Nach einer spektakulären Befreiung aus den Fängen tschetschenischer Rebellen in Moskau taucht die Journalistin Farah Hafez in Indonesien unter. Dort recherchiert sie die Hintergründe eines großen Kernenergieprojekts, in das der russische Oligarch Walentin Lawrow verwickelt zu sein scheint. Er ist auch der Mann, der vermutlich hinter Farahs Entführung steckt. Gleichzeitig versucht Farahs Jugendfreund Paul Chappelle, in Johannesburg belastendes Material gegen Lawrow zu finden. Schnell müssen die beiden feststellen, dass sie es mit einem mächtigen Gegenspieler zu tun haben, der mehr als interessiert an einem Wiedersehen mit Farah ist – einem Wiedersehen, das tödlich ausgehen könnte.

Walter Lucius ist das Pseudonym des Drehbuchautors und Produzenten Walter Goverde. Er hat für zahlreiche Theater- und Fernsehproduktionen gearbeitet und ist Gründer von Odyssee Productions, einer Produktionsfirma, die u. a. Projekte für die niederländische Regierung entwickelt hat.

Ilja Braun studierte Germanistik sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Erlangen, Glasgow und Berlin. Er übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Niederländischen und Englischen, unter anderem von Fikry El Azzouzi, Wilfried de Jong und Eva Maria Staal.

Walter Lucius

Schattenkämpfer

Thriller

Aus dem Niederländischen von
Ilja Braun

Suhrkamp

Die niederländische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

Schaduwvechters

bei Uitgeverij Luitingh-Sijthoff B.V., Amsterdam

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe
des suhrkamp taschenbuchs 4645

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© 2016 Walter Lucius

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie

der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagabbildung: masterfile/Vasca; Renee Keith/Getty Images; FinePic©, München

Umschlag: zero-media.net

eISBN 978-3-518-74262-4

www.suhrkamp.de

Für Anny

alles, was hinter dem Regenbogen liegt

»Jeder Akt der Aufklärung – der Versuch, Seelen zu retten, ganz grundsätzlich – ist beschwert mit der Last dessen, was auf die Aufklärung folgte, mit ihrer Schattenseite:
der Gewalt, die sie begleitet hat.«

William Kentridge

As we wind on down the road

Our shadows taller than our soul

There walks a lady we all know

Who shines white light and wants to show

How everything still turns to gold

Robert Plant

ERSTER TEIL
Angriff

1

Im Objektiv des digitalen Camcorders sah sie ihr Spiegelbild. Hinter dem Gerät stand der kahlköpfige Mann mit den Raubvogelaugen. Er hatte sie in den Kofferraum des gepanzerten Falcon Kombi geworfen und war mit ihr nach Moskau gefahren, mitten ins Herz der Stadt. Durch lange, leere Gänge hatte er sie hinter sich hergeschleift, wie einen Klumpen Fleisch. Er hatte nur wenige Worte an sie verschwendet, auf Englisch, mit diesem fetten slawischen Akzent, auf den Russen offenbar ein Patent hatten. Kurz angebunden, im Befehlston. Schnelle, kantige Bewegungen, passend zu seinem Blick, ohne jedes Mitgefühl. Allein sein ständiges Keuchen verriet eine Schwäche. Regelmäßig sog er an einem Inhalator.

In einem gekachelten Raum mit verdunkelten Fenstern hatte er sie der Kamera gegenüber an einen Stuhl gefesselt. Ein Mann im Tarnanzug war hereingekommen, eine Kalaschnikow in der Hand, zwei volle Patronengürtel, eine schwere Pistole im Holster. Die Art und Weise, wie er mit dem Kondormann sprach, verriet, dass die beiden sich kannten.

Eine Frau im schwarzen Gewand mit straff gebundenem Kopftuch filmte die Szene mit ihrem Mobiltelefon. Eine auffällige Erscheinung, mit ihrer weißen Haut und den blauen Augen. Der Mann im Tarnanzug herrschte sie an, worauf sie kurz verschwand und mit einer kaum zwanzig Jahre alten Frau zurückkehrte, die sie vor sich herschubste. Die junge Frau wurde dem Mann im Tarnanzug übergeben, der sie zwang, sich neben dem Kondormann auf den Boden zu knien. Er stellte die Kamera an, und ohne das Mädchen eines Blickes zu würdigen, drückte er ihr den Lauf seiner Zastava an die Schläfe.

Die Frau flehte um ihr Leben. Es klang wie ein Gebet, geflüstert auf Russisch. Der Kondormann beachtete sie nicht, er war ganz auf die Person konzentriert, die ihm gegenübersaß. Mit einem tätowierten Finger zeigte er auf das Kameraobjektiv.

»Hier reingucken.«

Farah Hafez hob den Kopf und blickte in das spiegelnde schwarze Loch.

»Jetzt sagst du, was ich dir vorspreche, bitch. Und ich will, dass es überzeugend klingt. Du kannst dem Mädchen hier das Leben retten.«

»Was soll ich sagen?«, murmelte Farah.

»Sprich mir nach.« Und Farah hörte ihn die Worte vorsagen. Worte, die nicht ihre waren, die ihr nie in den Sinn gekommen wären. Trotzdem befahl sie ihren Lippen, die Worte zu wiederholen. Das Mädchen durfte nicht sterben.

Ihre Stimmbänder vibrierten nur unmerklich, sie brachte kaum mehr als einen leisen Seufzer hervor. Der Kondormann spannte den Abzug seiner Zastava. Das rote Lämpchen der Kamera blinkte. Die junge Frau kauerte sich noch mehr zusammen.

Dann brachen die Worte aus Farah heraus, unerwartet und heftig. Als müsste sie sich übergeben. »Ich, Farah Hafez, unterstütze den Dschihad gegen das verbrecherische Regime des Präsidenten Potanin.«

Mit einem eiskalten Lächeln drückte der Kondormann trotzdem ab.

Das trockene Klicken der Zastava verriet, dass keine Kugel im Lauf gewesen war. Die Frau fiel in Ohnmacht. Ein penetranter Geruch von Urin verbreitete sich im Raum.

Farah brüllte den Kondormann an. Auf Dari schrie sie, seine Mutter sei schlimmer als eine Hure, habe es sogar mit Hunden getrieben und er sei das unmittelbare Ergebnis dessen.

Der Kondormann kam auf sie zu. Er schien jegliche Kontrolle verloren zu haben. Obwohl sie an den Stuhl gefesselt war, trat sie ihm so kräftig sie konnte gegen das Schienbein. Dann versuchte sie, sich wegzuducken, fiel aber mit dem Stuhl um. Er packte sie an den Haaren und schleifte sie mitsamt dem Stuhl aus dem Raum, durch den Flur und in eine Halle. Eine große Gruppe junger Menschen war hier zusammengetrieben worden und wurde von schwarz gekleideten Frauen mit vorgehaltenen Waffen bewacht.

Er zog ihre Fesseln noch einmal nach, so straff, dass sie kaum noch atmen konnte, steckte ihr einen Knebel in den Mund und fixierte ihn mit Klebeband. Dann band er ihr ein flaches Metallgehäuse vor den Bauch, das mit Kabeln an einen Laptop angeschlossen war.

Schwitzend stand er vor ihr und sog gierig an seinem Inhalator.

»Little bitch, you’re going to end like a big bang.«

Mit den Armen deutete er das Platzen einer riesigen Luftblase an. Dann ließ er sie allein.

2

Wegen des rotglühenden Ascheregens und des dichten, rußigen Rauchs, der von den Wäldern über die Straße trieb, konnte der gepanzerte Falcon nicht schnell fahren. Es war Paul Chapelle und Anja Koslowa gelungen, ihn unbemerkt mit ihrem Skoda zu beschatten. Sie fuhren in Richtung der Sieben Schwestern, eines Gebäudekomplexes der Moskauer Universität. Hunderte Studenten wurden dort von tschetschenischen Terroristen als Geiseln festgehalten. Ein paar Hundert Meter vor dem Gebäude riegelte ein Ring aus russischen Panzern und Armeefahrzeugen den Komplex hermetisch ab.

Erschüttert beobachteten sie, dass der Falcon nach kurzem Halt durchfahren durfte.

Im Krisenstab herrschte völliges Chaos. Niemand konnte ihnen sagen, was los war, wie viele Menschen sich im Innern des Gebäudes befanden und was dort vor sich ging.

Anja sprach, während Paul sich abseits hielt, minutenlang im Flüsterton mit zwei Rettungssanitätern. Aus ihrer Gestik schloss er, dass sie die Männer dazu bringen wollte, ihr zwei weiße Jacken und eine Handvoll Medikamente zu überlassen. Unauffällig und rasch steckte sie ihnen ein paar Rubelscheine zu.

Sie erzählten, einige der Geiseln bräuchten sofortige medizinische Hilfe, und kamen so durch die Kette von Soldaten hindurch, die das Gebäude, in dem Anja früher selbst studiert und später Vorlesungen gehalten hatte, komplett abgeriegelt hatten. Über eine Tür im Souterrain ins Gebäudeinnere zu gelangen, war dann das reinste Kinderspiel. Im Keller zogen sie die weißen Kittel wieder aus. Anja zog ihren Presseausweis hervor und drückte Paul die Nikon in die Hand.

»Schurnalisty!«, rief sie, als sie in einen dunklen Flur kamen und sofort von drei schwarz gekleideten Frauen mit schwarzen Kopftüchern und Kalaschnikows umzingelt wurden.

»Anja Koslowa von der Moskowskaja Gaseta, ich möchte zu Chalim Barchajew. Er kennt mich, ich habe mal ein Interview mit ihm geführt.«

Die Frauen mit den Kopftüchern bohrten Paul und Anja die Läufe ihrer Gewehre in den Rücken und führten sie in die zur Kommandozentrale umgebaute Kantine.

Mit seinen dunklen Augen sah Barchajew aus wie der wiedergeborene Che Guevara, fand Paul. Er umarmte Anja, als würde sie zu seinem Harem gehören. Anja bluffte, das merkte Paul an ihrer Stimme. Die beiden unterhielten sich wie alte Freunde. Sie wolle einen Bericht über die Geiselnahme machen, erzählte sie, damit die Welt auch Barchajews Version der Geschichte erführe, und ob sie und ihr Fotograf dafür freie Hand bekämen.

Er entdeckte sie in der Aula, gegenüber einer großen schwarzen Fahne mit arabischen Schriftzeichen, an einen wackligen Stuhl gefesselt. Sie schwitzte und zitterte am ganzen Leib. Ein breiter Streifen Klebeband über ihrem Mund. Vor ihrem Bauch ein olivgrünes Metallgehäuse mit der Aufschrift: FRONT TOWARD ENEMY. Militärischer Sprengstoff, wie er sofort erkannte. Ein Gehäuse, gefüllt mit Hunderten von Stahlkugeln, die bei der Zündung ebenso viele blutrote Löcher in die jungen Körper der Geiseln reißen würden. Zwei Kabel führten zu einem Laptop, auf dem eine digitale Zeitanzeige zu sehen war, die sich unaufhaltsam der Null näherte.

Ihm war, als könnte er ihren Atem spüren, ihr Herz schlagen hören, schneller und immer schneller, genau wie sein eigenes.

Aber da der Blick einer schwarzen Witwe und der Lauf einer Kalaschnikow auf ihn gerichtet waren, versuchte er, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie wiedererkannt hatte.

Langsam hob er den Fotoapparat auf Augenhöhe und drückte ab. Klick, klick.

Farah starrte ihn groß an, verdrehte die Augen. Anscheinend war sie vor Angst schon ganz irre geworden.

Angst.

Das war das letzte Wort, an das Paul sich erinnerte, bevor der Schlag auf seinen Hinterkopf die Zeit anhielt und es dunkel um ihn wurde.

3

Trotz der stickigen Hitze zitterte sie am ganzen Körper. Den Gestank von Angstschweiß, Urin und anderen Ausscheidungen nahm sie schon gar nicht mehr wahr. Ihre Glieder waren taub geworden.

Kurz glaubte sie zu halluzinieren.

Sie glaubte, Paul vor sich zu sehen. Seine hochgewachsene Gestalt, sein halblanges, dunkelblondes Haar, zerzauster denn je, das extrem kantige Kinn, das so stark an seinen Vater erinnerte. Seine eisblauen Augen, die sie anstarrten.

Aber was sie sah, war keine Einbildung.

Der Schrecken, der ihm in sein unrasiertes, von Narben, Nähten und Pflastern übersätes Gesicht geschrieben stand, war echt. Er hielt das Objektiv eines Fotoapparats auf sie gerichtet und tat so, als würden sie sich nicht kennen. Das durchschaute sie sofort, auch wenn ihr Kopf sich ansonsten anfühlte, als wäre er mit blutdurchtränkten Wattebäuschen ausgestopft. Sie durften einander nicht kennen.

Dann sah sie plötzlich, was hinter ihm vor sich ging. Sie riss die Augen so weit wie möglich auf, verdrehte sie. Um ihn zu warnen. Wegen des Knebels konnte sie keinen Laut von sich geben, aber innerlich schrie sie.

Dreh dich um, dreh dich um!

Doch er verstand sie nicht. Er kam näher. Drückte wieder und wieder auf den Auslöser der Kamera. Als der Kolben der Kalaschnikow seinen Hinterkopf traf, sackte er in sich zusammen.

Keuchend betrachtete der Kondormann seine neue Beute und sog wieder an seinem Inhalator. Dann fasste er Paul an den Beinen und schleifte ihn aus der Aula heraus.

Wenig später drang ein dumpfer Knall aus einem anderen Teil des Gebäudes an ihr Ohr, gefolgt von Geschrei. Eine Leuchtkugel wurde in die Aula geschossen. Soldaten stürmten herein, ein russisches Sondereinsatzkommando. Gedämpfte Schüsse waren zu hören, in schneller Folge, als würde eine lange Reihe von Champagnerflaschen entkorkt. Eine Kugel pro Kopf, für alle Frauen in Schwarz.

Bei dem Anblick verlor Farah das Bewusstsein.

Es war Pauls Stimme, die sie wieder zu sich brachte. Sie konnte ihn nicht sehen, weil er hinter ihr stand. Sie war noch immer auf dem Stuhl festgebunden. Vorsichtig zog er das Klebeband von ihrem Mund ab und nahm ihr den Knebel heraus. Sie bekam einen Magenkrampf und musste würgen. Die ganze Zeit über hörte sie seine Stimme. Einzelne Satzfetzen nisteten sich in ihre Erinnerung ein.

Weißt du, wie sich das anfühlt? Das fühlt sich genial an, verdammt. Hörst du? Genial! Wir kommen hier raus, du und ich.

Er beugte sich über sie, sie spürte seinen Atem, und dann fielen Blutstropfen auf ihre Schulter, dickflüssig wie schmelzendes Kerzenwachs. Später würde er ihr erzählen, dass dieses Blut mit Hautfetzen vermischt war und vom Kondormann stammte. Während er auf sie einredete, waren drei Soldaten damit beschäftigt, den Sprengsatz an ihrem Körper zu entschärfen. Im Hintergrund sah sie einen Mann im Tarnanzug auftauchen. Er kam aus einer Staub- und Schuttwolke, schrie wie ein verwundetes Tier und richtete seine Kalaschnikow auf das Sondereinsatzkommando. Kugeln aus dem Repetiergewehr eines Alfa-Soldaten durchlöcherten seinen Körper.

Sie blickte in die ernsten Augen des Befehlshabers, der keinen Augenblick von der Bombe vor ihrem Bauch abgelassen hatte.

»Front toward enemy«, sagte er in brüchigem Englisch und zeigte auf den Schriftzug des Metallgehäuses. »You not enemy.« Er lächelte. »You free.« Und er nahm den Kasten ab. Die Kabel waren nicht mehr an den Laptop angeschlossen.

Sie richtete sich auf und schlang ihm die Arme um den Hals, küsste ihn, bedankte sich. Er hielt sie fest und lachte, den Mund nah an ihrem Ohr. Ein helles, männliches Lachen.

Sie schwebte denselben langen Flur zurück, den sie gekommen war, Richtung Ausgang. Ein flügellahmer Vogel in den Armen Pauls.

Draußen wurde sie von Scheinwerfern geblendet. Männerstimmen stellten Fragen auf Russisch. Eine Frau antwortete darauf. Anja, an den Namen erinnerte sie sich noch. Eine Journalistin von der Moskowskaja Gaseta.

Dann wieder die Stimme von Paul, der ruhig auf sie einredete.

»Du bist jetzt in Sicherheit.«

Genau diese Worte hatte sie selbst zu dem angefahrenen Jungen gesagt, als dieser vor knapp zwei Wochen in Amsterdam in die Notaufnahme gebracht worden war. So redete man mit Menschen, die unter Schock standen. Sie wurde in einen Krankenwagen bugsiert.

»Wo fahren wir hin?«

»Ins Krankenhaus. Ich will sichergehen, dass dir nichts fehlt.«

In der Notaufnahme von Krankenhaus Nummer Fünf blätterte die Farbe von Wänden und Türen. Der Boden unter den knarrenden Rädern der Krankenbahre war dreckig und voller Risse. Anja tuschelte mit dem Arzt und steckte ihm ein Bündel Geldscheine zu.

»Er hat doch noch gar nichts gemacht«, stammelte Farah.

»Aber wir bedanken uns schon mal im Vorhinein bei ihm«, sagte Anja.

Ein magerer Arzt mit einer langen Nase, dessen Gesicht genauso grau und fleckig war wie sein Kittel, hörte ihre Lunge ab. Es kam ihr vor, als ob der Tod selbst sie untersuchte.

Als die Station sich um sie zu drehen begann, fragte sie Paul, ob er ihre Hand halten könne. Und während er das tat, spürte sie, wie ihr eine Injektionsnadel in den Arm gestochen wurde.

Es wurde still in ihrem Innern. Und um sie herum wurde es dunkel.

4

Nummer Fünf galt als eines der besseren Moskauer Krankenhäuser. Noch besser war es natürlich, sich von russischen Krankenhäusern überhaupt fernzuhalten. Es gab wahrlich humanere Arten zu krepieren. Aber Doktor Tod gab Entwarnung. Die Injektion, die er Farah verabreicht hatte, sei lediglich ein Beruhigungsmittel gewesen, erklärte er.

Vom Krankenhaus aus fuhren sie durch ein für Paul noch immer undurchschaubares Netz von Straßen in Richtung des alten Handelsbezirks Samoskworetschje im Süden der Stadt. In der Ferne waren Sirenen zu hören. Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr. Hubschrauber am glühenden Nachthimmel. Überall in der Stadt loderte das Chaos.

Um nicht in eine Kontrolle zu geraten, fuhr Anja abseits der großen Straßen. Schließlich parkte sie den Skoda in einer spärlich beleuchteten Uferstraße, nahe beim Eingang eines alten Wohnsilos. Der Nebel kam ihnen zugute. Sie nahmen Farah in die Mitte und stützten sie, als ob sie betrunken wäre, und erreichten so den Eingang.

Das Risiko, in dem veralteten Lift auf halber Höhe stecken zu bleiben, war Paul zu groß. Lieber trug er Farah die acht Stockwerke auf den Armen hinauf, bis unters Dach, wo sich Anjas in die Jahre gekommene Wohnung befand. Dort legte er sie aufs Bett, hinter Gardinen, die so schwer waren, dass sie vielleicht sogar Gewehrkugeln aufgehalten hätten, und ließ sie schlafen.

»Ihr Herzschlag ist unruhig«, sagte Anja.

Paul machte eine Flasche Wein auf, und sie aßen Borschtsch mit Schwarzbrot. Dabei zappten sie durch Rossija, NTV und den Ersten Kanal, wo überall Live-Berichterstatter und Nachrichtensprecher hinter Studioschreibtischen zu sehen waren, mit den neuesten Neuigkeiten über die Geiselnahme in den Sieben-Schwestern-Hochhäusern. Russland, so lautete die Botschaft, war nicht nur von ausländischen Feinden wie der NATO und der CIA umzingelt, sondern auch von muslimischen Terroristen aus Tschetschenien.

Auf einer extra angesetzten Pressekonferenz lobte Präsident Potanin die Anti-Terror-Kämpfer der Alfa-Einheit, die nicht nur die Geiseln befreit, sondern auch die Terroristen ausgeschaltet hätten, inklusive ihres Anführers Chalim Barchajew. Eine gründliche Sicherheitsuntersuchung werde folgen. »Tschetschenische Terroristen sind mittlerweile in der Lage, bis tief ins Zentrum von Moskau vorzudringen und unschuldige Bürger zu bedrohen. Wir werden sie verfolgen, wir werden sie finden, in welchem Winkel von Tschetschenien auch immer sie sich verstecken mögen, und wir werden sie ausrotten.«

Anja wäre am liebsten in den Fernseher hineingekrochen, um dem Präsidenten eine Tracht Prügel zu verabreichen. »Er benutzt die Geiselnahme als Vorwand, um einen neuen Krieg gegen Tschetschenien anzufangen!«

Potanin habe die niederländische Regierung um sofortige Aufklärung bezüglich der Rolle einer an der Geiselnahme beteiligten niederländischen Journalistin gebeten, die sich derzeit auf der Flucht befinde.

Farah erschien auf dem Bildschirm, und die Versammelten bekamen zum ersten Mal ihr Videostatement zu sehen.

So aufgewühlt hatte Paul sie noch nie erlebt.

»Ich, Farah Hafez, unterstütze den Dschihad gegen das verbrecherische Regime des Präsidenten Potanin.«

Das Bild fror ein. Eine Notfallnummer wurde eingeblendet. Eine sonore Männerstimme rief die Bürger Moskaus dazu auf, sofort Kontakt aufzunehmen, sollten sie »diese flüchtige Terroristin« irgendwo zu Gesicht bekommen.

Paul hörte einen Schrei.

Im Türrahmen stand Farah. Leichenblass starrte sie auf ihr terroristisches Ebenbild im Fernsehen.

5

Sie hatte so tief geschlafen, als wollte sie nie wieder aufwachen, und jetzt, da sie aufgewacht war, kam es ihr vor, als könnte sie nie wieder schlafen. Ihr ganzer Körper war gespannt wie ein Bogen. In ihrem Kopf tobten Bilder von den Geschehnissen der vergangenen Tage. In ihrem Körper war es zu einem Panikkurzschluss gekommen, sie erinnerte sich noch an das Krankenhaus und an die Nadel, die ihr in den Arm gestochen worden war.

Wo sie sich jetzt befand, wusste sie jedoch nicht. Es war viel zu dunkel. Der Schweiß brach ihr aus. Sie kroch aus dem Bett. Dielen knarrten unter ihren Füßen. Sie tastete sich zu einer Tür vor. Dahinter lag ein Flur, an dessen Ende sich eine weitere Tür befand, sie war nur angelehnt und bläuliches Licht flackerte hinaus.

Sie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und schwankte auf das Licht und die gedämpften, aufgeregten Stimmen zu. Der Flur war keine fünf Meter lang, doch die Strecke zu überwinden, kam ihr vor wie ein Halbmarathon. Endlich stand sie vor der Tür, völlig außer Atem, und spähte durch den Spalt ins Zimmer. Da saßen sie. Mit großen Augen starrten sie reglos auf den Fernseher.

Sie stieß die Tür auf, und plötzlich hörte sie ihre eigene Stimme. Aber nicht aus ihrem Mund, sondern von ihrem Ebenbild auf dem Fernsehbildschirm. Von der Dschihad-Terroristin, die sie für die Welt dort draußen geworden war.

»Ich, Farah Hafez …«

Ihre Knie wurden weich, sie sackte langsam in sich zusammen. Die Stimmen verstummten, das Licht wurde vom Dunkel aufgesogen.

Sie schlug die Augen erst wieder auf, als Anja eine Karodecke über sie breitete und fragte: »Do you know where you are?«

Sie wusste es nicht.

»Du bist bei mir zu Hause«, sagte Anja. »Und du tätest gut daran, das sofort wieder zu vergessen.«

Durch einen bunten Vorhang aus klimpernden Perlen ging Anja aus dem Raum. Paul legte Farah ein weiteres Kissen unter den Kopf und strich ihr die Haare glatt. Sie versuchte, ihm zuzulächeln. Er fragte, an was sie sich noch erinnern könne.

»An alles«, sagte sie. »Ich erinnere mich noch an alles.«

»Das ist gut.«

»Nein. Ist es nicht. Am liebsten würde ich alles vergessen.«

»Kommt nicht in Frage. Im Gegenteil, wir wollen alles erfahren.«

Sie ließ ihren Kopf in die Kissen sinken. Wollte nur noch schlafen. Schlafen, um alles vergessen zu können. Aber ihre Augen blieben weit geöffnet. Die Schatten der Fernsehbilder krochen an den Wänden hinauf und flimmerten über die Decke.

Anja kam zurück, mit einer großen Schale Suppe. »Ich habe einen ganzen Topf gemacht«, sagte sie. »Damit du wieder zu Kräften kommst.«

In der heißen Rinderbouillon schwammen Kartoffelstücke, klein geschnittene Möhren und Paprikastreifen. Nach dem ersten Löffel merkte sie erst, wie hungrig sie war. In null Komma nichts hatte sie den Inhalt der Schale verputzt und hielt sie hoch, eine leere Trophäe. Anja verschwand damit wieder in der Küche, und Paul sagte: »Warum haben wir das bloß gemacht? Das war ein schwachsinniger Plan.«

»Es war noch nicht mal ein Plan«, sagte Anja, die mit einer zweiten dampfenden Schale durch den Perlenvorhang zurückkam. »Es war einfach nur schwachsinnig.«

Mit geschlossenen Augen schlürfte Farah die zweite Schale Suppe und dachte darüber nach, wie das alles angefangen hatte. Wie sie Sekandar in der Notaufnahme hatte liegen sehen, ein Kind noch, zurechtgemacht als erwachsene Frau, billige Juwelenringe mit Glöckchen an Armen und Beinen. Um seinen übel zugerichteten Körper hingen Stofffetzen, die exotisch und verführerisch wirken sollten, jetzt aber dreckig und blutverschmiert waren. Sie hatte es sofort gewusst: ein Baccha Baazi, ein »Spielknabe«, wie reiche Afghanen sie sich in ihrem Heimatland seit Jahrhunderten hielten. Irgendwo auf einer verlassenen Straße im Wald, kurz hinter Amsterdam, hatten sie ihn tot geglaubt und zurückgelassen.

Sie wollte, nein, sie musste dahinterkommen, wer dafür verantwortlich war. Zehn Jahre arbeitete sie mittlerweile für das Algemeen Nederlands Dagblad, aber erst im letzten Jahr hatte sie sich landesweit einen gewissen Namen gemacht, mit Artikeln darüber, wie die niederländische Regierung mit Flüchtlingen aus Afghanistan umging. Und über diese Fahrerflucht war sie jetzt einer zwielichtigen Verbindung zwischen dem niederländischen Wirtschaftsminister Ewald Lombard und dem CEO von AtlasNet, Walentin Lawrow, auf die Spur gekommen.

Lawrow war weltweit als Kunstsammler mit einer Vorliebe für extravagante Ankäufe bekannt. Die Idee ihres Chefredakteurs Edward Vallent war ebenso genial wie naiv gewesen: Sie sollte Lawrow als Gastredakteur für eine spezielle AND-Kunstbeilage anwerben. Um auf diese Weise so schnell, so effizient und so nah wie möglich an ihn als Schlüsselfigur heranzukommen.

Lawrow hatte zugestimmt. Sie hatten sich verabredet, und Farah war nach Moskau geflogen.

Und hier saß sie nun, eine Schale Suppe in den zitternden Händen, in einer fremden Wohnung, verstrickt in ein Netz ungreifbarer Schattenspieler. Gesucht wegen ihrer angeblichen Mitschuld an einer Geiselnahme unschuldiger Studenten.

Eine Journalistin ohne jede Erfahrung in solchen Angelegenheiten, war sie mit ihrer eigenen Agenda im Kopf auf einen russischen Oligarchen losgegangen, der seinerseits einen lückenlosen Backgroundcheck von ihr hatte machen lassen. Sie dachte daran, was der Chefredakteur der Moskowskaja Gaseta, Roman Jankowski, ihr bei einem Treffen vor ein paar Tagen eingeschärft hatte: »In unserem Beruf muss man immer das Beste hoffen, aber auf das Schlimmste gefasst sein, wenn man es mit Leuten wie Lawrow und vor allem dem Präsidenten zu tun hat.«

Paul hielt ihr das Display einer Nikon unter die Augen. Auf der großen Terrasse eines gläsernen Hauses am Ufer eines Sees sah sie sich selbst neben Walentin Lawrow stehen.

»Wir sind dir gefolgt«, sagte Paul.

Sie hielt die Luft an und schaute noch einmal in die graugrünen Augen in Lawrows messerscharfem, kantigem Gesicht mit breitem Kiefer und schmalem Mund. Ihr war, als könnte sie seinen würzigen Körpergeruch wahrnehmen, eine Mischung aus Mint, Lavendel und Bergamotte.

Als hörte sie ihn sprechen, quälend langsam. »Arbeiten Sie für mich. Das ist doch besser, als zum Schein Kunstartikel über freche Oligarchen zu schreiben, oder etwa nicht?« Das Champagnerglas, das er ihr hingehalten hatte. Der bedrohliche Unterton, der in seiner Stimme gelegen hatte, als er auf den See geschaut und gesagt hatte: »Ich werfe Ihnen eine Rettungsleine zu, verstehen Sie, Farah?«

Sie sah Paul an. »Er wusste es«, sagte sie. »Er hat es von Anfang an gewusst.«

6

Die Wälder rund um Moskau standen nun schon seit fast einer Woche in Brand. Dicke Rauchschwaden zogen aus den Außenbezirken immer weiter in die Stadt hinein. Die Konzentration von Giftstoffen in der Luft war siebenmal so hoch wie der Maximalwert, den die Behörden als unbedenklich betrachteten. Tausende illegaler Aserbaidschaner, Armenier, Kirgisen, Usbeken und Kasachen hielt das allerdings nicht davon ab, auch an diesem Morgen wieder mit ihren abgewrackten Kleinbussen in den Nordosten Moskaus einzufallen. Auf dem Tscherkisowski-Markt, einer Fläche, die dreimal so groß war wie der Kreml, verkauften sie ihre Schmuggelware an Händler, die genauso illegal hier waren wie sie selbst. Der Hitze und dem Smog zum Trotz würden auch heute wieder Tausende Moskauer und Touristen kommen, um kaspischen Lachs, schwarzen Kaviar, Gewürze, Teppiche und wenig vertrauenerweckende Elektrogeräte zu kaufen.

Es war sechs Uhr morgens. Neben der täglichen Nervosität, mit der das Aufbauen der Marktstände immer einherging, lag heute noch eine andere Art von Spannung in der Luft. Hoch über den Marktständen drehte ein Armeehubschrauber bedrohlich seine Runden, während Paul und Anja unten zwischen den Ständen hindurchliefen, um möglichst schnell zur Mitte des Marktes zu kommen.

Sie hatten Farah an einem Ort versteckt, der so naheliegend war, dass die Obrigkeit dort erst einmal nicht nach ihr suchen würde, nämlich in Anjas Wohnung. Aber sie musste dort natürlich so schnell wie möglich wieder weg. Nur wohin? Wo wäre sie sicher? Jedenfalls nicht in Russland, wo im Fernsehen noch immer Bilder von ihr als Terroristin liefen. Auch nicht in den Niederlanden, die eng mit Russland zusammenarbeiteten – schließlich waren auch niederländische Studenten unter den Opfern der Geiselnahme gewesen.

Dank Interpol war kein Ort in ganz Europa für Farah sicher. Sie musste viel weiter weg. Sie brauchte ein anderes Äußeres und eine neue Identität.

Darum waren sie hier. In dieser autonomen Handelsenklave, die eine eigene Infrastruktur, eigene Ordnungsdienste, Hotels und Bordelle unterhielt, hatte sich im Untergrund eine ganze Industrie herausgebildet, die auf die Anfertigung falscher Reisedokumente spezialisiert war. Dank deren Existenz hatten mittlerweile Hunderttausende Chinesen, Südasiaten und andere Illegale über Russland und die baltischen Staaten ihren Weg in den Westen gefunden.

Hier, in den Tiefen des Tscherkisowski-Markts, standen die Chancen, Farah spurlos verschwinden zu lassen, am besten.

Aber sie hatten wenig Zeit.

Gerade wollten sie in eine Festung von Stahlblechcontainern hinein, als sie von zwei Männern aufgehalten wurden. Dunkle Ray-Ban-Sonnenbrillen, gegerbte kaukasische Visagen, unter schwarzen Lederjacken deutlich sichtbare Nagant-Revolver.

»Herr Dadaschow erwartet uns«, sagte Anja.

»Nicht heute.«

Der Helikopter surrte im Tiefflug über sie hinweg. Unwillkürlich duckten sie sich. Ein heißer Luftstrom streifte ihre Köpfe.

»Es ist wichtig«, bohrte Anja nach. »Er kennt mich. Es dauert nicht lange.«

Die beiden Männer berieten sich kurz, dann entfernte sich einer von ihnen. Erst jetzt wurde Paul bewusst, dass sie von weiteren Männern, die alle dieselben Lederoutfits trugen, beobachtet wurden. Anscheinend waren es allesamt persönliche Sicherheitskräfte jenes Mannes, der von diesem Container-Netzwerk aus über den Tscherkisowski-Markt herrschte wie ein Kaiser über sein Reich. Asim Dadaschow, Sohn eines armen Schuhputzers aus Aserbaidschan, hatte dank raffinierter Schmuggelpraktiken sein mafiöses Imperium zu dem gemacht, was es heute war: eine Brutstätte vornehmlich asiatischer Illegaler. Aber seine Tage waren gezählt. Der russische Präsident hatte vor Kurzem ein Gesetz erlassen, dem zufolge es nur noch russischen Staatsbürgern erlaubt war, Marktstände zu betreiben. Eine Säuberung großen Stils hing in der Luft, und das Geräusch der rotierenden Helikopterblätter war ein Vorgeschmack darauf.

Anja fürchtete, dass sie schon zu spät dran waren. Männer trugen schwere Kisten und Computer aus den Containern hinaus zu einem bereitstehenden Bus. Und der Security-Mitarbeiter kam mit mürrischem Blick zurück.

»Er gibt dir fünf Minuten«, sagte er zu ihrem Erstaunen.

Nachdem er ihre Ausweise kontrolliert und sie gründlich durchsucht hatte, führte er sie in den inneren Ring der Container. Durch eine Schleuse kamen sie in einen gekühlten Raum, dessen Wände über und über mit persischen Teppichen bedeckt waren, bis auf eine, die mit Monitoren vollgehängt war. Sie befanden sich im Sicherheitsraum. Vor den Bildern der über den Markt verteilten Überwachungskameras saßen drei Männer, die die unscharfen Konturen des Mil-Mi-24-Kampfhubschraubers nicht aus den Augen ließen.

Der mittlere der drei Männer drehte sich zu ihnen um. Sein breiter, glänzender Kahlschädel schien nahtlos in die Schulterpartie seiner Riesenstatur überzugehen. Ein straffer Körper, alle Muskeln angespannt. Er erinnerte an einen türkischen Ringkämpfer, der mit glänzendem Anzug und rotseidener Krawatte als Maharadscha von Jaipur auftreten wollte. Als er Anja erkannte, trat ein unergründliches Lächeln auf das gequälte Gesicht von Asim Dadaschow.

Es erstaunte Paul noch immer. Erst vor ein paar Tagen hatte Anja einen tschetschenischen Terroristen-Anführer umarmt. Jetzt war ein kaukasischer Mafioso an der Reihe. Allerdings hatten die beiden auch etwas gemein: Sie waren beide feurige Potanin-Hasser.

»Die Stunde null kommt näher, mein Täubchen«, murmelte Dadaschow Anja zu, nachdem er Paul mit eisernem Händedruck begrüßt hatte. »Dieser Helikopter ist der Vorbote einer groß angelegten Razzia. Militärische Ordnungskräfte sind auch schon unterwegs. Sie riegeln den Markt gerade komplett ab. Ich habe also nicht viel Zeit für dich. Es sei denn, du willst mich auf meiner Flucht begleiten.«

»Vielleicht ein andermal, Asim.«

»Ich gebe die Hoffnung nicht auf, mein Zuckerherz. Was kann ich für dich tun?«

»Ich brauche einen Pass, Asim. Und ein Ausreisevisum.«

»Da musst du woanders suchen. Wir bauen hier gerade alles ab.«

»Ich würde hier nicht stehen, wenn es nicht lebenswichtig wäre, Asim. Du bist der Einzige, der mir helfen kann. Eine Freundin von uns steckt in Schwierigkeiten. In ernsthaften Schwierigkeiten. Sie ist Journalistin. Wenn du die Berichte über die Geiselnahme im Fernsehen verfolgt hast, hast du bestimmt ihre Videobotschaft gesehen. Sie ist in eine Falle getappt. Das Video ist ein Fake. Sie haben sie dazu gezwungen.«

»Sie?«

»Die ganze Geiselnahme ist wahrscheinlich nichts als ein abgekartetes Spiel. Potanin sucht einen Vorwand dafür, wieder in Tschetschenien einzumarschieren. Wir kämpfen gegen denselben Feind, Asim, gegen den Mann, vor dem alle weglaufen. Außer dir und mir.«

»Warte«, befahl Dadaschow. Er wandte sich ab, beriet sich kurz mit den beiden anderen Männern und bedeutete dann Paul und Anja, dass sie ihm folgen sollten.

»Wo will sie denn hin, unsere Heldin? Nach Skandinavien, England, Amerika?«

»In die andere Richtung«, sagte Paul. »Nach Indonesien.«

Es war Farahs eigene Idee gewesen.

Walentin Lawrow war in einer Fernsehreportage zu sehen gewesen. In der Lobby der russischen Botschaft von Jakarta hatte er der Presse Rede und Antwort gestanden. Im Blitzlichtgewitter aufdringlicher Fotografen hatte er bekannt gegeben, dass AtlasNet in Kürze eine »historische Übereinkunft« mit der indonesischen Regierung schließen würde: über den Bau von 27 schwimmenden Kernkraftwerken im Indonesischen Archipel. Der Plan musste zwar noch von den fünfhundertundsechzig Angehörigen des Abgeordnetenhauses abgesegnet werden, aber Lawrow lachte in die Kamera, als hätte er den Auftrag schon in der Tasche.

»Saya pergi ke Jakarta«, hatte Farah gesagt. Ich gehe nach Jakarta.

Vor ein paar Jahren war sie schon einmal in Indonesien gewesen. In Bandung hatte sie ein Intensivtraining Pencak Silat absolviert. Bahasa beherrschte sie so weit, dass sie ein paar Brocken verstehen und einfache Gespräche führen konnte. Jakarta war eine Millionenstadt – perfekt, um anonym zu bleiben. Und um herauszufinden, wie Lawrow es hinbekommen hatte, ein solches Projekt an Land zu ziehen. Ihr Vorschlag war darauf hinausgelaufen, dass sie alle zusammen die Aktivitäten von AtlasNet unter die Lupe nehmen sollten, jeweils von verschiedenen Teilen der Welt aus. Anja von Moskau, Paul von Amsterdam und sie selbst von Jakarta aus.

Es war ein irrsinniger Plan. Aber auch ein mutiger, hatte Paul geurteilt. »Wir werden Lawrows drei apokalyptische Reiter.«

Paul und Anja folgten Dadaschow in einen Durchgang, der sie in einen anderen Container führte, zu einem mit Neonlicht beleuchteten Arbeitsplatz, der gerade komplett demontiert wurde. Überall wurden Computermonitore abgebaut, Dokumente hastig eingepackt. Pässe, zweifellos gefälschte, verschwanden stapelweise in Kartons. Dadaschow rief einen untersetzten Asiaten herbei und gab ihm mürrisch ein paar knappe Anweisungen; dann schob er ihn Paul und Anja vor die Nase.

»Sag ihm, was du brauchst, und er macht es für dich. Aber es muss schnell gehen. Sehr schnell.«

»Ich hab alles dabei«, sagte Anja. Sie strich Dadaschow über die fleischige Wange. »Danke, Asim.«

»Für dich tu ich doch alles, mein Kampfkätzchen«, sagte er. Das Grinsen auf seinem Gesicht war wieder verschwunden, noch ehe er den Container verlassen hatte.

Der Asiate setzte sich hinter einen Monitor und bedeutete Paul und Anja mit leicht panischen Gesten, dass er weitere Instruktionen brauchte. Anja war gut vorbereitet. Sie hatte das Myspace-Konto einer Russin gehackt, die Farah äußerlich ähnlich sah, auch das Alter kam ungefähr hin. Sämtliche Infos wurden jetzt in das Dateisystem eingespeist, zusammen mit den Daten für den maschinenlesbaren Bereich des späteren Ausweises. Alles ging rasend schnell. Der Drucker spuckte ein paar Seiten extradicken Papiers mit Wasserzeichen aus, der Asiate lief damit zu einer Werkbank, die Blätter wurden ausgeschnitten, genietet und mit einem Umschlag versehen. Anja übergab dem Fälscher ein Foto von Farah, das sie am Abend zuvor aufgenommen hatten. Schließlich fügte der Asiate noch ein paar falsche Stempel und Pseudo-Reisevisa hinzu. Rundum wurde es immer hektischer. Die Security-Leute in ihren schwarzen Jacken trieben alle nach draußen. Der Asiate drückte Anja den fertigen Pass in die Hand, klemmte sich den Laptop unter den Arm und verschwand. Kurz darauf war eine Explosion zu hören, der Container wurde erschüttert. Sie rannten nach draußen und weiter in Richtung des etwa 200 Meter entfernten Lokomotiv-Stadions, zur nächsten Metrostation.

Das Bersten von Holzbalken war zu hören. In ihrem Rücken schoben Bulldozer die Marktstände samt Ware zu einem Berg zusammen, wie Treibholz. Verzweifelte Händler klemmten sich ihre wertvollsten Waren unter den Arm und versuchten, sich aus dem Staub zu machen. Wer in dem Chaos hinfiel, war den militärischen Ordnungskräften ausgeliefert, die mit langen Gummiknüppeln drauflosdroschen.

Paul und Anja schlugen sich durch das Wirrwarr umfallender Stände und flüchtender Menschen, bis sie die Metrostation erreichten. Sie rannten in die Eingangshalle, fuhren mit den langen Rolltreppen in die Tiefe und tauchten schließlich auf den überfüllten Bahnsteigen in der Menschenmenge unter.

Im Metrowaggon herrschten über dreißig Grad. Keine Klimaanlage. Ein Mann in Uniform schob sich auf einem Holzbrett durch den Gang an den Sitzen vorbei, eine bettelnde Hand in die Höhe gestreckt. Ein Tschetschenien-Veteran, der im Krieg seine Beine verloren hatte. Anja klopfte ihm ermutigend auf die Schulter und steckte ihm ein paar Geldscheine zu.

Sie fuhren quer durch das Moskauer Zentrum, mit Farahs neuer Identität in der Tasche.

7

Während draußen die trostlosen Moskauer Außenbezirke vorbeiglitten, zog Farah die Gardinen vor den Schiebetüren ihres Abteils zu und die Fensterblende herunter.

Noch immer leicht befremdet, musterte sie ihren Pass, ihr neues Ebenbild mit dem falschen Namen Walentina Nikolajewa.

Soeben hatte sie noch mit Paul auf dem glasüberwölbten Bahnsteig Nummer zehn des Bahnhofs Moskau Kiewskaja gestanden. Kaum wiederzuerkennen, ungeschminkt, mit kurz geschnittenem kastanienbraunem Haar und dunklen Linsen, die das Hellblau ihrer Augen maskierten. Eine ausgeblichene Cordhose, darüber ein dunkelgraues T-Shirt. In ihrem kleinen Rucksack etwas Unterwäsche, ein kleiner Vorrat an Nüssen und Trockenfrüchten, ein abgegriffenes Handbuch How to learn Bahasa, eine Handvoll Rubel, ihr falscher Pass und ihr Laptop. Den echten Pass hatte sie zusammen mit den Briefen von Raylan an ihre Mutter in ein Extrapäckchen gesteckt und dieses auf Anweisung von Anja in einem Tresor am Bahnhof deponiert.

Unwillkürlich musste sie darüber lächeln, dass Paul selbst bei dieser Hitze noch seine Lederjacke anbehalten hatte. Mit seinem Jimi-Hendrix-T-Shirt, seinen weiten, stellenweise ausgeblichenen Bluejeans und seinen halbhohen, wie immer ungeputzten Stiefeln hatte er ausgesehen, als wäre er mit einem permanenten Persönlichkeitswandel beschäftigt.

»Bist du sicher, dass du das willst?«, hatte er gefragt.

»Ganz sicher.«

Sie hatte den Schirm seiner Baseballmütze zur Seite geschoben und ihn flüchtig auf die Wange geküsst. Dann war sie, ohne sich noch einmal umzusehen, in ihr Zugabteil eingestiegen.

Während sie ihren Laptop herausholte und aufklappte, spürte sie ihr Herz rasen. Im Kopf war sie immer noch nicht so klar, dass sie sich alle Instruktionen, die Anja ihr am gestrigen Abend mit auf den Weg gegeben hatte, hätte merken können. Die meisten, so fürchtete sie, hatte sie schon wieder vergessen.

Ihr Gedächtnis war ein Sieb.

Sie hob den Arm, drehte ihr Handgelenk hin und her und betrachtete das Bettelarmband, das Anja ihr am Abend zuvor zum Abschied geschenkt hatte. Daran hingen ein oranges Herz, ein Schmetterling, eine Blume und zwei kleine Miniaturbücher, eines in Schwarz, das andere in Weiß. Das weiße hielt sie jetzt an den Kanten zwischen Daumen und Zeigefinger, wie sie es am vorigen Abend geübt hatte, drückte das Plastik zwischen den Fingern zusammen und zog einen Mini-USB-Stick aus der weißen Hülle heraus. Sie schloss ihn an ihren Laptop an und drückte auf Option.

Eine endlos scheinende Zahlenreihe lief blitzschnell über den schwarzen Monitor. Sie dachte an Anjas mahnende Worte.

»Selbst in Jakarta kannst du nicht einfach komplett in der Masse aufgehen. Sobald du mich oder Paul anrufst, dich von deinem Laptop aus irgendwo einloggst oder einem von uns eine Mail schickst, hinterlässt du Spuren. Wenn wir sensible Informationen austauschen oder miteinander kommunizieren wollen, ohne solche Spuren zu hinterlassen, müssen wir drastische Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«

Der Mini-USB-Stick war genau so eine drastische Maßnahme.

Es war ein von Anja selbst konfiguriertes Linux-Betriebssystem, das direkt auf die Hardware ihres Laptops zugriff. Sämtliche Software, die sie bislang genutzt hatte, hatte Anja gelöscht, weil darin angeblich Hintertüren eingebaut waren. Damit konnten Geheimdienste wie der FSB, aber auch das FBI oder die NSA sich ziemlich leicht Zugang zu dem Gerät verschaffen und ihre Festplatte scannen, hatte Anja behauptet. Während ihres gesamten Undercovereinsatzes sollte Farah deshalb nie mehr irgendetwas auf ihrer Festplatte speichern. Der USB-Stick selbst war geschützt: Das Dateisystem war als »read only« auf dem Stick abgelegt. Kein Hacker der Welt konnte daran etwas manipulieren, es war sozusagen wie ausgehärteter Zement.

Farah machte den Ordner auf, den Anja für sie eingerichtet hatte. Er enthielt die wichtigsten Daten zu AtlasNet und einiges Hintergrundmaterial zu dem Kernergie-Projekt, das das Unternehmen in Indonesien realisieren wollte.

Seit dem Geiseldrama hatte sie in keine Zeitung mehr hineingeschaut und kein Buch mehr aufgeschlagen. Nicht einen Buchstaben hatte sie gelesen seitdem. Und das, obwohl sie in der AND-Redaktion dafür bekannt war, die Flut der Pressemitteilungen von internationalen Agenturen immer als Erste gelesen und auch noch analysiert zu haben. Normalerweise reichte ihr auch ein einziger Abend für einen kompletten Roman. Aber jetzt zogen die Sätze langsam und bedeutungslos an ihren Augen vorbei. Es ging einfach nichts mehr in ihren Kopf hinein.

»Du bist am Rande des Abgrunds balanciert«, hatte Paul gesagt. »Um ein Haar wärst du abgestürzt. Du musst jetzt erst langsam wieder zu dir kommen.«

Er hatte recht. Sie hatte es daran gemerkt, wie sie beim Versuch, Paul und Anja zu erzählen, was in den Sieben Schwestern mit ihr passiert war, ins Schleudern gekommen war. Sie fing immer wieder an zu sprechen und hatte dann nach der Hälfte schon vergessen, was sie sagen wollte. Die Erinnerungen purzelten in ihrem Kopf durcheinander, hatten keinen richtigen Anfang oder kein richtiges Ende. Sie war immer noch damit beschäftigt, das Puzzle zusammenzusetzen, verirrte sich aber stets in allen möglichen, unzusammenhängenden Details.

Fiebrig vor Müdigkeit und benommen von der Hitze, gab sie sich dem monotonen Rhythmus des fahrenden Zugs hin. Sie merkte nicht, wie ihr die Augen zufielen.

Wie lange sie weg gewesen war, wusste sie nicht. Sie hatte auch keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Eine dröhnende Männerstimme drang an ihr Ohr. Kräftige Finger schlossen sich um ihren Oberarm, rüttelten sie unsanft wach.

Reflexartig griff sie nach dem Laptop, der noch immer in ihrem Schoß lag. Sie schaute in zwei wässerige, dunkel geränderte Augen. Sie gehörten zu dem blassen, eingefallenen Gesicht eines Mannes, der eine fahlgrüne Uniform mit militärisch aussehenden Schulterklappen trug, die anscheinend noch nie gewaschen worden war. Sein Russisch klang verärgert und ungeduldig. Sie verstand kein Wort. Bis auf das eine, das sie sofort in Alarmbereitschaft versetzte.

Passport.

»Minutotschku!«, sagte sie. Einen Augenblick.

Anja hatte ihr ein paar Sätze auf Russisch beigebracht, die sie auswendig gelernt hatte. Ihrem Pass zufolge war sie schließlich Russin. Am Schalter einer Zollkontrolle brauchte man zwar meist nichts zu sagen, sondern musste nur seinen Pass vorzeigen, aber Anja hatte gemeint, es sei überzeugender, wenn Farah ab und zu ein paar einfache Sätze sagen könnte.

Während sie nach ihrem Pass suchte, kam ein zweiter Mann herein. Die Blässe seines mageren Kollegen kompensierte er mit auffällig viel rosarotem Fettgewebe im schweißglänzenden Gesicht. Trotzdem unternahm Farah einen erbärmlichen Versuch, ihm zuzulächeln.

»Tak scharko sewodnja«, sagte sie. Was für eine Hitze das heute ist. Sie reichte ihm den Pass, mit einem kleinen Stapel Rubelscheine zwischend den Seiten. Der Mann mit den wässerigen Augen warf einen höhnischen Blick darauf, nahm die Geldscheine heraus und warf sie achtlos zurück in ihre Richtung. Sie segelten in ihren Schoß.

Lange schaute er in ihren Pass, dann fragte er etwas, was sie nicht verstand.

Auf gut Glück nannte sie ihre drei fiktiven Namen und ihr ebenso fiktives Geburtsdatum.

Die beiden Männer schauten sie an, als hätte sie gerade einen Witz erzählt, der schon bessere Tage gesehen hatte.

»Iswinite, ja was ne ponimaju, ja ne snaju«, stotterte sie und versuchte, so überzeugend wie möglich zu klingen. Entschuldigen Sie, ich verstehe Sie nicht, ich weiß es nicht.

Aber die Art und Weise, wie die beiden sie anschauten, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie war noch nicht einmal bis Kiew gekommen und offenbar schon in die Falle getappt.

Der mit der wettergegerbten Haut steckte den Pass in die Innentasche seiner Jacke und deutete auf ihren Laptop.

Reflexartig klappte sie ihn zu und legte ihn neben sich.

Daraufhin beugte der andere sich vor, um nach dem Gerät zu greifen.

Mit der Seitenkante ihrer flachen Hand traf sie seine Halsschlagader. Stark genug, um für ein paar Sekunden seine Blutzufuhr zu stoppen, und lange genug, damit sie, als er ins Taumeln geriet, ihre Finger ineinander verhaken und ihre Arme zu einem stahlharten Bogen spannen konnte, den sie mit einer rasend schnellen Drehung aus der Hüfte nach vorn schnellen ließ.

Die Spitze ihres rechten Ellbogens rammte seine linke Schläfe.

Er kippte vornüber, worauf sie den ausgestreckten Arm wie eine Brechstange auf seinen Hinterkopf sausen ließ.

Aus dem Augenwinkel sah sie den anderen Mann nach seiner Waffe greifen. Doch in jenem Bruchteil einer Sekunde, den er nach unten schauen musste, um die Waffe zu entsichern, packte sie seinen Kopf und riss ihn in Richtung ihres hochschnellenden Knies.

Sie hörte das Krachen seines Nasenbeins, folgte der Bewegung seines Falls und versetzte seinem Hinterkopf mit dem Ellbogen den Gnadenstoß.

Dann hob sie den zu Boden gefallenen Revolver auf. Sie hatte noch nie einen Revolver in der Hand gehabt, wusste nicht, was sie damit anfangen sollte, und ließ ihn auf die Sitzbank fallen. Nach kurzem Suchen hatte sie die am Gürtel des zweiten Mannes befestigten Handschellen gefunden. Sie öffnete sie, legte sie ihm um die Handgelenke und klickte sie zusammen.

Atemlos schnappte sie sich ihren Laptop und zog den USB-Stick heraus. Immer den USB-Stick mitnehmen. Befehl von Anja. Sie steckte ihn zurück in die Miniaturhülle an ihrem Bettelarmband und schob vorsichtig die Abteiltür auf.

Rechts von ihr, etwa zehn Meter entfernt, stand ein älterer Mann im Gang und rauchte. Er hatte das Fenster geöffnet und streckte den Kopf heraus.

Blitzschnell spielte sie alle möglichen Optionen durch. Wie lange wäre sie noch unterwegs? Wie viele Zollbeamte waren es wohl? Nur diese beiden, oder noch andere?