Vorwort



In unserem modernen Zeitalter gibt es Menschen, die können nicht Autofahren. Sie haben es nie gelernt und hatten auch nie genug Geld, um sich ein Auto zu kaufen. Zu denen gehöre ich. Nicht etwa, weil ich ideologisch grün oder fundamental umweltbewusst bin, sondern ganz einfach, weil mich Auto, Technik und Tempo nie interessiert haben. Auch beruflich habe nie ein Auto gebraucht. Dort, wo ich lebte, gab es immer genügend öffentliche Verkehrsmittel. Aber ich hatte oft Freunde, oder Freundinnen, die ein Auto besaßen und die mich einluden zum Mitfahren. Das hat mir immer Spaß gemacht. Da ich keine Ahnung habe, wie man ein Auto bedient, habe ich ihnen beim Fahren nie reingeredet, was sie geschätzt haben. Ich träumte still vor mich hin oder schaute aus dem Fenster hinaus und freute mich an allem, was vorbeiflitzte. 

In der zweiten Lebenshälfte, als ich geschieden war und die Fühler nach einem neuen Mann ausstreckte, lernte ich einen Witwer kennen, der nicht nur Auto fuhr, sondern auch Motorrad. Das hat er mir am Anfang aber nicht verraten. Er war von Beruf Pfarrer. Ich sah ihn zuerst nur auf der Kanzel, dann in einem dunkelroten Auto, von dem ich mir nicht einmal die Marke merken konnte. Ich war froh, dass es kein Jaguar und kein Maserati war, denn das hätte nicht zu meinem Bild von einem Pfarrer gepasst! Da wir beide schon auf die 60 zugingen, geschah die Annäherung vorsichtig und langsam. Irgendwann einmal sagten wir zum ersten Mal Du, und an einem schönen Sommerabend lud er mich zu einem Ausflug ins Grüne ein. Es war schon 17.00 Uhr und ich dachte, eine große Wanderung werden wir heute nicht mehr unternehmen, höchstens ein bisschen spazieren am Rhein. Ich zog mein schönstes Sommerkleid und elegante Schuhe an, denn ich wollte ihm ja gefallen. Er klingelte pünktlich. Mit einem Schmetterlingsgefühl im Bauch ging ich an die Türe und öffnete. Da stand er vor mir in Jeans und Lederjacke und sagte: So kannst Du nicht mitkommen. Wir fahren mit dem Motorrad. Du musst dich sportlich anziehen. Ich habe unten einen Helm für dich! – Was, du fährst Motorrad? Und ich soll hinten draufsitzen? Das ist ja verrückt. Aber ich wusste, dass mir in diesem Augenblick nichts anderes übrig blieb, als mitzumachen. Ich wechselte die Kleider und fuhr mit ihm im Fahrstuhl hinunter. Auf der Straße stand eine riesige, silbern glänzende Maschine. An der Seite las ich den Schriftzug Harley Davidson. Noch ehe ich mich vom Staunen erholte, setzte er mir den Helm auf den Kopf und half mir, die Schnalle unter dem Kinn zu befestigen. Auch er setzte sich den Helm auf, ich sah nur noch seine schwarzen Augen leuchten und wusste, jetzt wird es ernst. Schon saß ich auf dem Rücksitz, die Maschine fing an zu brummen, und wir fuhren los. Schneller als ich denken konnte, waren wir auf der Autobahn, dann wie der Blitz in Dornach, von dort gings in scharfen Kurven hinauf Richtung Gempen. Bei jeder Kurve hatte ich ein wenig Angst und dachte, hoffentlich passiert nichts! Aber nach dieser ersten Fahrt wusste ich, mitgegangen ist mitgehangen! Wenn ich diesen Mann als künftigen Lebenspartner will, dann muss ich mich anpassen. Dann muss ich lernen, die Angst vor dem Motorradfahren zu überwinden, damit ich fähig werde, diesen Sport mit ihm zu genießen. Irgendwie fand ich die ganze Sache abenteuerlich, bald ging ich auch in ein Motorradkleider-Geschäft und kaufte mir die passende Kleidung. 

Zu unserem 66. Geburtstag schenkte er mir und auch sich selbst eine Reise mit der Harley auf der Route 66 quer durch Amerika! Diese 14-tägige Reise von Chicago nach Los Angeles in einer geführten Gruppe mit anderen Harley-Fahrern war für mich eine Herausforderung. Das Abenteuer war überwältigend und was ich auf dem Rücksitz der gemieteten Maschine alles gesehen, gedacht und geträumt habe, steht im ersten Teil dieses Buches.


Drei Jahre später, als Thomas und ich 69 Jahre alt waren, sprachen wir davon, noch einmal eine große Reise zu unternehmen, aber diesmal ohne Gruppe, nur wir zwei allein. Den wilden Westen hatten wir bereits kennen gelernt, jetzt wollten wir in den wilden Osten, am liebsten nach Kurdistan! Wunderbar, dachte ich, aber diesmal natürlich mit dem Auto, das ist sicherer und bequemer! Doch meine türkischen und auch meine kurdischen Schüler, denen ich Deutsch unterrichte, rieten mir davon ab. Das sei zu gefährlich, die Straßen seien in einem schlechten Zustand, und es gäbe in der Osttürkei auch keine Auto-Werkstätten, an die man sich bei einer Panne wenden könnte. 

Aber in meinem Deutschkurs hatte ich einen polnischen Studenten aus Oppole. Der erzählte mir, dass es in Nordpolen, an der Masurischen Seenplatte, wunderschön sei zum Motorradfahren. Eine Bibliothekarin an der Uni Basel, die aus Rügen stammte schwärmte, dass es auch im Norden der ehemaligen DDR, in Mecklenburg-Vorpommern herrlich sei, Motorrad zu fahren, alles flach, viele Seen, einsame Straßen, wenig Verkehr. Ich kannte Berlin, die süddeutschen Bundesländer und den Harz, wo ich als Schauspielerin sieben Jahre gelebt habe, aber die Gebiete nördlich von Berlin und die Inseln der Ostsee, die kannte ich nur aus der Literatur und aus Erzählungen von Freunden, das waren für mich ausschließlich Orte der Sehnsucht. Um mir diese unbekannten Gegenden besser vorstellen zu können, besorgte ich mir Landkarten. Das wäre ein Kompromiss, dachte ich, nicht mit dem Auto durch Kurdistan, wohl aber mit dem Motorrad durch Polen! Diese Gegend ist flach, einfach zu fahren und befindet sich in der EU, wo das Straßennetz erschlossen ist und man sich auf Deutsch und Englisch verständigen kann. Die Reise durch Nordamerika war ja gut gegangen, ich hatte die Angst vor dem Motorradfahren weitgehend überwunden und es war nichts Ungeheuerliches passiert, jetzt könnte ich doch mir selbst und Thomas beweisen, dass ich, aufbauend auf dieser positiven Erfahrung, fähig bin, meine innere Angst erneut zu bezwingen und mich auf eine zweite Motorradreise einlassen! Schließlich ist diese Angst nicht angeboren. Als Kind hatte es mir ja Spaß gemacht, auf der Vespa meines Onkels durch das Zürcher Oberland zu cruisen und mir den Fahrtwind um die Ohren sausen zu lassen! Die Angst vor dem Motorradfahren hat sich im Laufe des Lebens durch die Intensivierung des Straßenverkehrs sowie durch die Unfälle, von denen man in den Medien hört, entwickelt. Diese Angst sitzt nicht in den Knochen, sondern im Kopf, sie ist kognitiv und lässt sich steuern. Also machte ich Thomas den Vorschlag, anstatt mit dem Auto nach Kurdistan mit der Harley nach Polen zu fahren. Er war zufrieden mit diesem Kompromiss und überließ mir die Planung der Route. Ich studierte die Karten und wir rechneten aus, wie weit die Strecken von einer Destination zur anderen sind. Wir nahmen uns vor, nur kurze Distanzen zu fahren und immer wieder in einer interessanten Stadt oder in einem schönen Ostseebad zu übernachten. In berühmten polnischen Kulturstädten planten wir zwei bis drei Übernachtungen. Die ganze Reise sollte vier Wochen dauern. Da wir die Strecke von Basel bis Hamburg nicht auf Autobahnen überbrücken wollten, beschlossen wir, mit dem Nachtzug zu fahren. Es war mir ein Anliegen, die Hotels im Voraus zu buchen. Thomas war damit einverstanden, zumal er von einer Tourismusagentur eine E-Mail bekommen hatte mit Hotelangeboten für Motorradfahrer in osteuropäischen Ländern. 

Die Reise ging von Hamburg nach Mecklenburg-Vorpommern bis zu den Inseln Rügen und Hiddensee, von dort bis zur Halbinsel Usedom. Dann über die deutsch-polnische Grenze durch Pommern hindurch bis nach Danzig, weiter in die Masuren bis zum östlichsten Punkt von Polen, in die undurchdringlichen Wälder um Augustów nahe der weißrussischen Grenze. Von dort gings südlich über Warschau nach Krakau und Breslau, dann durch Nieder- und Oberschlesien hinunter ins ehemalige Sudetenland bis nach Böhmen und Prag. Schließlich über Wien und Salzburg nach Innsbruck. Dann, infolge des schlechten Wetters, durch den Vorarlberg hindurch und über Vaduz zurück bis Basel. 

Weil alles, was wir erlebt haben, so spannend war, haben wir beide wie gewohnt Tagebuch geführt. Jeder hat die Reise aus einer anderen Perspektive erlebt. Thomas musste sich auf die Straße, die Verkehrsschilder und die Maschine konzentrieren, während ich mich hinten auf dem Rücksitz der Betrachtung der Landschaft, meinen Gedanken und Träumen hingeben konnte. Manchmal war ich so in die Meditation versunken, dass ich gar nicht wahrnahm, wo genau wir durchgefahren sind. Anhand seines akribischen Berichts konnte ich diese Blindstellen in meinem Tagebuch später korrigieren. Das Erfahren der Landschaft war auch ein Erfahren der Geschichte und der gegenwärtigen politischen Situation der Länder, durch die wir fuhren. Im Sommer 2014 gab es in Deutschland noch keinen Ansturm von Flüchtlingen, weder eine Pegida noch eine Alternative für Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel war noch die unangefochtene Königin ohne Land, das spürten wir an jedem Ort in Deutschland, wo wir hinkamen. Und die EU, die damals noch eine solide Einheit war, wurde in Polen restlos bewundert. Dass aber die Gesellschaft in Polen innerlich bereits gespalten war, zwischen konservativ katholisch und progressiv westlich, zwischen arm und reich, das konnten wir an einige Orten beobachten. 

Wie bunt und vielfältig die kurzen Einblicke in andere Kulturen waren und was für Spuren die flüchtigen Begegnungen mit Menschen und geschichtsträchtigen Orten, wie etwa Auschwitz, in uns hinterlassen haben, davon erzähle ich im zweiten Teil dieses Buches. 

 

1. Teil


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Reise vom 1. – 19. Juli 2011

Chicago bis Los Angeles

3076 Meilen (4950 Kilometer)

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Karte1

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Tag 1, Freitag, 1. Juli

Basel – Frankfurt

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Am Freitagnachmittag Start für die große Reise. Mit Tram und Bus zum kleinen EuroAirport Basel-Mulhouse. Strenge Grenzkontrolle! Ein französischer Grenzbeamter zwingt Thomas, seine Militärstiefel auszuziehen. Im Flugzeug der Lufthansa haben wir einen Fensterplatz und sehen unter uns die Felder, wie Stoffflecken auf einem Teppich, darüber große, weiße Wolken, durch die wir hindurch düsen. Aber: Unser Flugzeug konnte erst nach 1 ½ Stunden starten, sodass wir in Frankfurt trotz unseres Rennens durch die Flugzeughallen den Anschluss nach Chicago verpassen. Kurze Aufregung und Unsicherheit. Wir sind eine Gruppe von zehn Passagieren, die nun auf den nächsten Flug warten müssen. Ein Grund der Verspätung sei der Ferienbeginn, zu viele Leute unterwegs, Chaos! Ein anderer Grund sei ein Gewitter mit Wolkenbruch. Wir wissen es nicht genau. Bis wir die nötigen Informationen haben, müssen wir auf dem Flughafen umherirren. Auf Laufbändern werden wir wie eine Batterie Hühner durch den riesigen Flughafen von A nach B befördert. Ich kümmere mich um Sandwiches und lese Hartland von Wolfgang Büscher, eine ideale Vorbereitung auf den weiten, leeren Raum der USA. Die Information lautet, dass wir eine Nacht in Frankfurt schlafen müssen und erst am nächsten Morgen losfliegen können. Wir fahren mit einem Bus raus in den Vorort Rüsselsheim. Der Chauffeur ist ein Nordinder, der sehr gut Deutsch spricht. Wir beziehen ein feines Zimmer im Hotel HD.

Alles ist sauber, funktionell und grau. Ein kaltes, reiches Büfett wartet auf uns, es gibt auch warme Gerichte. Ich esse nur wenig und beobachte die Reisenden. Alle Leute, die hier versammelt sind, haben einen Flug verpasst, das scheint normal zu sein. Thomas telefoniert mit dem Guide in USA und meldet unser Pech. Wo unser Gepäck herumkreist, wissen wir nicht. An der Rezeption bekommen wir Zahnbürsten. Wir schlafen herrlich in riesigen Betten.



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Tag 2, Samstag, 2. Juli

Frankfurt – Chicago

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Um 06.00 Uhr erleben wir den Sonnenaufgang vom Fenster aus. Zum Frühstück gibt es wiederum ein reiches Büfett. Ringsum sitzen schöne Menschen. Diejenigen mit anderer Hautfarbe sind keine Sans Papiers1, wie bei uns in der Schweiz. Sie sehen reich aus und sind schick gekleidet. Das hier ist eine feine, internationale Welt. Mit dem Bus fahren wir wieder zum Flughafen. Ich beobachte einen alten Araber mit weißem Kopftuch, das er mit einem schwarzen Reif aus Kamelhaar auf den Kopf gedrückt hat. Er trägt ein wollenes, weißes, langes Kleid, helle Socken und Sandalen. Er geht an einem Stock und steigt mühsam in das Taxi der Firma Ahmad! Auf dem Flughafen müssen wir wieder warten. Ich habe Zeit zu lesen. Dann plötzlicher Aufruf! Mit dem Bus fahren wir raus zu den Flugzeugen und fliegen nach Düsseldorf. Das ist ein kleiner, gemütlicher Flughafen. Überall kleine Läden mit Luxus und Verführung zum Konsumieren. Wieder Zeit zum Sitzen, Lesen und Träumen. Alle warten. Der Flug mit der LH 436 nach Chicago um 11.56 Uhr scheint zu klappen. Wir fliegen pünktlich ab. Ich stelle meine Uhr nicht um und fühle mich noch in der europäischen Zeit. Jetzt fliegen wir über Reykjavik. Wir sind auf einer Höhe von 37.000 Fuß Höhe. Unter uns liegt Schnee. Auf meiner Uhr ist es 16.15. Wir haben eine Geschwindigkeit von 853 Kilometer pro Stunde. Vor uns liegen noch 3.409 Kilometer, das ist eine Flugzeit von 4 ½ Stunden.

Bereits um 14.00 Uhr Ortszeit landen wir in Chicago. In der Schweiz ist die Sonne schon untergegangen. Dort haben sie jetzt 22.00 Uhr. Dank der Zeitverschiebung war die Flugzeit relativ kurz. Acht Stunden wurden uns geschenkt. Wir fühlen uns ausgeruht. Das ist die Relativität der Zeit! Das Gepäck ist schon da. Ich will meine Schulfreundin Süni anrufen, habe aber keinen Netzempfang mit der Schweiz, der Kontakt ist abgeschnitten. Wir können nur noch aneinander denken. Süni ist die einzige Freundin, die mich um diese Reise auf dem Motorrad, quer durch Amerika, beneidet. Alle anderen Freundinnen in meinem Alter finden das viel zu gefährlich und würden das nie tun.

Thomas ruft unseren Leiter an, der 10 Minuten später da ist. Er heißt Günter und ist 38 Jahr alt. Seine Mutter ist Kanadierin, der Vater Österreicher. Er wohnt mit seiner Frau in Miami. Er hat blaue Augen, trägt lange blonde Haare und hat einen Bart. Er ist groß und kräftig gebaut. Er trägt eine Baseballmütze, kurze Hosen und Turnschuhe. Sein Deutsch hat einen starken, amerikanischen Akzent. Grammatik und Wortschatz sind fehlerhaft. Aber seine tiefe Stimme ist angenehm, er spricht ruhig und fließend, das gibt ihm Autorität. Pro Jahr führt er sechs solche Touren durch. Er fährt uns 45 Minuten mit dem Auto zum Motel. Vom Zentrum Chicagos, das eine Zugstunde entfernt liegt, sehen wir nichts. Wir beziehen unsere ebenerdig gelegenen Zimmer im Motel. Die sechs Motorräder für unsere Gruppe stehen vor der Tür bereit wie gesattelte Pferde. Es sind 36 Grad. Die amerikanischen Vögel mit dem roten Bauch, American Kestrel, von denen Wolfgang Büscher schreibt, pfeifen lustig. Wir schwimmen im Pool. Das Wasser ist warm. Dann ruhen wir uns auf dem Liegestuhl aus. Die Sonne brennt. Wir genießen die geschenkte Zeit auf dem fernen Kontinent! Weit weg von zu Hause sind wir doch die gleichen Menschen. Gemütlich packen wir die Koffer aus und bereiten uns auf das gemeinsame Abendessen mit der Gruppe vor. Die Klimaanlagen in Bad und Zimmer rauschen wie eine Autobahn. Diese Ventilatoren stören mich. Thomas ist einverstanden, sie nach einer gewissen Zeit abzustellen. Um 20.00 Uhr treffen wir unsere Gruppe. In der Schweiz ist es jetzt morgens 04.00 Uhr. Ich spüre eine gewisse Mattigkeit. Wir begrüßen die Gruppe: Zwei Ehepaare: Susanne und Ernst aus Wien, Barbara und Gerald aus Rüsselsheim. Dann zwei Frauen aus der Schweiz, Eva und Jacqueline, die je eine Maschine fahren. Zwei weitere Schweizer sind Rolf aus Aarau mit seinem schulpflichtigen Sohn Benny. Rolf ist geschieden. Seine Ex-Frau ist Religionslehrerin und hat vorher in einem Reisebüro gearbeitet. Vater und Sohn sind aus der katholischen Kirche ausgetreten. Rolf trägt einen Millimeterschnitt und sagt, im Januar habe er noch einen langen Zopf gehabt. 

Wir gehen in ein Steakhaus. Es ist groß und rustikal. Überall sitzen auffallend dicke Menschen an den Tischen. Sie wirken auf mich dekadent, phlegmatisch und unerotisch. Während des ganzen Abends läuft im TV ein Boxkampf. Das Essen schmeckt fad, alles war tiefgefroren und wurde in der Mikrowelle aufgetaut. Nichts ist gekocht. Ich lasse die Hälfte stehen. Wir trinken nur Wasser. Der zweite Guide stammt aus Hamburg und heißt Finn. Er sieht klug und fein aus und spricht ein gestochenes Hochdeutsch. Unsere Gruppe strahlt positive Energie aus. Alle versprechen gute Kameraden zu sein. Rolf tauscht mit Thomas das Motorrad. Jetzt hat Thomas dieselbe Harley Davidson Road King wie in Basel. Die beiden Frauen, Eva und Jacqueline, die selber je eine Maschine fahren, sind stabil, voller Kraft und Energie. Beide haben einen Motorradkurs abgeschlossen und sind für diese Reise trainiert. Um 22.30 gehen wir müde zu Bett.



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Tag 3, Sonntag, 3. Juli

Chicago – Springfield (IL)

191 Meilen

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Herrliches Wetter, die Sonne brennt, 36 Grad. Einige unserer Frauen tragen keinen Helm und als Oberbekleidung nur ein Top. Nach einem ausführlichen Briefing (das Wort zum Tag!) fahren wir um 10.15 Uhr los. Es gibt viele Pausen, wir schauen uns Sehenswürdigkeiten an: Als erstes eine historische Tankstelle in Wilmington. Sie wurde 1906 gegründet und 1933 renoviert. Wir sehen riesige, bunt bemalte Statuen von berühmten Männern, der eine hat den Hot Dog, der andere das Coca Cola erfunden. Wir besuchen ein altes Gefängnis, erbaut 1906, mit nur einer Zelle. Ich beobachte eine alte, gehbehinderte Frau, die zu ihrem Begleiter, der an Stöcken geht, sagt: Are you ok, Dad? In ihrer Stimme liegt Zärtlichkeit. Unsere Gruppe ist fröhlich. Nach dem Mittagessen in Bloomington im Friday’s lässt der Guide laute Rock ‚n‘ Roll-Musik erklingen. Das bringt gute Stimmung! Wieder gibt es viele Pausen, wo man kurz absteigen und Fotos knipsen kann. Wir fahren zu einem Harley-Shop. Ich kaufe eine Jacke, schwarze Jeans und Lederhandschuhe. Thomas schenkt mir 75 Dollar für die Jacke. Konsumieren steigert die Lebensfreude. Danach fahren wir weiter, durch riesige Maisfelder und Wiesen. Am Rande stehen hohe Ahornbäume. Wir sehen viele kleine, einstöckige Landhäuser aus Holz, weiß bemalt, ohne Unterkellerung. Vor jedem Haus gibt es einen sauber gemähten, grasgrünen Rasen, Blumenbeete und zwei Autos – einen Pick-up für Transporte und einen eleganten Wagen zum Ausfahren. Menschen sind keine zu sehen.

Wir fahren zügig. Unser Guide erklärt das Tempo: 75 Meilen pro Stunde, was 110 Kilometer pro Stunde entspricht, ist nur auf Highways und Interstates erlaubt. Auf der Landstraße beträgt die Höchstgeschwindigkeit 55 Meilen pro Std. Über die Schulter von Thomas beobachte ich konzentriert den Kilometerzeiger. Manchmal klettert er auf 60 Meilen pro Std.. Bei 55 Meilen pro Stunde fühle ich mich am wohlsten. Alle sind zufrieden. Abends kommt ein leichter Regen, aber es bleibt warm. Endlich sind wir an unserem Etappenziel: Springfield. Das ist die Stadt von Abraham Lincoln. Wir sehen sein Denkmal vor dem weißen Kapitol. Dann beziehen wir unser Zimmer im Microtel Inn & Suites Springfield, IL. Kurz auspacken und kontrollieren, ob noch alles da ist. Die Zimmer sind bequem. Rasch umziehen und gemeinsam zum Abendessen im Outback Steakhouse. 



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Tag 4, Montag, 4. Juli

Springfield (IL) – Rolla (MO)

252,5 Meilen

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Heute ist amerikanischer Nationalfeiertag! Ich wasche die Haare. Ich habe immer noch keinen Appetit. Nach kurzem Frühstück wieder das Wort zum Tag, das Briefing. Günter sagt, die ersten zwei Tage seien die härtesten. Da gäbe es viele Highways und Interstates zu fahren. Die Gruppe müsse sich erst zusammenfinden. Der Wetterbericht habe Regen angekündigt. Es wird empfohlen, den Regenschutz anzuziehen. Einige pokern. Kurz nach 07.00 Uhr sitzen wir auf und fahren los! Bis 09.00 Uhr ist es angenehm zu fahren, wenig Autos auf den Straßen. Wir machen verschiedene Stopps: Zuerst halten wir an einer alten, rostigen Eisen-Brücke, der Chain of the Rocks in St. Louis. Sie führt über den Missouri. Das ist die Grenze zwischen den Staaten Illinois und Missouri. Es beginnt leicht zu regnen, aber das ist uns egal, denn wir sind gut geschützt. Günter trägt Gamaschen über den Turnschuhen. Wir spazieren über die alte Brücke. Der graue Fluss Missouri unter uns ist so breit wie ein See und trägt viel Schwemmholz. In der Mitte des Flusses steht ein Haus – eine Pumpstation zur Trinkwassergewinnung. Danach fahren wir weiter bis St. Louis. Das war einst die viertgrößte Stadt der USA. Es herrscht viel Verkehr. Wir fahren über mehrspurige Interstates. Meine Meditation auf dem Bock:

Ich muss die männliche Seite in mir aktivieren. Ich muss mich umprogrammieren und eine andere CD in mein Hirn einlegen. Ich muss eine erotische Beziehung aufbauen zum Leben auf der Straße, zu den brummenden Motoren, zum Blech, zur Industrie und zum Geschäft mit Geld und Transport.

In St. Louis halten wir an und besuchen das Wahrzeichen, das Tor zum Westen, den großen, hohen Bogen, The Gateway Arch, den man mit einer Liftkapsel durchfahren kann. Es ist eine Gedenkstätte zu Ehren von Thomas Jefferson und seiner Go-West-Vision. Der finnisch-amerikanische Architekt Eero Saarinen hat 1965 dieses Monument entworfen. Im Untergrund befindet sich das große Museum of Westward Expansion, das die Eroberung des Westens mit lebensnahen Fotos und Wachsfiguren darstellt. Diese großen Puppen – Büffeljäger, Pelz Trapper und Ackerbauern – bewegen sich und sprechen. Sie erzählen dem Besucher die Geschichte der amerikanischen Eroberung des Westens. Sowohl die Unterwerfung wie auch die Missionierung der indianischen Volksstämme, der Native Americans, wird in drastischen Farben vor Augen geführt. Unendliche Ströme von Touristen aus aller Welt stehen Schlange und warten, bis sie mit dem Bähnchen in den 70 Meter hohen Gateway Arch hinauffahren können.

Während des Wartens habe ich Zeit zu Träumen und zu Denken. Ich beobachte die Menschen um mich herum. Die überdimensionalen Fotos an den Wänden von den Naturwundern des Westens sind eine gute Vorbereitung auf all die Eindrücke, die noch kommen werden. An der Wand lese ich die Geschichte berühmter Männer, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Zum Beispiel John Clark. Er ist einer der Helden, die den Westen erobert haben. Das damalige Handwerk der Weißen wird gezeigt. Mich beeindruckt die szenische Darstellung eines Graveurs, der aus Gold Friedensmünzen prägt und graviert. Diese Münzen wurden den Indianern, nachdem sie sich den Weißen unterworfen hatten, zum Zeichen der Versöhnung geschenkt. 

Die Fahrt hinauf durch den Gateway Arch erinnert an die Bergbahn von Linthal nach Braunwald im schweizerischen Glarnerland. Oben, auf dem Höhepunkt, kann man aussteigen und durch kleine Glasfenster auf den Jefferson National Expansion Memorial Park hinunterschauen. Nach der Bahnfahrt spazieren wir durch einen riesigen Vergnügungspark. Das amerikanische Volk auf der Festwiese zelebriert seinen Nationalfeiertag. Die meisten Menschen sind fettleibig und plump. Wir machen Mittagspause im Diner Brewery an der Morgan-Street. Diners sind amerikanische Schnellimbissbuden ohne Gemütlichkeit. Da meine Verdauung immer noch blockiert ist, bestelle ich nur ein Stück Kuchen mit Eistee. Dass man auch hot tea bekommen kann, weiß ich noch nicht. Nach dieser Pause versuchen wir mühsam, aus der großen Stadt hinauszufahren Richtung Rolla im Bundesstaat Missouri. Der Verkehr am Nationalfeiertag ist enorm. Stau und Chaos entstehen. Fußgänger drängen in Scharen über die Straße. Wir fahren über eine mehrspurige Interstate. Ringsum Gestank, alles ist urban, brutal, aber auch dynamisch und vital! Nach dem Verlassen dieser Großstadt fahren wir noch mal 76 Meilen - etwa 90 Minuten – auf dem Freeway. Bald kann ich nicht mehr still sitzen. Der Po schmerzt. Die Guides ermahnen uns immer wieder: Bleibt zusammen, keiner darf verloren gehen! Das Wetter wird besser, die Sonne vertreibt die Wolken, bald ist der Himmel wieder blau. Die Landschaft wird hügelig, dann folgen wieder ozeanweite, platte Maisfelder, gesäumt von hohen Bäumen, dazwischen viel grüner Rasen, eine Art Parklandschaft. Überall sieht man gepflegte Wohnhäuser aus Holz. Sie sind grau oder weiß gestrichen, nichts ist verlottert. Wir machen zwei Stopps, einmal bei einer Werkstatt, um zu tanken und dann in Cuba bei einem riesigen Harley-Shop, um zu shoppen. Das Wahrzeichen dieses Shops ist der größte Schaukelstuhl – rocking chair – der Welt! So viel Superlative, so viel Eindrücke, ein Bild jagt das andere. An das Tempo des Erlebens muss ich mich erst gewöhnen. Benommen setze ich mich auf einen Stuhl. Meine Nerven sind blank. Thomas schenkt mir ein rosarotes Harley-T-Shirt, über das ich mich freue. Danach kommen wir auf die alte Route 66, deren Belag frisch renoviert und daher aalglatt ist. 

Jetzt gibt unser Chef-Guide Günter Gas und flitzt wie vom Affen gebissen davon. Als ich beim nächsten Stopp reklamiere, 75 Meilen pro Stunde seien mir zu schnell, lacht er nur. Bei diesem Tempo bläst der Fahrtwind so stark, dass ich den Kopf weder nach links noch nach rechts wenden kann. Jetzt muss ich stromlinienförmig hinter dem Fahrer sitzen. Autos drängen sich zwischen unsere Motorräder. Wir verlieren den Guide aus den Augen. Bei mir löst das Panik aus. Aber den andern in der Gruppe gefällt dieses rassige Tempo, auch den beiden Frauen, Eva und Jacqueline. Die beiden fahren, jede allein auf einer Maschine, im hinteren Teil unserer Gruppe. Sie halten sich an den Österreicher Ernst. In seinem Lederdress sieht er aus wie James Bond. Hinter ihm sitzt seine Frau, eine Lehrerin, die genau wie ich ihren Intellekt dazu braucht, um die Angst zu überwinden. 

Abends um 19.00 Uhr sind wir an unserem Etappenziel in Rolla (Missouri). 

Das war bis jetzt die längste Strecke, von Springfield (IL) nach Rolla (MO), 360 Kilometer an einem Tag. Später soll es noch längere Strecken geben. Wir beziehen das Motel Best Western in schönster Lage. Ich bin erschöpft und verzichte auf das Essen im nahe gelegenen Restaurant Tommy’s Tater Patch, wo alle hingehen. Ich brauche Ruhe. Im Motel gibt es einen malerisch gelegenen Pool mit Blick in die Berge. Die Sonne ist am Untergehen. Da ich den Weg zur Waschmaschine und zum Wäschetrockner suchen muss und Probleme habe mit den Coins, verpasse ich den Sonnenuntergang. Nach dem die Sonne weg ist, schwimme ich im Pool. Der Himmel ist noch hell, die Luft warm. Außer mir ist noch ein junger Bursche da, der stets ins Wasser springt und um sich spritzt. Ich genieße, nach dem langen Sitzen, die Bewegung. Auf einem Balkon über dem Pool beobachte ich ein älteres Paar. Die zierliche, weiß gekleidete Frau ruht auf einem Liegestuhl und nippt an einem Glas. Der große, stattliche Mann steht am Geländer und raucht eine Zigarre. Im Hintergrund läuft der Fernseher mit Tanzmusik. Vielleicht ist dieses Paar auch im zarten Alter von 66? Sie genießen den Abend zu zweit, während ich allein mit einem jungen Burschen im Pool schwimme. Um 23.00 Uhr kehrt Thomas vom gemeinsamen Essen in Tommy‘s Tater Patch heim. Er habe sich beeilt, um mich nicht lange alleinzulassen. Bevor wir schlafen gehen, müssen wir noch alle unsere Sachen aus-, ein- und wieder umpacken.

Der zweite Tourtag ist überstanden!



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Tag 5, Dienstag, 5. Juli

Rolla (MO) – Joplin (MO)

224,5 Meilen

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Heute um 08.00 Uhr sollten wir abfahren, aber unsere Guides haben verschlafen. Sie waren gestern, am Nationalfeiertag, wohl zu lange aus! Ich bin enttäuscht, mein Vertrauen in ihre Zuverlässigkeit ist erschüttert. Die Gruppe lacht die beiden aus, nimmt sie auf die Schippe. Eva macht Sprüche und kratzt an der Macht der beiden Guides. Sie hat den Mut, das coole Machogehabe von Günter zu kritisieren. Dieser zeigt keine Emotionen, entschuldigt sich nicht und geht cool zur Tagesordnung über. Wir sitzen auf und fahren los, bei herrlichem Wetter. Der erste Stopp ist an der Devil’s Elbow Brücke, eine alte Eisenbahnbrücke aus rostigem Eisen. Unten am Fluss stehen unter Bäumen zwei Zelte. An diesem lieblichen Ort möchte ich verweilen und Ferien machen! Danach führt der Weg über eine holprige, verschlungene Straße bis Lebanon, eine Stadt mit 10.000 Einwohnern. Dort besuchen wir schon wieder einen Harley-Shop. Ich lasse mich verführen und kaufe Lederstiefel und ein Harley-Bauchtäschchen. Danach fahren wir zu einer der 4.000 Tropfsteinhöhlen, die es im Staat Missouri gibt, zu den Fantastic Caverns. Günter warnt unterwegs, jetzt käme eine enge Zick-Zack-Strecke mit eigenartig hängenden 90Grad-Kurven. Er sagt, wir müssten jetzt die Musik abstellen und gut aufpassen. Verglichen mit den Pässen im Tessin oder Engadin ist das eine harmlose Strecke! Durch die riesige Tropfsteinhöhle machen wir eine Cave Tour. Wir fahren in einer elektrisch betriebenen Jeep-drawn tram mit mehreren offenen Wagen. Am Steuer steht eine fröhliche, ältere Frau. Sie hält immer wieder an und erklärt uns die Geschichte der fantastischen Höhle. Im amerikanischen Slang erklärt sie, dass der Hund eines Farmers 1860 diese Höhle entdeckt habe. Darauf hätten sich zwölf Hausfrauen zusammengeschlossen, um die Höhle mit kleinen Petroleumlampen zu erforschen. In diesen Höhlen von Springfield (MO) seien einst Musicals und wilde Partys mit Alkoholverkauf durchgeführt worden. In den Krisenzeiten der zwanziger Jahre sei das eine gute Einnahmequelle gewesen. 

Danach steigen wir wieder auf unsere Motorräder und fahren weiter, jetzt wieder auf der originalen Route 66. Sobald wir diese erreicht haben, steigern die Guides das Fahrtempo. Auf dem Tachometer, der immer etwas mehr angibt, als wir in Wirklichkeit fahren, lese ich 70 bis 75 Meilen pro Stunde. Das Höchstlimit wird jetzt zum Normaltempo. Daran muss ich mich gewöhnen. In Springfield (MO) machen wir in der Outdoor World 90 Minuten Pause. Das ist ein neuer Einkaufstempel von 20.000 Quadratmetern für sämtliche Produkte, die man im Freien braucht: Kleider und Schuhe zum Wandern, Schwimmen, Jagen, Fischen, Segeln, Klettern sowie für Fahr- und Motorräder. Die Dekorationen dieser Einkaufswelt sind aus Kunststoff. Überall sind Stände platziert, wo man Kitsch kaufen kann. Zur optischen Unterhaltung gibt es mitten im Einkaufszentrum einen kleinen Naturpark mit Teichen, in denen Fische hin und her schwimmen und Tümpel, wo echte Mississippi-Alligatoren vor sich hin dümpeln. Das Publikum wird eingelullt von lauter Musik und Inseln mit Fastfood. Meterlange Regale mit Süßigkeiten locken die Kunden an. Kinder aus aller Welt toben herum. Nirgends gibt es Wasser zum Händewaschen. Diese Esskultur wirkt auf mich abstoßend. Das Geschirr ist aus Plastik und Pappe. Wir essen einen Salat. Danach entspannen wir uns auf dem Parkplatz, sitzend auf einem Stein unter einem Baum. Schon heißt es wieder: Aufsitzen und los! 

Seit dem Verschlafen unserer Guides, ein nicht funktionierendes Handy sei schuld gewesen, ist das Verhältnis zu ihnen kameradschaftlicher geworden. Wenn wir von ihnen sprechen, sagen wir nicht mehr Guide, sondern Günter und Finn. Sie sind keine Gurus mehr, sondern Menschen, denen Fehler passieren wie uns. Wer einen Fehler macht, muss abends eine Runde Bier ausgeben. 

Als Fehler gilt: Eine Seitentasche am Motorrad ist offen, ein Rotlicht übersehen, falsch abbiegen, größere Verspätung am Treffpunkt, den Motorradhelm beim Parken ablegen, etwas liegen lassen oder vergessen. 

Jeden Abend muss jemand Bier kaufen. Jetzt heißt es wieder fahren und fahren. Langsam gewöhne ich mich an das Tempo. Meine Angst kommt nur dann hoch, wenn die Geschwindigkeit anzieht. Ich trainiere mich mit Autosuggestion. Mit den Autos und den riesigen Lastwagen an meiner Seite, die aussehen wie Monster und Dinosaurier, muss ich Freundschaft schließen. Ich muss daran glauben, dass hinter den Motoren vernünftige Menschen sitzen, die ihrerseits auch ans Ziel kommen möchten. Nach langer Zeit, die vor allem wegen der Hitze kaum mehr auszuhalten ist, parken wir an der historischen Tankstelle Sinclair. Sie wird betrieben von einem alten Mann namens Gary. In den USA erhalten alte Menschen nur eine sehr geringe Rente und müssen sie mit Dienstleistungen aufstocken. Andere haben gespartes Geld und arbeiten freiwillig, um die Langeweile zu vertreiben.

Er bietet uns Mineralwasser und Melonenstückchen an, genau das, was wir jetzt brauchen, denn wir haben 90 Grad Fahrenheit, das sind 36 Grad Celsius. Wir machen Fotos mit nostalgischen Requisiten der Route 66, die in einer alten Scheune wie in einem Theaterfundus versteckt sind. Dann kaufen wir Baumwoll-T-Shirts für sieben Dollar. Alle sind übermütiger Laune. Der gastfreundliche Ort in der Prärie erinnert an das Café Bagdad in Syrien, wo wir 2009, zwei Jahre bevor dort der Krieg ausgebrochen ist, auf einer Kulturreise waren. Weiter gehts. Um 18.30 Uhr erreichen wir unser Etappenziel Joplin (MO). Auf dem Weg zum Hotel Holiday Inn, das nahe an der Landstraße liegt, erzählt Jacqueline, dass sie bei der Bank Julius Bär in Zürich arbeite, in der Abteilung Kreditkarten. Sie muss kontrollieren, ob die Rechnungen bezahlt werden. Wir erholen uns kurz im Swimmingpool und gehen dann zum Abendessen ins OUTBACK Steakhouse, wo im Fernseher wieder Boxkämpfe gezeigt werden.



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Tag 6, Mittwoch, 6. Juli

Joplin (MO) – Oklahoma City

263,5 Meilen

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Die schlimmste Strecke mit den vielen Highways und Kurven ist überwunden. Wir haben uns als Gruppe schon etwas aneinander gewöhnt. Kurzes Frühstück im eleganten, großen Hotel Holiday Inn. Ein netter, älterer Afroamerikaner bedient uns aufmerksam. 

Wir geben ihm gerne Trinkgeld. 

Ab heute führt uns Finn, der 28-jährige Hamburger. Er ist etwas unsicher und sagt: 

Ich fahre nicht so gut wie mein Chef, aber ich werde mein Bestes geben! Günter fährt hinten im Van, wo unser Gepäck und täglich eisgekühlte Getränke auf uns warten. Bei großer Hitze sitzen wir auf und fahren zügig ab. Jetzt verändert sich die Landschaft. Die Erde wird trockener, die Bäume niedriger, der grüne Rasen weicht struppigen Feldern. Das Land wird flach. In dieser Prärie gibt es keine Landhäuser mehr. Jetzt tauchen Ranches auf mit eleganten Pferden. Bei einer alten, verrosteten Eisenbahnbrücke, wo man das Schild Arkansas noch knapp lesen kann, halten wir an. Dies ist ein Dreiländereck: Missouri, Oklahoma und Arkansas berühren sich. Wir fahren durch einen Zipfel von Arkansas, der südlich von Springfield (MO) liegt. Dann fahren wir über die Grenze in den Bundesstaat Oklahoma. Wie jeder amerikanische Staat hat auch dieser einen Spitznamen: Land of the Native Americans, das Land der amerikanischen Ureinwohner. Wieder müssen wir über Highways. Ich denke: Jedes Mal, wenn ein großer Truck vorbeifährt, fühle ich mich wie von einem Dinosaurier bedroht. Alles ringsum ist laut. Ich fühle mich der brutalen Gewalt der Maschinen nackt ausgesetzt. Um diese Angst zu überwinden, sage ich mir immer wieder: Diese Monster werden von der Vernunft der Menschen gesteuert. Doch wenn ein Mensch versagt, was menschlich wäre, zieht er die anderen gleich mit in sein Versagen! Parallel zur Route 66, aber in großer Distanz, sehen wir einen Güterzug vorbeifahren; die endlosen Waggons werden von vier alten Lokomotiven gezogen. Jeder Waggon ist mit zwei übereinander stehenden Containern beladen. Sie fahren so langsam, dass wir sie zählen können, aber wir kommen nie zu einem Ende, Günter sagt, es seien jeweils 100 bis 160 Waggons. Einmal fahren wir an einer Unfallstelle vorbei: Ein Auto ist vor der Eisenbahnschiene über eine Grasböschung gekippt, Polizei und Krankenwagen sind bereits da. Ein paar Menschen stehen herum. Aber die Straße ist frei. Wir fahren weiter. An einem Reklamemast lese ich im Vorbeifliegen ein Schild: Jesus the eternel life exists now, Jesus is the answer. Die frommen Sprüche auf den Reklamemasten sind wohl für diejenigen Menschen angebracht, die beim Fahren Angst haben? Ich denke: Diese Reklamemasten sind ein Display, auf dem sich das amerikanische Volk ausdrückt. Es sind keine Lehrsätze, die der Staat vorschreibt, wie es in den sozialistischen Ländern der Fall war. Hier preisen einzelne Bürger ihre Dienstleistungen an und machen Reklame für ihre Unternehmungen: Zahnärzte, Chiropraktiker, Krebsspezialisten, Schönheitschirurgen, Hotels, Restaurants, Tankstellen, Spitäler, Kirchliche Gemeinschaften, Seelsorger, Psychologen, Juristen, Bauunternehmen, Gartencenter. 

Alle präsentieren sich mit Emailadressen und Handynummern, die Namenszüge erscheinen in bunten Leuchtschriften. 

Help by relationship desease. A call, that’s all! oder Divorce, quick and easy, I can help you oder Yet prayed today? Dann wieder Hinweise auf die nächsten Hotels oder Imbissbuden. Am Rand der Route 66, die durch Oklahoma führt, stehen viele Kirchen. In großen Leuchtschriften verkünden sie ihre Konfessionen: Baptisten, Methodisten, Lutheraner, Mormonen, Zeugen Jehovas u. a. Es sind keine Kirchen mit hohen Türmen, eher Gospelhallen oder Gemeindehäuser, gesäumt von Baumalleen und gepflegtem Rasen. Am Ausgang jeder Stadt gibt es Autofriedhöfe, Berge von verrosteten Autos, dann folgen Tankstellen mit Coffee Shops, und noch ein paar Meilen weiter draußen liegen die Friedhöfe für Menschen. Sie sind weitläufig und haben keine schützende Mauer ringsum. Die Gräber stehen auf freiem Feld und sind mit bunten Plastikblumen geschmückt. Es scheint es so, als habe in Amerika der Tod keinen Stachel. Sein Symbol, der Totenkopf, ist salonfähig geworden und schmückt das Design der Jugend. Und die Gräber der Verstorbenen haben durch die bunten Farben ihre Melancholie verloren.

Endlich kommt wieder ein Halt: Miami im Staat Oklahoma. Wir möchten den Harley-Shop mit dem Bike-Museum besuchen. Aber der macht erst um 10.00 Uhr auf. Da wir so schnell gefahren sind, haben wir erst 9.30 Uhr. Die Guides bieten uns eine Alternative an: The Coleman Theatre Beautiful, gebaut im Stil von Louis XV! Alle, außer Vater Rolf mit Sohn Benny, kommen gerne mit.

Dieses Privattheater wurde 1929 von George L. Colemann, einem ehemaligen Deutschen namens Kohlmann, gegründet. Er war Besitzer einer Mine für Zink und Metall. Den Gewinn seines Unternehmens hat er für sein Steckenpferd investiert. Das Coleman Theatre Beautiful hat als Vaudeville Theater und Kino Palast begonnen. Als es nicht mehr rentierte, hat es die Familie Coleman 1989 der Stadt Miami geschenkt. Darauf hat die Gemeinde Geld gesammelt und in Freiwilligenarbeit, labor of love, das heruntergekommene Gebäude restauriert, nach dem Motto: We don’t own anything. We hold it in trust for the next generation. Heute werben sie mit einem Hochglanzprospekt für ihr Programm. Ballett, Oper, Country Musik, Stummfilme, Route 66- und Bus-Touren, Kindervorstellungen, Staatsempfänge, Jazz- und Tanzabende, Hochzeiten und Konferenzen, alles was dem Publikum Spaß macht und Geld bringt, wird angeboten. Interessenten können bei Friends of the Coleman Mitglied werden und das Unternehmen mit Jahresbeiträgen unterstützen. Eine ältere Dame, eine verblichene Schönheit, die freiwillig hier arbeitet, führt uns durch das elegante Foyer, den plüschroten Zuschauerraum, die schlichten Garderobenräume bis hinauf zum Bühnenboden. Der wird nach alter Manier noch von Hand bedient. Auf dem Platz vor dem Theater steht ein alter Mann. Er setzt mit einem langen Stab, der vorne eine Klammer hat, Holzbuchstaben zusammen. Dann hebt er mit diesem Gerät die einzelnen Buchstaben vom Boden auf und schiebt sie, einen nach dem anderen, in die Schiene über dem Theatereingang, solange, bis der Schriftzug, der den Titel der nächsten Vorstellung ankündigt, lesbar wird. An diesem Theater gibt es keine moderne Neonschrift, wie wir sie bei den Kirchen-Reklamen gesehen haben, wo Jesus-Werbesprüche aufleuchteten.