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Egon Harings

Mord in Leichlingen

Eine Familientragödie

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© 2017 Egon Harings

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback: 978-3-7439-1185-7
Hardcover: 978-3-7439-1186-4
e-Book: 978-3-7439-1187-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Mord in Leichlingen

Eine Familientragödie

Prolog

In Müngsten, einem Weiler bei Remscheid, ist Wilhelm der reichste Mann am Platz. Ihm gehört ein Gutshof, der schon seit über 200 Jahren im Besitz seiner Familie ist. Zum Gutshof gehören große Ländereien, bestehend aus Weiden, Feldern und Waldungen.

Wenn der Gutsherr starb, übernahm jeweils der älteste Sohn den Besitz. Der neue Besitzer war jedoch verpflichtet, seinen Geschwistern für das entgangene Erbe einen Ausgleich zu zahlen. Falls sie wollten, konnten sie jedoch auf dem Hof weiterleben, dann aber nur als Bedienstete. Wilhelms Geschwister hatten allerdings den Hof längst verlassen. Seine jüngste Schwester vor 8 Jahren, nach der Hochzeit mit einem Bauern aus einem anderen Weiler in der Nähe von Remscheid.

Wilhelm lebt mit seiner Frau, einer Bauerntochter, die durch Abfindung ein Vermögen mit in die Ehe gebracht hatte, glücklich seit über 15 Jahren zusammen. 3 Kinder schenkte sie ihm bisher, einen Sohn und zwei Töchter. Ein Wehklagen kennt er nicht. Seit er Besitzer des großen Anwesens ist, gab es nur gute Ernten. Kein Unwetter hatte seine Existenz bedroht. Es gab zwar hin und wieder schlechtes Wetter, was die Ernte geringer ausfallen ließ. Aber dies brachte ihn nicht in finanzielle Verlegenheit, bis auf eine Ausnahme, die er jedoch gut meistern konnte. An eine Vergrößerung seines Besitzes dachte er nie. Er lebte dafür lieber auf großem Fuß, zum Leidwesen seiner Familie. Aber, warum sollte sie klagen? Ihr fehlte doch an nichts. Gewisse Schwächen, die er besaß, musste sie dafür hinnehmen. Er verlangte es auch von ihr. Natürlich gab es Ausnahmen, Momente, wo seine Frau das Sagen hatte. Darüber hinaus existierte eine gewisse Gewaltenteilung zwischen den Eheleuten.

Müngsten, der Weiler in dem Wilhelms Familie seit Generationen wohnt, wurde 1437 erstmals urkundlich erwähnt. Bekannt wurde er Auswärtigen durch die Sensenfabrik Halbach, die der Familie von Bohlen und Halbach gehörte. Der fünfte Sohn dieser Familie, Gustav von Bohlen und Halbach sollte später, im Jahre 1906, die älteste Tochter von Friedrich Alfred Krupp ehelichen.

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Auf einem Bauernhof auf dem Lande

Wo Hühner kratzen im Sande

Kannst du die Natur genießen

Was du dir auch lässt nicht vermiesen

1

Wir schreiben das Jahr 1872. Der Deutsch-Französische Krieg liegt über ein Jahr zurück. Bismarck hat das Zweite Deutsche Reich geschaffen. Alle deutschen Länder waren wieder vereint, mit Ausnahme Österreichs, das sich an dem Krieg gegen Frankreich nicht beteiligt hatte und einer Wiedervereinigung unter preußischer Führung ablehnend gegenüberstand. Nur Österreich? Nein, da waren noch Luxemburg und Liechtenstein, zwei kleine Länder, die ebenfalls ins neu geschaffene Deutsche Reich nicht wollten. Sie spielten auf der politischen Bühne aber keine Rolle.

Es ist Sommer. Seit Tagen hat es nicht geregnet, und Regen benötigt der Boden, damit das Korn gedeiht und die Wiesen nicht vertrocknen. Wilhelm Schmalbein steht am Fenster seines Gutshofs und sieht Richtung Müngsten, wo sich am Himmel ein Unwetter zusammenbraut. Müngsten, dieser Weiler liegt unweit seines Hofs und ist nur wenige Kilometer von Remscheid entfernt. Es ist ein Ort, der viele Jahre später durch den Bau der Kaiser-Wilhelm-Brücke Weltruhm erlangen sollte. Es ist die Brücke, die aber auch zum Rechtsstreit zwischen Preußen und Wilhelm Schmalbein führt, ein Streit, der jedoch vor dem Bau ausgefochten werden wird. Daran braucht Wilhelm Schmalbein jetzt also nicht zu denken; nein, er ahnt auch nicht, dass ihn ein solcher mal beschäftigen könnte, denn Jahre liegen noch davor. Nun bereitet ihm das Wetter Sorgen. Regen wünscht er sich, Regen der die Trockenheit beseitigt. Aber es muss doch nicht direkt ein Unwetter sein.

Blitze durchzucken den schwarzen Himmel. Gespenstisch ist das, was sich draußen abspielt. Wilhelm hat das noch nie gesehen, obwohl er schon weit über 30 Jahre alt ist. Erst starke Windböen, dann heftiger Niederschlag. Das kann seine Ernte vernichten. Aber, was soll er tun? Er hat keine Wahl. Er muss tatenlos zusehen, was Gottes Wille ist. Der Regen prasselt gegen die Fensterscheibe. Auf dem Steinpflaster vor dem Haus springen die Regentropfen, als ob sie wieder dahin zurück wollten, wo sie hergekommen waren. Fast eine Stunde vergeht, da lockert die Bewölkung auf und die Sonne lässt sich blicken. Durch die Brechung des Sonnenlichts an den Regentropfen entsteht ein wunderschöner Regenbogen. Es tröpfelt nur noch aus den letzten Wolken, die davonziehen. Dann hört auch das auf. Der Spuk hat ein Ende, und die letzten Wolken, durch den Wind getrieben, verschwinden schnell am Himmel. Ein blauer Himmel präsentiert sich, der Wilhelms Herz höher schlagen lässt. Vielleicht ist alles glimpflich verlaufen, der heftige Regen und die starken Windböen haben dem Getreide auf dem Feld nicht geschadet. Es wäre sonst eine Katastrophe, das weiß Wilhelm. Er hatte sich im vergangenen Jahr verschulden müssen, um zu überstehen. Es lag am schlechten Wetter. Die Erträge brachten nicht das, was er brauchte zum Überleben. Nun wieder ein schlechtes Jahr, nein, das wird er nicht durchalten können. Land zu verkaufen oder Vieh abzugeben – sein Bestand ist nicht klein, 60 Kühe, 2 Bullen,18 Schweine und 6 Zugpferde, dazu 2 Reitpferde, zu denen ein Rappen gehört, kann er sein Eigen nennen – das kommt für ihn nicht in Frage. An seine vielen Hühner und die 10 Truthennen, die auf dem Hof rumkratzen, denkt er erst gar nicht. Aber da waren ja noch die großen Waldgebiete, die ihm gehörten. Nein, Besitz, der schon seit Jahrhunderten der Familie gehörte, den gibt man nicht ab, den schätzt man nämlich zu sehr. Seine Haupteinnahmequelle ist, und soll es auch bleiben, die Feldwirtschaft. Sie muss neben seiner Familie 10 Knechte und 5 Mägde ernähren. 7 Knechte und 2 Mägde sind im Übrigen verheiratet. Von dem, was sie bei ihm verdienen, müssen sie wiederum ihre Familien ernähren. Sie wohnen auch nicht so komfortabel wie er, das ist ihm bekannt. An vielem fehlt es diesen Familien. Sie müssen aber mit dem wirtschaften, was er seinen Bediensteten zahlen kann. Und das ist sowieso nicht viel. Und jetzt die Ernte? Es wäre für alle schlimm, wenn das Wetter jetzt erneut diese Einnahmequelle vernichtet hätte.

Wilhelm rennt auf den Hof und holt seinen Rappen aus dem Pferdestall, spannt ihn vor den zweirädrigen Einspänner und fährt auf die Felder, das Schlimmste befürchtend.

Kaum hat er den Hof verlassen, sitzt er mit dem Einspänner auch schon fest. Im lehmigen Boden des Wiesenweges gibt es kein Fortkommen mehr. Er muss vom Wagen steigen und versuchen, mit dem Pferd den Einspänner wieder flottzumachen, indem er das Halfter packt, um mit ihm das Pferd zu ziehen, damit es mit seiner Kraft wiederum das Gefährt aus der schweren Erde, die aus nassem Sand besteht und klebrig ist, zieht. Geschafft. Die Fahrt durch Feld und Flur geht weiter. Viele Tümpel, die sich durch den starken Regen gebildet haben, werden durchfahren. Das Wasser spritzt zu beiden Seiten des Gefährts. Wilhelm hat es eilig. Er muss schnellstens in Augenschein nehmen, was das Unwetter angerichtet hat. Einen Milan, der über ihn in seinem schönen, schwimmenden Segelflug hinweggleitet und aussieht, als würde er vom Wind geschüttelt, bemerkt er nicht. Es ist auch gut so. Über ihn hatte er sich nämlich einmal geärgert. Es war der Moment, als er ihn erwischte, als er gerade frisch gewaschene Wäsche von der Leine stahl, um damit sein Nest auszupolstern. Ansonsten schätzt er den großen, prächtigen Vogel mit seinem gegabelten Schwanz und rostrotem Gefieder sehr. Besonders dann, wenn er im schaukelnden Segelflug über die Landschaft gleitet, um Frösche, Mäuse und Reptilien zu fangen. Er schätzt ihn allerdings nicht, wenn er seinen Hof heimsucht, um den Hennen die Küken zu stehlen, wie schon geschehen ist. Aber jetzt hat er andere Sorgen. Sich um die Untaten des Raubvogels, den er sowieso nicht sieht, Gedanken zu machen, dazu hat er keine Zeit. Seine Gedanken liegen bei der Ernte, die er hoffentlich noch einfahren kann. Er treibt den Rappen durch Peitschenschläge in der Luft zur Eile an. Ein Traben erlaubt er ihm nicht. Aus dem Wiesenbereich, wo seine Kühe grasen, muss er schnell rauskommen. Er kann kaum erwarten, das zu sehen, was der starke Regen angerichtet hat. Hoffentlich nichts Schlimmes. Die Ernte steht bevor. Und jetzt Totalschaden? Nein, daran darf er nicht denken. Durch seine dauernden Peitschenschläge in die Luft wird die Gangart des Rappens noch schneller. Bei der rasanten Fahrt durch die Furchen der Wiesen- und Feldwege wird er hin- und hergerissen. Er sitzt auf dem Bock, muss sich krampfhaft festhalten, um nicht runtergeschleudert zu werden. Warum eigentlich diese Eile? Er kann doch nichts ändern, sollte die Ernte vernichtet worden sein. Aber er will Gewissheit und verknüpft diese mit der Hoffnung, dass der Kelch noch einmal an ihm vorübergegangen ist.

Wilhelm hat seine Felder erreicht. Weizen- und Gerstenhalme, die dicht an dicht in Reih und Glied standen, hat der starke Wind des Gewitters umgelegt. Linearhaft wie sie standen, liegen die Halme nun plattgewalzt am Boden. Aber vielleicht ist nicht alles verloren, vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die ihn vor dem Ruin bewahrt. Zwischen den umgelegten Halmen schaut noch der Klatschmohn hervor. Er sieht so aus, als ob er sagen will: „Guck mich an, ich habe dieses Gerstenfeld gerettet. Es sieht zwar aus, als ob alles vernichtet sei, ist es aber nicht. Nun lass dir mal was einfallen, um von diesem Feld noch eine gute Ernte einzufahren. Ich wüsste, wie man das macht.“ Nicht anders sieht es beim Weizen aus. Kornblumen, auf denen sich Falter niedergelassen haben, wollen ihm sagen, dass auch dieses Feld zu retten ist, dass er sich keine Sorgen machen braucht, eine Missernte zu haben. Einiges geht nun durch seinen Kopf. Ideen sprudeln. Er weiß, was er machen muss.

Er fährt noch einige Felder ab, die ihm gehören, dann dreht er um und lässt den Rappen im Trab zum Hof zurücklaufen. Vom Bock genießt er die Natur. Ein Feldhase sieht den Rappen mit dem Wagen auf sich zukommen. Seine langen Ohrmuscheln richtet er auf das Ungetüm, das eine Gefahrenquelle sein könnte. Mit der Nase prüft er nun erst einmal, ob es sich um einen verdächtigen Geruch handelt. Er vermutet tatsächlich eine Gefahr, drückt und wird zum Erdklumpen, weil die Farbe seines Fells bestens zum Feldboden passt. Wilhelm schaut weit ins Land. Er entdeckt den Hasen nicht. Hätte dieser sich entdeckt gefühlt, wäre er auch gleich aufgesprungen und davongeeilt. So spart er jetzt Energie für eine notwendige Flucht, die hier nicht erforderlich ist. Energie, die braucht aber Wilhelm für seine Vorhaben. Er hat noch viel vor in seinem Leben. Jetzt muss er allerdings seine körperliche und geistige Kraft erst einmal dazu benutzen, die Ernte zu sichern. Er wird alles vorbereiten, um damit in den nächsten Tagen zu beginnen.

Die Ernte beginnt. Alle Bediensteten Wilhelms sind auf dem Feld. Wegen fehlender Erntemaschinen mähen Knechte das Getreide mit der Sense dicht über dem Boden ab, andere raffen die niedergelegten Halme zusammen und legen sie in Gelege, die von anderen zu einer Garbe gebunden und in sogenannten Puppen bzw. Hocken, wie man sie auch nennt, gesetzt werden, wobei die Mägde helfen. Wilhelm hatte den Zeitpunkt dieser Ernte nach dem Reifegrad der Körner bestimmt. Für ihn kam dabei nur die Zeit zwischen Gelb- und Vollreife des Korns in Frage. Bei der Gelbreife war der Korninhalt immer wachsartig, bei der Vollreife brach das Korn beim Biegen über dem Fingernagel. Dazwischen musste für ihn das Korn immer liegen, und jetzt war der ideale Zeitpunkt gekommen. Das schwere Gewitter hatte seinen Zeitplan auch nicht durcheinandergeschmissen. Er hat Glück gehabt; Glück im Unglück. Das Wetter hatte sich in den letzten Tagen auch beruhigt. Sonne pur; das half, um die Ernte doch noch fristgerecht einzubringen. Ein nasses Erntewetter hätte das Einbringen verzögert und der Güte der Körner geschadet. Sie hätten ihre gute Farbe verloren, hätten dumpfig gerochen und wären ausgekeimt. Er konnte jetzt sogar auf Getreideharfen verzichten, die Gerüste, die man zum Trocknen des Korns nach längerem Regen verwendete. Durch diese Gerüste wurde das Austrocknen wesentlich gefördert. Diesmal ist es aber nicht notwendig. In wenigen Tagen kann Wilhelm das Getreide in die Scheune bringen, wo es gedroschen werden soll.

Es gibt zwar schon Dreschmaschinen, aber eine solche besitzt Wilhelm nicht. Er hält nicht vom modernen Firlefanz. Er hat seine Knechte, die beschäftigt werden müssen. Sie dürfen nicht auf der faulen Haut liegen; das kann er sich nicht leisten. Und, das Dreschen machte ihnen immer Spaß. So soll es auch bleiben. Alle halfen, wenn die Dreschzeit kam. Oft sangen seine Leute die Heimatlieder des Bergischen Landes beim Dreschen. Wenn auf der Tenne der Dreschflegel auf die Garben geschlagen wurde, um die eingeschlossenen Samenkörner von den Ähren zu trennen, erschallten immer die Lieder, die das Heimatgefühl seiner Bediensteten zum Ausdruck brachten. Jedes Jahr gab es bei ihm auch einen Dreschkönig. Er kennt es von einem Knecht, der aus Süddeutschland kam und bei ihm drei Jahre diente. Der nach dem Zeichen zum Aufhören beim Dreschen den letzten Schlag tat, womit er den in der letzten Garbe sitzenden Korndämon erschlug, wurde Dreschkönig. Er wurde mit Stroh bekränzt und gehänselt. Auch diesmal soll der Dreschkönig ermittelt werden und ein großes Fest erfolgen, entschließt Wilhelm. Das, was üblich war, will er jetzt nicht ändern. Es hatte in den vergangenen Jahren allen auf dem Hof immer großen Spaß gemacht, und diesen Spaß sollen sie wieder haben. Diesmal gibt es sogar einen Grund zum Feiern. Die Ernte konnte gerettet werden. Der Schaden, den der starke Regen angerichtet hat, ist gering, kaum der Rede wert. „Gott sei Dank“, sagte Wilhelm zu seiner Frau, „… ich weiß nicht, wie wir eine Missernte überstanden hätten.“ Er drückt sie fest an sich und gibt ihr einen langen Kuss. Alles hatte sich zum Guten gekehrt. – Die große Feier mit dem neuen Dreschkönig, an der auch die Familienmitglieder der verheirateten Knechte und Mägde teilnehmen, bereitet allen viel Freude. Wilhelm ist voll zufrieden. So lässt sich Freud und Leid eines Gutsherrn gut aushalten.

2

Der Winter hat Einzug gehalten. Früh fällt der erste Schnee. Die Landschaft trägt ein weißes Kleid. Es ist ein Zeichen, dass ein strenger Winter bevorsteht. Für Wilhelm sind es ruhige Tage, die er genießt. Während der Winterzeit kann er sich schon Gedanken über die Aussaat im Frühjahr machen. Für ihn kam nur die Breitsaat in Frage. Das ist das Ausbringen der Saat durch einen Sämann, der den Samen mit der Hand aus einem Sätuch oberflächlich und möglichst gleichmäßig auf den Acker verteilte. Vor dem Ausstreuen musste der Ackerboden aber vorbereitet werden, das heißt, düngen, pflügen, eggen. – Er zerbricht sich den Kopf über sein Vorgehen im kommenden Jahr. Soll er diesmal im Frühjahr für den Sommer mehr Roggen und Weizen aussäen oder auf mehr Gerste, Hafer und Mais gehen? Wie lang wird der Winter diesmal dauern, denn all diese Ackerfrüchte sind mehr oder weniger gegen Kälte empfindlich? Er muss sich bei der Frühjahrsbestellung der Felder nach den klimatischen Verhältnissen richten und das Wetter im Bergischen Land ist unberechenbar. Mal ist es bereits im März angenehm warm, mal kann es bis in den Mai hinein unangenehm kalt sein. Auf die alte Bauernweisheit will er sich dabei nicht unbedingt verlassen. – Ist der Mai kühl und nass, füllt dem Bauern Scheun‘ und Fass. – Nicht selten schneite es Anfang Mai noch und es gab Bodenfrost, der der Aussaat nicht guttat. Die Schneeflocken, die dann die Erde bedeckten, gefielen ihm nicht. Jetzt war es aber anders. Er liebt die verschneite Landschaft, die zur Weihnachtszeit eine stimmungsvolle Atmosphäre schafft.

Von den Schneeflocken, die langsam ihren Weg vom Himmel zur Erde finden, bleiben einige am Fenster kleben, als wollen sie sagen, hier bin ich und hier bleibe ich. Wilhelm steht in Gedanken versunken vor dem Fenster der guten Stube und schaut nach draußen. Er beobachtet die Schneeflocken, die vor dem Fenster tanzen und summt das Lied, das seine Kinder immer sangen, wenn der erste Schnee fiel.

Schneeflöckchen, Weißröckchen,

da kommst du geschneit,

du kommst aus den Wolken,

dein Weg ist so weit

Dies war das Kinderlied, das seine Töchter oft sangen, wenn der erste Schnee fiel. Er liebte seine Kinder. Sie sind sein ein und alles. Wenn sie auf dem Hof herumtollten, beobachtete er sie oft und dachte dabei an seine Kindheit zurück. Auch sein Vater hatte ihn und seine Geschwister beim Herumtollen beobachtet. Er hatte sie immer fest gedrückt, bevor es wieder ins Haus ging. So tat er es auch. Nun ist es aber Winter und es schneit. Keiner befindet sich auf dem Hof, bis auf eine Ausnahme. Es ist Senta, der Hund, der sich aber in seiner Hütte, die Wilhelm für ihn zusammengezimmert hatte, zurückgezogen hat. Nur seine Schnauze guckt aus dem Eingang seiner kleinen Unterkunft.

„Schatz, träumst du?“ Wilhelm erschreckt. Wilhelmine, seine Frau, steht hinter ihm und legt ihre Hand auf seine Schulter. „Ach, du …“ „Ja, ich … Schatz, ich bekomme heute Besuch, das weißt du doch. Die Frauen unserer Nachbarn kommen zu Besuch, und dann gibt es wieder das, was zur Dröppelminna passt, wie immer kurz vor Weihnachten. Von den Leckereien lassen wir dir noch etwas übrig, schließlich können wir dich nicht vergessen, wenn’s uns so mundet. Vorbereiten muss ich allerdings noch einiges und du könntest mit dabei helfen … Wolltest du heute nicht auch noch zu Friedrich, um mit ihm etwas zu besprechen. Soviel ich weiß, wollte Friedrich im Sommer ein Dorffest veranstalten. Da gibt es sicher viel zu besprechen. Während ihr das tut, können unsere Nachbarinnen mit mir in Ruhe den Kaffeeklatsch halten.“ „Ja, sicher“, brummte Wilhelm. „Schatz, nun sei nicht mürrisch. Ein oder zweimal im Jahr muss ich die Nachbarinnen einladen. Schließlich tun sie das auch.“ Wilhelm ist verstimmt, lässt dies seiner Frau aber nicht spüren. Kaffeeklatsch, dem muss er entrinnen. Aus diesem Grund kommt ihm der bereits seit langem geplante Besuch bei Friedrich recht. Er hofft, dass am Abend, wenn er von Friedrich wieder zurückgekehrt ist, die Nachbarinnen wieder das Haus verlassen haben und er mit Wilhelmine den Tag ruhig ausklingen lassen kann. Selbstverständlich will er jetzt Wilhelmine helfen, damit sie ein vorzüglicher Gastgeber ist.

Wilhelm hilft wie versprochen bei der Vorbereitung der Kaffeetafel. Als er das versprach, wusste er allerdings, dass für ihn nicht viel Arbeit anfällt. Emma, die Magd und gute Fee auf dem Hof, vollbrachte immer die Hauptarbeit, die in einem Haushalt anfiel. So muss Wilhelm jetzt nur wenig erledigen. Er stellt mehrere Tische in der guten Stube zusammen, damit die Damen an einer großen Tafel Platz finden. Sechzehn Frauen haben sich zum Besuch angesagt, und die brauchen Platz für das, was zum Verzehr aufgetischt werden soll. Bei so vielen Personen reicht natürlich auch nicht eine Dröppelminna, also müssen mindestens drei Minas für das Wohlergehen der Damenwelt sorgen. Wilhelm holt die drei Kannen, die mit Samowars vergleichbar sind, aus dem Schrank in der Geschirrkammer, wo das Geschirr aufbewahrt wird, das nicht zum täglichen Gebrauch benötigt wird, und stellt sie auf die Tische, die die Tafel bilden sollen. Damit ist seine Arbeit erledigt.

„Schatz, du bist fertig? Dann darfst du auch gehen.“ Liebe Worte von Wilhelmine. Der Knecht hat die Arbeit getan, nun darf er auch gehen, sagte sich Wilhelm. „Danke für die Güte, dass ich gehen darf.“ Mehr kommt nicht über seine Lippen. Er gibt Wilhelmine auch keinen Kuss, als der das Haus verlässt und in seinem dicken Winterpelz zur Remise geht.

In der Remise steht der Einspänner, den er immer benutzt, wenn er alleine in die freie Natur rausfährt. Er zieht den Einspänner aus der Remise, legt ein Fell über den Sitz und begibt sich dann zum Stall, um seinen Lieblingshengst, den Rappen zu holen und vor dem Wagen zu spannen. – Die Peitsche knallt und Wilhelm verlässt auf dem Bock sitzend den Hof. Es schneit und er weiß, dass das das Vorankommen erschwert. Er braucht viel Zeit bis zum Gehöft von Friedrich, dem ist sich Wilhelm bewusst, zumal auch noch ein Wald zu durchqueren ist, ein Wald, der zu seinem Besitz gehört.

Während Wilhelm unterwegs zu dem Nachbargehöft ist, das am weitesten von seinem entfernt liegt, ist man im Haus mit den Vorbereitungen für die Kaffeetafel beschäftigt. Emma hat inzwischen das Haus betreten und hilft der Hausherrin bei der Arbeit. Sie mahlt zuerst die Kaffeebohnen mit einer Handmühle. Bei so vielen Kaffee-Damen muss sie lange die Kurbel der kleinen Handmühle drehen, schließlich müssen alle drei Minas mit Kaffee gefüllt sein und für Nachschub muss auch gesorgt werden. – Die gemahlenen Kaffeebohnen werden mit heißem Wasser übergossen. Nach einer Zieh-Zeit von fünf Minuten wird das Kaffeemehl gefiltert. Es ist erforderlich, um das Kaffeemehl von der Kaffeeflüssigkeit zu trennen. Emma benutzt dafür ein Metallfilter. Beim Filtern in die Dröppelminna verstopft der Filter immer wieder und muss gereinigt werden, was Zeit in Anspruch nimmt. Um die Flüssigkeit mit dem Kaffeemehl während dieser Zeit warm zu halten, bleibt es in einem großen Topf auf einer erhitzten Herdstelle stehen. Die Kaffeezubereitung ist ein zeitraubender Prozess. Und, nicht nur die Kaffeezubereitung braucht viel Zeit, sondern auch das, was sonst noch zu einer typischen bergischen Kaffeetafel gehört. Es ist eine Herausforderung für Wilhelmine. Sie will ja schließlich auch eine gute Gastgeberin sein.

Der Tisch ist gedeckt. Vieles für die berühmte Bergische Kaffeetafel wurde schon am Tag vorher zubereitet, schließlich besteht sie aus vielen Gängen, für deren Zubereitung man Zeit braucht.

Nach und nach treffen die Gäste ein und jeder nimmt den Platz ein, der Wilhelmine ihnen zuweist. Sie begrüßt selbstverständlich jede Dame vorher in der großen Diele mit einem Glas Sekt. Nachdem auch der letzte Gast eintrifft und in der großen Stube Platz nimmt, wird sofort mit dem opulenten Essen, das sich über Stunden hinstreckt, begonnen.

Alle Damen kennen die Bergische Kaffeetafel, aber bei Wilhelmine war sie immer die beste. Wie üblich, gab es hier auch den Hefeblatz, ein Rosinenstuten, das Schwarz- und Graubrot, das auf dem Hof selbst gebacken wurde, verschiedene Marmelade und Honig aus eigener Herstellung, Quark und natürlich Schinken und Wurst, Produkte aus der Schlachtung des Nachbarhofes. Den Teig für die Waffeln, die zur Tafel gehören, machte Emma bereits am Vortag. Nun ist sie nur noch für die Bedienung der Damengesellschaft zuständig. Die Waffeln werden mit heißen Kirschen zum Schluss der Tafel serviert. Einige Damen mochten keine heißen Kirschen, für sie steht deshalb Milchreis und Zimt bereit. Für den, dem es nicht süß genug ist, besteht auch die Möglichkeit, die Nachspeise mit Zucker noch etwas mehr zu süßen. Dafür wird ein Zuckertopf bereitgestellt.

Die Tafelrunde beginnt mit dem Rosinenstuten und der Butter, die für jeden Gast separat aufgetischt worden war. Jede Dame muss sich nun den Kaffee selbst aus einer der Dröppelminnas, die aus Zinn bestehen und mit ihren drei Füßen auf dem Tisch stehen, zapfen. Um den Kaffee warm zu halten, steht unter jeder Kanne ein Stövchen. Unter dem Zapfhahn jeder Kanne steht eine Tasse, um die Tropfen aufzufangen, die trotz des Schließens des Hahns ihren Weg nach draußen finden. Der Kaffee war zwar gefiltert, aber hin und wieder fand sich Kaffeesatz, der trotzdem seinen Weg in die Mina nahm und langsam ihren Hahn verstopfte, so dass der Kaffee nicht mehr zügig in die Tasse floss bzw. nach dem Schließen des Zapfhahnes noch aus der Mina dröppelte, was ihr den Namen gab.

Die „Gute Stube“ in der die Kaffeetafel stattfindet ist in Bergisch Barock eingerichtet. Alle Möbelstücke, die die Stube schmücken, sind mit ornamentalem Schmuck versehen und rufen den Eindruck von Kraft und Bewegung hervor. In einem Glasschrank, der reich mit Ornamenten versehen ist und aus Eiche gefertigt wurde, wie alle Möbelstücke in der Stube, befindet sich wertvolles Porzellan. Auf einer Anrichte steht eine Vase, die ein wahrer Augenschmaus ist. In ihr stecken Blumen aus Porzellan. Jedem gehen die Augen über als er das Prachtstück sieht. „Woher hast du diesen Luxusartikel?“, fragen einige Damen. „Es ist ein Geburtstagsgeschenk von meiner besseren Hälfte“, antwortet Wilhelmine. „Oh, da hat er sich aber was einfallen lassen“, kommt immer wieder die gleiche Antwort. – Alle Stühle im Raum, auf denen die Damen nun sitzen, sind ebenfalls reich verziert und die Sitze mit einem Brokatstoff bezogen. Die Stube, ein großer Raum mit Facettendecke, Seidentapete und Brokatvorhängen vor den Fenstern, bietet eine Atmosphäre, die anheimelnd wirkt. Es ist die Räumlichkeit, in der sich alle Damen auch wohlfühlen. Und dann die Bergische Kaffeetafel, die zum Speisen anregt, obwohl noch nicht alles auf dem Tisch steht.

Die Damen gehen Gang für Gang vor. Sie quatschen dabei und kommen von Höcksken zum Stöcksken. Ihre Lippen und ihre Kauapparate sind ununterbrochen in Tätigkeit. Die Zeit vergeht. Keine merkt es. Um die Mittagszeit begann die Tafel. Nun dämmert es bereits. „Meine Damen, einen Absacker genehmigen wir uns aber noch, bevor wir auseinandergehen.“ Selbstverständlich gehört zur Bergischen Kaffeetafel auch ein Bergischer Korn, womit die Tafelrunde beendet wird. Dies gehört zur Tradition, an der Wilhelmine nichts ändern will.

Es war wieder ein geglückter Nachmittag. Alle Gäste waren mit dem zufrieden, was Wilhelmine auftischte. „Danke für alles … Wir kommen gerne wieder“, hört sie von allen Seiten, als die Zeit zum Aufbruch gekommen ist.

Alle Damen waren mit einer Droschke vorgefahren gewesen. Einige brachte der Ehemann mit der Droschke, andere wurden wiederum von einem Knecht gebracht, und es gab Damen, die alleine mit der Droschke vorgefahren waren. Die, die das taten, deren Droschken wurden nach der Ankunft von Knechten an eine bestimmte Stelle des Hofbereiches zum Parken gefahren. Es war eine Stelle, wo auch die Pferde versorgt werden konnten. Nun, bei Einbruch der Dunkelheit, fahren alle Droschken vereinbarungsgemäß nacheinander vor das Herrenhaus, um die Damengesellschaft abzuholen. Die Ehemänner sind pünktlich zur Stelle, die Fuhrknechte der Damen sind es und auch die Knechte des Hofes schließen sich mit den Droschken der Damen, die selbst kutschieren, zur vereinbarten Zeit der sich langsam vors Herrenhaus bewegenden Droschkenkolonne an. Immer wieder ist das Danke-und-bis-zum-nächsten Mal zu hören. Alle Damen winken nun auch beim Wegfahren so lange, bis sie mit ihrer Droschke in der Dämmerung außer Sicht sind. – „Geschafft und zufrieden“, sagte sich Wilhelmine, als die letzte Droschke den Hof verlässt. „Nun muss ich nur noch warten, bis Wilhelm zurück ist, um zu erfahren, wie es ihm ergangen ist.“ – Sie geht in ihr eigenes Zimmer, macht es sich bequem dort und überlässt die Aufräumarbeit Emma, ihrer guten Fee.

3

Oben seitwärts des Bockes der Droschken der Damen befanden sich Fackeln aus einem mit geschmolzenem Pech getränkten Docht, die in der Dunkelheit das nötige Licht spendeten, das für die Fahrt durch Feld und Flur, und bei einigen Damen sogar durch den tiefen Wald, erforderlich war, um den Heimweg nicht zu verfehlen. Auch Wilhelm hat eine Fackel mit, als er zu seinem Nachbarn fährt und dabei einige Waldstücke durchqueren muss. Die Fackel soll ihm aber erst bei der Rückfahrt das Licht spenden, das er braucht, um nicht vom Weg abzukommen. Jetzt reflektiert die Schneedecke, die sich bei leichtem Schneefall bildete, das schwache Tageslicht so sehr, dass es hell genug ist und er die Pechfackel nicht anzünden muss. Aber es wird sicher spät werden und dunkel sein, wenn er auf dem Rückweg ist. Das weiß er. Ohne Fackel zu fahren, wäre also zu riskant, dessen ist er sich bewusst. – Durch den Wald zu fahren, macht ihm Spaß. Er lässt den Rappen langsam traben, um die frische Waldluft zu genießen. Es ist sein Wald, den er durchfährt. Er ist stolz, diesen Besitz, der neben Feld und Flur seinen Reichtum ausmacht, zu haben. Die Bewaldung seines Besitzes hat für ihn auch eine große wirtschaftliche Bedeutung. In ästhetischer Beziehung bedingen seine Waldungen in hohem Grade zudem die landschaftliche Schönheit seines Besitzes und stehen in einer tiefen und ernsten Beziehung zu dem gemütlichen Leben auf seinem Grund und Boden. Die Waldbäume treten als herrschende Lebensform auf. Sie sind es auch, die das Klima des Bergischen Landes bestimmen, die als Filter die Luft rein halten, die den Sauerstoff liefern, der ja ach so lebenswichtig ist.

In einem Waldstück bleibt der Rappen plötzlich stehen. Er lässt sich nicht mehr dazu bewegen, weiter voranzutraben. Irgendeine Witterung muss er aufgenommen haben, was ihn dazu bringt, sagt sich Wilhelm. Er braucht nicht lange warten, und er erfährt, warum sich sein Lieblingshengst so verhält. Eine Bache mit Frischlingen überquert den Weg und richtet ihren Blick auf sein Gefährt. Es sieht bedrohlich aus. Sein Hengst tut aber instinktiv das Richtige. Er bleibt ruhig stehen und lässt die Bache mit ihrem Nachwuchs ziehen und im Unterholz verschwinden. "Brav gemacht, mein Bester“, sagt Wilhelm laut zu seinem Zugtier, knallt mit der Peitsche in der Luft, und die Fahrt geht weiter.

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Bevor Wilhelm losgefahren war, hat er sich gefragt, soll ich den Pferdeschlitten nehmen? Aber dann entschied er sich für den Einspänner, da die Schneedecke noch nicht so dicht war, dass es sich für den Schlitten gelohnt hätte. Nun fährt er durch einen Buchenwald; der Boden ist hart gefroren und Schnee sieht man nur an vereinzelten Stellen. Er hat den Weg von den Baumwipfeln bis zum Boden noch nicht finden können. Eine Schlittenfahrt wäre somit hier zu einem Problem geworden. Sein Rappen ist ihm auch dankbar, wiehert hin und wieder, als will er sagen, Wilhelm, du hast die richtige Wahl getroffen. – Als er den Buchenwald verlässt, sieht er vor sich ein Flurgehölz aus Fichten, das mit Schnee bedeckt ist und ihn an seine Kindheit erinnert. Es ist die Stelle, zu der er mit seinen Eltern und Geschwistern im Sommer mit der offenen Kutsche oft gefahren ist, um hier zu picknicken. Es war für ihn eine schöne Zeit gewesen. Sie hatten viel Spaß, konnten hier herumtollen, Versteck-dich spielen und die Natur genießen. Am nahen Waldrand wuchsen die Pflanzenarten, die im Innern des Waldes kaum in die Höhe kommen konnten. Es waren Pflanzen, die sich mit schattenliebenden Arten vermischten. So gab es hier auch vom Vorfrühling bis zum Herbst ein ununterbrochenes Angebot wechselnder Blüten. Wenn sie Glück hatten, konnten sie Rehe am Waldrand beobachten und sogar den Auerhahn, der hier im April und Mai balzte, was jedoch im Morgengrauen geschah. Um sich das Schauspiel anzusehen, war er einige Male mit seinem Vater mit der Kutsche in der Morgendämmerung hierhin gefahren. Es war in solchen Fällen dann immer faszinierend für ihn, von einer Stelle, die für den Hahn versteckt lag, den Vogel beim Balzgesang, der aus Knappen, Hauptschlag und Schleifen besteht, zu beobachten. Oft ging sein Vater im Frühjahr auch alleine auf Auerhahnjagd und brachte gegen Mittag einen erlegten Auerhahn mit. Er erzählte ihm dann, wie er ihn erlegte, wie er sich dem Hahn während des Schleifens gedeckt näherte, das Gewehr anlegte, um den Vogel zur Strecke zu bringen. Er nannte das Annähern „Anspringen.“ – Lang ist alles schon her. Aber wie jetzt, erinnerte sich Wilhelm immer wieder gerne zurück. Es war für ihn eine schöne Zeit gewesen, damals, als das Neue Deutsche Kaiserreich noch nicht existierte.

Auf dem letzten Stück zum Nachbarn fährt er noch einmal durch einen Wald. Es ist diesmal ein Fichtenwald, der schon zum Besitz seines Nachbarn gehört. Als der Rappen an den Fichten, deren Äste am Weg bis zum Boden reichen und mit Schnee bedeckt sind, vorbeitrabt, fällt Wilhelm ein Gedicht von Eichendorff ein, das dieser durch sein durch sein inniges Naturempfinden und seine Freude am märchenhaft Wunderbaren schrieb.

Wer hat dich, du schöner Wald

Aufgebaut so hoch da droben?

Wohl dem Meister will ich loben

So lang noch mein Stimm erschallt

Lebwohl, Lebwohl, du schöner Wald

Als Wilhelm den Fichtenwald verlässt, sieht er das Bauernhaus von Friedrich, seinem Nachbarn, vor sich. Langsam nährt er sich mit dem Einspänner dem Gehöft. Ein Hund bellt und kündet seine Ankunft an. Friedrich hat ihn schon erwartet. Auch das Bellen seines Hundes sagt ihm klar, der Gast ist da. „Hallo, Wilhelm, alter Freund … Pünktlich wie immer“, begrüßt er seinen Nachbarn laut und geht dabei auf den vorfahrenden Einspänner zu. „Ja, musste das Haus schnell verlassen. Wilhelmine empfängt die Damen des Kaffeekränzchens“, antwortet Wilhelm. „Oh, dann kann ich verstehen, dass du es eilig hattest, um wegzukommen … Nur, bei dem Schneefall dachte ich, du würdest dir Zeit lassen und später als vereinbart eintreffen … Noch etwas, dass heute eine Kaffeetafel in deinem Haus stattfindet, weiß ich. Trude, meine Frau, wurde von deiner besseren Hälfte nämlich auch eingeladen. Nur, ihre Schwester hat heute Geburtstag, und da konnte sie ihre Einladung nicht ablehnen. Somit, mein alter Kumpel, sind wir alleine im Hause und können uns so richtig aussprechen.“

Wilhelm fährt mit dem Einspänner vor die Remise, spannt den Rappen vom Wagen und führt ihn in den Stall, in dem sein Freund immer einen Platz für seinen Besten reserviert hält. Dann begrüßt er Friedrich mit einem Handschlag. „Du, Trude hat gestern noch gebacken, Rosinenstreusel. Sie hat uns einige Stücke davon in der Bauernstube auf den Tisch gestellt. Dazu habe ich noch einen guten Bordeaux. Wir können es uns also gemütlich machen.“ „Friedrich, das ist vielversprechend, besonders der Bordeaux. Ich weiß, du hast immer den besten.“ „Klar doch, also auf, in die gute Stube. Das Kaminfeuer brennt schon zwei Stunden und es ist angenehm warm.“ Sie betreten die Bauernstube, die mit Wilhelms großer Stube nicht vergleichbar ist. Hier befinden sich grobe Bauernmöbel, ein Stil, der nicht dem Geschmack von Wilhelm entspricht. Aber trotzdem fühlte er sich immer wohl in dieser, wenn er Friedrich besuchte. Wie jetzt.

Die Freunde nehmen Platz am Tisch vor dem Kaminfeuer. Friedrich gießt den Rotwein in die Gläser und stellt für jeden ein Stück des gebackenen Kuchens auf den Tisch; dann beginnt das Gespräch, das kaum ein Ende finden soll. Viel haben beide nämlich zu besprechen. Und das braucht Zeit.

Das brennende Holz im offenen Kaminfeuer knistert angenehm, was sich auf die Stimmung der beiden Hofbesitzer auswirkt. Sie finden Gesprächsthemen genug. Es ist nicht nur das Wetter, was Thema ist, sie sprechen auch über die Feldbestellung im Frühjahr, über die zu erwartende Ernte im kommenden Jahr, sowie über die politische Lage und ihre Auswirkung auf die Landwirtschaft. „Das Land Preußen, zu dem wir seit 1815 gehören, geht auf schwere Zeiten zu“, sagt Friedrich. „Das glaube ich nicht“, antwortet Wilhelm, „… Bismarck, unser Reichskanzler wird nämlich dafür sorgen, dass es dem Land gutgeht.“ „Du bist ein Optimist.“ „Ja, da darfst du richtig liegen … Bismarck, das solltest du wissen, fördert Industrie und Handel, auch im Bergischen.“ „Ich weiß, aber du scheinst nicht zu wissen, was hier geschehen soll, direkt vor unserer Haustür.“ „Nein, … erzähl.“ „Hier, durch unser Land, soll ein dampfendes, zischendes, polterndes Ungestüm fahren. Zumindest ist es beabsichtigt. Eine genaue Planung besteht noch nicht. Aber, der preußische Staat will das vorhandene Eisenbahnnetz ausbauen und besonders wirtschaftlich relevante Strecken sollen beim Ausbau Berücksichtigung finden. Und eine dieser Strecken, die dabei neu entstehen, ist eben die Verbindung zwischen Ohligs und Remscheid. Ohligs liegt in der Nähe von Solingen, die Stadt der Klingen, Messer, Scheren usw. und Remscheid ist die Stadt der Eisenindustrie, die hier im 16. Jahrhundert durch eingewanderte Hugenotten ihren Anfang nahm und jetzt ausgebaut werden soll. Bekannt ist dir ja sicher auch die Fabrikantenfamilie Mannesmann aus Bliedinghausen. Für sie, wie für alle im Raum Remscheid ansässigen Unternehmen des Kleineisengewerbes wie Hammerund Sensenschmieden sowie der Feilenhauereien, ist diese Eisenbahnverbindung, die über die Wupper führt und vielleicht sogar deinen Besitz berührt, wichtig.“ „Falls die Absicht bestehen sollte, ein stinkendes Dampfross über meinen Besitz fahren zu lassen, werde ich dagegen angehen. Ich lasse mir doch nicht die Luft verpesten und die Natur vor meiner Haustür verschandeln.“ „Wilhelm, die wirtschaftliche Entwicklung wirst du nicht aufhalten können und du kannst auch nicht gegen den Staat und das industrielle Machtmonopol anstänkern.“ „Mal sehen, wer der Stärkere ist.“ „Wilhelm, … du bestimmt nicht.“ Das Gespräch scheint eine Wende zu nehmen, die Friedrich unangenehm sein kann. Wilhelm ist sich dessen bewusst. Er ist es deshalb, der das Thema wechselt, indem er auf das Sommerfest, das jedes Jahr stattfindet, zu sprechen kommt. “Sobald der Winter vorbei ist, Friedrich, müssen wir sofort die Vorbereitungen für das Sommerfest treffen.“ „Oh ja, das hätte ich fast vergessen.“ Friedrich und Wilhelm nehmen beide erst einmal genießerisch einen Schluck aus den Gläsern, die gefüllt sind mit dem vorzüglichen Bordeaux-Wein, bevor das Gespräch weitergeführt wird. „Wir müssen uns jetzt schon Gedanken über das Fest machen“, meinte nun Wilhelm. Und das tun sie jetzt auch. Sie besprechen alle Einzelheiten, wie vorzugehen ist, wer helfen könnte und wie das jährliche Fest diesmal gestaltet werden soll.

Es dämmert. Friedrich zündet die Wachskerzen an. Ein anheimelndes Licht durchflutet den Raum. In einer gemütlichen Atmosphäre wird das Gespräch fortgesetzt. Friedrich will nun wissen, was Wilhelms Kinder machen, wenn seine Frau die Damenwelt zu Besuch hat. „Unsere Kinder sind unter Aufsicht einer verheirateten Magd, die im Gesindehaus wohnt und selbst zwei Kinder hat. Die Kinder spielen zusammen bis Anbruch der Dunkelheit in der Scheune. Hier schaut die Magd immer mal rein, um sich zu überzeugen, dass keine Dummheiten gemacht werden. Die Scheune ist auch der Ort, wo es ihnen am meisten gefällt. Hier können sie sich so richtig austoben und es ist trocken und jetzt nicht so kalt wie draußen.“ „Na, dann läuft ja alles bestens für dich zu Hause“, meint Friedrich darauf. „Ich hoffe es. Sehen werde ich es, wenn ich zurück bin … Nun, lieber Freund … ich sehe nach draußen. Es ist schon dunkel. Ich muss aufbrechen. Aber, wo bleibt dein Weibie?“ „Trude muss bald kommen. Die Geburtstagsfeier dürfte nämlich schon vorbei sein ... Im Übrigen, sie wird vom Schwager gebracht. Ich brauche mir also keine Sorgen machen.“