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Ketil Bjørnstad

Emma
oder
Das Ende der Welt

Roman

Aus dem Norwegischen
von Gabriele Haefs und Kerstin Reimers

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Titel der norwegischen Originalausgabe:
Verdens ende
Copyright © 2012, H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard), AS
This publication of this translation has been made possible through
the financial support of NORLA,
Norwegian Literature Abroad.

Erste Auflage 2017
© Osburg Verlag Hamburg 2017
www.osburgverlag.de
Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
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ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-128-2
eISBN 978-3-95510-136-7

Für Fanny und Catharina

Wenn ich alt bin, werden wir mit dem Zug losfahren. So weit es nur geht. Werden aus dem Fenster Berge und Städte und Seen anschauen, werden mit Menschen aus fremden Ländern sprechen. Werden die ganze Zeit zusammen sein. Niemals ankommen.

Hanne Ørstavik: Kjærlighet

Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen, und das Leben den betrübten Herzen?

Buch Hiob 3,20

INHALT

PROLOG

TEIL 1

TEIL 2

TEIL 3

TEIL 4

TEIL 5

TEIL 6

TEIL 7

PROLOG

PROLOG

Im Traum habe ich keine Vorausahnung dessen, was bald geschehen wird. Es ist ein fast glücklicher Traum, belanglos und ungefährlich. Ich träume von Emma, die neben mir liegt. Es ist ein Traum ohne Stress, ohne Tränen und Mutlosigkeit, ohne Schule und Hausaufgaben und zu frühe Morgen. Wir sind an einem Strand, vielleicht an dem Strand auf Lanzarote, wo wir alle zusammen waren, vor zwei Jahren, ehe Hanne beschloss, in den Norden zu ziehen. Hanne hält meine Hand. Wir stehen im Sonnenuntergang und sehen Emma auf einem Pferdchen reiten. Das ist so klein, dass wir es fast nicht glauben können. Und dann kann es reden, genau wie die Tiere in den Animationsfilmen, die Emma liebt. Das Pferd hat den gleichen Mund wie das Zebra in »Madagascar«. Es spricht Spanisch, aber wir verstehen trotzdem, was es sagt. Und dann prusten wir los. Es sagt so viele komische Dinge. Wörter, die nur im Traum verständlich sind, nicht aber in wachem Zustand. Es läuft mit Emma auf dem Rücken umher und macht plötzlich Luftsprünge. Nun lacht Emma noch mehr. Sie lacht so, wie sie vor zwei Jahren gelacht hat. Das fröhliche Lachen, das nur sieben Jahre alte Mädchen haben können, kein Babylachen, kein Erwachsenenlachen, sondern genau dieses Mädchenlachen. Der Besitzer des Pferdes ist alt, aber freundlich. Er heißt José Saramago. Wir stecken ihm einen Euroschein zu. Er verbeugt sich tief, fast übertrieben. Und ich merke am Blick, den Hanne mir zuwirft, dass wir beide erleichtert sind, unsäglich erleichtert, jedenfalls für den Moment. Weil wir an einem goldenen Strand sind. Weil es in dieser Landschaft keine Jade gibt. Weil Emma lacht.

Als ich aufwache, fällt mein Blick sofort auf den digitalen Wecker, und ich höre die allerfrühesten Morgennachrichten im Radio. Es ist früh, viel zu früh, und Emma schläft. Das traurige Gefühl hat mich durch die Nacht begleitet, die Gewissheit, dass heute die Herbstferien beginnen und dass ich sie zu Hanne bringen werde, den ganzen Weg nach Sandnessjøen, ich werde sie abliefern und den Flughafen nicht einmal verlassen, sondern mit demselben Flugzeug zurückfliegen, denn so steht es jetzt zwischen Hanne und mir. Was Emma denkt, weiß ich nicht. Sie schläft noch, schläft wie aus Trotz, als ich jetzt das Radio lauter drehe, zum Klassiksender des NRK wechsle, nachdem ich mit einem Gefühl der Hoffnung registriert habe, dass es auf Gardermoen Nebel gibt und Flugreisende mit Verspätungen rechnen müssen. Aus dem Radio dröhnt eine Symphonie von Honegger. Aber die wütenden Bläser und die kreischenden Violinen können Emma nichts anhaben. Ich muss sie schütteln und sagen, jetzt, meine Kleine, jetzt fliegen wir bald, bis nach oben zu Mama.

Mama?, fragt sie, öffnet die Augen als Zeichen dafür, dass sie noch weiß, dass Ferien sind und sie nicht in die Schule muss. Freust du dich, mein Schatz? Ja, ich freu mich, Papa, sagt sie solidarisch, denn sie weiß, dass Hanne und ich das von ihr hören wollen, obwohl sie auch weiß, dass ich es eigentlich überhaupt nicht hören will.

Alles ist fertig gepackt. Ich merke sogar nach dem eiskalten Wasser, mit dem ich meine Morgendusche immer abschließe, dass ich am Vorabend zu lange aufgeblieben bin. Wegen der Arbeit, die ich immer mit nach Hause nehme. Tuvas Manuskript mit den letzten Korrekturen. Tuva Skrede. Die seit mehreren Jahren eine Freundin ist. Die langen Essen mit einem Buchmanuskript zwischen uns. Sie trinkt zu viel. Wir trinken zu viel, alle beide. Die vielen Geständnisse. Ihre Art, zuzuhören. Als wäre sie zugänglich, wenn ich wollte. Ein gefährlicher Gedanke. Ein hochmütiger Gedanke. Sie hat es doch geschafft, sich von ihrem Mann zu trennen, sich eine eigene Wohnung zu suchen, einen tragbaren Alarm zu bekommen.

Danach das Packen und die ewigen Überraschungen. Ich hatte vergessen, die Wollunterwäsche zu waschen, obwohl das ganz oben auf der Emma-Merkliste stand. Also muss ich es Hanne sagen, ihrer Mutter, dass Emmas hellblauer Koffer mit dem Tiger-Aufkleber aus »Pu der Bär« nicht vollständig ist, dass es gewisse Mängel gibt, die sie sofort bemerken und bei nächster Gelegenheit gegen mich verwenden wird, auch wenn die Situation unklar ist und es durchaus nicht feststeht, dass Emma im nächsten Jahr in den Norden ziehen wird.

Wir frühstücken in aller Eile. Emma protestiert nicht mehr, sie ist erst einmal mit dabei. Die grenzenlose Traurigkeit, die sie so oft streift, wenn sie zur Schule muss, ist an diesem Morgen verschwunden. Emma ist stets dann weniger einsam, wenn sie weiß, dass sie den ganzen Tag mit uns zusammensein wird und nicht die lange große Pause hindurch auf dem Schulhof herumirren muss ohne eine einzige Spielkameradin, was noch immer unerträglich ist und wogegen etwas unternommen werden muss, gegen das aber weder ich, noch die Lehrerin oder die anderen Eltern etwas unternehmen können. Die Ohnmacht, Aslak Timbereid zu sein, ein überarbeiteter Verlagslektor Mitte vierzig, zeitweise alleinerziehender Vater eines Mädchens, das mehr Hilfe und Unterstützung braucht als normal.

Und was ist normal?, überlege ich, während ich sie überrede, ihre Milch zu trinken, extra viel Marmelade ins Müsli rühre und sage, dass wir jetzt zum Flughafenzug müssen, weil das Auto in der Werkstatt ist und außerdem Nebel in Gardermoen.

Auch in Oslo ein nebliger Oktobermorgen, offenbar Verspätungen im Nahverkehr, überall in der Stadt heruntergefallene Oberleitungen. Die Freude darüber, dass immerhin der Flughafenzug fährt, da Hanne und ich nun einmal diesen Entschluss gefasst haben, die Freude darüber, dass ich mir noch immer die Wohnung in der Sorgenfrigate leisten kann, von der aus alles zu Fuß erreichbar ist. Emma ist von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, eine wandelnde Reklame für Hennes & Mauritz, abgesehen von den Schuhen, die ich in einem Augenblick der Schwäche bei Agnar Hagen gekauft habe. Sie ist reizend, ohne das selbst zu wissen, hat noch nicht dieses Bewusstsein, das viele andere Mädchen aus ihrer Klasse bereits haben, wenn sie sich verstohlen auf dem Schulhof umschauen und in einer Gemeinschaft zueinander streben, zu der Emma keinen Zutritt hat, aus welchem Grund auch immer. Ihre feste Hand in meiner, stehen wir auf der Rolltreppe hinunter zum Bahnhof Nationaltheatret, ihr mittelgroßer Koffer mit den vielen Winterkleidern, auch wenn die bestimmt zu warm sind. Der kleine hellblaue Rucksack mit den Blümchenaufklebern. Finden Sie fünf Fehler. Nein, finden Sie nur einen: Papa hat seinen eigenen Koffer nicht gepackt, um mit ihr gemeinsam zu reisen.

Aber er lässt sich nichts anmerken. Natürlich gebe ich ihr das Gefühl, das hier wäre gewollt, auch meinerseits. Sie darf auf keinen Fall durchschauen, wie es mir davor graust, sie herzugeben, wie ich Angst habe, wenn ich an Hannes wilde Einfälle denke. Bergtouren auf einen Gipfel der Sieben Schwestern? Steile Hänge, bei denen es Spaß macht, nach unten zu schauen? Ich habe mich nie auf sie verlassen. Deshalb vielleicht … Deshalb was? Ist sie gegangen? Das alles ist jetzt Vergangenheit. Auch an diesem Morgen, als ich hier mit meiner Tochter im Flughafenzug sitze, innerlich ganz krank, eine übertriebene Verzweiflung, alle diese Jahre mit dem Wein haben mein Nervensystem geschwächt, ich sehe das Schwere, ehe ich das Leichte sehe, so bin ich erzogen worden, es ist zudem meine Arbeit, die Schwächen zu finden, zu korrigieren. Finden Sie noch einmal fünf Fehler. Ich finde viel mehr. Und einer davon ist, dass ich, seit Emma da ist, nicht mehr allein sein kann. Wie soll diese Woche werden?, denke ich, als ich da im Zug sitze und die englischen Floskeln übersetze, die dauernd in ihrem Nintendo-Spiel auftauchen. Früher wäre eine Woche allein wie ein Traum gewesen. Später Abend im Verlag, Licht in einem einzigen Fenster, nur ich und der Nachtwächter, dann ein Abstecher ins Arcimboldo, der Treffpunkt von damals, ein Gespräch mit einem Autor, ein Rat, von dem ich weiß, dass er gut ist, die Wohnung für mich allein, das Notwendigste im Kühlschrank, vielleicht einige neue Versuche an dem Roman, der einmal erscheinen wird, der erscheinen muss. Aber jetzt? Ich werde sie jede Stunde des Tages vermissen. Werde sie physisch vermissen, ohne die Möglichkeit, hinter einem Pfosten bei der Schule zu stehen, sie zu beobachten und dafür zu sorgen, dass das Mobbing gegen sie nicht vom passiven und doch so aktiven Ausschluss in körperliche Bestrafungen umschlägt. Der bloße Gedanke ist eine Erinnerung daran, dass ich um ein Gespräch mit ihrer Klassenlehrerin bitten muss, um ihr zu erklären, dass gerade die Höflichkeit, die sie den Kindern einzuprägen versucht, Emma zu einer hilflosen Fragerin macht, die immer nur nein hört: Darf ich mitspielen? Bitte! Darf ich mitspielen? Das darf sie nie.

Sie starrt auf ihr Nintendo und merkt erst, als alle im Wagen aufstehen, dass wir am Flughafen angekommen sind. Der massive Morgenandrang. Der Schlafgeruch der Körper, die dich anstoßen, die auf der Rolltreppe zwei Stufen auf einmal nehmen müssen. Wir lassen uns treiben, Emma und ich. Sie mit der Hand fest in meiner. Warum passt das so gut zusammen, eine kleine Hand und eine große? Ihre dünnen, starken Finger. Wo ist das Flugzeug, Papa? Da, hinter der großen Glasscheibe. Der Nebel lichtet sich jetzt. Wieder das traurige Gefühl. Wir checken am Automaten ein, befolgen brav die Anweisungen der Fluggesellschaft. So wenig menschlicher Kontakt wie möglich. Ein junger Somalier nimmt Emmas hell-blauen Koffer entgegen und bittet uns, einen Finger auf die Fingerabdruckplatte zu legen, während er alle Daten aufsagt, die nach dem Abflug gelöscht werden. Emma findet das witzig, möchte den Fingerabdruck auf einem Bild sehen, aber es gibt kein Bild. Die Schlange hinter uns ist lang. Ich ziehe sie weiter zur Sicherheitskontrolle. Als wir die Schranke für die Leute mit den goldenen Karten passieren wollen, höre ich jemanden meinen Namen rufen. Emma zuckt heftiger zusammen als ich. Ich folge ihrem Blick. Sie starrt Jade an. Jades Mutter hat gerufen. Linn Beate Strømme. Aber Emma und ich sehen nur die Königin der 4c. Warum ausgerechnet jetzt, denke ich. Emmas unsicherer Gesichtsausdruck. Sie weiß nicht, wohin sie blicken soll. Sie ist neun Jahre alt und kindlich für ihr Alter. Jade ist immer höflich, wenn Erwachsene in der Nähe sind. Hallo, Emma. Was habt ihr denn für Pläne? Menschen, die mitten in der Menge die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, haben immer Pläne. Beim letzten Elternabend hat sie gesagt, sie spiele mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben. Sie glaubte, ich würde interessiert zuhören. Sie hatte keine Ahnung davon, was ihre Tochter in der Schule trieb.

Ach, was sind sie beide schön! Jade in ihrer teuren blanken Daunenjacke. Aber die Schönen haben sich nichts zu sagen. Ich ziehe Emma weiter. Die beiden wollen nach Nizza. Wir wollen nach Sandnessjøen. Die lange Schlange vor der Sicherheitskontrolle. Ich frage Emma nach Jade aus. Hat sie noch mehr hässliche Dinge gesagt? Ja, hässliche Dinge. Dass ich die Hässlichste bin, hat sie gesagt. Die knöpfe ich mir vor, sage ich, während ich zur Express-Kontrolle hinüberschaue, wo die Familie wie dickes glänzendes Öl weitergleitet. Der Spekulant Jan Fredrik Strømme und seine kleine Familie. Die gewaltige Steinvilla in Fagerborg, wo Jade für die Auserwählten Hof hält. Lenzpumpen, denke ich. Ölschutz. Die heftige Wut. Emma weiß davon. Es gefällt ihr.

Eines Tages werde ich sie in Fetzen schütteln.

Das weiß ich, Papa.

Der Nebel, der sich lichtet. Das Fehlen von Erleichterung. Verreisen zu müssen, ohne das zu wollen. Sie dahin zu begleiten, wo ich keine Kontrolle mehr habe. Der Norwegian-Flug nach Trondheim. Die allerbilligsten Tickets. Der Trønderakzent überall um den Ausgang. Ich hab Hunger, Papa. Im Flugzeug können wir Pringles kaufen, Emma. Auch Schokolade? Du kriegst alles, was du willst. Sie begreift nicht, was zwischen Hanne und mir passiert ist. Sie hat mit ihrer eigenen brutalen Welt genug. Sie versucht, es zu akzeptieren. An jedem einzelnen Tag versucht sie es. Ich kenne keine, die tapferer ist. Zur Schule gehen zu müssen, ihre Rolle zu spielen, akzeptieren zu müssen. Wir gehen an Bord. Meine Fresse! Kuck doch mal! Die Sonne geht auf!

Und ich weiß noch nicht, dass ich an diese Morgenstunden, diesen Oktobertag des Jahres 2010 immer wieder denken werde. Ich helfe ihr aus ihrem Dufflecoat, lege ihn zusammen mit meiner Jacke ins Gepäckfach. Dann schiebe ich ihren Rucksack und meine Schultertasche mit zwei Manuskripten von ganz neuen Autoren unter den Sitz vor mir. Kann ich auf deinen Schoß, Papa? Ich schüttle den Kopf, darf nicht laut sagen, dass ich sie verstehe. Sie hat den mittleren Platz. Der Junge am Fenster auf der anderen Seite schüttelt sich, ihm ist noch nicht gesagt worden, seinen MP3-Player auszuschalten. Aber wir können den Platz tauschen, Emma. Sie schaut dankbar zu mir hoch.

Wir zählen den Countdown, wie in »Kleine Einsteins«. Emma will schon starten, noch ehe wir die Rollbahn erreicht haben. Zehn neun acht sieben. Sechseinhalb. Sechs … fünf vier drei zwei eins: Start! Geschafft. Das Flugzeug hebt ab, genau bei eins. Wir wechseln zufriedene Blicke und klatschen in die Hände. Schon sind wir oben im Sonnenschein. Der Kapitän über Lautsprecher. Ein Schwede. Bei Schweden weiß man nie. Außerdem ist er jung. Ich habe ihn beim Einsteigen durch das Cockpitfenster gesehen. Gute Flugverhältnisse, sagt er. Aber starker Wind in Trondheim. Wird das dann so wackel-wackel, Papa? Vielleicht, sage ich lächelnd. Aber vergiss nicht, der Wind ist doch der beste Freund des Flugzeugs.

Wir spielen mit winzigen Karten Mau-Mau, und Emma gewinnt immer wieder. Bei jedem Sieg stärkt sie sich mit einem Pringles. Als wir fertig sind, trinkt sie den Apfelsaft, den ich für sie gekauft habe, mit beiden Händen hält sie das Glas. Die starken kleinen Finger. Der kleine Kopf mit den funkelnden blauen Augen. Ihr Bewusstsein. Dass sie ein Kind ist. Dass sie jemanden braucht, der auf sie aufpasst. Ich passe auf sie auf. Die Schule hingegen passt nicht auf sie auf. In der Schule irrt sie umher ohne jemanden, der mit ihr spielt, jemanden, der sie sieht. Sie stellt sich in die Schlange vor der Schaukel, und wenn sie an der Reihe ist, kommen Jade oder eine von ihren Hofdamen und sagen, sie seien jetzt an der Reihe, Emma müsse sich hinten anstellen. Tag für Tag dasselbe Ritual. Tag für Tag diese Tränen, die aus ihren Augen springen wie kleine blanke Perlen. Da drinnen wimmelt es nur so von Tränen. Jetzt ist Jade nicht mehr in ihrem Kopf. Das kann ich sehen. An ihrem Lächeln. Sie weiß, dass ich sie niemals nach hinten schicken werde, wenn sie vorn steht. Bei mir ist sie Königin. Sie freut sich. Sie freut sich auf diese Ferien, seit im August die Schule angefangen hat.

Keine Angst, Emma. Das ist nur der Bergkönig, der gegen das Flugzeug pustet. Aber Emma hat keine Angst. Papa hat Angst. Es kommt mir vor, als ob das Flugzeug bei der letzten Wendung hundert Meter absackt, ehe das Fahrgestell ausgefahren wird. Hinter uns schnappt jemand nach Luft. Wie wird es dem kleinen Flugzeug weiter oben an der Küste von Helgeland ergehen? Sofort stellt sich die wilde Hoffnung ein, dass der Flug eingestellt wird. Dass ich sagen kann: Das geht wohl doch nicht, Herzchen. Lass uns lieber nach Kopenhagen fliegen. Mama können wir auch später noch besuchen.

Aber das geht ja nicht. Wenn wir mit heiler Haut bis Trondheim kommen, dann fährt ein Zug weiter hoch nach Helgeland. Wir können uns nicht drücken. Emma will das auch nicht. Mama war jetzt lange genug weg. Deshalb will sie zu Mama. Liebe Mama, die fern und krank ist und fast nie mehr anruft. Und wenn sie anruft, dann sind es die nahezu hysterischen Gespräche, die wilden Vorschläge, dass sie mit Emma zusammen nach New York fahren wird, wenn sie nur erst mit ihrem Buch fertig ist, dem verdammten Buch, von dem Emma rein gar nichts begreift. Ich habe die Ahnung, dass es von Hanne handelt, denn so ist die Literatur geworden, und ich weiß das besser als alle anderen: Seht mich! Seht mich! Aber ich sehe nur Emma, die den Rucksack voller Geschenke für ihre Mama hat, für die empfindsame Hanne Lovund, die immer Aufmerksamkeit braucht, viel Aufmerksamkeit. Emma hat in den Kunst- und Werkstunden Dinge gebastelt, die ihr selbst peinlich sind, die sie aber trotzdem mit einer Hartnäckigkeit herstellt, die ich bewundere und die sie von Hanne hat, nicht von mir. Ein Brettchen für Butterbrote, einen Tischschmuck, der möglicherweise einen Wichtel darstellen soll oder eine Kienwurzel. Dussel, nennt sie sich, wenn sie aus der Schule kommt und mir diese Dinge zeigt. Und dennoch will sie sie Mama schenken. Vielleicht, weil sie sonst nichts hat. Das einzige Sichtbare in allem Unsichtbaren. Dussel, Dussel, Dussel. Sag das nicht, sage ich. Bitte. Du bist eine Königin, Emma. Jade ist eine Königin, erwidert sie.

Wir landen in Værnes. Der Wind ist der beste Freund des Flugzeugs. So ist es immer, denke ich. Wenn es am heftigsten weht, spürt man die Landung fast nicht, als ob Kapitän oder Steuermann genau aufpassen, die Windströmungen kennen und das Flugzeug mit voller Kontrolle aufsetzen lassen können. Emma und ich zählen wieder den Countdown, auch wenn das in »Kleine Einsteins« nicht passiert. Zehn neun acht sieben sechs fünf … Wir landen schon bei vier, aber so behutsam, dass Emma es nicht merkt. Wir sind unten, Emma, sage ich. Wirklich, Papa? Sie starrt mich an, fast traurig. Du hast gewonnen, sage ich. Du hast angefangen zu zählen. Du warst zuerst fertig, weißt du.

Sowie wir das Flughafengebäude betreten, sehe ich, dass der Widerøeflug nach Namsos gestrichen ist. Aber WF 702 nach Brønnøysund, Sandnessjøen und weiter nach Bodø ist noch immer angezeigt. Ich packe Emmas Hand und frage eine junge Frau in Flughafenuniform, warum ein Flug nach Sandnessjøen geht, wenn der nach Namsos gestrichen ist. Weil das Unwetter in Nord-Trøndelag ist, antwortet sie mit der arroganten Selbstverständlichkeit, zu der nur junge Damen imstande sind.

Ich beruhige mich damit, dass es ja nicht so weit ist bis Sandnessjøen. Aber das Leben hat mich gelehrt, dass es sinnlos ist, etwas vorauszusagen, und Emma will einen Smoothie. Wir gehen zu dem Tresen, wo Smoothies und Wein verkauft werden. Smoothie für Emma und Wein für mich. Vielleicht habe ich Flughäfen deshalb einmal geliebt. Keine Einschränkungen, keine Regeln dafür, was zu welcher Tageszeit korrekt ist. Aber der Wein wird im Stehen getrunken. Schlechter Papa. Schlechtes Gewissen. Wir müssen bald an Bord. Das Dash-Flugzeug von Widerøe wartet schon auf uns. Ein einziges Flugzeug. Noch bin ich nicht in Alarmzustand. Ich habe viel schlimmere Landungen erlebt als die von vorhin. Ich habe in alten Twin Otters gesessen, die in Evenes seitwärts auf die Landebahn zugeflogen sind und sich in letzter Sekunde um fünfundvierzig Grad drehten. So etwas passiert in Norwegen die ganze Zeit, warum sollte ich mir also Sorgen machen?

Ist das unser Flugzeug, Papa? Ja, mein Kind. Aber warum hat das Propeller? Früher hatten alle Flugzeuge Propeller. Das ist also ein altes Flugzeug? Nein, das ist neu, und es ist besonders gut, denn es kann auf sehr kurzen Rollbahnen landen. Wohnt Mama an einer Rollbahn? Nein, sie wohnt draußen am Meer. Draußen bei Alstahaug. Bei dem dichtenden Pastor, fast. Dem mit dem Kabeljau. Mit der Trompete des Nordlandes. Warst du lange nicht mehr da?

Doch, sie war dort. Viele Male. Als Hanne auf der anderen Seite der Krankheit war, die sie nicht Krankheit nennen wollte. Sie hatte meine Unterstützung, bis mir der Ernst der Lage aufging. Denn es war keine Krankheit, mitten im Winter barfuß durch die Sorgenfrigate zu laufen. Keine Krankheit, ununterbrochen an den gesamten Freundeskreis Mails zu schicken, mitten in der Nacht, um von der Rezension in Politiken zu erzählen oder mitzuteilen, das Leben sei schrecklich, niemand verstehe sie, Tag und Nacht überwache jemand, was sie schrieb, vielleicht werde die Wohnung abgehört wie bei Storækre und Treholt, alle müssten den letzten Film von Sofia Coppola sehen, im Iran gebe es einen Gefangenen aus Gewissensgründen, für dessen Freilassung sich alle, die fast hundert allerliebsten und vertrautesten Freunde, einsetzen müssten, und zwar sofort. Nein, es war keine Krankheit, dass sie Emma eine Zeit lang jeden Tag zur Schule brachte, aus Angst, die amerikanischen Agenten an der Ecke von Kirkevei und Suhmsgate könnten ihre Tochter kidnappen und den Verzicht auf ihr väterliches Erbe verlangen, die kleinen Schären vor Alstahaug, damit Obama, denn so war er eben, dort ein alternatives Guantanamo errichten könnte, mit eigenem Flugplatz für Kriegsgefangene.

Aber es war eine Krankheit, dass sie Emma plötzlich tagelang in die Wohnung sperren und nicht in die Schule lassen wollte, weil dort Agenten lauerten, um dann in der Woche darauf wie ausgewechselt zu sein und Emma allein in die Schule zu schicken, wie sie das schon in der ersten Klasse von ihrer Tochter verlangt hatte.

Über das alles habe ich nicht mit Emma gesprochen. Niemals. Mama ist so komisch, Papa. Ja, vielleicht, aber die Welt braucht komische Menschen. Denk daran, dass Mama Leser hat, dass auch Menschen in anderen Ländern sie lieben. Niemand ist wie Mama, weißt du.

Nein, niemand ist wie sie, Papa. Niemand neben ihr, niemand über ihr.

Wer hat das gesagt?

Mama natürlich.

Mama. Hanne. Hanne-Mama. Als ob ich noch immer nicht verstehen könnte, dass wir so fertig miteinander sind, wie wir das eben sind. Wir auch. Wie so viele der Eltern in Emmas Klasse, die sich scheiden lassen. Riesige Wohnung, geschaffen für Zweisamkeit, Mehrsamkeit, Drei-, Vier- und Fünfsamkeit. Emma, die aus der Schule nach Hause kommt und fragt: Weißt du, dass Lines Eltern sich scheiden lassen? Die Eltern von Jens. Nur die Eltern von Jade lassen sich nicht scheiden. Sie wissen, dass sich das nicht lohnt.

Wir gehen auf das Flugzeug zu. Für diese kleinen Kurzbahnflugzeuge gibt es kein geschlossenes Gate. Sowie wir nach draußen kommen, spüren wir den Wind. Schau mal, Papa, ich kann fliegen! Emma hebt die Hände und der Wind wirft sie fast um. Das wird lustig, Liebes. Ja, lustig! Können wir auf und ab fliegen? Warum nicht? Frag den Kapitän. Die Kapitänin, da ist sie! Schau mal, ein Mädchen, Papa! Können Frauen wirklich fliegen? Natürlich können Frauen fliegen. Aber sie sitzt rechts. Also ist sie Copilotin. Zweiter Steuermann, so nennt sich das. Ich versuche, es Emma zu erklären. Sie ist nicht Kapitänin. Sie ist Copilotin, Zweite Steuerfrau oder wie immer das heißt. Für Emma spielt das keine Rolle. Die Frau hat lange, blonde, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare. Sie dreht sich um und lächelt uns kurz zu, lächelt besonders Emma zu. Wollen wir jetzt ein bisschen schaukeln? Sicher. Der Kapitän ist in seine Unterlagen vertieft, aber er lächelt ebenfalls. Sie sind so jung, denke ich. Der Kapitän hat Ähnlichkeit mit Storberget, unserem Justizminister. Die Copilotin ähnelt der jungen Sportreporterin von TV 2. Beide haben etwas Gesundes und Norwegisches an sich. Sie sind wie geschaffen dazu, diese Maschine die Küste von Helgeland hochzufliegen. Wir setzen uns in eine zweisitzige Reihe gleich beim Propeller. Emma will ans Fenster. Der Kapitän teilt über Lautsprecher mit, dass er Kaare Elias Nordvik heißt. Abgeschliffener Finnmarksakzent. Der sympathische, ein bisschen feminine Purser heißt offenbar Jon Arne, doch wer uns heute nach Bodø fliegen wird, das ist Cecilie Nesflaten, sagt der Kapitän. Fliegt denn der Kapitän nicht?, fragt Emma. Die teilen das zwischen sich auf, sage ich. Er fliegt dann bestimmt zurück. Wenn wir ausgestiegen sind? Ich nicke. Emma ist in dem Alter, in dem man fast alles hinnimmt. Sie hat vergessen, dass ich nach Oslo zurückfliegen werde. Der Kapitän redet jetzt über das Wetter. Am Anfang kann es ein bisschen schaukeln, aber je weiter wir nach Norden kommen, umso ruhiger wird es dann. Jetzt spüre ich die Anspannung. Sie hätte sich nicht eingestellt, wenn nicht Emma neben mir säße. Aber Emma ist furchtlos, starrt fasziniert den einen Propeller an, der sich in Bewegung setzt, schneller und schneller, bis am Ende das ganze Flugzeug bebt. Ein Küchenmixer!, sagt Emma entzückt. Wir sitzen mitten in einem Küchenmixer. Um uns herum lächeln die Fluggäste über ihre lautstarke Freude. In diesem Flugzeug herrscht eine andere Stimmung. Mehr Leute aus dem Norden. Weniger aus Trøndelag. Die familiäre Art, in der die Leute aus den nördlichen Bezirken immer miteinander reden. Vor den Fenstern funkelt die Sonne. Sturm aus heiterem Himmel. Wenn ich jünger wäre, würde mir das gefallen. Als das Flugzeug auf die Landebahn rollt, merke ich, wie der Wind den Flugzeugrumpf erfasst. Die Tür zum Cockpit steht offen. Ich kann den linken Arm der Copilotin sehen. Sie hat die Uniformjacke ausgezogen. Sitzt da in einem weißen, kurzärmligen Hemd. Ich kann den weißen Flaum sehen und auch die Sehnen und Muskeln, die verraten, dass sie sich in Form hält. Wir sind jetzt draußen auf der Rollbahn. Emma fängt an zu zählen. Zehn neun acht. Cecilie Nesflaten schiebt die Steuerknüppel zwischen sich und dem Kapitän weit nach vorn. Noch mehr Küchenmixer!, sagt Emma begeistert. Das Flugzeug wird schneller. Sieben sechs fünf. Meine Güte, wir haben ja schon abgehoben. Sicher, das Flugzeug kann kaum vorwärts fahren, es geht nur aufwärts. Nach vielen Metern sind wir noch immer in der Nähe der Rollbahn. Dann sackt das Flugzeug mehrere Meter ab, schießt zur Seite. Einige schnappen nach Luft. Emma jubelt. Das ist witzig, Papa. Sicher, sage ich, jetzt erleben wir ordentlich was. Ein noch tieferer Fall. Der ganze Flugzeugrumpf seufzt, als wir uns gefangen haben. Das hat etwas mit Warmluft und Kaltluft zu tun, denke ich wie um mich selbst zu beruhigen. Sie darf nicht sehen, dass ich Angst habe. Natürlich habe ich keine Angst.

Oben in Flughöhe ist es ruhiger. Jon Arne kommt mit dem Servierwagen. Emma möchte Pringles und Polarbrot. Ich kaufe beides. Hanne war immer wütend über meine Nachgiebigkeit. Denkst du nie daran, was für sie gut ist?, fauchte sie. Wir fliegen über Snåsavannet und gewaltige Wälder. Immer hundertprozentig im Jetzt anwesend, kaut Emma, schmatzt und findet alles wunderbar. Willst du mal, Papa? Sie schiebt mir Pringles in den Mund. Ich spüre den Sog, den Nordnorwegensog, ich will aus dem Flugzeug aussteigen, so, wie Emma das tun wird. Ich will auch dabei sein. Wir haben doch gemeinsam mit diesem Projekt begonnen, Hanne, Emma und ich. Etwas ist unterwegs schiefgegangen, aber ich weiß noch immer nicht, was. Verweigere mich den Gedanken. Den Klagen. Dem Gejammer. So viele Frauenfeinde wollen sich selbst als den Schuldlosen sehen. Hanne ist eine Seherin. Sie hat vielleicht etwas gesehen, das ich nicht begriffen habe.

In der Kabine macht es pling, und nun sitzt Jon Arne auf dem Mannschaftssitz ganz vorn vor der Wand zum Cockpit und spricht per Mikrofon zu uns. Er sagt, dass wir uns Brønnøysund nähern, und bittet uns, die Sitze geradezustellen und die Tische hochzuklappen. Während wir an Höhe verlieren, merke ich, wie der Wind das Flugzeug von hinten erfasst und es plötzlich auf eine Welle hebt, die nicht trägt. Nun hat das Dash-Flugzeug Schlagseite, und jemand schreit. Ich nehme Emmas Hand und konzentriere mich darauf, durch die offene Tür ins Cockpit zu schauen. Cecilie Nesflaten hat den linken Arm ausgestreckt zum Kontrollpult unter der Decke zwischen sich und dem Kapitän. Sie und der Kapitän wirken vollkommen unbeeinflusst von Wind und Turbulenzen. Sie schütteln sich schon seit vielen Jahren durch das Leben. Aber ich sehe, dass Nesflaten jetzt hellwach ist. Ich schließe für einige Sekunden die Augen und denke an eine alte Reportage auf Discovery, über Flieger, die solche Turbopropmaschinen durch die Anden flogen. Sie gaben zu, dass sie nach Landungen mit viel Wind schweißnass waren. Jetzt ist viel Wind.

Das Flugzeug nimmt einen überraschenden Bogen zum Meer hin. Nun sehe ich Torghatten, den Berg mit dem Loch in der Mitte. Ich denke an das Dash-Flugzeug, das in den achtziger Jahren an dieser Felswand zerschellt ist. Keine technische Ursache. Falsch navigiert, fehlende Konzentration. Der Berg in einer Sekunde in einen Naturfriedhof verwandelt. Aber das akzeptieren wir. Die mehreren Hundert, die jedes Jahr auf den Straßen ums Leben kommen. Eine Twin Otter, die ohne Vorwarnung ins Meer fällt, wie damals bei Mehamn. Eine Fokker, die die Baumwipfel der Wälder bei Asker streift. Es passiert, aber es passiert nicht uns, denke ich. Uns passiert es nie. Wir sind die ewigen Zuschauer. Wir sind dazu geschaffen, die Sondersendungen im Fernsehen zu verfolgen. Wir sterben nicht. Aber wir gewinnen auch nie im Lotto.

Sie hat das Flugzeug voll unter Kontrolle. Cecilie Nesflaten. Ein Name, der in einen Roman gehört, denke ich. Vielleicht werde ich ihn Hanne oder Tuva gegenüber erwähnen. Jetzt ist die Rollbahn plötzlich genau vor dem Fenster, wie in alten Zeiten, bei den schlimmsten Stürmen. Ich starre Jon Arne an. Sein Rücken klebt an der Wand, und er schaut ruhig vor sich hin. Er ist doch daran gewöhnt. Jeden Tag fünf Landungen. Vielleicht, weil er sieht, dass ich ängstlich bin, zwinkert er mir zu. Ich sehe, dass im Cockpit Kapitän und Copilotin einen Blick wechseln. Ich sehe die Lichter der Instrumente am Armaturenbrett. Eine plötzliche Kurve, dann sackt das Flugzeug viele Meter ab und trifft mit hörbarem Knall auf der Rollbahn auf. Ich kann es nicht fassen, dass das Fahrgestell nicht beschädigt wird, aber die Räder rollen und die Motoren dröhnen auf.

Küchenmixer, Papa!

Ja, Küchenmixer, sage ich.

Ich höre Lachen, ein kräftiger Kaufmannstyp auf der anderen Seite des Mittelgangs macht Jon Arne gegenüber eine scherzhafte Bemerkung. Ich bin der Letzte, der solche Scherze mitbekommt. Ich höre nie zu, wenn es nicht unbedingt sein muss. Sagt Hanne. Emma isst noch immer Pringles. Ihr Profil. Die zufriedene Miene. Das nichtsahnende Puppengesicht mit der perfekten Haut, die schönen Augenbrauen, die nackte, wehrlose Stirn. In meine Erinnerung eingebrannt, in alle Ewigkeit.

Im Cockpit drehen sich beide um, um zu sehen, wie wir die Landung überstanden haben. Kaare Elias Nordvik. Ich höre nicht zu, aber Namen vergesse ich nie. Sie sind wie Bindfäden, wie das Geschenkband um ein Paket. Sie enthalten immer eine Geschichte. Hanne hat gesagt, ich sei für Geschichten geschaffen, nicht für Geplauder. Vielleicht war das sogar als Kompliment gemeint.

Alles in Ordnung da hinten? Niemand hat Angst gehabt?

Gemurmel und Beteuerungen. Natürlich nicht. Der Kaufmann erzählt einen Witz. Später habe ich so oft versucht, mich an diesen Witz zu erinnern.

Es ist weniger als eine Stunde. Es geht nur um Minuten. Warum sollte das so wichtig sein? Wir erinnern uns nicht an den Anfang des Lebens. Wir erinnern uns nicht, dass wir geweint haben. Warum ist es wichtig, sich an die allerletzte Zeit zu erinnern? Wer stirbt, legt darauf bestimmt kein weiteres Gewicht. Wer stirbt, erinnert sich meistens an Dinge, die weit zurückliegen. Kindheit. Wie der Krisenpsychologe später sagen wird: Vielleicht können sich auch Kinder weit zurückerinnern, bis hinein in den Mutterleib.

Was ist mit dem Vater?, dachte ich.

Aber das sagte ich nicht.

Die, die ausstiegen. Die, die einstiegen. Die meisten stiegen aus. Die Wenigsten stiegen ein. Ein plötzlicher Blackout. Aber dann weiß ich es doch wieder: Die Copilotin sieht mich an, während sie auf ihrem Stuhl sitzen bleibt. Sie spricht mit mir. Freundlich. Beruhigend. Wie viele Kurse haben sie gemacht? Wie viele ängstliche Reisende haben sie getröstet? Es war eine harte Landung, sagt sie. Aber in Sandnessjøen wird es besser gehen. Das Zentrum des Sturms liegt jetzt südlich von uns.

Es war also ein Sturm? Ich kann nicht weiter darüber nachdenken. Ich sehe, dass Emma nicht mehr so munter ist. Sie hat Pringles und Polarbrot aufgegessen. Und vielleicht ist nicht das ihr Problem. Ist ihr eingefallen, dass ich mit diesem Flugzeug zurückfliegen werde? Etwas macht ihr jedenfalls zu schaffen. Daumen im Mund. Nicht um zu quengeln, sondern um zu beißen. Genau wie Papa. Der kaut jetzt an den Nägeln.

Ist alles in Ordnung?

Ich weiß, dass du nicht bei uns sein wirst. Das finde ich traurig. Ich möchte weinen.

Aber ich komme dich dann abholen.

Wirklich? Sie überlegt, als ob sie mit dieser Möglichkeit nicht gerechnet hätte. Die vielen Zickzacksprünge in ihrem Gehirn. Sie sieht mich an und lächelt.

Tausend Dank, Papa.

Diese Gespräche mit plötzlichen Wendungen. Wörter. Assoziationen. Man könnte bei Kleopatra anfangen und bei Lady Gaga enden. Sie war neun Jahre alt. Sie ist neun Jahre alt, als sie im Flugzeug sitzt und drei Menschen einsteigen sieht. Es ist jetzt viel mehr Platz. Das Flugzeug ist leichter. Ein Fluggast ist gebeten worden, sich nach ganz hinten zu setzen. Warum, fragt Emma. Cecilie Nesflaten erhebt sich im Cockpit und kommt nach hinten zu uns. Sie redet gern. Sie sieht Emma an, während sie sich davon überzeugt, dass Emmas Sicherheitsgurt geschlossen ist. Ich kenne diesen Blick. Eine Frau von Mitte dreißig mit viel Selbstvertrauen. Die neue Generation, die Medien, Politik, Wirtschaft erobert. Die nicht weiß, wer Erik Bye war. Der es auch egal ist, dass sie es nicht weiß. Bei der ich mich alt fühle, obwohl ich noch keine fünfzig bin. Ich sehe ihre Hände an. Kein Trauring. Die neue Selbstständigkeit. Die, die im allerletzten Augenblick schwanger werden. Sie ist von ihrer Arbeit besessen. Vielleicht ist das ihre Art, wie sie gesehen werden will. Noch einige wenige Jahre, dann ist sie Kapitän. Sie wird nicht vorher aufhören. Sie wird die allergrößten Airbus- und Boeing-Maschinen fliegen. Bald wird sie in Singapur stationiert sein und für die besten Fluggesellschaften der Welt fliegen. Sie wird in norwegischen Fernsehsendungen auftreten und die sprichwörtliche Fliegerin sein, wie das in ihrer Kindheit Turi Widerøe war. Bald wird sie zusammen mit dem Koch Eivind Hellstrøm vor der Kamera stehen und den Norwegern erklären, warum Zander der beste Fisch der Welt ist. Sie ist eine Jet-Frau, nicht geschaffen für Turbopropmaschinen. Es sei denn, es handelt sich um alte Twin Otters, die jetzt vor allem eingesetzt werden, um Menschen zum Südpol zu bringen. Sie ist die Antwort dieses noch neuen Jahrtausends auf Amelia Earhart. Die Fliegerin, die 1937 versuchte, einmal um die Welt zu fliegen, und über dem Pazifik spurlos verschwand. Jetzt erklärt sie Emma, dass hinten im Flugzeug mehr Gewicht sein muss. Sie glaubt, dass Emma das verstanden hat. Sie sieht nicht, dass auch Emma Angst bekommt, wenn von der Routine abgewichen wird, wenn man nicht mehr da sitzen darf, wo man will.

Ist das gefährlich?

Natürlich ist das nicht gefährlich. Es ist nur zur Sicherheit. Wir machen das in diesen Maschinen eben so. Und jetzt wird es lustig. Es geht wieder in die Luft!

Cecilie Nesflaten dreht einen Schalter und lässt den einen Motor an. Wieder der Küchenmixer. Aber Emma wirkt nicht so fröhlich wie bisher. Bald hat der Flug ein Ende. Bald werde ich in ihrem Leben den Platz mit Hanne tauschen. Macht sie sich deshalb große Sorgen? In den schlimmsten Zeiten habe ich eine Kinderpsychologin angerufen, die zwei Bücher in meinem Verlag veröffentlicht hatte und die mir einige Male in der Kantine begegnet war. Sie redete wie ein Wasserfall, ohne sich genauer nach Hanne und Emma zu erkundigen. Alle Antworten waren in ihrem Kopf, egal, wie die Welt draußen aussah. Sie hatte studiert. Wusste diese Dinge. Wusste, dass Kinder in diesem Alter ihren Eltern starke Loyalität entgegenbringen. Dass sie immer versuchen werden, das, was die Eltern getan haben, zu verschweigen und zu vertuschen, auch wenn sie wissen, dass es nicht richtig war. Was an Hanne war nicht richtig? War es nicht richtig, dass sie manisch depressiv war und das selbst nicht begriff? War es nicht richtig, dass sie in ihrer eigenen Welt allen Platz einnahm?

Ich sitze im Flugzeug und denke daran. Eine plötzliche Offenbarung. Wenn Emma mit Hanne zusammen ist, ist kein Platz für Emma. Hanne füllt den Raum. Selbst wenn Hanne die liebe Mutter sein will, wenn sie Pfannkuchen backen und spielen will, ist kein Platz für Emma. Es ist nur Platz für Hanne, die die liebe Mutter sein will. Liebe Mutter zu sein erfordert einen großen Kraftaufwand. Viele Gedanken. Allerlei Opfer, später aber tiefe Zufriedenheit. Mein Triumph Emma gegenüber: Ich habe mich für dich entschieden, statt mein neues Buch zu schreiben. Freust du dich nicht?

Und gerade als das Flugzeug abhebt, gestehe ich mir zum ersten Mal diese Gefühle ein, die ich Hanne entgegenbringe und die an Hass erinnern. Vielleicht ist es ja Hass, denke ich. Wäre es dann so schwer, das mir selbst gegenüber zuzugeben? Es ist nicht der Hass des Misogynen, weil sie eine Frau ist. Sondern der Hass auf eine, die allen Platz auf der Welt einnehmen muss. Wie Jade allen Platz auf dem Schulhof einnehmen muss, versucht sie, allen Platz in der Literatur einzunehmen. Allen Platz einzunehmen, ob sie nun gesund ist oder krank, manisch oder depressiv. Sie, sie, sie. Ich, ich, ich. Und diese total selbstfixierte Autorin und Mutter eines Kindes, Hanne Lovund, ist es also, deren Wunsch ich hier erfülle, denke ich, indem ich im Flugzeug sitze, absolut freiwillig, damit unsere Tochter eine Woche mit ihr zusammen verbringen kann. Ich hätte das ja nicht tun müssen. Sie hätte auch nach Oslo fliegen können, um Emma abzuholen. Aber dazu hatte sie kein Geld und keine Kraft. Sie schrieb an einem neuen Buch. Gleichzeitig wollte sie mit ihrer Tochter zusammensein. Sie fragte, bat, flehte. Könnte ich sie dieses eine Mal nicht holen und bringen? Ich sagte zu und dachte an den Kampf um das Sorgerecht, der vor uns lag. Den Kampf, von dem ich fast sicher war, dass ich ihn aufgrund ihrer Krankengeschichte gewinnen würde, nur hatte mich mein Anwalt davor gewarnt, wie selbstverständlich davon auszugehen.

Nun ist die Vorahnung wieder da. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Wir sind hoch in der Luft, aber ich will nach unten. Ich will umkehren. Die Windstöße sind jetzt noch stärker. Das Flugzeug bebt und sackt ab, steigt und sackt wieder ab. Wie eine Möwe. Wie ein Drachen. Sie haben gesagt, dass es besser wird, denke ich. Aber es wird ja schlimmer. Was wissen die denn? Wie sicher sind die? Ist es überhaupt zu verantworten, bei solchem Wetter mit Passagieren zu fliegen? Diese Transporthölle, die norwegische Küste genannt wird. Wer hat befohlen, dass wir immer ans Ziel kommen müssen? Schwitzen sie jetzt, die beiden da vorn im Cockpit, wie die bei Discovery es gesagt haben? Ich sehe Emma an. Sie spürt, dass ich unruhig bin.

Stimmt was nicht, Papa?

Nicht doch, antworte ich.

Kein Servierwagen. Die Flugzeit ist zu kurz. Da sehe ich schon die Sieben Schwestern. Gleißende Sonne. Scharf. Weiße Wellen auf dem Meer. Die flachen Inseln mit den plötzlichen Bergen, Vega, Dønna, Lovund. Hanne, die Lovund heißt, die aber auf Alstahaug wohnt.

Diese Natur … mein Magen scheint sich umzustülpen. Eine plötzliche Furcht, an der Grenze zur Todesangst … ist das Schönste, das ich kenne.

Das Schönste, das du kennst, Papa?

Ja.

Aber warum wohnst du dann nicht hier, zusammen mit Mama?

Weil Mama nicht will, sage ich.

Das habe ich noch nie gesagt. Ich breche ein Tabu, den geheimen Pakt zwischen Hanne und mir. Sie soll es nicht wissen. Jetzt weiß sie es.

Aber sie reagiert nicht darauf. Auch die anderen in der Kabine zeigen jetzt ihre Angst. Ich sehe plötzlich durch das Fenster den Flugplatz, Stokka. Wir sind nur noch einen Kilometer davon entfernt. Der Kaufmann schaut für einen Moment aus dem Fenster und hinunter auf die Wellen. Dann beugt er sich zu mir herüber und sagt leise, als ob wir ein Geheimnis teilten:

Aber das ist doch nicht Südwesten. Der Wind dreht sich nach Südosten. Sehen Sie selbst.

Ich beuge mich über Emma, die rechts am Fenster sitzt.

Was ist los, Papa?

Ich weiß nicht, Emma. Es hat irgendwas mit der Windrichtung zu tun.

Die Stimme des Kaufmanns. Wieder beugt er sich durch den Mittelgang vor und bohrt mir den Zeigefinger in den Rücken.

Auf Stokka ist der Südosten gefährlich, sagt er.

Aber dabei lächelt er. Der nordnorwegische Galgenhumor, denke ich, während ich sehe, dass die beiden im Cockpit jetzt alle Hände voll zu tun haben. Noch immer lenkt Cecilie Nesflaten das Flugzeug. Sie nähert sich der Landebahn. Benutzt Pedale und Steuerknüppel, Beine und Arme, wie Handballtorhüter vor einem Strafwurf. Gleicht den Wind aus. Das Flugzeug liegt schräg. Eine mechanische Stimme sagt Minimum. Minimum. Ein Piepton wie vor einer angekündigten Sprengung. Emma nimmt meine Hand. Sie will etwas sagen. Dann stürzt das Flugzeug, knallt auf die Landebahn. Emmas Kopf schießt nach vorn und rammt die Rückenlehne des Sitzes vor ihr. Das Fahrgestell bricht zusammen. Die rechte Tragfläche schrammt über den Asphalt. Funken und Flammen. Emma liegt auf dem Boden wie ein Mensch, der abwehrend die Arme ausbreitet. Ihr Sicherheitsgurt hat sich geöffnet: Es war nicht meine Schuld.

TEIL 1

In der Woche, als Emma im Krankenhaus lag, war Hanne Tag und Nacht bei ihr. Wie um ihre viele Abwesenheit auszugleichen. Ich ließ sie. Ich konnte sie nicht daran hindern und wollte es auch nicht. Auf eine seltsame Weise war es wie eine Wiederaufnahme unseres Zusammenlebens, nur eben ganz anders als früher. Damals, als wir zusammen wohnten, als die Probleme weniger sichtbar waren, kämpften wir gegeneinander, machten uns gegenseitig klein, mit dem gefühlsmäßigen Geiz und der Kleinlichkeit, die so viele überkommen, wenn die Trennungspapiere ausgefüllt sind. Es war, als ob einige der Gefühle, die ich in der allerersten Zeit für Hanne gehabt hatte, wieder zum Leben erwachten. Damals …

Wir hatten uns, wie das Autoren und Verlagsleute ja oft tun, bei einem Literaturseminar kennengelernt. Und zwar auf Hamarøy, in Verbindung mit den Hamsun-Tagen, vor fünfzehn Jahren. Hanne war erst zweiundzwanzig, und ich, der zehn Jahre Ältere, verliebte mich in ihr junges Ungestüm. Sie sprang zwischen den Vorlesungen herum und beeindruckte uns alle mit ihren kurzgeschnittenen Haaren und dem temperamentvollen Blick aus ihren grünblauen Augen, mit dem sie uns durchbohrte. Sie hatte soeben ihr erstes Buch veröffentlicht, »Helgeland«, eine Novellensammlung, die Øystein Rottem dazu gebracht hatte, eine seiner seltenen, aber begehrten ganzen Seiten in Dagbladet für sie zu verwenden. Ein Kritiker vom Parnass, der ihr Gold und Ehre versprach. Wir waren beide draußen auf Tranøy untergebracht, gleich bei der Handelsstation, wo der junge Hamsun gearbeitet hatte. Es war Anfang August und gleißender Nordlandsommer. Unmöglich, schlafen zu gehen. Möwengeschrei die ganze Nacht. Lange Gespräche mit Autoren und Literaturforschern. Herbjørg Wassmo und Per Thomas Andersen in intensiver Diskussion über das spezifisch Nordnorwegische. Jan Kjærstad und Per Buvik mit einem enthusiastischen Seminar über die Möglichkeiten des Romans in der neuen Medienwirklichkeit. Susanne Lundeng spielte auf ihrer Geige eine besonders schöne Pols aus Beiarn.

Alles Einzelheiten, die man sich für den Rest des Lebens merkt. Der Geschmack des Biers, der Geschmack der geräucherten Hammelkeule, mit der Irene Iversen Georg Johannesen fast auf den Kopf geschlagen hätte. Halfdan Sivertsen sang sein »Liebeslied«. Betrunkene Professoren, die mit den jüngsten Mädchen tanzten, die freiwillig hier aushalfen. Ich sah nur Hanne, war total fasziniert von Hanne, wusste nicht ganz, ob ich mich in sie verliebt hatte oder in ihre Novellensammlung. Ich war eben erst im Verlag am Sehesteds plass eingestellt worden. Nach all den Jahren der Studien und der Aushilfsarbeiten hatte ich die viele Reiserei satt. Ich war Roadie für die Band Di Derre gewesen. Ich hatte alle möglichen »Mädchen, die kommen, und Mädchen, die gehen,« gesehen. Ich glaube, jeden Winkel von Norwegen zu kennen, aber keiner war wie Helgeland, und Hanne schrieb über Helgeland. Nicht einmal Hamsuns Hamarøy konnte sich mit Helgeland messen, und als ich ihr das sagte und mit tastenden Worten versuchte, ihr etwas von der Begeisterung zu vermitteln, die ich beim Lesen ihrer Novellen verspürt hatte, die vor allem von Zugehörigkeit handelten, davon, das Leben hinnehmen und sich damit versöhnen zu können, küsste sie mich plötzlich auf den Mund, aber nicht mit der Heftigkeit, derer sie sich in den Begegnungen mit allen anderen fähig gezeigt hatte. Ihre Lippen berührten meine nur hauchzart. Aber gerade diese Geste, diese spürbare Behutsamkeit, die wie ein Staunen darüber war, dass sie es wirklich tat, war wie ein Versprechen, ein Treuegelöbnis für immer und ewig, stärker als jede Umarmung.