schicksal-der-schäfflerin-OP.jpg

Das Schicksal der Schäfflerin

von Yngra Wieland

 

Historischer Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-943531-64-0

ISBN 978-3-943531-63-3 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-943531-62-6 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Jana Hoffhenke

Korrektorat: Ursula Schötzig

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jürgen Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

Für meinen Mann, der für alles eine Lösung findet.

Vorwort

 

Wilhelm Schmid, Geschäftsführer der letzten Fassfabrik Münchens

1. Vorsitzender des Fachvereins der Schäffler Münchens

Innungsobermeister der Schäfflerinnung Bayern

 

Der Schäffler ist einer der ältesten Berufe der Menschheit.

Fassfunde gibt es bereits aus der Römerzeit um Christi Geburt. Diese Fässer waren schon erstaunlich gut gearbeitet, was bedeutet, dass die Römer bereits über gute Werkzeuge zur Holzbearbeitung verfügt haben.

Der Schäffler war ein sehr häufiger Beruf, denn in früheren Jahrhunderten gab es kaum andere Werkstoffe zur Herstellung von Gefäßen zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten und anderen Dingen. Alle Gefäße waren aus Holz, ob es Wassereimer, Waschwannen, Bierfässer, Weinfässer, Bottiche oder Vorratsgefäße waren. Zur Herstellung und Reparatur dieser Gefäße brauchte man den Schäffler. So gab es in jedem größeren Ort eine Schäfflerwerkstatt, in der die Wirtschaftsgefäße der Bauern hergestellt und instand gesetzt wurden. Auch die Brauereien brauchten Bottiche zur Vergärung, Lagerfässer im Keller zur Bierreifung und Transportfässer, um das Bier zum Kunden zu bringen, ebenso die Winzer zur Vergärung, Lagerung und Transport ihrer Weine.

Im Mittelalter war Eisen ein rares Gut und sehr teuer, da es nur in geringen Mengen hergestellt wurde. Das änderte sich erst mit Beginn der Industrialisierung. Daher waren alle Fässer früherer Jahrhunderte mit Holzreifen beschlagen. Größere Lagerfässer mit 2000 oder 3000 Litern waren mit zusammengestückelten Eichenästen umbunden, die oben wie eine Art Joch zusammengehalten wurden.

Kleinere Fässer wurden mit Haselnuss- oder Weidenreifen umbunden. Diese Ruten wurden in der Mitte gespalten und ins Wasser gelegt. Danach wurde das Fass umbunden, daher vermutlich die österreichische Bezeichnung für den Beruf »Fassbinder«. Durch Austrocknung zogen sich die Ruten zusammen und das Fass wurde dicht. Die Herstellung dieser Reifen war eine eigene Kunst, die aber leider verloren gegangen ist.

Der Schäffler war zu allen Zeiten ein körperlich sehr anstrengender Beruf, daher eine reine Männerdomäne. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, mir ist keine einzige »Schäfflerin« bekannt. Daher wäre es nicht sehr verwunderlich, wenn die Schäffler des Mittelalters recht sauer auf eine weibliche Kollegin reagieren würden …

In den letzten 100 Jahren hat der Beruf des Schäfflers den größten Teil seiner Bedeutung verloren. Anstatt aus Holz stellte man Gefäße nun aus Kunststoff, Aluminium und Edelstahl her. Das ist in der heutigen Zeit viel billiger. Außerdem sind solche Gefäße leichter zu benutzen, weil sie einfacher gereinigt werden können und keine große Pflege brauchen.

Allerdings ist in den letzten 10 bis 15 Jahren wieder ein Aufwärtstrend im Schäfflerhandwerk zu beobachten. Man greift wieder mehr zum Traditionellen, und zwar sowohl bei der Reifung von Wein und Schnaps im Holzfass wie auch beim Bieranstich vom Holzfass, ja sogar die Reifung von Bier im Holzfass wird wieder versucht. So besteht guter Grund zur Annahme, dass dieser so alte und traditionsreiche Beruf weiterbestehen wird, wenn auch in viel geringerem Umfang als in früheren Jahrhunderten.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Vergnügen beim Lesen dieses interessanten und spannenden Buches. Tauchen Sie ein ins Mittelalter!

 

Ihr Wilhelm Schmid

Prolog

 

Die rechte Zeit ist gekommen, ich habe lange genug gewartet. Ihr Unseligen, die ihr verantwortlich seid für die Schmach, die ich erdulden musste, sollt endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Die letzten Tage, Wochen und Stunden lebte ich nur für den Augenblick des Triumphes, den Moment, in dem ich durch euren Niedergang Genugtuung erlangen werde. Es vergeht keine Stunde, in der ich mir nicht ausmale, wie es sein wird, wenn ihr durch meine Größe und meine Hand vernichtet werdet. Mit bebendem Herzen male ich mir aus, wie ihr leidet, und labe mich an eurer Qual. Das verschafft mir Erleichterung und weckt in mir den immer drängenderen Wunsch, diesen Augenblick bald herbeizuführen. Ich beobachte euch. Ich weiß über jeden Vorgang Bescheid, während ihr unbeschwert euer erbärmliches Leben führt. Ich bin bereit, die rechte Zeit ist gekommen.

Donnerstag

30. Oktober 1636

 

 

Der Unterricht

Der Wind rüttelte jäh an den Fensterläden. Das Klappern riss Jakoba aus ihrem Tagtraum. Es war ein Genuss, sicher und geborgen in der Küche zu sitzen, Lenes Stimme zu hören, den warmen Körper ihres Kindes zu spüren. Die anderen Frauen beugten sich über den Küchentisch und lauschten begierig Lenes Worten. Anni regte sich schläfrig, die winzigen Fingerchen griffen nach dem Tuch, in das Jakoba sie eingehüllt hatte. Jakoba summte leise und schaukelte das Kind, während sie verzückt auf das kleine Gesicht hinunterblickte. Sie konnte sich nicht satt sehen an den dunklen Wimpern, dem schwarzen Haarflaum und den trotzig aufgeschwungenen Lippen ihrer Tochter. Verträumt strich sie mit dem Finger über das samtige Bäckchen. Unglaublich, dass dies ihr Kind war, ihre Tochter, die sie auf dem Schoß hielt. Weit entfernt schwebte sachte die Erinnerung an die Todesangst, die sie ergriffen hatte, als die Wehen in einer kühlen Mainacht einsetzten. Im Jahr davor hatte sie Gewalt und Rohheit erdulden müssen, nach Folter und Gefangenschaft hatte ihr Leben an einem seidenen Faden gehangen, aber die Qualen der Geburtsschmerzen, die sie mit unglaublicher Heftigkeit überrollt hatten, empfand sie schlimmer als alles, was sie je zuvor gespürt hatte. Jakoba hatte geglaubt, sterben zu müssen, klammerte sich wimmernd an Sylvesters Arm, der mit totenbleichem Gesicht neben ihr ausharrte, bis endlich Lene erschienen war und ihn mit ruhiger Bestimmtheit aus der Kammer geschickt hatte. Schluchzend hatte Jakoba sich in die Arme ihrer mütterlichen Freundin geflüchtet.

»Ich will nicht sterben, bei der Heiligen Mutter Gottes, Lene, hilf mir, lass mich nicht sterben!«

Jakoba sah bewundernd zu Lene hinüber, die gerade ein Sammelsurium von getrockneten Kräutern auf dem Tisch ausbreitete. Lene griff in einen Behälter und brachte eine Handvoll schrumpelige, blauviolette Blüten zum Vorschein.

»Gleich erlebt ihr ein blaues Wunder!«, scherzte sie. Die fünf jungen Frauen reckten neugierig die Hälse.

»Das ist die Käsepappel. Ihr findet sie an Wegrändern oder in lichten Wäldern. Ein Trank daraus wirkt heilend bei Husten und schwerem Atem, außerdem bei Bauchschmerzen und Entzündungen oder Geschwüren im Mund. Wichtig ist, dass ihr den Auszug mit kaltem Wasser ansetzt, sonst zerstört ihr die Wirkung.«

Lene nahm eine Schale mit Wasser und stellte sie auf den Tisch.

»Das Wasser habe ich zum Kochen gebracht und abkühlen lassen. Für einen großen Becher braucht ihr etwa diese Menge der Blüten«, sie nahm einen Löffel und gab die Pflanzenteile in einen Becher, »im Sommer am besten frisch, im Winter getrocknet. Ihr seht also, wie wichtig es ist, euch im Sommer Vorräte anzulegen. Im Frühjahr werde ich mit euch hinausgehen und wir sammeln gemeinsam die ersten Frühlingskräuter.«

Sie goss das vorbereitete Wasser zu den Blüten und rührte eine Weile vorsichtig um. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Da, schaut!«

Alle beugten sich über den Becher.

»Ooohh!«

Die Flüssigkeit hatte eine intensive Blaufärbung angenommen.

Marthe sprang auf.

»Das ist Hexenwerk!«

Lenes Lächeln wurde noch breiter.

»Beruhige dich, Marthe, selbst wenn ein Bischof den Trank mit Weihwasser bereiten sollte, würde er das gleiche Ergebnis erzielen.«

Marthe starrte in den Becher. Das Blau war noch stärker geworden.

»Ihr müsst es eine bis drei Stunden ziehen lassen und nicht mehr als drei Tassen am Tag davon trinken. Bereitet diese Medizin immer frisch zu, die Blüten fangen bereits nach wenigen Stunden an zu schimmeln, und der Trank ist verdorben.«

Lene schob den Becher zur Seite und zeigte auf eine sonnenfarbene Blüte.

»Das ist die Ringelblume. Damit könnt ihr Salbe, Tinktur oder einen Aufguss herstellen. Es ist die Wundheilerin unter den Blüten. Am besten sammelt ihr sie, wenn die Blüte ganz geöffnet ist, also nicht bei schlechtem Wetter. Übrigens gibt die Ringelblume Auskunft über das Wetter. Wenn sie beim Sieben-Uhr-Läuten noch geschlossen ist, wird es Regen geben.«

Lene deutete auf Anni und reichte einen kleinen Tiegel mit goldgelber Salbe herum. Die jungen Frauen rochen andächtig daran.

»Ist ein Windelkind wund, streicht ihr Ringelblumensalbe auf die wehen Stellen oder betupft sie mit der Tinktur.«

Die Gesichter der Frauen wandten sich Jakoba zu. Sie lächelte, als sie in die Runde schaute. Da war Margret von der Kreuzbrauerei, mit der Jakoba sich schon seit Längerem angefreundet hatte, ein kräftiges, rotblondes Mädchen mit einem leichten Silberblick und lautem, herz­erwärmendem Lachen. Neben ihr Afra, Jakobas Nachbarin, die einige Winter mehr zählte als Jakoba und sich nichts sehnlicher wünschte als einen Mann, der sie heiraten würde, wie sie Jakoba mit Tränen in den Augen gestanden hatte. Afra war eine der Glücklichen, die den katastrophalen Ausbruch des Schwarzen Todes im vorletzten Jahr überlebt hatte, aber ihr Gesicht war gezeichnet von den Narben, die die Brechin mit ihren Knochenfingern geschlagen hatte. Die weizenblonde, zarte Christhild hatte die getrocknete Blüte in die Hand genommen und betrachtete sie eingehend. Christhild war hochschwanger und erschien jeden Donnerstag als Erste, wenn es darum ging, von Lene das Nötigste zu lernen, was es über Heilpflanzen und Kinderpflege zu wissen gab. Seit dem Sommer trafen sich die Frauen regelmäßig am letzten Donnerstag im Monat. Jakoba hatte mit Engelszungen geredet, um ihrem Vater und ihrem Mann die Erlaubnis abzuringen, diese Versammlungen in der geräumigen Küche der Himmelsschäfflerei abhalten zu dürfen. Sie hatte gebeten, getrotzt, mit dem Fuß aufgestampft und mehrere Tage kein Wort mit den Männern gesprochen, bis diese ihre Gewitterstimmung nicht mehr aushielten und notgedrungen eingewilligt hatten.

»Macht, was ihr wollt, aber bringt euch nicht ins Gerede«, hatte ihr Vater geknurrt, schließlich wusste er, dass der Sturkopf seiner Tochter sein allzeit gegenwärtiges Vermächtnis an sie war. Sylvester, der Jakoba inzwischen gut genug kannte, hatte von Anfang an nicht viel zu dem Plan gesagt. Im Grunde fand er es nicht schlecht, jungen Frauen Wissen über Heilkunde zu vermitteln, damit sie ihre Gesundheit nicht gewissenlosen Badern und Ärzten überlassen mussten. Sylvester hatte Jakobas Gesicht zwischen seine Hände genommen und ihr tief in die Augen gesehen.

»Versprich mir, dass du weder dich noch unser Kind in Gefahr bringst, versprich es mir hier und jetzt!«

Für einen Augenblick war sie im schilfigen Grün seiner Augen versunken.

»Ich verspreche es dir, bei der Himmelskönigin.«

Das Versprechen war ihr leicht über die Lippen geglitten, denn was war schon gefährlich daran, mit anderen Frauen zusammenzusitzen und zu lernen, wie man sich und seine Familie gesund erhielt? Abgesehen davon waren die Treffen Jakoba eine überaus willkommene Abwechslung von der Eintönigkeit des Alltags. Lene jedenfalls hatte ihre Idee bereitwillig aufgegriffen. Jakoba liebte diese Zusammenkünfte, einerseits, weil sie großen Nutzen aus dem Wissen zog, andererseits, weil sie Lene dadurch regelmäßig sah und diese seit einiger Zeit ab und zu über Nacht in der Stadt blieb.

»Jakoba, warum wickelst du dein Kind nicht? Willst du, dass es sich die Ohren abreißt und später krumm und schief daher kommt?«

Die spitze Frage kam von Marthe, einem unscheinbaren Mädchen, dessen Gesicht meist einen mürrischen Ausdruck zeigte. Sie war mit Jobst Heigl, einem Bierbrauer, verheiratet. Ihr Mann war um einiges älter als sie, und Marthe musste sich jedes Mal mit einer Ausrede davonstehlen, um an den Treffen teilnehmen zu können. Jakoba musterte Marthes verdrossene Miene und fragte sich erneut, warum es Marthe überhaupt wichtig war, bei den Donnerstagstreffen dabei zu sein, denn sie versuchte ständig, Lenes Erklärungen zu widerlegen. Trotzdem hatte Marthe inständig gebeten, mitmachen zu dürfen, als sie von Afra von dem Unterricht erfahren hatte.

»So ein Unsinn!«

Lene runzelte ärgerlich die Stirn.

»Du schadest dem Kind mehr, als du ihm nutzt, wenn du es einwickelst wie eine Made. Die Hüfte kann schief werden, oder die Füße verdrehen sich.«

»Aber meine Patentante Cecilie hat gesagt, die Kinder, die man nicht wickelt, werden krumm und kommen auf allen vieren daher, wie die Tiere!«, begehrte Marthe auf.

Ihr Mund verzog sich schmollend und sie sah Lene aufsässig an. Die verdrehte die Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ja, wenn Cecilie mit dem königsgleichen Gang das sagt …«

Alle bis auf Marthe kicherten, die Anspielung auf das leichte Hinken der sauertöpfischen Hebamme war deutlich.

»Am Ende muss jeder für sich selbst entscheiden, was das Beste ist«, meinte Lene versöhnlich.

»Ich habe meine Tochter nie dieser dummen Angewohnheit ausgesetzt und sie ist wohlgestaltet und geht auf zwei kräftigen Beinen. Jetzt lasst uns weitermachen. Ich gebe euch das Rezept für eine Salbe aus Ringelblumen. Ihr braucht etwas Schweineschmalz, ebenso viel Bienenwachs, zwei Hände voll Kamillenblüten, ein paar Blüten vom Herrgottsblut und natürlich Ringelblumenblüten, eine gute Handvoll.«

»Welches ist das Herrgottsblut?«, ließ sich Christhild eifrig vernehmen. Lene nahm eine Pflanze mit braungelben Blüten zur Hand und hielt sie ihr hin, während sie weitersprach.

»Die Blüten lasst ihr ein bis zwei Tage trocknen, dann erwärmt ihr vorsichtig etwas Schweineschmalz, etwa so viel Bienenwachs und lasst die Blüten darin ziehen. Wenn die Mischung eine richtig schöne goldgelbe Färbung angenommen hat, könnt ihr sie vom Feuer nehmen, in Tiegel füllen und abkühlen lassen. Die Salbe hilft bei Geschwüren und Schwellungen, bei leichten Brandwunden und schlecht heilenden Wunden, Vinzent bekommt sie von mir für seinen Beinstumpf, das lindert die Schmerzen und – wie gesagt, bei wunden Stellen bei Säuglingen oder bettlägerigen Menschen bewirkt sie wahre Wunder. Weiß eine von euch, wie dieses Kräutlein heißt?«

Sie griff nach einer graugrünen Pflanze mit festen Blattrippen und hielt sie hoch, als die Tür aufgerissen wurde. Der Luftzug wehte die getrockneten Kräuter durcheinander. Aufgeschreckt sahen die Frauen den Störenfried an. Wilhelm Neuburg stand in der Tür, sah in die Runde, sein Blick blieb an Lene hängen. Sein Gesicht lief rot an und er schien vergessen zu haben, warum er in die Küche geplatzt war. Jakoba musste lächeln.

»Was ist los, Vater?«

Wilhelm Neuburg schaute Jakoba an, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Äh. Ja. Ich …«

Er räusperte sich ausgiebig und rieb sich mit einer fahrigen Geste den Bart.

Langsam besann er sich.

»Ein Bote verlangt dich eilig zu sprechen, Lene.«

Seine Stimme wurde heiser, als er ihren Namen aussprach. Beunruhigt setzte Jakoba sich auf. Seit ihrer Verhaftung im letzten Jahr reagierte sie empfindlich auf plötzliche Vorkommnisse. Anni wurde durch die Bewegung wach und quäkte. Lene maß Wilhelm Neuburg mit einem langen Blick. Sie schien zu wissen, wer nach ihr schicken ließ. Mit ruhigen Bewegungen begann sie, die Kräuter in ihren Beutel zu packen, nahm ihren schafwollgefütterten Umhang vom Haken, hüllte sich darin ein und schob eine widerspenstige Haarsträhne unter ihre Haube.

»Bis zum nächsten Mal. Ich werde euch zeigen, wie man eine Salbe herstellt. Ihr solltet alle kleine Tiegel mitbringen.«

Sie winkte den Frauen zu und verließ hinter Jakobas Vater die Küche. Jakoba sah ihr nach. Ein banges Gefühl beschlich sie. Wer wusste, dass Lene um diese Zeit in der Schäfflerei war? Welche Heimlichkeiten hatte die Heilerin vor ihr?

»Ich muss gehen. Gott befohlen.«

Marthe raffte ihren Umhang und eilte zur Tür hinaus. Christhild erhob sich schwerfällig und stemmte mit schmerzverzogenem Gesicht die Hände in den Rücken.

»Ich wünschte, das Kind würde endlich kommen. Alles ist so beschwerlich!«

Afra blickte neiderfüllt auf den hochgewölbten Leib der anderen.

»Ich würde gerne mit dir tauschen!«

Jakoba fühlte Mitleid mit dem entstellten Mädchen. Mit einer innigen Bewegung drückte sie Anni an sich und sog ihren süßwarmen Duft ein. Wie gut hatte sie es mit ihrem Mann, der sie liebte, ihrem Kind, einem heimeligen Zuhause. Und trotzdem, in letzter Zeit hatte sich eine Unzufriedenheit in ihr eingesät, eine Sehnsucht nach – sie wusste es selbst nicht. Dankbar für ihr Leben sollte sie sein! Anni fuchtelte ärgerlich mit den Ärmchen und greinte. Jakoba öffnete ihr Mieder und bot Anni die Brust. Gierig schnappte die Kleine nach der Brustwarze und begann in langen Zügen zu trinken. Christhild betrachtete Jakoba und ihr Kind mit großen Augen.

»Tut es weh?«, fragte sie scheu. Jakoba schüttelte lächelnd den Kopf. Sie konnte Christhilds Angst verstehen. Ihr war es nicht anders ergangen. Sie mochte die zurückhaltende Christhild, die ein allzeit sonniges Gemüt hatte, trotz ihres unmöglichen Gemahls. Er war Brunnenmeister und sie lebten in einem schmucken Haus nahe des Sendlinger Tors. Unglücklicherweise war Peter, Christhilds Gemahl, dem Wein zugeneigter als dem Wasser und hatte schon mehrfach Verwarnungen und Strafen vom Rat aufgebrummt bekommen. Jakoba nickte ihr aufmunternd zu.

»Bald hast du selbst ein gesundes Kind im Arm, wirst sehen!«

Die jungen Frauen verabschiedeten sich. Lenes geheimnisvoller Auftrag ließ Jakoba keine Ruhe. Sie ließ Anni an der anderen Brust trinken, bis die Kleine satt und zufrieden gluckste. Jakoba erhob sich und legte Anni in den Weidenkorb, der mit kräftigen Seilen versehen in der Ecke der Küche an einem Haken von der Decke hing. Er war weich mit Schaffellen und duftenden Kräuterkissen ausgepolstert. Lene hatte ihr den Korb, in dem einst ihre Tochter gelegen hatte, zu Annis Geburt geschenkt. Jakoba begann die Abendsuppe zu richten. Ihr Vater kehrte zurück und setzte sich an den Tisch. Obwohl niemand sie hören konnte, senkte er seine Stimme, in der gleichermaßen Besorgnis und Neugier schwang.

»Der Bote war vom Hof! Er trug die Farben der Kurfürstin!«

Jakoba sah ihn überrascht an. In ihrem Kopf arbeitete es. Die Kurfürstin trug ein Kind unter dem Herzen. Das kurfürstliche Paar hatte während des Sommers viele Fahrten nach Altötting und zum Kloster Andechs unternommen, um dort für einen gesunden Nachkommen zu beten, und eines Tages wurde endlich die frohe Botschaft verkündet – die junge Kurfürstin war guter Hoffnung. Der ganze Hof hielt den Atem an. Die erste Frau Maximilians, Kurfürstin Elisabeth Renata von Lothringen, war gestorben, ohne Bayern einen Thronfolger geschenkt zu haben. Sie sei verhext gewesen, hatte man in den Gassen und Schenken Münchens gemunkelt. Jakoba wusste, wie sehr der Kurfürst sich einen Thronfolger herbeigesehnt hatte. Damit Gott dem Wittelsbacher einen Sohn schenkte, hatte er ihr, Jakoba, Gnade gewährt, als sie sich längst verloren glaubte. Die unnachgiebige Strenge und die Härte, mit der der Kurfürst die Münchner Bürgerschaft durch zahllose Regularien drangsalierte, machten ihn unbeliebt beim Volk. Es gab Verordnungen gegen Fluchen, gegen das Glücks- und Kartenspiel, gegen prunkvolle Kleidung, gegen Unmäßigkeiten jeglicher Art, gegen Betteln und selbstverständlich gegen Gotteslästerung. Jakoba hatte den Regenten anders erlebt, damals, als er zu ihr in die Kammer im Klarissenkloster gekommen war, und auch danach, bei ihrem heimlichen Besuch in der Residenz. Und nun ließ die Kurfürstin nach Lene schicken. Lenes Ruf als hervorragende Hebamme, die schon vielen Müttern und Neugeborenen das Leben gerettet hatte, war anscheinend sogar hinter die Mauern der Residenz gedrungen. Jakoba biss sich auf die Unterlippe. Hoffentlich war alles in Ordnung mit dem Kind! Am liebsten wäre sie zur Residenz gelaufen und hätte auf Lene gewartet, um zu erfahren, was am Hof vor sich ging. »Heilige Mutter Gottes, steh der Kurfürstin bei«, murmelte Jakoba beschwörend.

Erst am heutigen Morgen war auf Anordnung Maximilians eine Heilige Messe für eine glückliche Geburt gelesen worden, wie jeden Donnerstag, seit die Schwangerschaft der Kurfürstin bekannt geworden war. Jakoba rührte heftig in der Suppe, die überschwappte. Es zischte.

»Geht dein Temperament wieder einmal mit dir durch?«

Sylvester war unbemerkt hereingekommen und schaute über ihre Schulter in den Topf.

»Hmm, Erbsensuppe.«

Er schnüffelte genießerisch und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Abwesend erwiderte sie seine Liebkosung und begann, die Suppe in die Schalen zu verteilen.

 

Lene kniete vor der Kurfürstin.

»Ihr macht das sehr gut, Hoheit, es ist bald geschafft!«

Sie wies die Kammerfrau an, Gesicht und Hals der Gebärenden abzutupfen. Für diesen Zweck hatte Lene Tücher mit einer Tinktur aus Raute, Bibergeil und Myrrhe getränkt. Die Hände der jungen Kurfürstin krallten sich unter der Wucht der Wehe in die Lehnen des Gebärstuhls. Sie ließ den Kopf zur Seite sinken und gab einen gepressten Laut von sich.

»Schreit den Schmerz heraus, Hoheit, damit helft Ihr Euch und dem Kind!«

Lene nickte ihr aufmunternd zu.

»Die Tochter des Kaisers darf sich nicht gehen lassen«, ächzte die junge Frau. Ihre Augen waren glasig, die Haut wirkte wächsern. Die dunklen Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst und klebten wirr in der hohen Stirn.

»Die Tochter des Kaisers erleidet die gleichen Schmerzen wie jede andere Frau, wenn ein Kind kommt«, versetzte Lene respektlos. Die Kammerfrau und die Zofe sogen vernehmlich Luft ein.

»Ihr macht es Euch und dem Kind unnötig schwer, Hoheit. Es muss heraus, es dauert schon viel zu lange! Ihr hättet früher nach mir schicken lassen sollen.«

Den letzten Satz sagte Lene mehr zu sich selbst. Die Unbekümmertheit, die sie an den Tag legte, war nicht echt. Die Kurfürstin hatte zu viel Blut verloren und war geschwächt durch die Wehen, die am gestrigen Morgen eingesetzt hatten. Draußen im Hofgarten zwitscherten bereits die ersten Vögel dem neuen Tag entgegen.

»Quacksalber!«, knurrte Lene und meinte damit die Leibärzte des Hofes. Keine Ahnung hatten die studierten Herren davon, wie man mit Kräuterdämpfen und wehentreibenden Tränken den Geburtsvorgang unterstützen konnte. Zu allem Übel trug die Kurfürstin einen Reliquiengürtel um den aufgetriebenen Leib gebunden. Es sei der Gürtel Marias, den sie auf Wunsch von Kurfürst Maximilian die letzten beiden Wochen Tag und Nacht getragen hätte, eine Reliquie aus dem Kloster Andechs, hatte Maria Anna in einer Wehenpause geflüstert. Lene betrachtete misstrauisch das nicht besonders saubere Band, aber angesichts der offensichtlichen Verzückung der hohen Frau schluckte sie die Worte hinunter, die ihr auf der Zunge lagen. Der Gürtel bestand aus einem mit silbernen Ranken und apfelähnlichen Früchten bestickten Stoffstück, daran waren Leinenbänder angesetzt. Ins Himmelbett hatten die Ärzte die Kurfürstin gelegt, wie einen Käfer auf den Rücken. Lene ließ unverzüglich den Gebärstuhl herbeischaffen, den Maria Anna auf ihren Rat hin erworben hatte. Die Kurfürstin war jung und gesund, das Kind lag richtig, es war völlig überflüssig, dass sie derartig leiden musste. Eine neue Wehe rollte heran. Maria Anna drückte sich in den nach hinten geneigten Sitz, warf den Kopf zurück und schrie aus Leibeskräften. Das Tuch, mit dem die Armlehnen des Stuhls bespannt waren, zerriss. Die Zofe wurde bleich und verdrehte die Augen.

»Wagt es nicht, ohnmächtig zu werden«, zischte Lene, »sorgt lieber dafür, dass keiner den Raum betritt!«

Aus dem Vorraum vernahm sie erregte Stimmen und befürchtete, dass jeden Augenblick das Heer der Leibärzte hereinstürmen würde. Maria Anna hatte diese mit letzter Kraft weggeschickt, sobald Lene in ihren Gemächern eingetroffen war. Lene war mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze in Begleitung des Lakaien an den aufgebrachten Herren und den Wachen in blitzenden Harnischen vorbeigeeilt. Falls der Kurfürstin oder dem Kind etwas zustoßen sollte, würde Lene das teuer zu stehen kommen. Sie bemühte sich, ihre Besorgnis zu verbergen. Sie stand auf, träufelte Maria Anna ein paar Tropfen der kostbaren Safranessenz in den Mund, wusch sich sorgfältig die Hände und nahm dann ihren Platz zwischen den weit geöffneten Schenkeln der Kurfürstin wieder ein. Sie streifte das blutbesudelte Hemd über die Knie der Gebärenden und tastete behutsam.

»Noch einmal, das Köpfchen ist gleich da!«, spornte sie die Kurfürstin an. Maria Anna klammerte sich an die Griffe, presste aus Leibeskräften, schrie, bis ihre Stimme brach. Das Kind glitt in einer fließenden Bewegung aus ihr heraus. Lene fing den Säugling auf.

»Hoheit, es ist ein Junge!«

Lene band die Nabelschnur mit einem Stückchen Leinen ab und schnitt sie durch. Das Kind war blau angelaufen. Sie riss der Kammerfrau, die offenbar noch nie eine Geburt miterlebt hatte und mit hilfloser Miene herumstand, die Tücher aus der Hand, legte den Erbprinzen auf das zarte Leinen und begann, ihn mit einem festeren Tuch kräftig abzureiben. Sie warf einen Blick auf das verschrumpelte Gesicht, drehte flink einen Zipfel des Stoffes zusammen und fuhr damit in das Näschen des Neugeborenen, danach mit dem kleinen Finger in den Mund, um ihm einen Batzen Schleim aus der Kehle zu holen. Da war er, der erlösende Schrei des neugeborenen Erbprinzen, empört, aus seiner warmen, sicheren Höhle in ein ungewisses Leben gezwungen worden zu sein. Erst dünn, dann immer lauter schrie das Kind. Maria Anna war auf dem Geburtsstuhl zusammengesunken. Ihr Atem ging schwer. Lene drückte der Kammerfrau das Neugeborene in die Arme und befahl der Zofe, das Feuer zu schüren. Sie fing an, sanft, aber mit Nachdruck den Leib der Kurfürstin zu massieren. Die Nachgeburt ging zu Lenes großer Erleichterung ohne Probleme vonstatten. Sie prüfte den Mutterkuchen gewissenhaft auf Vollständigkeit, schlug ihn in ein Tuch und legte ihn dann in eine dafür bereitgestellte Schale. Vorsichtig untersuchte sie den Damm und legte der Kurfürstin einen mit wundheilender Kräutertinktur getränkten Verband an.

»Helft mir, die Herrin ins Bett zu bringen!«

Nachdem Maria Anna gesäubert und von Kissen gestützt im Bett lag, nahm Lene der Kammerfrau den Prinzen ab und legte ihn behutsam in die Arme seiner Mutter.

»Holt die Amme und lasst den Kurfürsten benachrichtigen.«

Die Kurfürstin blickte auf ihr Kind. Ihr Lächeln ließ die Spuren der Anstrengung aus ihrem totenbleichen Gesicht fortschmelzen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nur ein hässlich krächzender Laut aus ihrer Kehle. Ihre nachtdunklen Augen weiteten sich angstvoll. Lene wurde es eiskalt.

Freitag

31. Oktober 1636

 

 

Dem Prinzen zur Ehre

Jakoba saß auf dem Rand ihrer Bettstatt und schaute Sylvester beim Ankleiden zu. Wehmütig betrachtete sie, wie er Hose und Hemd anlegte, mit festem Griff den Schurz band. Vergeblich versuchte er, den Knopf an seinem Ärmel zu schließen. Anlässlich des feierlichen Ereignisses hatte er es sich nicht nehmen lassen, auf dem Krämermarkt ein nagelneues Hemd zu erstehen.

»Hilfst du mir?«

Bittend streckte er den Arm in ihre Richtung. Mürrisch musterte Jakoba Hemd und Holzknopf.

»Aber tanzen kannst du schon selbst?«

Es klang bissiger, als sie gewollt hatte.

Ein Schatten legte sich auf Sylvesters Gesicht.

»Willst du mir vorhalten, dass ich meiner Pflicht als Schäfflergeselle nachkomme? Hätte ich dir zuliebe auf den Tanz zu Ehren des Thronfolgers verzichten sollen?«

»Natürlich nicht!«, schnappte Jakoba. Sie senkte das Kinn und fingerte an dem Knopf herum. Sie wollte vermeiden, ihn sehen zu lassen, dass sich ihre Augen mit Tränen gefüllt hatten und drohten überzulaufen. Es war Jakoba, als stünde plötzlich eine Mauer zwischen ihnen.

»Was ist es, was dich umtreibt?«

Sylvester zog sie an sich. Zuerst sträubte sich Jakoba, dann gab sie nach, ließ sich gegen ihn sinken und legte den Kopf an seine Schulter. »Es ist so ungerecht! Die schönen Sachen sind immer nur für euch Männer!«

Die seit Wochen aufgestauten Gefühle bahnten sich ihren Weg, die Worte sprangen ihr aus dem Mund, ohne dass sie es verhindern konnte.

»Weißt du eigentlich, wie unendlich eintönig es ist, den ganzen Tag im Haus zu sein, zu putzen, zu kochen und …«

»… und dein Kind zu versorgen?«

»Mein Kind?«

Jakoba kniff die Lippen zusammen. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Sie war glücklich über Anni und darüber, eine Familie und einen eigenen Hausstand zu haben, und trotzdem – manchmal vermisste sie ihr altes Leben. Es fehlten ihr die Zeiten, in denen sie in ihrer Kammer im Haus des Vaters taggeträumt oder gezeichnet hatte. Es fehlten ihr die kostbaren Augenblicke, wenn sie an der Stadtmauer gesessen und über die Isar geschaut hatte, die sich als ein grünblaues Band mit ihren unzähligen Seitenarmen an der Stadt vorbeischlängelte. Die geliebte Arbeit im Waisenhaus hatte sie schweren Herzens aufgeben müssen, weil ihr die Zeit dazu fehlte. Sylvester strich ihr liebevoll über den Rücken.

»Lass uns zur Residenz gehen. Es ist ein glücklicher Tag für das Kurfürstenpaar, die Feststimmung wird dir die düsteren Gedanken vertreiben.«

Mit einem Seufzer löste sich Jakoba von ihm. Vielleicht hatte er recht. Sie sollte die düsteren Gedanken vertreiben. Sylvester schien seinen Platz im Leben gefunden zu haben. Er war glücklich, in der Schäfflerei zu arbeiten, bald schon würde er sein Meisterstück abliefern. So innerlich zerrissen, wie er gewesen war, als sie ihn damals auf ihrer Flucht vor der Stadtwache kennengelernt hatte, so ausgeglichen war er nun. Die Nächte, in denen er schreiend aus dem Schlaf fuhr, weil ihn Albträume plagten, in denen Domkapitular Wiguläus von Treuchtling ihn heimsuchte, waren selten geworden. Mit ihrer Heirat hatte er durch die Fürsprache ihres Paten, Hartmann Reischl, der dem Inneren Rat angehörte, das Bürgerrecht Münchens erhalten. Dafür hatte er laut dem Gesetz das vollständige Glaubensbekenntnis ablegen müssen, wie es in der päpstlichen Bulle niedergeschrieben stand. Lange Gespräche mit Pater Martin waren notwendig gewesen, bis Sylvester reinen Herzens seinen Frieden mit Gott und der Kirche schließen konnte. Nur sie, Jakoba, fand dauerhaft keine Ruhe, konnte nie zufrieden sein mit dem, was sie hatte. Verstimmt knotete sie das Tragetuch für Anni um die Schultern und hob das Kind aus der Wiege. Anni streckte ihr fröhlich quietschend die Ärmchen entgegen. Jakoba legte sie sorgsam in das Tuch und zog ihren gefütterten Umhang darüber. Als sie auf den Flur traten, kam Lene aus der kleinen Kammer, in der sie manchmal übernachtete, wenn sie sich nach den Unterrichtsstunden verplauderten und die Stadttore bereits geschlossen waren. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, sie wirkte übernächtigt und ungewöhnlich angespannt. Jakoba warf ihr einen fragenden Blick zu, aber Lene nickte nur wortlos und ging die Stiege hinunter. Im Hof wartete bereits Wilhelm Neuburg mit einigen Schäfflergesellen. Die frisch gebundenen Buchsbögen, die an der Wand lehnten, verströmten den Duft des vergangenen Sommers. Die Schäffler hatten sich die letzten Tage auf die Geburt des Prinzen vorbereitet, die Festgewänder hervorgeholt und instand gesetzt, die Bögen gebunden und Tanzschritte geübt.

Der scharfe Wind, der gestern durch die Gassen gefegt war, hatte sich in eine sanfte Brise verwandelt, die das Herbstlaub über den Hof trieb, es spielerisch anhob und wieder sinken ließ, ein Tag wie gemacht für den Tanz, der das Leben feierte.

»Wo bleibt der Trommler?«

Wilhelm Neuburg raufte sich die Haare.

»Ein Pfeifenspieler fehlt noch!«, versetzte ein anderer. Unter den Schäfflergesellen herrschte freudige Anspannung vor dem großen Auftritt. Sie richteten ihre Tracht, gingen auf und ab, versuchten, ihre Aufregung mit derben Scherzen zu überspielen. Als endlich alle versammelt waren, ordnete Wilhelm als Zunftmeister den Zug. Vorneweg marschierte wie immer ein Lehrbub mit der Zunftfahne, dahinter die Musiker, dann kamen die Schäfflergesellen, der Reifenschwinger und der Karren mit dem Fass. Jakoba mit Anni und Lene bildeten den Abschluss. Die Schäffler würden die Messe zu Ehren des Prinzen in der Liebfrauenkirche besuchen, danach zur Residenz ziehen. Sie wählten den Weg über die Sendlinger Straße. Angelockt von der Musik schauten die Leute aus ihren Fenstern, um das ungewohnte Ereignis zu bestaunen, andere unterbrachen ihre Beschäftigungen, kamen aus ihren Höfen gelaufen und jubelten den Musikanten und den Schäfflergesellen zu. Eifersucht nagte an Jakobas Herz. Wie gerne hätte sie noch einmal einen Buchsbogen getragen, den Beifall der Leute genossen, im ganzen Körper das Prickeln der Aufregung vor dem Tanz gespürt. Stattdessen musste sie sich damit abfinden, nur ein Anhängsel zu sein, eine Zuschauerin unter vielen. Lene ging neben ihr, noch immer merkwürdig schweigsam. Trotz allen Verdrusses konnte Jakoba ihre Neugier nicht mehr bezähmen.

»Was ist geschehen?«

Lene sah starr geradeaus.

»Die Geburt war schwer. Ich hätte früher dort sein müssen. Die Kurfürstin hat von der Anstrengung ihre Stimme verloren und ist sehr geschwächt.«

Jakoba blieb stehen und packte Lenes Handgelenk.

»Was sagst du da? Wird sie wieder genesen? Ist das Kind gesund?«

Lene blickte sie müde an. Über ihren grauen Augen lag ein düsterer Schleier.

»Der Prinz ist wohlauf. Ich habe der Kurfürstin einen Aufguss aus Huflattich und Odermenning gemacht, aber ich fürchte, das reicht nicht aus. Ich brauche Styraxbalsam oder wenigstens Lärchenpechsalbe.«

Sie seufzte.

»Die Leibärzte werden mir mit der größten Freude die Schuld am Zustand der Kurfürstin in die Schuhe schieben …«

Jakoba sah Lene entsetzt an. Sie wussten beide, was das bedeuten konnte. Jakoba spürte ein seltsames Ziehen tief in ihrer Brust, es fühlte sich an, als wäre sie innerlich wund. Die Erinnerung an ihre Verhaftung und die Zeit im Kerker flackerte erneut auf. Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben.

»Lass uns zum Gottesdienst gehen.«

Sie beeilten sich, zum Festzug aufzuschließen, die Vordersten hatten bereits die Frauenkirche erreicht. Die umliegenden Häuser drängten sich dicht um den Ziegelbau mit den beiden Türmen, die majestätisch in den Himmel ragten. Die Schäffler lehnten ihre Bögen an die Kirchenmauer und betraten die Kirche durch die mächtigen Flügeltüren des Hauptportals. Die steinernen Figuren der Maria mit dem Kind und des Schmerzensmannes blickten herab auf eine Büßerin im Hemd. Die Frau stand im Prechen, mit entblößten Armen, in der einen Hand eine Kerze, in der anderen eine Rute, bewacht von einem grimmig blickenden Büttel neben dem Eingang. Ehebrecherinnen und Frauen, die sich mit Priestern eingelassen hatten, mussten diese Behandlung über sich ergehen lassen. Jakoba spürte tiefes Mitleid mit der Sünderin, sie wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, den Gaffern ausgesetzt zu sein, bespuckt und verhöhnt zu werden. Jakoba und Lene wurden von den nachfolgenden Messebesuchern ins Innere der Kirche gedrängt. Die Bürger Münchens strömten herbei, um Gott für die Geburt des fürstlichen Kindes zu danken und für sein Wohl zu beten. So manch einer mochte dabei hoffen, dass das Kind zu einem gnädigeren Regenten Bayerns heranwachsen würde, als es sein Vater war. Jakoba schlang schützend die Arme um Anni, als eine Patrizie­rin sie im Gedränge anrempelte. Die Frau hatte den Festtag genutzt, die strenge Kleidervorschrift des Kurfürsten ein klein wenig lockerer zu nehmen. Sie war reich mit Geschmeide behängt, ihre dunkelgrüne Brokatjacke war mit blitzenden Silberknöpfen verziert, an ihren Schuhen glänzten nagelneue Schnallen und die Haube war aus teuerstem Brokatsamt gefertigt. Jakoba, die sich nach den Regeln der Gewerbsleute zu kleiden hatte, blickte an ihrem grauen Rock hinab, den nur eine schlichte schwarze Borte am Saum zierte. Dazu trug sie ein einfaches Mieder mit Holzknöpfen unter ihrem wollenen Umhang. Zu gerne hätte sie wenigstens den roten Samtbeutel von Zeit zu Zeit getragen, das einzige Andenken an ihre Mutter, das ihr geblieben war. Die Frau drängte sich ohne Entschuldigung an Jakoba vorbei zum Seitenaltar der Dreikönigskappelle, eine Stiftung der hoch angesehenen Familie Barth. Jakoba stellte fest, dass sie Lene im Gedränge verloren hatte, und schlüpfte auf eine der hölzernen Bänke im Mittelschiff der Kirche. Die Messdiener zogen bereits ein, die Weihrauchgefäße zum Klang des Gesanges der Mönche schwenkend, die ihnen folgten. Der Priester, nicht der weltlichen Ordnung unterworfen, war zur Feier des Tages in ein kostbares Ornat gehüllt, die Säume aus Brokat, die Stola mit Juwelen verziert, die im Licht der Bienenwachskerzen funkelten und Regenbogenpunkte an die weißgekalkten Wände sprenkelten. Jakoba genoss die feierliche Atmosphäre, den Duft des Weihrauchs und des Bienenwachses, das warme Flackern der Kerzen am Altar. Zwischen den Köpfen erhaschte sie einen Blick auf ein Gemälde, das die Aufnahme Marias in den Himmel darstellte. Inmitten der Engel empfing Christus seine Mutter. Die Orgel begann zu spielen, die Klänge des Kyrie eleison erklangen und schwangen sich hinauf zum Sternengewölbe der Kirche. Jakoba kniete nieder und betete inbrünstig um die Genesung der Kurfürstin.

 

Die Messe hatte lange gedauert. Jakoba trat ins Freie und dehnte verstohlen ihre tauben Glieder. Anni wurde mit jedem Tag schwerer. Die Kleine hatte die ganze Zeit über brav im Tuch gelegen, jetzt öffnete sie die Augen und regte sich verschlafen. Jakoba schlenderte auf der Suche nach Lene durch die Menge. Der morgendliche Dunst hatte sich aufgelöst und die Sonne webte herbstgoldenes Licht. Strahlend blauer Himmel und weiße Wolkenkissen taten ihr Übriges, um das Fürstenkind mit den Farben der Wittelsbacher willkommen zu heißen. Die Kirchgänger standen in Grüppchen beisammen, plauderten und genossen die letzten Sonnenstrahlen vor dem Winter. Pastetenbäcker und Kerzenzieher hielten ihre Ware feil, Bauersfrauen und Tandler verkauften getrocknete Kräuter, Kämme, Harze und Rosenkränze.

Vinzent, der inzwischen bei ihnen in der Schäfflerei lebte, lehnte mit seinen Krücken an der Kirchenmauer und bot einige seiner geschnitzten Marienfiguren zum Kauf. Wie so oft war Bruder Onophrius an seiner Seite. Er half Vinzent, wo es nur ging, als versuche er, Vinzents fehlendes Bein für ihn zu ersetzen. Vinzent seinerseits lieh dem taubstummen Mönch oftmals seine Stimme.

Jakoba begrüßte Onophrius, der ganz vernarrt in Anni war und glucksende Laute ausstieß, während er ihre vom Schlaf geröteten Wangen streichelte. Der Mönch war in der Stadt heimisch geworden, als wäre er schon von jeher da gewesen. Sobald er seine Aufgaben im Kloster erledigt hatte, bummelte er durch die Stadt. Oft schon hatte Jakoba ihn von Weitem gesehen, die Hände auf dem Rücken einherspazierend, schien er jede Einzelheit des Geschehens in der Stadt in sich aufzusaugen. Besonders hatte ihn entzückt, dass sein Namensvetter riesengroß an einem Haus am Eiermarkt verewigt war. Jedes Mal, wenn er daran vorbeiging, stand er selig grinsend vor dem Bildnis des mit einem Lendenschurz aus Blättern bekleideten Heiligen mit dem Stock in der Linken. Jakoba wechselte ein paar Worte mit Vinzent und erblickte Lene schließlich am Stand eines Krämers, der allerlei Spezereien verkaufte. Sie gesellte sich zu ihr. Der Händler schüttelte bedauernd den Kopf.

»Gute Frau, Styrax ist teuer. Wenn du mir eine Anzahlung gibst, versuche ich dir welches in Mittenwald aufzutreiben.«

Lene dankte dem Krämer und wandte sich enttäuscht ab.

Im gleichen Augenblick ertönte ein Trommelwirbel. Der Zug der Schäffler formierte sich von Neuem. Jakoba schob ihren eigenen Gram beiseite und setzte eine betont muntere Miene auf.

»Komm, jetzt gehen wir zur Residenz. Vielleicht bringen wir dort etwas in Erfahrung. Bestimmt geht es der Kurfürstin schon besser!«

Lene versuchte ein Lächeln und strich Anni über die Wange. Sie hakte sich bei Jakoba unter und sie bummelten hinter dem Zug der Tänzer her, die den Weg durch die Schäfflergasse eingeschlagen hatten. Das Mauerwerk der Häuser zeigte noch die Spuren der alten Stadtmauer aus der Zeit der Heinrichstadt. Jakoba wusste aus Erzählungen ihres Vaters, dass die Schäfflereien sich damals wegen der hohen Brandgefahr außerhalb der Stadt ansiedeln mussten. Sie bogen in die Weinstraße ein, gingen weiter durch die Schrammagasse. Als sie den Hofgraben erreicht hatten, fing Anni an zu jammern.

»Ich glaube, sie ist hungrig«, stellte Jakoba fest und sah sich beunruhigt um. Mitten auf der Straße würde sie ihr Kind nicht stillen können. Sie passierten die Neugasse, dann lag die Residenz in ihrer ganzen Pracht vor ihnen. Die bemalten Fassaden leuchteten hell in der Sonne. Die schlichte, trotzdem unübersehbare Demonstration von Macht, die das Gebäude darstellte, beeindruckte Jakoba jedes Mal von Neuem. Vor dem gewaltigen Portal, bewacht von zwei Bronzelöwen, hielt der Zug an. Jakoba drängte sich an den Schäfflern vorbei, gefolgt von Lene. Anni brüllte jetzt wie am Spieß. Jakoba warf Sylvester im Vorübergehen einen verzweifelten Blick zu. Wilhelm Neuburg stand bei den Wachen und brachte das Anliegen der Schäffler vor, den Schäfflertanz darzubieten, zum Segen des Prinzen. Einer der bulligen Hartschiere verschwand im Hof. Anni brüllte lauter. Der verbliebene Torwächter warf ihr einen mürrischen Blick zu, worauf Jakoba eilig ihr schreiendes Kind schuckelte. Lene betrachtete Anni, die feuerrote Bäckchen hatte.

»Ich vermute, sie zahnt.«

Sie kramte in ihrem Beutel und zog ein Tuch hervor. Sie tränkte es mit einer Flüssigkeit und steckte es Jakoba zu.

»Lass sie daran saugen, das wird sie beruhigen.«

Jakoba drehte ein Eck des Tuches zu einem Zipfel und steckte es in das empört aufgerissene Mäulchen. Anni schnappte ungehalten danach und begann zu saugen. Sobald sie bemerkte, dass nicht die erhoffte Milch kam, spuckte sie das Tuch aus und brüllte aus Leibeskräften. Der Hartschier kehrte zurück.

Mit einer knappen Geste bedeutete er Wilhelm Neuburg mit seinen Schäfflern einzutreten. Jakoba stopfte Anni erneut den Tuchzipfel in den Mund, dieses Mal hatte sie Erfolg. Anni nuckelte und beruhigte sich zusehends. Jakoba ächzte.

»Gott sei’s gedankt.«

Die Musikanten spielten auf und sie zogen durch den Kapellenhof, durchschritten das nächste Tor und marschierten feierlich in den Brunnenhof ein. Das Standbild eines grimmigen Ritters im Harnisch empfing sie in dem achtseitigen Hof, der den höfischen Turnieren als Bühne diente. Die Schäffler nahmen ihre Plätze ein und warteten. Jakoba sah sich suchend um. Schließlich entdeckte sie eine Nische und schlüpfte hinein. Ein Vorhang aus rotgoldenen Ranken der Jungfernrebe bot Schutz vor zudringlichen Blicken. Mit einem erleichterten Seufzer ließ sie sich auf die steinerne Balustrade sinken. Sie zog ihren Umhang über Anni, öffnete ihr Mieder und ließ die Kleine trinken.

»Bist du eine der Ammen?«

Jakoba hob alarmiert den Kopf. Eine Tür hatte sich geöffnet und eine füllige Magd stand vor ihr.

»Nein, ich gehöre zum Schäfflertanz, ich meine, ich bin …« Jakoba verhaspelte sich.

»Ich gehöre zu den Schäfflern. Die Gesellen tanzen zu Ehren des Prinzen.«

Die Magd nickte unbeeindruckt. Mit schief gelegtem Kopf musterte sie Jakoba und Anni, die immer noch selig trank.

»Hätte mich auch gewundert. Für eine Amme hast du viel zu wenig Fleisch auf den Knochen.«

Sie schien sich auf ihre Aufgabe zu besinnen.

»Bier, Brot und Suppe sollen aufgetischt werden. Für euch ist das also! Hättet ihr euer Erscheinen nicht ankündigen können? Die ganze Küche steht Kopf euretwegen.«

Jakoba wusste keine Antwort auf den Vorwurf. Sie versuchte es mit Höflichkeit.

»Ich bin Jakoba Gassnerin. Wie heißt du?«

Die Magd schien nachzudenken. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie Jakoba eingehend.

»Die Schäffler, sagst du.«

Sie glotzte immer noch, und Jakoba begann sich über das dreiste Verhalten der Frau zu ärgern. Der fette Zeigefinger der Magd schoss unvermittelt auf Jakoba zu, die erschrocken zurückwich.

»Du warst die Hexe! Der Kurfürst hat dich begnadigt!«

»Ich war und ich bin keine Hexe!«, verteidigte sich Jakoba mit brennenden Wangen.

»Ich wurde freigesprochen, weil ich unschuldig bin!«

Die Magd sah sie zweifelnd an.

»Sei’s drum«, lenkte sie schließlich ein, »der Kurfürst wird schon wissen, was er tut. Ich bin die Rosa.«