hat Ihr Essen geschmeckt?«, fragte Rapp im Plauderton.

»Mein Essen? Was zur Hölle soll das werden? Steigen Sie sofort aus!« Panik kroch in seine Stimme. Der vom Alkohol betäubte Denkapparat erkannte mit Verzögerung den Ernst der Lage.

»Ganz ruhig, Glen.« Rapp sprach mit einer tiefen, beruhigenden Stimme. »Sie sind momentan nicht in der Position, Forderungen zu stellen.«

»Und ob ich das bin!« Adams griff in die Jacke.

Rapp ließ ihn gewähren. »Was soll das werden?«

»Ich rufe den Justizminister an, was glauben Sie denn?«

Rapp stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. »Stecken Sie das Telefon weg.« Mit dieser Reaktion von Adams hatte er gerechnet. Er ließ seine behandschuhte Rechte zur linken Schulter hochschnellen und erwischte Adams mit einem Rückhandschlag an der Nase. Gerade fest genug, um ihn zu warnen. Er konnte kein Blut gebrauchen – noch nicht.

Adams winselte auf wie ein geprügelter Hund und ließ gleichzeitig das Handy fallen. Instinktiv deckte er das Gesicht mit beiden Händen ab und jammerte lautstark.

Rapp hob das Telefon auf und klopfte Adams ab. Er strich mit der Hand an dessen Taille entlang, um sicherzustellen, dass dort kein weiteres Handy oder ein Pager versteckt war.

»Hände weg!«, zischte Adams.

»Halten Sie still!« Rapp durchsuchte zügig die Jackentaschen.

»Diesmal gehen Sie zu weit!«, protestierte Adams. »Auf keinen Fall schaffen Sie es, sich aus dieser Sache rauszumogeln. Entführung, Körperverletzung …«

Rapp ignorierte die Vorwürfe und sagte zum Fahrer: »Er hat nur das eine Telefon.«

Der Mann am Steuer nickte und streckte die Hand aus. Rapp reichte ihm das Gerät. Wenige Sekunden später bremste der Fahrer erneut, ließ das Fenster einen Spaltbreit herunter und gab das Handy an einen Mann weiter, der auf dem Bürgersteig wartete.

Rapp widmete seine Aufmerksamkeit nun wieder Adams, der inzwischen seine Auflistung potenzieller Verfehlungen beendet hatte und stattdessen darüber schwadronierte, welche Freude und Genugtuung es ihm verschaffen würde, wenn Rapp bald seine gerechte Strafe erhielt.

»Glen«, unterbrach ihn Rapp. »Das wird nicht passieren.«

»Und ob es das wird!«, polterte Adams.

Rapp seufzte. »Die Chance, dass Sie erleben, wie ich zur Rechenschaft gezogen werde, ist gleich null.«

»Sie kennen mich nicht besonders gut, wenn Sie allen Ernstes glauben, dass ich mit dieser Sache nicht zum Staatsanwalt gehe.«

»Ich kenne Sie besser, als Sie glauben, Glen, aber offenbar kennen Sie mich nicht besonders gut, wenn Sie sich einbilden, dass Sie lebend aus dieser Sache rauskommen.«

»Wie bitte?«, fragte Adams fassungslos. »Das wagen Sie nicht!«

»Ich habe das schon öfter gewagt, als ich zählen kann, und aus weitaus banaleren Gründen. Sie sind ein Verräter. Falls Sie mir keine schlüssige Erklärung liefern, warum Sie streng geheime Informationen an Außenstehende weitergegeben haben, werde ich Sie töten.« Rapp schaute dem Mann, der neben ihm saß, in die Augen. »Es ist nicht besonders kompliziert. Und da Sie mich ja ohnehin für ein Monster halten, fällt es Ihnen sicher nicht schwer, mir abzukaufen, dass ich’s ernst meine.«

Schlagartig begriff Adams die Tragweite dessen, was gerade passierte. Sein Unterkiefer klappte nach unten und er starrte Rapp einige Sekunden wortlos an. Heftig blinzelnd forderte er den Fahrer auf, rechts ranzufahren. Der Mann ignorierte ihn. Adams wiederholte den Befehl, diesmal deutlich lauter.

Rapp drehte sich im Sitz zur Seite, betrachtete Adams, visierte die passende Stelle an und schickte einen linken Haken los, der den Generalinspektor voll am Kinn erwischte. Adams’ Kopf schlug gegen die Scheibe und sein Körper erschlaffte.

4

Toolesboro, Iowa

Das alte Farmhaus thronte eingerahmt von den Wipfeln der Bäume auf einem Grundstück einige Hundert Meter vom Ufer des Mississippi River entfernt. Ein Bach gabelte sich im Nordwesten und floss um das Anwesen herum, bevor sich die Ausläufer erneut vereinten und dem gewaltigen Fluss zustrebten, der die USA grob in der Mitte teilte. Die 8000 Quadratmeter große Fläche war überwiegend baumbewachsen, nach Westen hin erstreckte sich etwas offenes Land. Der ideale Platz, um sich neugierigen Blicken zu entziehen.

Hakim war im vergangenen Herbst während einer Fahrt aus Hannibal, Missouri, in Richtung Norden darauf gestoßen. Eine Zeitung in West Burlington hatte es als perfekten Rückzugsort angepriesen und er beschloss, sich das Haus anzusehen. Bei einem kurzen Telefonat mit dem lokalen Maklerbüro erfuhr er, dass sich die Eigentümerfamilie seit über einem Jahrzehnt schrittweise von ihren Besitztümern in der Gegend trennte. Die Kinder waren alle ausgezogen – eins lebte in Chicago, zwei an der Ostküste und eins drüben im Westen. Der Vater war gestorben und die Mutter hatte sich gerade in einer Seniorenresidenz eingemietet. Nun stand nur noch das alte Haus mit Schuppen zum Verkauf, das man direkt an den bewaldeten Flussufern errichtet hatte. Die Maklerin warnte ihn, dass das Grundstück im Frühjahr meistens unter Wasser stand und dabei auch die Zufahrt überflutet wurde. Man konnte nicht viel mehr damit anfangen, als dort jagen zu gehen.

Hakim erklärte, das passe nicht wirklich zu seinen Ansprüchen, bedankte sich für ihre Bemühungen und legte auf. Danach fuhr er auf dem Highway 99 in nördlicher Richtung, bis er auf das Häuschen stieß. Das erwies sich als schwieriger als erwartet, was ihm natürlich in die Karten spielte. Aus taktischen Gesichtspunkten sprach einiges dafür. Es gab weit und breit keine Nachbarn und die örtliche Landstraße endete als Sackgasse unweit der Zufahrt. Hier kam so schnell niemand her, wenn überhaupt. Hakim knipste einige Fotos, rief seinen Anwalt in New York an und bat, die Immobilie über eine gemeinnützige Naturschutz-Stiftung zu kaufen, die er eigens für solche Zwecke gegründet hatte. Der Anwalt kümmerte sich um den Rest. Hakim wies ihn an, einen örtlichen Handwerker mit dem Aufstellen eines stabilen Tors samt abschließbarem Briefkasten zu beauftragen und ›Zutritt für Unbefugte verboten!‹-Schilder aufstellen zu lassen. Seitdem war er erst zweimal hier gewesen, jeweils um Vorräte zu deponieren und alles für ihre Ankunft vorzubereiten.

Wie sich herausstellte, gehörte das Haus zu den wenigen Aspekten ihres Plans, bei denen er und Karim einer Meinung waren. Lange hatten sie sich mit dem idealen Fluchtweg nach dem Attentat beschäftigt. Offizielle Flughäfen kamen ebenso wenig infrage wie das Anmieten eines Privatjets. Die Amerikaner verstanden sich bestens darauf, beide Möglichkeiten zu blockieren. Als Nächstes nahmen sie sich Häfen an der Ostküste und am Golf von Mexiko vor. Unter normalen Umständen wäre es nicht besonders schwierig gewesen, sich an Bord eines Containerschiffs zu schleichen, aber seit dem Einsturz der Twin Towers nahmen die Sicherheitsvorkehrungen fast hysterische Auswüchse an. Es wimmelte an den Kais nur so von Kontrollposten und Sicherheitskameras.

Sie beschäftigten sich mit einem Grenzübertritt nach Kanada oder Mexiko. Offizielle Grenzposten schieden sofort aus. Stattdessen prüften sie die Möglichkeit, zu Fuß auf die andere Seite zu gelangen, quer durchs unbefestigte Hinterland. Karim ging davon aus, dass sie den körperlichen Herausforderungen eines solchen Trips durchaus gewachsen waren. Die größte Schwierigkeit sah er darin, eine vertrauenswürdige Kontaktperson auf der anderen Seite zu finden. Um ihre Ressourcen stand es ziemlich schlecht. Sie hätten auf jemanden außerhalb der Organisation zurückgreifen müssen. Hakim, der um die ausgeprägte Paranoia seines Freundes wusste, schlug als Alternative vor, in Amerika selbst unterzutauchen.

Genau wie Saudi-Arabien waren die USA ein riesiges Land mit großen Städten, aber auch zahlreichen dünn besiedelten Abschnitten. Das Land galt zwar als Schmelztiegel der Kulturen, erst recht wenn man es mit der abgeschotteten Gesellschaft ihrer Heimat verglich, bot aber bei Weitem nicht so viele Möglichkeiten, wie man glaubte. Die einzelnen Gruppen blieben meistens unter sich, was es für Außenstehende erschwerte, unauffällig dazuzustoßen.

Karim ging zunächst davon aus, dass seinem Mitstreiter eine Metropole wie Chicago vorschwebte. Bei mehr als zehn Millionen Bewohnern im Dunstkreis wären sie die sprichwörtlichen Nadeln im Heuhaufen gewesen. Doch Hakim hatte einige Zeit in Amerika verbracht und erklärte ihm, weshalb er Chicago für eine ganz schlechte Idee hielt. In einer solchen Großstadt gab es zu viele neugierige Augen und Ohren, zumal sie damit rechnen mussten, dass eine Belohnung ausgesetzt wurde. Wenn man nach ihnen suchte, bestand die beste Lösung darin, sich an einen isolierten Ort zurückzuziehen, bis Gras über die Sache gewachsen war. Karim gefiel die Idee und er bat seinen Freund, nach einem geeigneten Versteck Ausschau zu halten.

Hakim starrte durch das winzige Küchenfenster auf den Fluss und die aufgehende Sonne. Ein einsamer wilder Truthahn stolzierte über den Hof zum Wald. Er schaute sich suchend um. Wo waren die anderen? Fünf Vormittage am Stück hatte er beobachtet, wie sieben der Tiere ihren kleinen Spaziergang zu den Bäumen antraten. Waren die anderen getötet worden, hatte man diesen hier aus der Herde verbannt, dem Rudel … wie immer man das bei Truthähnen nannte? Auf jeden Fall konnte sich Hakim mit dem kleinen Burschen identifizieren. Er selbst überlegte schon seit Tagen, die Sache allein durchzuziehen. Einfach den Hügel zum Fluss runterzulaufen und in das Boot zu steigen, das er im Unterholz versteckt hatte, den 24-PS-Außenborder anzulassen und sich vom Ufer abzustoßen. Wie Huckleberry Finn nach Süden zu fahren, bis zum Meer.

War es ein einzelner Vorfall gewesen, der diese Kluft zwischen ihnen entstehen ließ, oder eher eine Serie von Ereignissen? Hakim stellte sich diese Frage schon seit einer ganzen Weile. War es passiert, als er seinen besten Freund vor einem Jahr im Bergland Pakistans zurückgelassen hatte? Hatten die Dschungel Südamerikas dem anderen den Verstand vernebelt oder war es schon früher dazu gekommen? Wie bei den meisten Freundschaften, die bis in die Kindheit zurückreichten, hatten sie sich immer blind aufeinander verlassen. Karim war ein echter Musterschüler gewesen. Ein Naturtalent im Sport mit einem Ehrgeiz, bei dem kein anderes Kind in der Nachbarschaft mithalten konnte. Mit Abstand der Gewissenhafteste, wenn es ums Beten ging. Er hatte es ganz genau genommen, während Hakim das Thema Glaube deutlich entspannter anging. Die perfekte Ergänzung von Gegensätzen.

Hakim schlürfte an seinem Tee und fragte sich, ob er sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte. Waren sie sich wirklich so nahe gewesen? Hakim wollte daran glauben, dass sie eine innige Freundschaft verband, aber womöglich war sie schon immer einseitig gewesen. Der Unterschied zwischen einem ambitionierten Einzelkämpfer und einem egoistischen Arschloch ließ sich nicht so leicht erkennen. Egal, jedenfalls hatte sich ihr Verhältnis verändert oder einfach nur weiterentwickelt. Sein alter Freund benahm sich genau so narzisstisch wie der Rest der Al-Qaida-Führung. Er schien zunehmend besessener von der Berichterstattung über ihre Attentate und deren Auswirkungen. Der Prophet warnte seit jeher vor übertriebener Selbstverliebtheit.

Hakim konzentrierte sich gerade darauf, die komplizierten theologischen Aspekte ihres Konflikts zu durchdenken, da hörte er die Stimme seines Freundes.

»Guten Morgen.«

Hakim reagierte nicht überrascht. Er war längst an Karims Fähigkeit gewöhnt, sich so gut wie geräuschlos zu bewegen. Er schielte über die Schulter und nickte kurz. Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet ihm, dass es sechs Uhr morgens war. Seine Schicht endete und er durfte sich für die nächsten acht Stunden ausruhen.

»Ist während deiner Wache was Besonderes vorgefallen?«, wollte Karim wissen.

»Nein.«

»Irgendwelche Neuigkeiten?« Karim deutete auf den kleinen Fernseher auf dem Tisch.

»Ich hab ihn nicht angeschaltet.«

»Wieder gelesen?«

»Ja.«

»Diese blasphemischen Bücher der Amerikaner, die du schon als Kind verschlungen hast?« Karim machte keinen Hehl daraus, dass ihm das gar nicht gefiel.

»Hemingways Wem die Stunde schlägt ist nun wirklich nicht blasphemisch.«

»Glaubst du, Imam Bin Abdullah fände das in Ordnung?« Karim griff zur Fernbedienung und schaltete das Gerät an.

Hakim dachte an den Imam ihrer örtlichen Moschee zu Hause in Mekka. Der Mann gehörte zu den rückständigsten Geistlichen, denen er auf seinen Reisen jemals begegnet war. Am liebsten hätte er diesen Gedanken laut ausgesprochen, aber er verkniff es sich. Sie hatten sich schon die ganze Woche an Lappalien aufgerieben, waren beide nervös. Hakim fühlte sich zu müde zum Streiten.

»Sieh dir das an!« Karim richtete die Fernbedienung auf das Gerät und stellte den Ton lauter.

Hakim blickte auf den Schirm. Ein amerikanischer Nachrichtenkanal. Sein Freund bekam offenbar nie genug von den Berichten über die Attentate, die sie in der vergangenen Woche verübt hatten. Es bereitete ihm eine fast schon perverse Freude, die Zahl der Opfer und die Namen der Toten zu protokollieren. Er notierte alles auf einem Notizblock mit Spiralbindung. Zwei Kabinettsmitglieder und sieben Senatoren waren bei den ersten Explosionen ums Leben gekommen.

Den Auftakt der Mission hatten sie mit der Präzision eines Uhrwerks eingeleitet. Drei Autobomben waren an drei der beliebtesten Plätze in Washington zur belebten Mittagszeit hochgegangen. Sie allein töteten bereits fast 125 Menschen. Eine vierte Bombe detonierte wenige Stunden später auf dem Höhepunkt der Rettungsaktionen, forderte zahlreiche weitere Opfer und verpasste dem satanischen Feind Amerika einen vernichtenden psychologischen Tiefschlag.

So nahm es zumindest Karim wahr. Hakims Einschätzung fiel zurückhaltender aus. Bei der zweiten Attacke waren Dutzende von Feuerwehrleuten, Rettungskräften, Polizisten und Zivilisten gestorben, die sich in der Nähe aufhielten. Hakim hatte im Vorfeld gegen dieses Vorgehen protestiert. Er hielt es für wenig ehrenhaft, sich solch feiger Methoden zu bedienen, und das war erst der Anfang. Ihn störte generell, wie engstirnig die meisten Al-Qaida-Genossen das Weltgeschehen reflektierten. Die wenigsten Dschihadisten, die er kannte, hatten andere Länder bereist oder gar Zeit in Amerika verbracht. Sie begriffen nicht, wie die Bewohner der USA auf solche Aktionen reagierten. Eine Explosion, die gezielt Helfer und Unbeteiligte ins Visier nahm, brachte die Volksseele zum Kochen. Karim und alle anderen, die glaubten, mit so einem Vorgehen den Kampfwillen des Gegners zu lähmen, lagen völlig falsch. Im Gegenteil, solche heimtückischen Taten trieben junge Männer in Scharen in die Rekrutierungszentren des Militärs. Damit zogen sie den Krieg nur unnötig in die Länge und schadeten ihrem Ansehen bei internationalen Verbündeten.

Hakim hatte seine Argumente so entschlossen vorgetragen, wie er es wagte, jedoch einmal mehr den Kürzeren gezogen.

»Genau deshalb«, entgegnete Karim mit kaum verborgener Häme, »werden sie nie triumphieren. Das versuche ich dir schon seit Jahren klarzumachen.«

»Wovon redest du?« Hakim reagierte eher irritiert als interessiert. Er trat näher an den Fernseher heran, in dem gerade Aufnahmen von einem Mann Ende 20 gezeigt wurden. Abrupt wechselte die Darstellung zu dem Foto einer lächelnden Frau und eines kleinen Mädchens.

»Er war zum Essen mit ihnen verabredet. Er arbeitet für ihr Finanzministerium. Nein, er arbeitete«, korrigierte Karim sich grinsend. »Er kam letzte Woche mehr als eine halbe Stunde zu spät. Mutter und Tochter wurden bei der Explosion getötet, er hat überlebt.«

»Und was ist daran so erfreulich?«, wollte Hakim wissen.

»Er hat gerade Selbstmord begangen.« Karim brach in Gelächter aus. »Kannst du dir das vorstellen? Mann, was für Schwächlinge!«

Hakim sah zu, wie der andere den Spiral-Notizblock zur Hand nahm und mit einem selbstgefälligen Lächeln die Opferzahl nach oben korrigierte.

Mit müder Stimme konterte Hakim: »Und du machst dir Sorgen über meine Lektüre.«

Karim, der kurz abgelenkt gewesen war, klappte den Block zu und schaute auf. »Wie bitte?«

»Was meinst du, was Imam Bin Abdullah davon hält, dass du dich am Schmerz von anderen weidest?«

Mit einem abfälligen Hüsteln erwiderte Karim: »Er würde mir sicher dafür danken, einen weiteren Ungläubigen aus dem Verkehr gezogen zu haben.«

Hakim war zu müde, um sich auf eine weitere hitzige Debatte mit der wohl verbohrtesten Person einzulassen, die er kannte. Er ignorierte die Bemerkung des Freundes und lief durch den kurzen Flur zu seinem warmen Bett, in der Hoffnung, lange und ungestört schlafen zu können.