Cover Image
 

 

paradies fluten (verirrte sinfonie) ist der erste Teil der Klimatrilogie von Thomas Köck, der in einer gewaltigen Bilder- und Sprachflut eine Geschichte des Kapitalismus als Parade mit Instrumenten, Geschichten, Chören vorbeiziehen lässt, die mit dem Kautschukboom im 19. Jahrhundert, dem ganze Landstriche und Völker zum Opfer fielen, beginnt. Köck betrachtet die Gegenwart durch die historische Linse und gelangt so zu verblüffenden Bildern. Köcks sprachlich kraftvolle, pulsierende Literatur überspringt leichtfüßig die Grenzen zwischen Prosa, Dramatik und Lyrik. Seine raumgreifende Sprache, seine Szenarien, sind eine erfrischende Provokation für die Bühne, ein ästhetisches wie politisches Verfahren.

 

Für paradies fluten, das zu seinen meistgespielten Stücken zählt, erhielt der vielfach ausgezeichnete Thomas Köck 2016 den renommierten Kleist-Förderpreis. Das Buch enthält mit paradies fluten, paradies hungern und paradies spielen die gesamte Klimatrilogie.

 

Thomas Köck wurde 1986 im österreichischen Steyr geboren.

 

 

Thomas
Köck

Klimatrilogie

paradies fluten / paradies hungern /
paradies spielen

Suhrkamp

 

 

paradies spielen entstand im Rahmen einer Hausautorenschaft am Nationaltheater Mannheim und wurde unterstützt mit dem DramatikerInnenstipendium der österreichischen Bundesregierung.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie

der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.

Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: Katja Bohlmann

eISBN 978-3-518-75116-9

www.suhrkamp.de

 

 

paradies fluten (verirrte sinfonie)

teil eins der klimatrilogie

 

paradies hungern

teil zwei der klimatrilogie

 

paradies spielen (abendland. ein abgesang)

teil drei der klimatrilogie

 

Rebekka Kricheldorf

Laudatio anlässlich der Verleihung des Kleist-Förderpreises 2016 an Thomas Köck für paradies fluten (verirrte sinfonie)

 

Chöre sind unsterblich

Nina Peters im Gespräch mit Thomas Köck über seine Klimatrilogie

 

Uraufführungen, Biografisches

 

 

Nature is not natural and

can never be naturalized

aus den notizen einer anonymen klimaforscherin
(spätes einundzwanzigstes jahrhundert)

paradies fluten
(verirrte sinfonie)

teil eins der klimatrilogie

all that is solid melts into air

aus den aufzeichnungen eines anonymen klimaforschers
(spätes neunzehntes jahrhundert)

besetzung ad libitum

 

ich empfehle

 

ein erschöpftes tanzensemble

ein ertrinkendes symphonieorchester

zwei überlebende in klimakapseln postparzen nennen wir sie

eine durchschnittliche weiße mitteleuropäische familienaufstellung

der neunziger jahre als schreckgespenster

ein bühnenfüllendes schiffswrack

ein verlassenes paradies

mehrere alternativen (stumm)

unmögliche oder einfach schlecht erinnerte erinnerungen die die bühne nach und nach überfluten

die unsichtbare hand des marktes

im duell mit der unsichtbaren hand des autors

 

des weiteren gilt

regieanweisungen sind wie kriegsgeräusche zu lesen

 

tänzerinnen sind unbedingt eingeladen sich den text anzueignen

da viele tanzensembles mehrsprachig besetzt sind kann

und soll der text gerne übersetzt werden

auch falsch damit der text auch was davon hat

gern auch simultan und von allen seiten

 

die erinnerungen die die bühne überfluten dürfen

und sollen auch sehr gerne

solche der schauspielerinnen tänzerinnen intendantinnen

musikerinnen regisseurinnen etc sein

 

wenn auf live-musik zurückgegriffen wird

sollte diese derangiert werden

nicht weichzeichnen ruhig grotesk und clownesk denken

also ein ensemble dem das wasser bis zum kopf steht

beispielsweise mit muscheln in den trompeten

und sand der aus den cellobäuchen fließt

 

vielleicht auch einfach

das erste mitteleuropäische flüchtlingsorchester

 

oder

ein ensemble dessen mitglieder nach und nach deportiert

oder erschossen werden und verschwinden

während des abends und die verlassenen instrumente

für eine andere zeit zurückbleiben

 

vielleicht liegen die instrumente auch zu beginn schon

wie unverständliche artefakte und angespülter müll

einfach auf der bühne herum und während des stücks

wird erfolglos versucht darauf musik zu machen

 

wenn nicht auf live-musik zurückgegriffen wird

sollte zumindest eine cembalospielerin inklusive cembalo

anwesend sein die von zeit zu zeit ganz alleine

immer wieder ihr verhasstestes orchesterwerk spielt

 

da das alles sicherlich sehr viel ist für einen abend
empfehle ich den text häufig nachzuspielen

es lohnt sich

 

ansonsten
viel spaß

overtüre

 

wrack frack fracking

nach den fluten

 

zwei sehr sehr sehr alte frauen wieder postparzen heißen wir sie zum einen DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE zum anderen DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE beide mit zylinder frack und atemschutzmaske gern auch ramponiert und abgewrackt betreten hektischen schritts die bühne laufen bis vorne an die rampe und warten relativ lang die eine möchte dann etwas sagen öffnet schon den mund tuts dann also doch wieder nicht die andere starrt beunruhigt zu ihr rüber sie warten ein wenig ein scheinwerfer fällt dann irgendwann runter die vibration lässt eine bühnenwand aus der verankerung krachend zu boden fallen woraufhin die sicherung eines an der bühnenwand befestigten offshore-ölförderschlauchs aufspringt und wie trunken torkelnd unablässig dunkles rohöl auf die bühne erbricht

 

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENEwartet angespannt auf den einsatz ihrer kollegin shit

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENEnach einer kurzen pause moment moment moment ich habs gleich shit

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE ja was denn

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE wir haben etwas vergessen

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE offensichtlich

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE nein nein nein was ich meine ich meine wir haben shit wie konnten wir das nur vergessen

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE gut dann fang ich halt an also die sonne meine damen und herren die sonne wir lernen von der sonne wir lernen dass alles eigentlich schon vorüber ist

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENEbeim hektischen abgehen um etwas zu holen nein aus jetzt wir haben shit

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE ja pscht aus alles ist schon längst aus sehen sie kurz nach oben los sehen sie nach oben in den himmel zur sonne und halten sie ehrfürchtig inne die sonne hat gerade ihre wechseljahre erreicht sie hat jetzt gerade die hälfte ihres wasserstoffvorrats verbraucht die nächsten sechs milliarden jahre können sie sich ungefähr so vorstellen in eins komma eins milliarden jahren wird die sonne um zehn prozent heißer strahlen sämtliche kontinente werden dann wüste geworden sein in drei komma fünf milliarden jahren wird die sonne um vierzig prozent heißer strahlen im mariannengraben ist dann kein wasser mehr sämtliche ozeane geschichte der meeresboden voller flugzeugwracks und plastikschnitzel playmobilpferde und barbiepuppen vielleicht haben wale dann den aufrechten gang gelernt und die demokratie wiederentdeckt die wir haben baden gehen lassen aber gut walscherze beiseite in sechs komma drei milliarden jahren ist die erdoberfläche längst steril der wasserstoff im kern der sonne aufgebraucht und jetzt meine damen und herren jetzt geht es richtig rund in den nächsten eins komma drei milliarden jahren bläht sich die sonne auf ihre hundert bis hunderfünfzigfache größe auf ein roter riese die details und hintergründe erspare ich ihnen es gehört zu einer guten panikmache nur den schrecken auszumalen der merkur zum beispiel wird von der sich blähenden sonne angezogen und direkt in diese hineinkippen und komplett zerstört werden die chancen stehen im moment fifty fifty dass die erde dieses schicksal auch ereilt die aufgeblähte wütende sonne verliert nämlich gas man kennt das bei blähungen und sinkt so wieder in sich zusammen was allerdings mit dem gas im weltall also genau das sind folgen die heutige berechnungen noch nicht imstande sind zu erfassen die sonne wird ein ganzes universum zuerst angestrahlt und dann vergast haben dann sinkt die sonne in sich zusammen erkaltet ausgebrannt erschöpft postkoital ein weißer zwerg und bleibt so für den rest des universums sie können jetzt wieder zu mir hersehen hier sehen sie hierher hallo diese katastrophe ist unausweichlich die ist finaler als der tod weil die erde während des ganzen prozesses tausendvierhundert grad celsius heiß sein wird sie wird nur noch aus lava bestehen und alles was hier irgendwann einmal war wird dann komplett ausgelöscht sein die lava ist heiß genug um sämtliche molekularteilchen zu verbrennen das heißt im prinzip jede form der erinnerung jede art von gedächtnis wie wir es heute kennen wird gewesen sein keine zeichen keine spuren keine lesbarkeit wird uns überdauern wir werden verschwunden sein das licht der sonne kommt nicht aus einer hoffnungsfrohen zukunft es kommt aus einer unausweichlich immer schon vergangenen zukunft und es verkündet uns bereits jetzt dass wir gewesen sein werden wir wissen dass wir vernichtet sein werden

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENEkommt freudestrahlend wieder zurückgelaufen ich habs

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE pscht das morgengrauen ist kein neuanfang es ist ein warnruf aus der vergangenheit die sonne dehnt sich aus und die hoffnung endet mit kosmischen blähungen und interstellaren gasen die unsere irdischen berechnungen übersteigen

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE los komm ich habs gefunden wir haben was vergessen

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE sag mal meine damen und herren moment

 

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE zieht DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE von der bühne weg nach hinten freudig luftsprünge soweit sie das hohe alter noch erlauben dann ist es länger still bühnentechniker laufen eilig vorüber das licht wird neu justiert die bühnenwand wieder fixiert das öl so gut es geht aufgewischt der kaputte scheinwerfer weggeräumt dann kehren DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE und DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE wieder mit schweren hanfseilen über den schultern und sie ziehen hinter sich her bis an die rampe nach vorne ein schiffswrack genauer gesagt ein halb abgetragenes wrack eines transportschiffes der triple-e-klasse der dänischen reederei maersk line aus dem frühen einundzwanzigsten jahrhundert wie man es aus den abwrackhäfen in bangladesch kennt natürlich nicht das ganze wrack das wäre zu groß aber doch so ein sagen wir mal bühnenfüllendes element man sieht in die verschiedenen decks hinein die mannschaftsquartiere den treibstofftank die verschiedenen pumpsysteme die unzähligen kabel die aus dem bauch des schiffes heraushängen die verladeflächen für die container das herzstück der spätmodernen zivilisation während sie mühsam ziehen unterhalten sie sich

 

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE ja stimmt das haben wir tatsächlich vergessen

DIE VON DER VORHERSEHUNG ÜBERSEHENE sag ich doch wir deppen wie konnten wir das nur vergessen

DIE VON DER PROPHEZEIUNG VERGESSENE ja dass wir das vergessen konnten wir alten deppen

 

die beiden verneigen sich kurz nochmal recht rasch gehen ab und lassen das publikum mit dem wrack auf der bühne zurück das wrack liegt lange zeit einfach so da es wird nicht bespielt es wird nicht als erhabener bau inszeniert es liegt einfach so da man hört nichts keine wellengeräusche keine atmosphärischen klänge keinen wind keine vögel kein strand nichts das wrack liegt ohne jeglichen kontext leicht nach rechts geneigt wie ein skeptischer blick zur seite fast so als würde es das publikum verstohlen anstarren und nicht umgekehrt so bleibt die bühne eine ganze weile das publikum und das schiffswrack starren sich eine ganze weile an völlig kontextlos dann geht das licht aus und es erklingt musik

I

serenade

 

unruhige materialflut

ertrunkene ziehen vorüber

 

tempo rubato

mäßig

 

und wieder zieht einer vorüber diesmal einer mit

erstarrtem schrei und gerade frisch getrocknetem

haaransatz schwarz glänzend das loch im hals noch

bevor ihn wieder hinabreißt die materialflut

 

aus der jetzt eine andere nach oben schießt

die auch nichts mehr zu sagen weiß nur staunend

der zustand der welt ja

was soll man da auch sagen

ein jammertal nicht wahr ein

jammermariannengrabental schon wieder

der mund offen die arme ausgebreitet sie war zum sprung bereit

 

zur seite jetzt

schreit unter ihr eine andere eine

überarbeitete auf dem weg nach oben

im zerrissenen kleid erschöpft die

augenlider klappern noch fröhlich es

klimpern die äuglein im reißenden bach

die finger suchen zuckend nach der hand

die sie gehalten als das feuer

oder wars nur ein unglücklicher gewittersturm

eine durchgebrannte gaspipeline geplatzt

die adern europas unter dem eigenen haus

 

aus der ferne winkt jetzt ein anderer taucht kurz auf

hallo ja das ist ja wundervoll dass wir uns

also in die arme wild nicht

die finger ums smartphone gewickelt die

augen leer und weiß das hemd offen

dann wird er auch schon wieder

hinabgezogen von herbeizitiertem material

 

ein anderer reißt sich los in seiner hand nicht mehr das kind er

sieht augen ausgespült ins nass zweihundert

meter tief nur körper tritt aufgewühlt

nach unten ist immer platz

in allen fluten und treibt vorüber jetzt mit leerem blick

 

jetzt reichts aus jetzt denkt sich eine andere schüttelt

sich ab ihr körper zittert kurz die

wollte mit denen hier nie wirklich nie

etwas zu tun karrieregeile deppen dachte

sie sich immer jetzt schälen sich luftblasen aus ihren ohren

 

nein nein nein

jetzt andere im chor

nein nein nein

mehrere zusammen jetzt laut am besten laut die

in einem fischernetz vorübertreiben

nein nein nein wir das europäische parlament haben beschlossen

die beine strampeln hilflos in den maschen

dann sind sie schon wieder abgetrieben im netz verfangen

die regungslosen finger

 

hinter ihnen überraschend wieder eine etwas jüngere

in der krise gerade ist sie gesprungen aus

ihrer wohnung bevor die staatsgewalt sie räumen konnte

die treibt jetzt weiter unten wo

die mieten nicht so hoch sind genug platz für alle

nach unten hin ist immer noch was frei

 

ein anderer dem es den hals abgeschnürt der

überraschend aus einem schlechten witz herbeigetaucht

längst vom markt vergessen eigentlich oder

wars ein selbstmordattentäter mit sprengstoffgürteln

marke eigenbau tomatendosen ravioli c4 mit

kleinen nägeln eine stadtbibliothek

ein schlecht laufendes theater das er besucht unwertes

leben in dreißig winterjacken filz im haar lagernächte sind lang

 

so und jetzt doch noch einmal die im fischernetz

die sich nur langsam einigen können

wieder durchnässt zurückrudern

der club der unsichtbaren hand ein schlechter scherz

die anzugträger im fischernetz

wer soll denn das klima bezahlen

wir sagen die welt wäre in ordnung

wenn aus dem auspuff eines autos so wenig herauskäme

wie aus dem eu-ministerrat

wäre die welt in ordnung

 

kein land mehr in sicht vom bühnenrand aus

andere jetzt am rufen

kein land mehr in sicht vom bühnenrand aus

 

vorüberziehen jetzt verschiedene definitionen

des spätmodernen subjektbegriffs

ein großes tohuwabohu der kommenden gemeinschaft

sie bewerfen sich mit totdiskutierten begriffen

und bruchstücken längst unverständlicher diskurse

 

und jetzt auch welche in rokoko schutzbekleidung

mit rüschen mühlsteinkragen und chemikalienschutzhandschuhen

infizierte ausgeschlossene geopferte verwundete

verängstigte schreiende sicherlich

zu viele immer schreien zu viele

aber dieser materialflut entweicht kein schrei mehr

diesem assoziationskraut ist kein schrei gewachsen

 

es entsteigt der materialflut jetzt ein markt

schwer angeschlagen schüttelt material

berge von sich dereguliert sich

ganz natürlich emanzipiert sich

es schreien die binnenmärkte und die anlegermärkte

und es beben die finanzzentren und die privatanleger

laufen hysterisch an die bankenfront mit gartenscheren

die devise was ist die devise

 

wieder zu spät falsch abgebogen wir

die im fischernetz wieder vorübereilend wir

sind wie das liebesspiel von elefanten

alles spielt sich auf hoher ebene ab wirbelt viel staub auf

und es dauert sehr lange bis etwas dabei herauskommt

 

der markt leckt schwer läuft aus der

bäumt sich auf es

fluten schnellen wirbel dieser markt

expandiert der

tut was er will teilt

 

beim abtauchen wieder die fluten gottgleich scheucht

krisengebiete in nichtchronologischer reihenfolge auf

gefolgt von humanitären interventionen die

hinter sich herziehen mit flugzeugträgern

einen rechtsstaat und sein nasses grab es

 

brechen eisberge am horizont und gletscher schmelzen

mehrere trennungen zerwürfnisse streits

beziehungskrisen wohin das auge reicht

weil der markt die alte sau die arschgeige spielt sich

schwer aufbäumt und herniederschäumt in den fluten

 

aber

es entsteigen der materialflut aufgescheuchte erinnerungen

ohne eigentümer

falsch erzählte geschichten und

längst vergessene möglichkeiten

das einzige kraut

das gegen den markt und seine vorstellungskraft gewachsen ist

es treiben vorüber lose open source

erinnerungen ereignisse ohne besitzer

unendlich schwätzend

unendlich gesprächig

noch einmal erzählend

 

der materialflut entsteigen jetzt außerdem

vergangenheiten die nie stattgefunden haben

 

jetzt wieder die im netz

nein nein nein

wir erinnern uns trotzdem

auch wenn es falsch ist

wir erzählen trotzdem

auch wenn es gelogen ist

und weg sind sie

im chor der stummen leistungsträger untergegangen

 

moment

mir fällt da einiges ein

ruft jetzt einer im vorübertreiben

den mund voll wasser

zum beispiel

european homecare neunzehnhundertdreiundneunzig

 

tableau vivant der spätmoderne

 

parlando forte

bitte p u n k t g e n a u

 

DIE MUTTER die mutter hat zum vater immer nur erzeuger gesagt

DER VATER der vater hat das nie gehört!

DIE MUTTER nie gehört! nichts hat der erzeuger! ja genau der! irgendwann einmal gesehen und gehört! nur sich und seine verblendung hat er gesehen!

DER VATER während der erzeuger allerdings nur diese firma ja! diese firma!

DIE MUTTER deine kfz-werkstatt! dein reifenwechseletablissement! dein gummiabfalllager! diese schuldenfabrik!

DER VATER diese meine eigene kfz-werkstatt! ja genau die! die alle hier ernähren soll!

DIE MUTTER die mutter hat immer wie verrückt verantwortung! und zahlungsunfähigkeit! geschrien und aufsteigerträume! und fast gesungen hoch die töne und den vater angestiert so! und so! und so! und so! und jetzt hör mir aber zu! und die stimme richtung decke geschraubt! hörst du bitte! und dann wieder herniedergeregnet fortissimo! mein lieber! wenn deine unternehmung untergeht dann ersäuft deine familie mit dir!

DER VATER es erwidert der vater im hohen ton zurück was er denn und herrgott! er versuche doch auch nur! warum denn jetzt diese vorwürfe und herrgott! an ihm hängenbleiben! während er nur diese firma! sein unternehmen! und die damit verbundene selbstständigkeit! ja selbstständigkeit! im kopf hatte!

DIE TOCHTER die tochter ist unterm tisch zwischen den füßen des erzeugers und der mutter hin- und hergerobbt es roch nach alten reifen abgenutztem gummi schlechten träumen

DIE MUTTER und die mutter hat die stimme wieder erhoben beim teutates! diesen selbstsüchtigen diesen idioten! der seine familie unter seiner selbstverschuldeten selbstständigkeit begräbt

DER VATER und der vater hat vor lauter stolz und sturheit zurückgedonnert wie sonst wer und wer bin ich denn! hat er voller spätkapitalistischer verblendung gesagt und verstehen! verstehen! man soll auch mich verstehen! kein lohnarbeiter mehr! hat er über den tisch hinübergebrüllt dass von der wand die schöne holzuhr das erbstück aus einer anderen zeit und dann noch einmal hinüber über den tisch damit jetzt endlich einmal ich versuche ja auch nur für euch das beste! hat er über die tischplatte hinweg der mutter ins gesicht hinübergeschrien ins gesicht hinein! herrgott noch einmal! ins gesicht hinein! hat er geschrien! das beste!

DIE MUTTER ach was das beste! familiengrab! und ein so ein witz! du denkst nur an dich und deinen erfolg! mit deinen autoreifen! hat die mutter natürlich gleich pariert und hat ihn an die wand laufen lassen mit einem spiel dich nicht so auf! und einem schrei hier nicht so herum!

 

pause

 

DIE MUTTER UND DER VATER UNISONO jetzt sag doch auch einmal was sag einmal! einander angeschrien und sofort pariert aufgesprungen und wieder herumgeschrien wir alle zusammen hier! und gemeinschaft! und familie! ja genau familie! also ja sag ich ja! nein du denkst nur an dich! selbstständigkeit! autonomie! gemeinschaft! familie! haben sie geschrien und ungläubig von oben herab dem anderen in den nacken hinein! und dann zurück und wieder mit der familie ja das ist ja! und gleich retour auch meine familie! das ist auch meine familie! und das gibts ja nicht! du hörst mir ja gar nicht! nein du hörst mir nicht du hörst mir rein gar nicht jetzt hör einmal hin! den ganzen tag nur fernsehen! ich verdiene das geld! ich verdiene auch mein eigenes geld! und erziehe die kinder! und du! privatkonkurs! nein selbstständig!

DIE GROSSMUTTER die großmutter kam dann immer dazu und hat versucht zu schlichten

DER VATER der vater hat sich sofort richtung vernunft gerettet

DIE MUTTER die mutter hat nur luft ausgestoßen! so pah! vulgär deine vernunft!

DIE GROSSMUTTER die großmutter hat die tochter immer lauschend unter dem tisch sitzen sehen sie hat der tochter immer kurz und so verstohlen zugezwinkert

DIE MUTTER diese autowerkstatt war das dümmste was der mit unserem ersparten je hat machen können kein mensch braucht hier noch eine autowerkstatt und jetzt geht die baden und wir gehen mit!

DER VATER niemand geht baden! dank dieser firma sind wir selbstständig! unabhängig! freie mechanikermenschen!

DIE GROSSMUTTER immer wenn die großmutter gezwinkert hat musste die tochter kurz und heimlich lachen dann hat die großmutter auch kurz gelacht heimlich und verstohlen mit alten spröden gespitzten lippen

DIE MUTTER die mutter hat immer gesagt das geht so nicht weiter das geht einfach nicht jetzt übernimm doch einmal eine verantwortung! übernimm doch eine verantwortung auch für andere menschen! ich hör immer nur unabhängig! hat die mutter geschrien! ja geschrien hat sie! ich kann das nicht mehr jetzt ist schon wieder eine rechnung da! wir können die rechnung nicht! kein mensch braucht in zwanzig jahren noch ein auto! deine freie werkstatt ruiniert uns alle!

DIE GROSSMUTTER die großmutter hat dann die mutter beiseitegenommen den vater hinter sich hergezogen und ist woandershin mit ihnen damit sich die tochter später nicht wird erinnern können an das viele geschrei und die streits und die probleme mit der selbstständigkeit und den vielen neuen möglichkeiten die die jungen paare in der freien welt heimsuchen und so durcheinanderbringen dass sie sich vor lauter freiheit gegenseitig den ganzen tag lang anschreien

DIE TOCHTER hinterhergeschaut hat die tochter der großmutter dann ist sie langsam unter dem tisch hervorgerobbt

DIE MUTTER und eine tochter! hat die mutter geschrien! haben wir auch noch! und wir beide vergessen das andauernd! hat die mutter geschrien vollkommen überfordert! ja! wie sie war!

DER VATER der vater bemüht sich ja auch mitzuhelfen! herrgott! noch einmal! herrgott! aber so als angehender selbstständiger in einer sich beschleunigenden globalen wirtschaft die alle grenzen einreißt da ist das mit der selbstständigkeit gar nicht so einfach!

DIE GROSSMUTTER die großmutter hat versucht zu vermitteln und zu erklären aber sie musste sich eingestehen dass es für sie auch schwierig geworden war zu verstehen worüber sich die jungen jetzt streiten die hatten doch jetzt alles arbeit selbstständigkeit freiheit und jeden sommer nach kroatien

DIE TOCHTER dann ist die tochter zur treppe geschlichen auf nackten füßen dann von dort am treppengeländer hinuntergetanzt vorbei am großvater der den fernseher immer so laut gedreht hat weil er schon früh taub geworden war oder das geschrei nicht hören wollte die tochter hat ihn immer lange angesehen ungläubig und befremdet wie man frisch verendete tiere auf der straße ansieht

DIE GROSSMUTTER die großmutter hat immer der tochter hinterhergesehen und gesagt das kann es jetzt nicht sein! ihr müsst doch! hat sie dann gesagt in der lage sein euch da zusammenzuraufen! das muss doch!

DER VATER ja! der vater hat schon zugestimmt! aber hat auch klargemacht dass er ja am zusammenarbeiten sei! nur noch ein bisschen! ja! nur noch ein bisschen braucht der vater bis die werkstatt anläuft ein ganzes unternehmen! ruhe schließlich hier! auf seinen schultern! die ganze last eines eigenen unternehmens! für diese last müsse man doch auch ein verständnis zeigen!

DIE MUTTER diese ignoranz! ich habe doch auch zu arbeiten! und soll noch erziehen und der will sich nur mit seiner neuen selbstständigkeit wichtig machen und setzt eine ganze familie aufs spiel und sie hat sich die tränen nicht heimlich aus dem gesicht gewischt weil ihr der neue geist des kapitalismus der aus dem vater herausgekrochen kam als vogelfreier mechanikermensch so wehtat und sie hat wieder geschrien und so! und so! und was ist denn dein problem eigentlich hat sie dann immer geschrien und aber jetzt subito fortissimo! warum rationalisierst du deine selbstausbeutung! und verkauf doch den dreck!

DIE TOCHTER der großvater hat die schreie gehört die nase gerümpft und immer nur angst gehabt er hat sich immer nervös umgesehen während die tochter an ihm vorübergeschlichen ist er hat angst gehabt vor den ausländern vor den flüchtlingen vor dem krieg von all den dingen die im fernseher erzählt wurden die die neue freie welt schon wieder bedrohten jetzt wo die roten verschwunden waren

DER VATER nein nein nein! und im bett hat sich der vater noch herumgedreht und aufgebäumt! und seine selbstständigkeit stellt ihm hier jetzt keiner in frage!

DIE MUTTER was denn selbstständigkeit! du willst dich doch nur nicht blamieren vor deinen bekannten! du gehst doch bis in den privatkonkurs hinein als vogelfreier mechanikermensch!

DER VATER ein eigenes unternehmen! ein selbstständiger! kein schlecht bezahlter arbeiter mehr nein ein selbstständiger arbeiter ein eigenständiger unternehmer ab heute! und dafür muss auch einmal ein risiko her! und der zweck der familie ist dem selbstständigen ein rückgrat zu sein!

DIE TOCHTER die tochter hörte nur worte hin und her fliegen schlich sich vorüber am großvater der die nase rümpfte und angst hatte vor den flüchtlingen vor den sozialschmarotzern vor den fremden in der ganzen welt die die freie welt überschwemmen sollten

DIE GROSSMUTTER die großmutter starb kurz nach millennium beim spazierengehen fiel sie einfach zur seite hin um der schnee auf der straße knirschte

DIE TOCHTER die tochter ging nicht zum begräbnis

DIE GROSSMUTTER nein der schnee krachte

DER VATER die tochter hatte sich mit dem vater zerstritten

DIE GROSSMUTTER nein der schnee knisterte

DIE MUTTER die mutter stand etwas abseits und stellte fest dass der tod immer schlimm ist im winter aber noch schlimmer

DIE GROSSMUTTER nein das eis auf der straße klirrte bis es schmolz unter den stiefeln der sargträger

jetzt eine sich aufbäumende materialflut

aufgescheuchte erinnerungen stürmen die bühne

 

impetuoso ma mesto

 

herein brechen materialfluten darauf entgegen fortissimo

treiben wieder ertrunkene glückssuchende chöre

erinnerungen die um die wette rudern

hinterher dem goldenen zeitalter

 

schon wieder die neunziger

zwei chöre unisono

herein brechen jetzt also eine zeit

in der alles möglich eine parade der gleichberechtigung

und dahinter weltfrieden geld markt befreiung

und all die heilsversprechen alles

noch unberührte natur fröhlich am gedeihen

schreien die dunklen fordisten die das schlachtfeld verlassen

die zu grabe getragen über den feldern

 

wo jetzt erblühen explosion freiheit glück

konfetti demokratie kamera sarajevo bagdad

der markt wird endlich vollendeter körper

und überhaupt das goldene zeitalter

schreien die vorübertreibenden im chor

das goldene zeitalter oder wie alles begann

 

das goldene zeitalter oder alles begann in einer zeit

in der alle sprachen vom frieden vom weltmarkt

von der eroberung neuer märkte vom sozialkassenglück

das fröhlich besoffen in der türe stand

und nach frischem geld roch

 

das goldene zeitalter oder

es hämmerte zusammen einer seine selbstverwirklichung

während das geld floss

in die letzten hintergemeinden hineinfloss

das geld in die mittelschicht hineinfloss

in die letzten sozialen nischen hineinfloss

nachdem die mauern brachlagen hineinfloss

das geld in die endlich freie welt hineinfloss

das geld floss und floss

und das gehämmer weltweit des marktes

erklang und glocken läuten und mehrere chöre jetzt

zum markt hin tragen sie ihre unschuld und

schreien

das goldene zeitalter oder wie alles begann

im ersten weltzeitalter

 

der markt expandiert in zeit und raum und zukunft

und natur und markt und noch nicht

hatte gefällt auf heimischen bergen die fichte

andere welt zu sehn sich gesenkt in die flüssigen wogen

 

andere jetzt die um hilfe rufen

die unfreiheit wird abgesägt zu tale

hinabgetragen die freiheit auf den transparenten

auf ewig festgenagelt eine kommende freiheit

und die wirklichkeit ein frohlockender münzschaum

 

geld floss in die politik hinein

geld floss aus den märkten heraus

über die ganze welt und nimmer verletzt

gab alles von selbst die gesegnete erde

und mit speisen zufrieden die zwanglos waren

gewachsen lasen sie arbutusfrucht erdbeeren

an sonniger halde oder am rauen gerank

brombeeren und rote cornellen

und von dem ästigen baume des iupiter fallende eicheln

 

und ein chor unter fallenden eicheln schreit dazwischen

das goldene zeitalter oder hinein floss das geld in die welt

überflutet die zeitalter löscht aus

fortissimo scheucht auf

die erinnerungen hetzt über die bühne die falschen töne

und irgendwo darin strample ich

schreit jetzt ein anderer chor

 

das goldene zeitalter oder

alles begann mit dem kautschuk

der aus den bäumen herausgeschnitten wurde

und den autos um die räder gespannt wurde

nach den segeln kamen die reifen

 

das goldene zeitalter oder

es hämmerte zusammen einer seine selbstverwirklichung

schreit ein chor

und ein anderer schreit zurück

kein land mehr in sicht vom bühnenrand aus

 

und herein brechen materialfluten

schwere große segel die hinabziehen

die glückssuchenden die exoten

die ausgestiegenen die vergessenen

es ziehen vorüber mehrere finanzkrisen

ein jahrhundert eine industrielle revolution

und das glück das versprochen wurde

treibt daneben her aufgedunsen

langsam zersetzt sich ein körper im meer

 

und daneben her in alphabetischer ordnung

mit dem gesicht nach unten wortlos

die werte der freien welt

 

und es ziehen vorüber die entdecker

der flexible urgummi der starre naturzustand

es zieht vorüber ein unentdeckter markt