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»Die Kälte in ihr sagte ihr, dass sie zwischen Leben und Sterben wählen musste.«

Laure ist neunzehn Jahre alt und magersüchtig. Als die Krankheit ihr Leben bedroht, wird sie in eine Klinik eingewiesen. Dort taucht Laure in eine ganz eigene Welt ein und begreift, dass sie nicht die Einzige ist, die sich in eine Krankheit flüchtet. Und so beginnt sie zu schreiben: über Monsieur Hundertdreißigkilo, dem genau das Gegenteil von ihr gelingen muss, über die Blaue, ein grausam-gehässiges Klatschweib, deren Krankheit ihre Boshaftigkeit ist, über Fatima, die sich nicht zum ersten Mal in der Klinik aufhält. Alle kämpfen, so wie sie. Laure hasst die Kalorien, das Fett, das sie zunehmend auf ihrem Körper spürt. Es gibt Tage, da hasst sie ihren Arzt, der sie dafür lobt, dass sie allmählich wieder aussieht wie ein ›normaler‹ Mensch. Sie weint, sie tobt, sie plant die Flucht zurück in die Krankheit. Doch sie bleibt, denn Dr. Brunel ist der Einzige, der wirkliches Interesse an ihr zeigt und der hartnäckig um sie ringt. Nach langer Zeit ist er der erste Mensch, dem sich Laure öffnet. Ihm erzählt sie, was die Ursache für ihren Zustand ist: das Zusammenleben mit ihrer psychisch kranken Mutter und die angstmachenden Auseinandersetzungen mit ihrem cholerischen Vater. Es sind nicht nur die Gespräche, sondern auch das stille Verstehen des Arztes, sein behutsames Beharren, seine aufrichtige Verzweiflung, die ihren Lebenswillen wieder wecken.

autor

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman ›No & ich‹ (2007). Sie zählt zu den wichtigsten französischen Autoren der Gegenwart. Ihr Roman ›Nach einer wahren Geschichte‹ (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich, wurde 2015 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet und von Roman Polanski verfilmt. ›Tage ohne Hunger‹ ist ihr Debütroman, der erstmals in deutscher Übersetzung erscheint. Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Doris Heinemann, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Montpellier und übersetzt seit 1997 Literatur, u. a. von Christian Gailly, Gabriel Chevallier, Theresa Révay, Yann Queffélec, Jean-Claude Derey und Olivier Rolin.

DELPHINE
DE
VIGAN

TAGE OHNE
HUNGER

Roman

Aus dem Französischen
von Doris Heinemann

Für Daniel

ES WAR ETWAS AUSSERHALB von ihr, das sie nicht zu benennen wusste. Eine stille Kraft, die sie blendete und ihre Tage bestimmte. Und zugleich eine Art Drogentrip, eine Art Zerstörung.

Es hatte sich langsam entwickelt. Und war bis an diesen Punkt gelangt. Ohne dass sie es eigentlich bemerkt hätte. Sie erinnert sich an die Blicke der Menschen, an die Angst in ihren Augen. Sie erinnert sich an dieses Gefühl von Macht, das die Grenzen des Fastens und des Leidens immer weiter hinaustrieb. Knie, die gegeneinanderschlugen, ganze Tage, an denen sie sich kein einziges Mal hinsetzte. Wenn der Körper Mangel leidet, schwebt er über die Bürgersteige. Später die Stürze auf der Straße oder in der Metro und die Schlaflosigkeit, die den Hunger, den man nicht mehr als Hunger erkennt, begleitet.

Und dann hatte sich die Kälte in ihr ausgebreitet, eine unglaubliche Kälte. Diese Kälte, die ihr sagte, dass sie am Ende angelangt war, dass sie zwischen Leben und Sterben wählen musste.

I

WEGEN DIESER KÄLTE ließ sie sich auf den Termin ein. Als er sie zum ersten Mal anrief. Eine unbekannte näselnde Stimme bot ihr an einem Herbstabend Hilfe an, an einem Abend wie all den anderen: Sie klebte am Heizkörper. Wegen der Kälte, aber nicht nur. Zunächst lehnte sie ab. Was soll diese Einmischung. Er stellte einige Fragen zu ihrem körperlichen Zustand, er fragte weder, wie viel sie wiege, noch, wie viel sie esse. Nein, es waren eher die Fragen eines Kenners, ja eines Experten, präzise und direkt, mit denen er abzuschätzen versuchte, wie dringend es war. Solange sie mitspielte, gewann er Zeit. Diese Zeit, die sie nicht mehr zu verlieren hatte, diese knappe Zeit, die sich wie ein letztes zerbrechliches Komma gegen den Tod stemmte.

Es bleibt nicht mehr viel Zeit, das hatte er ihr vor allem anderen gesagt. Sie spürte, dass er auch etwas über die Einsamkeit wusste, über das Eingeschlossensein. Während er sprach und sie befragte, spielte sie mit der Schnur des Hörers. Wenige Minuten zuvor hatte sie einen dritten Pulli übergezogen und sich zusammengerollt – soweit bei ihren vorstehenden Knochen davon noch die Rede sein konnte. Sie antwortete, ohne nachzudenken, als würde sie mechanisch eine vor langer Zeit auswendig gelernte Fabel aufsagen. Sie wollte nur noch höflich bleiben.

Es ist zu spät, sagte er, allein schaffen Sie das nicht, ich kann Ihnen helfen, kommen Sie am Mittwoch zu mir in die Sprechstunde, ich erwarte Sie. Sie sah sich nach ihren Zigaretten um. Sie hatte nicht die Kraft, den Rücken vom Heizkörper zu lösen, um nach dem vor ihr liegenden Päckchen zu greifen.

Zum ersten Mal schrie jemand nach ihr, damit sie sich umwandte, sie wurde von jemandem gerufen, der dieses Leid, das Leid ihres Körpers zu benennen wusste. Zum ersten Mal holte sie jemand dort ab, wohin die anderen es nicht schafften, weil sie nicht mehr die Kraft hatten.

Er bat sie, er befahl ihr zu kommen. Er wusste, dass alles von diesem ersten Kontakt abhing. Sie stellte sich vor, wie beklommen er vielleicht gewesen war, als er ihre Nummer gewählt hatte. Aus den Modulationen seiner Stimme hörte sie seine Angst vor dem Scheitern heraus, aber auch seinen heftigen Willen, sie zu überzeugen.

Sie legte auf. Und blieb lange so liegen. Trotzdem: Was soll diese Einmischung.

Am Mittwoch nahm sie die Metro zum Krankenhaus. Sie konnte kaum noch gehen. Sie trat in sein Sprechzimmer und setzte sich ihm gegenüber. Sie hatte nichts zu sagen, sie war leer, von allem entleert. Er stellte ihr der Form halber ein paar Fragen, und dann flehte er sie geradezu an: Ich habe ein freies Zimmer für Sie, in diesem Zustand dürfen Sie nicht wieder weggehen. Sie lehnte ab. Er suchte nach Worten, um sie zurückzuhalten. Seine Hände lagen auf dem Schreibtisch, diese kleinen Hände, mit denen er eines Tages über ihre durchsichtige Haut streichen würde.

Es war noch zu früh, obwohl ihr eigentlich keine Zeit mehr blieb. Solange man die Leute nicht von der Straße auflesen muss, sagte er, kann man sie zu nichts zwingen. Sie schloss die Tür hinter sich, fuhr, schwankend, mit der Metro zurück und hatte keine Träne, die sie hätte vergießen können.

Am darauffolgenden Mittwoch und an dem danach kam sie wieder. Sie durchquerte ganz Paris, um ihn zu sehen. Im Krankenhaus folgte sie bis zu seinem Sprechzimmer der grünen Linie, die immer wieder unter ihren Füßen nachgab. Sie konnte das Geräusch ihrer zögernden Schritte in den Fluren nicht mehr hören. Händeringend stand sie dann vor seinem Sprechzimmer im ersten Stock. Sie wusste nicht, aus welchem Grund genau sie dort war, es sei denn, sie folgte der vagen Intuition, dass sie ihren entleerten Körper eines Tages hier würde ablegen können.

Eines Morgens spürte sie, dass die Kälte bis in die Spitzen der Gliedmaßen vorgedrungen war, bis in die Fingernägel, bis in die Haare. Sie wählte die Nummer des Krankenhauses und bat, sie mit ihm zu verbinden.

In ihrem Bauch klopfte der Tod, sie konnte ihn berühren.

Das war vor langer Zeit. Er hat ihr das Leben gerettet. Wenn man diese Worte hinschreibt, wirken sie geschwollen, doch es ist so. Noch heute sagt sie trotz der vielen Jahre, die vergangen sind, und trotz der Lebensfreude, die sie wiedergefunden hat, genau das, wenn sie davon spricht: Er hat mir das Leben gerettet.

II

IN DER NACHMITTÄGLICHEN Stille hat sich die Tür geschlossen. Sie hat sich aufs Bett gelegt. Zum ersten Mal seit Wochen quellen Tränen aus diesem versteinerten Körper, aus diesem erschöpften Körper, der gerade kapituliert hat. Sie beweint diese unverständliche Erleichterung, die sie ganz und gar diesen Leuten ausliefert. Die Tränen brennen an den Lidern. Das ist sie jetzt: ein Sack Knochen auf einem Krankenhausbett. Mehr nicht. Die Augen sind vergrößert und haben tiefe Ringe, die Wangen unter den hervorstehenden Kieferknochen sind eingefallen, als würden sie nach innen gesaugt. Rings um die Lippen bedeckt dunkler Flaum die Haut. In den deutlich sichtbaren Adern pulsiert das Blut zu langsam.

Sie schlottert. Trotz Wollstrumpfhose und Rollkragenpulli. Die Kälte ist innen, sie hindert sie daran, stillzuhalten. Eine Machtübernahme, die dem Tod gleicht, das weiß sie, der Tod ist in ihr wie ein Eisblock. Die Neonröhre summt, doch sie hört nur ihr eigenes Atmen. Ihr Kopf dröhnt von diesem regelmäßigen, verstärkten Atem, der sie verfolgt. Sie ist fast taub geworden, von innen zerfressen, weil sie nichts frisst.

Sie ist aufgestanden, um die orangefarbene Jalousie herunterzulassen. Das gelbliche Licht liegt auf den blassen Wänden. Sie stellt ein Inventar des Zimmers auf: ein Bett, ein großer Tisch, eine Neonröhre, ein Stuhl, ein höhenverstellbares Tischchen auf Rollen, zwei Wandschränke, eine Deckenleuchte, ein Sauerstoffanschluss, eine Klingel. Hinter einer schmalen Tür sind Toilette und Waschbecken, die Dusche ist auf dem Gang.

Draußen wird es gerade dunkel, und sie bringen ihr schon das erste Essenstablett. Unter einem Aluminiumdeckel ein zu lange gegartes Hacksteak mit nicht mehr allzu grünen Bohnen. Versuchen Sie es, auch wenn es schwerfällt. Sie kaut brav. Sie könnte stundenlang kauen, wenn es nur das wäre, den Mund mit Speichel füllen, die Nahrung von einer Seite zur anderen schieben, diesen Brei, dessen Geschmack langsam verschwindet, endlos zermalmen. Das Problem ist das Schlucken. Schon hat sich eine Kugel in ihrem schmerzenden Magen verklemmt. Die Zeit steht still. Sie wird noch einmal lernen müssen zu essen und auch zu leben. Die Schwesterhelferin ist zurück, sie schaut unter den wieder aufgelegten Deckel: Das ist doch gut für den ersten Tag, meinen Sie, Sie können schlafen?

Ausnahmsweise überfällt sie der Schlaf mit einem Schlag. Zwischen den stramm gezogenen glatten Laken braucht man nur die Augen zu schließen.

Sie wollte ein paar Sachen in den Schrank räumen, doch sie hat Mühe, sich aufrecht zu halten. Ihre Beine tragen sie nicht mehr. Nicht mehr wie früher, als sie mit leerem Magen kilometerweit lief oder Treppen hochstieg, so wie sich andere Nadeln in die Adern stechen. Sie hat diesen Körper von allem Leben entleert, ist bis ans Ende gegangen, ans Ende ihrer Kräfte. Sie muss sich hinsetzen. Aus dem zwölften Stock blickt sie auf den Boulevard périphérique. Sie haben ihr Blut abgenommen. Soweit noch welches da war. Eine orangefarbene Flüssigkeit, die sie kaum herausbekommen haben. Man kann ihren Arm mit Daumen und Zeigefinger umschließen. Auch darauf wird sie verzichten müssen. Die Magerkeit als Schrei. Die Krankenschwester drückt fester auf die Adern, bleibt ganz geduldig. Wie kann man nur so weit kommen?, fragt sie. Es ist kein Vorwurf, nur eine laut geäußerte Frage. In ihrer Stimme liegt zögerndes Mitgefühl. Unter ihrem Kittel erahnt man echte Brüste, die sich im Rhythmus ihrer Atmung heben und senken. Sie drückt mit dem Daumen auf die Vene, seufzt, ist ganz bei der Sache und füllt ein Röhrchen nach dem anderen. Beim vierten gibt sie auf. Das sollte reichen. Sonst versuchen wir es später noch einmal. Im Zimmer Nr. 1 im Westflügel ist die Stille schwindelerregend. Morgen wird ihr irgendjemand einen Fernseher anschließen. Morgen wird man ihr Bücher, Zeitungen und Strickzeug bringen. Dann wird sich ein neues Leben organisieren, ein Leben ohne Bewegung, damit sie Fett ansetzt.

Fünfunddreißig Grad Körpertemperatur, ein Blutdruck von achtzig, Amenorrhö, gestörte Behaarung, Schorf, verlangsamter Puls, wir haben also alle Zeichen von Unterernährung.

Stolz steht er am Fußende ihres Bettes. Schauen Sie hin, meine Damen und Herren, in der zwölften Etage dieses demnächst berühmten Krankenhauses ist gestern Abend ein ein Meter fünfundsiebzig großes Skelett mit sechsunddreißig Kilo Körpergewicht gestrandet. Sein bislang extremstes Gewicht-Körpergröße-Verhältnis. Dicht gedrängt stehen sie in ihren makellosen weißen Kitteln vor ihr und stoßen sich mit dem Ellbogen an, während sie ungläubige Blicke auf das Blatt am Fußende des Bettes werfen. Sie wundern sich, dass die Patientin nicht im Koma eingeliefert wurde. Gleich wird man eine Magensonde legen. Das Wort dröhnt in den Ohren und schrillt weiter wie eine Krankenwagensirene. Sie haben die Tür hinter sich geschlossen, doch draußen beendet er noch seinen Kommentar. Sie hört nicht, was er sagt, sie hört nur diesen nasalen Klang, der für seine Stimme charakteristisch ist.

Im Stehen verliert sie das Gleichgewicht. Im Sitzen tut ihr der Po weh. Im Liegen auch. Die Knochen bohren sich in die Haut, in ihre Pappmascheehaut, die überall nur trocken und grau ist. Ja, wirklich, wie kann man nur so weit kommen? Sie wartet, wie eine Zwiebel in Kleidungsschichten gehüllt.

Der Schlauch ist in einem sterilen Beutel verpackt. Keine Angst, sagt er, es ist nur ein bisschen unangenehm, wir schieben ihn durch die Nase, und wenn er in die Kehle kommt, müssen Sie schlucken. Danach machen wir eine Röntgenaufnahme, um sicher zu sein, dass die Sonde richtig im Magen sitzt. Sie müssen nur schlucken. Schlucken. Als sie wieder in ihrem Zimmer ist, sieht sie in den Spiegel. Von der Schlange ist nur noch ein transparentes Plastikende übrig, das ihr aus dem rechten Nasenloch ragt. Es wird von einem Pflaster auf der Wange festgehalten, verschwindet hinter dem Ohr und pendelt dann blöde über der Schulter.

Sie werden es selbst an die Maschine anschließen, die ganze Nacht lang und mindestens vier Stunden tagsüber. Die Ernährungspumpe ähnelt einer großen Kaffeemaschine. Sie ist auf dem Tischchen neben ihrem Bett aufgebaut worden. Wenn es im Bauch wehtut, kann man die Geschwindigkeit verringern. Die Krankenschwestern werden mehrmals täglich Flaschen mit Sondenkost in den Behälter entleeren und das Gerät reinigen. Eine Flasche, dann zwei, dann drei … bis zu fünf am Tag, je nachdem, wie sie zunimmt. So läuft die Nährlösung hinunter bis zum Magenausgang. Ganz tief nach unten, für den Fall, dass sie auf die Idee kommt, sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg zu machen. Hunderte von Kalorien, gut angepasst und vorverdaut, echte, tückische Kalorien, die man nicht bekämpfen kann. Das ist die einzige Lösung, sagt er. Weil sie zu weit gegangen sei und der Körper es nicht mehr allein schaffen könne. Er sagt auch, dass man den Schlauch in der Nase und den Lärm des Geräts nach einigen Stunden nicht mehr bemerke. Sie müsse wieder lernen zu essen, und es werde eine Diätassistentin kommen, die Werte überprüfen und ihr noch einige Extras verordnen.

Zunächst einmal windet sie sich auf ihrem Bett wie ein Aal. Das Röhrchen zuckt und bebt die ganze Speiseröhre hinunter. Sie spürt jeden Tropfen, den das Gerät freigibt, und sie spürt, wie sie sichtlich anschwillt. Sie horcht so angespannt auf ihren Bauch, dass sie nicht mehr atmet. Einige Hundert Milliliter Angst überfluten summend ihren Körper. Sie gerät in Panik, bekommt keine Luft mehr, schluchzt. Sie sind zu zweit gekommen und versuchen, sie zu beruhigen. Es geht nicht mehr, sagt sie, ich schaffe es nicht, ich will gehen, auch wenn ich dann krepiere.

Er kommt zu ihr. Ganz nah, ganz vorsichtig. Als würde er mit dem Finger ein verletztes Tier berühren. Als wollte er sehen, was noch möglich ist. Sie weiß, dass er nicht nachgeben wird. Er sieht angegriffen aus und wirkt wie jemand, der gern nach Hause gehen würde. Dabei fühlt er sich doch wohl in seinem Kittel und trägt die Arroganz der Gesunden zur Schau. Er hat auf dem Bett seine Hand dicht neben ihre gelegt, er versucht ihr zu verstehen zu geben, dass sie da rauskommen muss, dass sie die Wahl der Mittel nicht mehr hat. Er umhüllt sie mit Worten, umarmt diese Angst, die sie im Griff hat, er bietet ihr die Stirn mit dem ganzen Vertrauen, das er in sie setzt, mit dem ganzen Vertrauen auch auf ihr Leben danach, das nur er sich vorstellen kann. Und wenn ihm die Argumente ausgehen und alle bisherigen nur von Schluchzen beantwortet wurden, würzt er seine Sätze mit einem überzeugten »Scheiße aber auch!«. Ein Kraftausdruck, der alles Übrige zusammenfasst, alles, was gesagt worden war, und auch, wie dringend und wichtig es war. Die Angst verflüchtigt sich. Sie ist nicht mehr ganz allein in diesem Kampf gegen sich selbst. Die Nacht ist hereingebrochen. Sie wartet ohne große Hoffnung auf den Schlaf.

An diesem Abend denkt sie an Louise. Ihre unglaubliche Schwester, die ihr als Schwester unglaublich nahesteht, und das für immer. Louise allein mit den beiden, Louise allein gegen die beiden. Louise allein, aber hellsichtig. Heute Abend denkt sie an Louise und wünscht sich, es wäre nie so weit mit ihr gekommen, sie hätte nie versagt, sie würde immer noch wie früher Louise’ kleine Hand in ihrer spüren, auf dem Bahnsteig der Gare du Nord, wo sie beide standen, auf immer zusammengeschweißt.

Anorexie. Es fängt an wie Anorak, aber es endet mit xie. Anscheinend sterben zehn Prozent daran. Vielleicht aus Unachtsamkeit. Ohne es zu merken. Ganz sicher vor Einsamkeit. Daran denkt sie manchmal. So konnte sie nicht weitermachen, vor allem wegen der Kälte, aber auch wegen der Müdigkeit. Sie ist erschöpft. Jetzt weiß sie, dass man unter einer solchen Last nicht leben kann.

Sie hat um einiger weniger Kilos willen kapituliert, um die Gefahr zu bannen, um durchzuhalten, um zu überleben, so ist es. Aber sie hat nicht aufgegeben. Sie will die Kontrolle nicht verlieren. Das Leben vorher ist nur noch betäubte Erinnerung, und das Leben danach wird geflüstert wie eine wenig wahrscheinliche Verheißung. Sie will nicht gesund werden, weil sie nicht weiß, wie sie anders leben soll als mithilfe dieser Krankheit, von der sie auserwählt wurde, von der in den Zeitungen und Kolloquien die Rede ist, es ist eine blinde, dunkle Suche, bei der sie von anderen begleitet wird, anonymen und schwankenden Komplizen eines stummen Verbrechens gegen sich selbst. Sie wird noch Zeit brauchen, um zu verstehen, wie es so weit mit ihr kommen konnte. Im Augenblick konzentriert sie sich ganz auf dieses schwarze Loch in ihrem Bauch, das sie von innen aufzusaugen versucht. Der Körper hat die Oberhand gewonnen, der an Mangel leidende Körper, zusammengeschrumpft wie das Chagrinleder, geleugnet bis in seine Existenz hinein, spielt jetzt die Hauptrolle – ein Paradox, das ihr nicht entgangen ist –, nach Atem ringend empört er sich gegen diese ganze Misshandlung, der er seit Wochen ausgesetzt ist, und kämpft. Sie ist so mit dieser Leere beschäftigt, dass sie nichts anderes mehr spürt, sie denkt nicht mehr, ihre Seele leidet nicht mehr.

Später wird sie begreifen, dass sie unter anderem genau das angestrebt hatte, ihren Körper zu zerstören, um nichts mehr von außen wahrzunehmen und auch in ihrem Fleisch und ihrem Bauch nur noch den Hunger zu spüren. Es wird Zeit brauchen, den Weg zurückzugehen, möglichst weit zurück, bis zu den ersten Ekelgefühlen, den ersten fristlos aus dem Kühlschrank entlassenen Lebensmitteln, noch weiter zurück, man wird die noch intakten, in Kühlkammern aufbewahrten Verletzungen aus dem Nirgendwo ziehen müssen und herauszufinden versuchen, wie ihr Symptom beschaffen ist und warum es sie getroffen hat. Vorsichtig und oft ohne jede Ordnung wird man diese Erinnerungen ans Licht befördern, die wie ausgeblutete Schweine gelagert sind, an den Füßen aufgehängt und mit getrocknetem Blut auf der Haut, man wird sich überwinden müssen, um nicht vor dem Verwesungsgeruch zurückzuweichen, der sie umgibt und dafür sorgt, dass man nicht zu lange bei ihnen verweilt.