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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

25. März 1593 – die „Isabella IX.“ segelte wieder. Wiborg, die Hafenstadt am äußersten nordöstlichen Ende des Finnischen Meerbusens, lag hinter ihr, und somit blieb auch die Erinnerung an die turbulenten Ereignisse allmählich im Kielwasser der Dreimast-Galeone zurück.

Nach Süden war der Blick der Seewölfe gerichtet, die Ostsee würde neue Abenteuer für sie bereithalten, davon waren sie fest überzeugt. Der Auftrag, der im Grunde eher harmlos begonnen hatte, hatte sich als ein Ding mit vielen Borsten und Widerhaken erwiesen, und das Baltische Meer hielt immer wieder böse Überraschungen und unversehens auftauchende Feinde für sie bereit.

Mit anderen Worten, auch dies war ein Gewässer, das es in sich hatte. Man brauchte nicht bis in die Neue Welt oder ins ferne Asien zu segeln, um in einen Strudel von Geschehnissen gerissen zu werden. Es genügte, mit der geheimen Mission der englischen Königin nach Dänemark, Schweden und Finnland zu reisen, neue Handelsbeziehungen anzuknüpfen, und schon lernte man eine Ecke Welt kennen, die voller Fallen und Tücken war.

Hasard hatte dies von Anfang an geahnt. Doch Carberry, der mit am lautesten über den „Ententümpel“ und die „Pißrinne für Reiher“ gewettert hatte, und alle anderen, die im voraus gemeckert hatten, waren eines anderen belehrt worden. Piraten und Schnapphähnen waren die Seewölfe inzwischen begegnet, wilden Kerlen, die auf öden Inseln wohnten, Spaniern und Russen, die in Skandinavien Übles im Sinn hatten – und in Abo wäre die „Isabella“ um ein Haar den Flammen zum Opfer gefallen.

Zuletzt hatten die Seewölfe in Wiborg mit Hilfe Luke Morgans Pelzwerk eingekauft. Carberrys Quadratschädel war mit einer prächtigen Glatze versehen, die er mittels einer „geklauten“ Pelzmütze tarnte. Er hatte eine Wette gegen Luke Morgan verloren, weil von ihm behauptet worden war, Luke hätte keine Ahnung vom Handwerk des Kürschners. Das war aber doch der Fall. Luke hatte alles über Pelzwerk und die Verarbeitung bei seinem Vater erlernt, nur hatte das bislang niemand an Bord der „Isabella“ auch nur geahnt.

Hiebe hatte es in Wiborg auch gesetzt, und zwar kräftig: Zuerst war es Hasard, dann Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, gewesen, der in einem jeweils grandiosen Kampf den „Bullen von Wiborg“ auf die Bretter geschickt hatte. Dieser Rahim Mansour hatte es mit seinem Partner Djemal Jarigin zusammen gewagt, die Männer der „Isabella“ herauszufordern, aber beide Kerle hatten sich dabei ins eigene Fleisch geschnitten.

Alle Schwierigkeiten waren mittlerweile jedoch beseitigt und behoben. Zur Zeit schien es keinen Widersacher zu geben, der sich anschickte, die Männer in irgendeiner Weise zu behelligen. Die See war frei und offen, sie schien an diesem Tag ausschließlich der „Isabella IX.“ zu gehören.

Birger Runeberg, der Pelzkaufmann aus Wiborg, hatte Hasard empfohlen, den Kurs zunächst auf die Insel Hogland abzusetzen – sie wurde auf finnisch Suursaari genannt – und nach ihrem Passieren weiter auf Südwestkurs zu bleiben, der sie bei Reval an die baltische Küste führen würde.

Am Vormittag dieses 25. März ließen die Seewölfe die Insel Hogland hinter sich. Da der Wind aus Südwesten wehte, mußten sie um den Generalkurs Südwesten kreuzen. Das wurde bald zu einer mühsamen Knüppelei, denn der Wind nahm zu, und es war, als würde das Schiff jeweils zwei Schritte vorwärts und einen zurück tun. Straff blähte sich das gelohte Tuch, und weit holte die „Lady“, wie die Männer sie nannten, bei den plötzlich einfallenden Windstößen über.

„Sturm wird’s geben“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn, als er zu Hasard und Ben Brighton trat, die im Ruderhaus noch einmal auf der Seekarte den Standort der „Isabella“ überprüften. „Ich spüre es mal wieder in meinem Beinstumpf. Das wird noch eine harte Nacht.“

Der Seewolf blickte ihn an. „Da gebe ich dir ausnahmsweise recht, Donegal“, sagte er. „Aber warten wir erst einmal die Entwicklung ab.“

Die Wetterentwicklung ließ nicht lange auf sich warten. Gegen Nachmittag rief Bill, der sich als Ausguck im Hauptmars befand, seine erste Alarmmeldung aus. Im Westen baute sich eine schwarze Wolkenfront auf, die rasch näher rückte.

Hasard zog seinen Messingkieker auseinander, beobachtete die drohende Wolkenwand nur kurz und gab sofort seine Befehle: „Verschalkt die Luken und Schotten! Spannt die Manntaue!“

Daß er keineswegs übertrieben vorsichtig handelte, zeigte sich sogleich. Urplötzlich waren die ersten Drücker da – aus Nordwesten. Sie hieben mit voller Wucht in die Segel, entwickelten eine geradezu unheimliche Kraft, und jetzt blieb keine Zeit mehr, die Sturmsegel zu setzen. Die Männer rannten fluchend über die Decks und trachteten danach, zu retten, was zu retten war.

Carberry stieß die übelsten Verwünschungen aus und hielt mit der einen Hand seine Pelzmütze fest. Philip junior, einer der Söhne des Seewolfs, glitt auf dem vorderen Bereich des Hauptdecks aus und vollführte eine halbe Rutschpartie quer übers Deck, die nur durch eine der Grätings gestoppt wurde. Plymmie, die Wolfshündin, bellte. Arwenack fletschte die Zähne und rettete sich in die Kombüse, Sir John, der Aracanga, flatterte krächzend hinter ihm her und prallte um ein Haar gegen das Schott, das von dem verängstigten Affen zugerammt wurde.

Es herrschte also Zustand, doch das war nur der Anfang des Übels. Die Sturmböen fetzten auf Anhieb die Fock, das Großsegel und den Besan aus den Lieken. Die Mars- und Bramsegel waren bereits geborgen, die Blindensegel ohnehin, denn sie wurden beim Kreuzen nicht gefahren. Fock, Großsegel und Besan jedoch flatterten auf und davon, so daß mit einemmal nur noch ein paar Segeltuchfetzen an den Spieren knatterten.

Pete Ballie am Ruder fluchte wie besessen, doch auch das nutzte ihm nichts. Er konnte nichts mehr tun – ohne die Segel gab es keinen Vortrieb, und das Ruderrad wurde zu einem nutzlosen Gerät unter seinen schwieligen Händen. Erbittert blickten die Seewölfe ihren davonfliegenden Segeln nach, während der Wind über ihren Köpfen jaulte und heulte.

Carberry wetterte immer noch und verlor fast seine Pelzmütze. Philip junior hatte sich wieder von den Planken aufgerappelt und sah sich verwirrt um. Bill enterte in letzter Minute aus dem Hauptmars ab und klammerte sich wie die anderen Männer der Crew an den Tauen fest – dann übernahm der Sturm das Kommando.

Er jagte die „Isabella“ vor sich her, es ging ab nach Südosten, also auf Legerwall zu, und zwar mit atemberaubendem Tempo. Unterdessen war es beinah stockdunkel geworden, und die Wogen türmten sich immer höher auf. Blitze zuckten in weit verästelten, bizarren Mustern, Donner grollte über der rauschenden und gischtenden See, Eisregen begann in Sturzbächen niederzuprasseln.

Hasard war an die Querbalustrade des Quarterdecks gestürzt und schrie: „Shane, Ferris, Ed – zu mir! Wir bringen Schlepptrossen aus!“

Sofort enterten der graubärtige Riese, Ferris und der Profos das Quarterdeck. Ben, Pete und Nils Larsen packten ebenfalls mit zu, und die Trossen wurden achtern durchs Hennegat ausgebracht, so daß das Schiff sie in riesigen Buchten hinter sich herschleppte. So drosselten die Männer die Fahrt der „Isabella“, die geradewegs in die Hölle zu führen schien. Es war ein bewährtes Manöver, das sie auch früher bereits in ähnlichen Situationen praktiziert hatten – die einzige Möglichkeit, um das Schiff am Querschlagen zu hindern und vor dem Wind zu halten. Außerdem wurde die Fahrt vermindert.

Längst waren alle Luken und Schotten verschalkt und auch die letzten Manntaue gespannt. Die Männer leinten sich an. Hasard war wieder an der Querbalustrade des Quarterdecks und rief: „Beide Buganker zum sofortigen Fallen vorbereiten!“

„Anker klar zum Fallen!“ schrie Smoky zurück, der sich mit Al Conroy und Gary Andrews zusammen auf die Back begeben hatte.

Genau in diesem Moment flog dem Profos nun doch die Pelzmütze davon. Er war wieder auf das Hauptdeck abgeentert und hangelte in den Manntauen nach vorn, stieg die Stufen des Backbordniederganges zur Back hoch und brüllte: „Ho, Smoky, ich habe mal gehört, daß bei einem solchen Stürmchen die Euter der Kühe auf den Deichen der Themse querstehen!“

Er wollte den Männern zu Hilfe eilen und die Buganker klarieren, doch die Sturmbö, die über die „Isabella“ hinwegfegte, riß ihm seine Kopfbedeckung weg und entführte sie in die tobende See. Zu spät hob Carberry die Hand, um das Ding festzuhalten, sie klatschte nur noch wirkungslos auf sein kahlrasiertes Haupt.

„Himmel, Arsch und Kabelgarn!“ schrie er zwar noch, aber dadurch ließ sich die Mütze auch nicht mehr zurückholen.

Carberry stolperte auf die Back und prallte fast mit Smoky zusammen, der sich eben aufrichtete und grinsend die Glatze des Profos’ betrachtete.

„Na klar!“ rief Smoky. „Bei den Kühen soll so was passieren! Aber eine solche Gefahr ist bei Kahlköpfigen nicht zu befürchten! Denn wie sollen wohl Haare auf einer Glatze bei einem solchen Stürmchen querstehen, was?“

Ein grollender Laut löste sich von Carberrys Lippen, er fand diese Bemerkung überhaupt nicht witzig. Bevor er aber mit seiner Pranke nach Smoky ausholen konnte, geriet über ihren Köpfen die Vorbramrah ins Taumeln. Dan O’Flynn sah es vom Quarterdeck aus – er hatte ja bekanntlich die besten Augen von allen Männern der „Isabella“. Er stieß einen Schrei aus und gestikulierte wie verrückt, und Al und Gary hoben daraufhin gemeinsam die Köpfe.

„Achtung!“ schrie Al. „Die Spiere kommt runter!“

Auch der Profos blickte nach oben, stieß einen saftigen Fluch aus und warf sich gegen Smoky. Al und Gary sprangen einfach auf die Galionsplattform hinunter, um sich in Sicherheit zu bringen – und schon donnerte die Rah nach unten.

Mit einem riesigen Satz brachte Carberry Smoky und sich aus dem Gefahrenbereich. Sie landeten beide innig umarmt am Backbordschanzkleid der Back. Schwer krachte die Spiere auf die Back, es knirschte und splitterte, und vom Hauptdeck her waren die wütenden Rufe der Männer zu vernehmen.

Smoky war das Grinsen aber immer noch nicht vergangen. Er sah dem Narbenmann ins grimmige Gesicht und schrie: „He, he, Ed! Nun werde doch nicht immer gleich so vertraulich! Muß das denn sein?“

„Du alter Prielrochen!“ stieß der Profos grollend hervor. „Heb schon deinen Achtersteven von mir weg. Was sollen denn die anderen denken?“

Sie rappelten sich wieder auf und klammerten sich am Schanzkleid fest, denn schon rollte ein Brecher heran und ergoß sich rauschend über die Decks. Naß wie die Seehunde waren sie und hilflos obendrein, da blieb ihnen nur das bißchen Galgenhumor.

Denn der Sturm – das wußten sie alle, ohne sich irgendwelchen Illusionen hinzugeben – trieb die „Isabella“ unaufhaltsam auf Legerwall zu, wo sie auflaufen und zerschellen würde. Da half kein Beten und kein Fluchen, ihrer aller Schicksal schien besiegelt zu sein. Ob die beiden Buganker, die als Manöver des letzten Augenblicks geworfen werden würden, faßten und hielten, wußte kein Mensch. Genausogut konnten auch die Ankertrossen brechen, und dann war es endgültig aus mit der „Lady“ und ihrer Crew.

Vor Topp und Takel lenzend bewegte sich das Schiff durch die aufgewühlte, kochende See. Die Dämmerung hatte inzwischen begonnen, die Sichtverhältnisse wurden noch schlechter. Bald würde es so finster sein, daß man nicht mehr die Hand vor den Augen zu erkennen vermochte.

„Es läßt sich nicht mehr errechnen, wie weit die Küste noch entfernt ist“, sagte Ben zu Hasard. „Ich kann unsere genaue Position nicht mehr feststellen.“

„Ich auch nicht“, sagte der Seewolf mit verbissener Miene. „Alles ist unwägbar geworden. Wir können nur noch hoffen, daß der Sturm so bald wie möglich nachläßt.“

Doch diesen Gefallen schien Rasmus den Männern der „Isabella“ nicht tun zu wollen. Immer wütender peitschte der Wind auf das Schiff ein, die Brecher wuchsen und wälzten sich donnernd gegen ihr Opfer, richteten sich wie drohende Giganten neben den Bordwänden auf und fielen brüllend und zischend über die fluchenden Männer her. Die Gefahr nahm zu, das Auflaufen auf Legerwall schien somit unabwendbar zu sein.

Carberry tobte, weil es ihm nicht gelungen war, die Vorbramrah zu packen und festzuhalten. Sie hatte ein Stück des Steuerbordschanzkleides der Back eingedrückt und war dann außenbords geflogen.

Auch Al und Gary, die sich nach dem Herunterfallen der schweren Spiere sofort wieder von der Galion aufgerichtet hatten, war es nicht geglückt, die Rah zu bergen. Nicht nur die drei Segel waren wie ein Spuk verschwunden, auch die Spiere tauchte nun in den Fluten unter und wurde nicht wiedergesehen. Der Materialverlust wuchs – was würde noch alles geschehen?

„Der Teufel soll diesen Scheißsturm und die verfluchte Ostsee holen!“ brüllte der Profos mit aller Macht gegen das Tosen an. „Wenn das so weitergeht, werden uns noch sämtliche Masten aus dem Kielschwein gerupft! Beim Donner, was ist hier los? Ist die Welt verrückt, was, wie?“

Wie zur Antwort erfolgte ein neuer Donnerschlag, gleichzeitig zuckten Blitze wie Geisterfinger nieder. Old O’Flynn verdrehte die Augen, hob eine seiner Krücken und schrie: „Das geht nicht mit rechten Dingen zu! Das sind die Wasserdämonen, die über uns herfallen!“

Das Schiff hob sich unter dem Anrollen einer gewaltigen Woge, die Decks gerieten in eine bedrohliche Schräglage, und der Alte mußte sich an den Manntauen festklammern, um nicht außenbords gerissen zu werden. Fast verlor er eine seiner Krücken, und mit seinem Holzbein glitt er immer wieder auf den Planken aus, so daß er eine Art Tanz aufführte.

„Donegal!“ brüllte Big Old Shane. „Dir beißen die Dämonen wohl gerade in den Hintern, was? Hör bloß mit deinen Sprüchen auf, die haben uns gerade noch gefehlt!“

„Es sind die Geister von Abo“, murmelte der Alte dennoch, aber das konnte keiner mehr verstehen. „Sie sind hinter uns her. Paavo Korsumäki rächt sich an uns, er jagt uns die Mächte der Finsternis nach. Er ist doch ein Heide, oder? Na bitte – er steht mit sämtlichen Inselgespenstern und Schärenkobolden im Bund.“

So kommentierte jeder von ihnen den Sturm auf seine Art. Fest stand, daß die Ostsee wieder einmal völlig unberechenbar war. Als Binnenmeer hatte sie es wirklich in sich, und Carberry schwor sich insgeheim, daß er es nie wieder wagen würde, sie zu unterschätzen.

Angst vor dem Sturm hatten die Seewölfe nicht – sie hatten schon ganz andere Wetter abgeritten und ihr Leben hundertfach aufs Spiel gesetzt. Doch sie bangten jetzt um ihr Schiff. Sie war noch nagelneu, diese „Isabella IX.“, die erst vor drei Monaten bei Hesekiel Ramsgate auf der Werft in Plymouth vom Stapel gelaufen war.

Sollten sie sie jetzt schon wieder verlieren? Hölle und Teufel, das kam nicht in Frage! Die Erinnerung an das, was ihnen in Ägypten widerfahren war, wo sie die „Isabella VIII.“ im versandeten Kanal der Pharaonen hatten aufgeben müssen, war noch zu frisch in ihnen. Es sollte ihnen nicht wieder passieren, daß sie auf eine derartig erniedrigende Weise um ihr Schiff gebracht wurden.

„Sir!“ schrie Ben. „Warum riskieren wir es nicht und werfen die verdammten Anker?“