Georges Van Vrekhem

KRAFTLINIEN DER GEGENWART
IN DER SICHTWEISE
SRI AUROBINDOS UND DER MUTTER

Titel des englischsprachigen Originals:

Patterns of the Present from the Perspective of Sri Aurobindo and the Mother

Deutsche Übersetzung: Hans-R. Höhener

Die Werke von Sri Aurobindo und der Mutter © Sri Aurobindo Ashram

ISBN: 978-3-96861-053-5

1. eBook Auflage 2020

Aquamarin Verlag, Voglherd 1, D-85567 Grafing

© Copyright 2017 Sudha Mohanty

Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Das große Bild

Die aufwärts strebende Spirale

Vorgeschichtliche Zeiten

Ein bewohnbarer Planet in einem unbewohnbaren System

Zyklus der menschlichen Entwicklung

2. Das avatarische Feld

Erste Phase: Die Ankunft des Avatars

Zweite Phase: Die Gegenwart des Avatars

Dritte Phase: Nach dem Weggang des Avatars

Vierte Phase: Die Erfüllung der avatarischen Mission

3. Ost und West

Der westliche Weg – Griechenland

Das Christentum

Der germanische Fall

Humanismus und Individualismus

Der östliche Weg – Indien

Die spirituelle Erfahrung

Schlussfolgerung

4. Die Vernunft auf dem Prüfstand

Die Postmoderne

Mental, Vernunft, Intellekt

„Das Mental ist kein Instrument der Erkenntnis“

Das Mental ist Substanz, Gedanken sind Wesenheiten

5. Wissenschaft, Szientismus, moderne Technik

Ist die Wissenschaft das dominierende Paradigma von heute?

Sri Aurobindo, Mutter und die Wissenschaft

Die zukünftige Wissenschaft

Die nörglerische Menschheit

6. Die supramentale „Katastrophe“

Die Familie der Aspiration

Die vier Hilfen des Übermenschen

Die avatarische Interaktion mit der Geschichte

Auswirkung auf die Geschichte

7. Die Zukunft der Menschheit

Die zukünftige mentale und übermentale Erdbevölkerung

Das Aufräumen des Durcheinanders

Über den Autor

Bibliographie

Es ist irrational und unspirituell, auf eine wahre Umwandlung des menschlichen Lebens zu hoffen, ohne dass die menschliche Natur umgewandelt wird. Wir würden damit etwas Unnatürliches und Unwirkliches, ein unmögliches Wunder verlangen.

- Sri Aurobindo (Das Göttliche Leben, II/2, S. 489)

Die Menschheit hat eine Gewohnheit entwickelt, die schlimmsten Katastrophen zu überleben, die sie durch ihre eigenen Irrtümer heraufbeschworen hat oder die durch gewaltige Naturereignisse eintraten. Und das muss so sein, wenn die Existenz der Menschheit einen Sinn haben soll und ihre lange Geschichte und ihr immer neues kontinuierliches Weiterleben nicht nur das Ergebnis eines sich ohne Ziel organisierenden Zufalls ist, was bei rein materialistischer Betrachtung der Welt der Fall sein müsste. Wenn der Mensch dazu bestimmt ist, zu überleben und die Evolution voranzubringen – er steht gegenwärtig an ihrer Spitze und ist bis zu einem gewissen Grad der halbbewusste Lenker ihres Fortschritts –, muss er aus dem heutigen chaotischen internationalen Leben herausfinden und zum Anfang einer organisierten vereinten Aktion gelangen. Schließlich muss er zu einer Art Weltstaat kommen, der unitarisch oder föderalistisch oder eine Konföderation oder eine Koalition ist. Keine geringere oder unverbindlichere Lösung würde dem Ziel angemessen sein.

- Sri Aurobindo (Das Ideal einer geeinten Menschheit, S. 351f)

Alle, die sich bemühen, ihre gewöhnliche Natur hinter sich zu lassen, alle, die versuchen, die tiefe Erfahrung, die sie in Kontakt mit der göttlichen Wahrheit gebracht hat, materiell zu verwirklichen, all diejenigen, die – anstatt ihre Aufmerksamkeit einem „Danach“ oder „Darüber“ zuzuwenden – physisch, in ihrem äußeren Sein versuchen, die Bewusstseinsveränderung zu verwirklichen, die sie in ihrem Inneren realisiert haben – all diese sind Übermenschen im Lehrlingsstadium.

- Mutter (Gespräche, 8. Oktober 1958, S. 166)

Einführung

Sri Aurobindo verkündete in den letzten Monaten seines Lebens die Notwendigkeit eines Übergangswesens zwischen dem Menschen und dem supramentalen Wesen. Diese Ankündigung war das Resultat seiner eigenen yogischen Verwirklichung in seinem physischen Wesen. Mutter übernahm die Arbeit unmittelbar nach seinem Hinscheiden, sie nannte das Übergangswesen surhomme, „Übermensch“, und realisierte das Übermenschentum im Jahre 1958. Die ganze Bemühung wurde mit der Etablierung des Bewusstseins des Übermenschen am 1. Januar 1969 gekrönt. Die Entwicklung des Prozesses, der voll ausgebreitet und dokumentiert wurde in meinem Buch Sri Aurobindo-Mutter und die nächste Evolutionsstufe (2001) ist klar, genauso wie die Definitionen und Berichte der Verwirklichungen.

Die Wichtigkeit und Notwendigkeit eines Übergangswesens oder einer Vielzahl von Übergangswesen ist offensichtlich, wenn man die enorme Kluft zwischen dem menschlichen und dem supramentalen Wesen betrachtet. Außerdem scheint die Notwendigkeit dieses Zwischenschritts in der Evolution mit dem normalen evolutionären Prozess bei der Erscheinung jeder vorhergehenden Spezies in der Vergangenheit in Einklang zu stehen. Mutter sagte 1958: „Wir können mit Sicherheit behaupten, dass es zwischen dem mentalen und dem supramentalen Wesen eine Zwischenform geben wird, eine Art Übermensch, der noch die Eigenschaften und teilweise die Natur des Menschen hat. Das heißt, er wird in seiner äußersten Form noch zur menschlichen Spezies tierischen Ursprungs gehören, sein Bewusstsein jedoch wird er in ausreichendem Maß transformieren, um in seiner Verwirklichung und in seinem Tun eine neue Art zu bilden, die Spezies des ‚Übermenschen‘.“1

Mehr als ein Vierteljahrhundert (ca. 43 Jahre beim Erscheinen dieses Buches, Anm.d.Übers.) ist vergangen, seit Mutter ihren Körper verließ und der avatarische Yoga abgeschlossen wurde. Die Grundlagen für die neue Spezies und eine neue Ordnung in der Welt waren gelegt. Nicht nur war das Supramental in die Erdatmosphäre herabgestiegen, sondern der Prototyp des Übermenschen war realisiert, und sein Bewusstsein war aktiv geworden, wo immer sich eine Empfänglichkeit, eine Aspiration, eine Wendung zur Transformation der Erde hin zeigte.2 So viele fragen sich, was aus alldem in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts und des Jahrtausends (und bis heute, Anm.d.Übers.) geworden ist? Gab es irgendwelche wahrnehmbare Zeichen der Fortsetzung des Prozesses? Irgendwelche Übermenschen? Irgendwelche Ereignisse, die durch diese neuen, angeblich sehr machtvollen Kräfte bewirkt wurden? Schließlich kann man annehmen, dass das Kommen einer Neuen Welt viel mehr beinhaltet als ein neues soziales, wissenschaftliches oder religiöses Paradigma: Es bedeutet den Wandel eines sehr beschwerlichen, um nicht zu sagen absurden, menschlichen Zustands zu einer gänzlich harmonischen supramentalen, d.h. göttlichen Welt. Das menschliche Leben würde das „göttliche Leben“ werden. Dies liefe auf einen enormen Unterschied hinaus, der einen nicht weniger enormen Wandel erforderlich machte.

Das Mindeste, was sich vom 20. Jahrhundert sagen lässt, ist, dass der allumfassende Wandel tatsächlich gewaltig gewesen ist. Die Welt am Ende des Jahrhunderts war sehr verschieden von der Welt zu seinem Beginn, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass die Menschheit ihren Anker verloren zu haben scheint und in einer Art schwindelerregendem Wirbel lebt, der sie, man fragt sich, wohin führen wird? Die Experten gaben zahlreiche Kommentare ab über die Ankunft des neuen Jahrtausends, aber sie hatten nicht viel mehr als Allgemeinheiten auf Lager über technologische Innovationen, elektronische Miniaturisierung, künstliche Intelligenz, interplanetarische Forschung und in Aussicht stehende Begegnungen mit Außerirdischen. Veränderung ist desorientierend und furchterregend für den Menschen, und die Menschheit wird heute von Angst ergriffen, wenn sie sich die Zeit nimmt, ihre Situation ins Auge zu fassen. Andererseits sind die Auswirkungen der technologischen Revolution und der Globalisierung so überwältigend, dass der Planet samt seinen Einwohnern mit stetig zunehmender Geschwindigkeit in eine Art schwarzes Loch gesogen zu werden scheint.

Dann ist da natürlich die Sicht Sri Aurobindos und Mutters über den Ursprung und die Bestimmung der Erde und der Menschheit und über ihre gegenwärtige Entwicklung. Aber wer ist bereit, ihre Sichtweise als mehr als etwas Sektiererisches oder Utopisches zu betrachten?

Mutter sah die „supramentale Katastrophe“, wie sie einmal den großen, sich jetzt vollziehenden Wandel im Scherz nannte, voraus. In Das Göttliche Leben hatte bereits Sri Aurobindo geschrieben: „Selbst wenn der Wendepunkt erreicht und die entscheidende Linie überschritten ist, muss das neue Leben in seinen Anfängen noch durch eine Periode der Prüfung und der beschwerlichen Entwicklung gehen.“3 Die Dinge können sich nicht verändern, auch nicht zum Besseren, ohne dass sie sich eben verändern. Die Evolution ist immer durch einen Zusammenprall von Kräften vorangeschritten. Doch „das Supramental vermag die Dinge auf eine größere, in seiner Fülle vollständigere Weise zu meistern, ihm ist eine Macht der Harmonisierung eigen, die den Widerstand durch andere Mittel als dramatisches Ringen und Gewaltsamkeit zu überwinden vermag. … Soweit ich sehen kann“, schreibt Sri Aurobindo, „wird die Transformation unter viel weniger beschwerlichen Bedingungen möglich sein, als wir sie jetzt haben, sobald das Supramental einmal in der Materie gefestigt ist. Diese schlechten Bedingungen gehen auf die Tatsache zurück, dass die Unwissenheit vorherrscht und die feindlichen Kräfte sozusagen eine gesicherte Macht sind, die ihren Griff nicht lockern wollen …“4

„Die Welt kennt drei Arten von Revolutionen. Die materielle Revolution hat starke Resultate, die moralische und intellektuelle Revolution sind unendlich größer in ihrem Umfang und reicher an Früchten, aber die spirituelle Revolution führt zu den größten Aussaaten.“5 Wir befinden uns momentan in der größten, um nicht zu sagen, der ultimativen spirituellen Revolution. „Die Veränderungen, die wir heute in der Welt sehen [d.h. um 1920 herum], sind intellektuell, moralisch und physisch ihrem Ideal und ihrer Absicht nach. Die spirituelle Revolution harrt ihrer Stunde und wirft mittlerweile hier und da Wellen auf. Bis ihre Stunde kommt, kann der Sinn der anderen nicht verstanden werden, und bis dahin sind jegliche Interpretationen des gegenwärtigen Geschehens und ein Ausblick auf des Menschen Zukunft eitle Dinge. Denn ihre Natur, ihre Macht, ihre Ereignisse sind es, die den nächsten Zyklus unserer Menschheit bestimmen werden.“6 Die definitive spirituelle Revolution ist jetzt im Gange; das ist es, was rund um uns, überall geschieht. Seit 1956 kann sie nicht anders als im Werden sein, denn das Supramental, das sich in jenem Jahr im Erd-Bewusstsein manifestiert hat, kann nicht anders als aktiv sein. Seine Aktion muss jedoch vorsichtig dosiert werden, um nicht zu viel Schaden zu verrichten, und es dauert somit eine gewisse Zeit, bis sie sichtbar wird.

Im Jahre 1972 sagte Mutter, dass es eine „goldene Kraft“ gebe, die einen derart starken Druck auf die Erde ausübe, dass Katastrophen fast unvermeidlich schienen. Aber da es sich hier um die harmonische und allmächtige supramentale Kraft handelte, ergab sich immer wieder eine Lösung unter Umständen, die an ein Wunder grenzten, fügte sie hinzu.7 Genau dies ist es, was gegenwärtig unsere Erde sich so wild im Kreis drehen lässt und was gleichzeitig sicherstellt, dass das sich zeigende Chaos zum richtigen Endergebnis führen mag. Dies kommt einem solch großen Wandel gleich, dass die Art und Weise, ihn zu verwirklichen, notwendigerweise drastisch und verwirrend für den menschlichen Geist sein muss.

Was folgt, sind Notizen, Reflexionen, Zitate, Kommentare und Vergleiche, alle im Zusammenhang mit der Fortsetzung des Umwandlungsprozesses, der durch die grundlegenden Verwirklichungen Sri Aurobindos und Mutters in Gang gesetzt wurde, wie auch in Verbindung mit den gegenwärtig wirkenden spirituellen Kräften. Um diese Notizen und Reflexionen lesbarer zu machen, wurden sie um einige der Hauptthemen herum gruppiert, die in Form einzelner Kapitel präsentiert werden.


1. Vgl. Mutter: Gespräche, 16. April 1958, S. 73

2. Siehe Georges Van Vrekhem: Über den Menschen hinaus – Leben und Werk von Sri Aurobindo und Mutter, Aquamarin Verlag 2014, und Mutter: Die Geschichte ihres Lebens, Aquamarin Verlag 2016

3. Sri Aurobindo: Das Göttliche Leben, II/2, S. 491

4. Vgl. Sri Aurobindo: Briefe über den Yoga, I, S. 35f

5. Sri Aurobindo: Essays in Philosophy and Yoga, S. 210

6. Ibid., S. 211

7. Vgl. Mutters Agenda, 6. Mai 1972

1.

Das große Bild

Immer ist er der Wanderer im Kreislauf der Zeiten und sein Weg führt voran.1

– Sri Aurobindo

Die aufwärts strebende Spirale

Wenn der sich jetzt vollziehende globale Wandel die Bedeutung hat, die Sri Aurobindo und Mutter ihm zuschreiben, muss er in einer viel umfassenderen Perspektive gesehen werden, als die akademischen Historiker es einzuräumen bereit sind. Nur wenn dieser im Kontext der Menschheit und ihrer Evolution, unseres Planeten Erde und seiner Evolution, und daher in jenem des Universums, gesehen wird, kann man zu erfassen beginnen, was der gegenwärtige Übergang von der „niederen Hemisphäre“ der Unwissenheit, der Falschheit und der Finsternis zu der „höheren Hemisphäre“ der Erkenntnis, der Wahrheit und des Lichts tatsächlich bedeutet.

Es wird oft angenommen, dass Sri Aurobindos und Mutters Sicht der Evolution von linearer Natur war. Aber bloße Linearität – so wie makellose Symmetrie – ist ein typisches Kind des menschlichen Geistes, des intellektuellen Interpretierens und Ordnens der Dinge. Mehr als einmal begegnet man bei Sri Aurobindo Ausdrücken wie „viel zu symmetrisch, um wahr zu sein“, sowie Warnungen vor Irrtümern durch rigides Denken und das Einsetzen „einer mentalen geraden Linie anstelle der Windungen und Zickzackwege der Natur“.2 (Der Begriff „Natur“ in Sri Aurobindos und Mutters Schriften bezeichnet immer ein konkretes Wesen; tatsächlich ist es eine Emanation oder Persönlichkeit der Universellen Mutter, beauftragt mit der Manifestation des Universums und eines jeden Dinges darin.) Die Einheit der Wahrheit, die das Gesamte ist, kann für unser Mental nur als global dargestellt werden. Auch dies ist natürlich eine Metapher und ein Symbol, aber immerhin am ehesten dazu geeignet, das Undenkbare und das Unermessliche für mentale Wesen, wie wir es sind, darzustellen.

„Die Idee des menschlichen Fortschritts ist sehr wahrscheinlich eine Illusion“, schreibt Sri Aurobindo mit umfassendem Blick, „denn es gibt keine Anzeichen, dass der Mensch, der sich einst aus der tierischen Stufe erhoben hat, während der Geschichte seiner Spezies radikale Fortschritte gemacht hat3; am meisten Fortschritte gemacht hat er im Wissen über die physische Welt, in der Naturwissenschaft, was die Handhabung seiner Umgebung betrifft, in der rein äußerlichen und utilitaristischen Anwendung der verborgenen Naturgesetze. Aber sonst ist er, was er in den frühen Anfängen der Zivilisation war; er manifestiert weiterhin dieselben Fähigkeiten, dieselben Stärken und Schwächen, dieselben Bemühungen, Fehlleistungen, Erfolge und Enttäuschungen. Falls überhaupt ein Fortschritt stattgefunden hat, so ist er in einem Kreis verlaufen, bestenfalls in einem stetig sich erweiternden Kreis. Der Mensch von heute ist nicht weiser als die alten Seher und Weisen und Denker, nicht spiritueller als die großen Sucher von einst, die ersten mächtigen Mystiker, und was die Künste und das Handwerk anbelangt, ist er den alten Künstlern und Handwerkern auch nicht überlegen.“ Und sagte nicht kürzlich ein Experte, dass die Kunst seit den Wandmalereien in Lascaux keine Fortschritte mehr gemacht habe? „Die alten, jetzt verschwundenen Rassen zeigten eine ebenso gestaltungskräftige ursprüngliche Originalität, Erfindungsgabe und Begabung im Umgang mit dem Leben. Wenn der moderne Mensch in dieser Beziehung nicht durch wesentlichen Fortschritt, sondern nur an Grad, Horizont und Fülle ein wenig weiter gekommen sei, so deshalb, weil er die Errungenschaften seiner Vorläufer ererbt habe. Nichts rechtfertige aber die Vorstellung, er werde sich jemals seinen Weg aus dem Halb-Wissen und der Halb-Unwissenheit heraus bahnen können, die das Gepräge seiner Art ist, oder dass er, auch wenn er eine höhere Erkenntnis entwickelt, je die äußerste Grenze des mentalen Kreises überschreiten könne.“4

Indessen schreibt er in Das Göttliche Leben auch: „Man darf einräumen, dass der Mensch bis jetzt hauptsächlich nur im Umkreis seiner Art, auf einer Spirale der Natur-Bewegung aktiv gewesen ist, die ihn manchmal in die Höhe, manchmal in die Tiefe führte, dass es aber keine gerade Linie des Fortschritts, kein unbestreitbares, fundamentales oder radikales Hinausgehen über seine vergangene Natur gegeben hat. Er hat lediglich seine Befähigungen geschärft, verfeinert, umfassender und elastischer verwendet. Man könnte weiß Gott nicht sagen, seit der Mensch erschienen ist oder seit den Tagen dokumentierbarer Geschichte habe es nicht so etwas wie einen menschlichen Fortschritt gegeben. Denn wie groß auch die Menschen des Altertums gewesen seien, wie hervorragend manche ihrer Schöpfungen und Errungenschaften, wie eindrucksvoll gewisse Leistungen an Spiritualität, Intellekt und Charakter waren, so hat es in den späteren Entwicklungen doch eine zunehmende Verfeinerung, umfassenderen Reichtum, vielfältigere Entfaltung an Wissen und Können in den Errungenschaften des Menschen, in seiner Politik, Gesellschaft, in seinem Leben, seiner Wissenschaft, Metaphysik, seinen Erkenntnissen auf allen Gebieten, seiner Kunst und Literatur gegeben. Auch wenn die Macht seiner Spiritualität nicht so erstaunlich erhaben und weniger gewaltig war als die der Erleuchteten früherer Zeiten, so war sein spirituelles Bemühen doch ausgezeichnet durch Feinheit, vielseitige Gestaltungskraft, Eindringen in die Tiefen und Ausweitung des Suchens.

Es hat Zeiten des Absinkens von einem hohen Kulturtypus gegeben, einen zeitweiligen tiefen Abfall in einen gewissen Obskurantismus, ein Nachlassen des spirituellen Strebens und Abstürze in einen barbarischen naturalistischen Materialismus. Das waren aber nur vorübergehende Phänomene, schlimmstenfalls eine nach unten verlaufende Kurve der Fortschrittsspirale. Sicher hat dieser Fortschritt die Menschenrasse noch nicht über sich selbst emporgetragen, so dass sie über sich hinauswachsen und das mentale Wesen transformieren konnte. Aber das durfte man auch nicht erwarten. Denn das Wirken der evolutionären Natur in einer Art von Wesen und Bewusstsein besteht zuerst darin, diese Art gerade durch Verfeinerung und zunehmende Vielseitigkeit bis zur äußersten Befähigung zu entfalten, bis sie ihre Schale sprengen kann, so dass das ausreifende Bewusstsein entscheidend hervortritt, sich umwandelt und so auf sich selbst einwirkt, dass es auf eine neue Stufe der Evolution hinwirkt …

Wenn es die Methode der Entwicklung des Menschen war, dass im Tierwesen eine Art erschien, die in manchen Beziehungen der Affenart ähnlich, aber schon von Anfang an mit den Elementen des Menschseins begabt war, dann könnte es für das evolutionäre Erschaffen eines spirituellen und supramentalen Wesens die deutlich erkennbare Methode der Natur sein, dass im menschlichen Wesen ein spiritueller Typus erscheint, der einem mental-tierhaften Menschen ähnlich ist, aber schon durch sein spirituelles Streben geprägt ist.“5

„Wir glauben an den beständigen Fortschritt der Menschheit, und wir sind der Meinung, dass dieser Fortschritt das Ausarbeiten eines Gedankens im Leben ist, der sich manchmal an der Oberfläche manifestiert und zuweilen in die Tiefe absinkt und hinter der Maske äußerer Kräfte und Interessen wirkt. Wenn es zu diesem Abfall unter die Oberfläche kommt, geht die Menschheit durch ihre Perioden anscheinenden Rückschritts oder sich verzögernder Evolution, durch ihre langen Stunden der Dunkelheit oder des Zwielichts, während welcher der geheime Gedanke im Hintergrund hauptsächlich durch den Druck ökonomischer, politischer und persönlicher Interessen, in denen kein Wissen eines tieferen Ziels im Innern besteht, eine seiner Phasen ausarbeitet. Wenn der Gedanke zurück an die Oberfläche kehrt, geht die Menschheit durch ihre Perioden des Lichts und raschen Aufblühens, durch ihre Morgendämmerungen und strahlenden Frühlingszeiten, und die Tiefe, Vitalität, Wahrheit und selbstwirksame Energie der auftauchenden Gedankenform bestimmt die Spannweite des Schrittes nach vorne, den er während diesen Stunden Gottes in unserer irdischen Manifestation macht.“6

Über die zyklische Bewegung der Evolution der Menschheit schrieb Sri Aurobindo: „In der Geschichte des Menschen scheint jetzt alles auf eine gravierende Wechselfolge hinzudeuten, auf Zeitalter des Fortschritts, gefolgt von Zeitaltern des Rückschritts, wobei das Ganze den Charakter einer Evolution ergibt, die eher zyklisch als geradlinig vorwärtsschreitet. Eine Theorie von Zyklen der menschlichen Zivilisation wurde ins Feld geführt[;] wir mögen sogar zu einer Theorie von Zyklen der menschlichen Evolution gelangen – das Kalpa und die Manvantaras der Hindu-Theorie. Wenn diese Beteuerung von Zyklen der Weltexistenz weiter entfernt ist von einer Bestätigung, dann deshalb, weil sie so weit in ihren Perioden sein müssen, dass sie sich nicht nur allen Mitteln der Beobachtung, sondern auch all unseren Mitteln der Ableitung oder eines definitiven Rückschlusses entziehen.“7 Gemäß den Hindu-Schriften sind die vier Zeitalter oder Yugas das Krita-Yuga oder das Goldene Zeitalter, das Treta-Yuga oder das Silberne Zeitalter, das Dvapara-Yuga oder das Bronzene Zeitalter und das Kali-Yuga oder das Eiserne Zeitalter. Zusammen umfassen sie die enorme Zeitspanne von 4 310 000 (menschlichen) Jahren. (Die Hindu-Schriften sprechen auch von einem „Jahr des Brahman“, das 360 menschlichen Jahren entspricht.)

„Jede Welten-Schöpfung beginnt mit der Vollkommenheit des Krita-Zeitalters, verfällt zunehmend durch das ganze Treta und Dvapara hindurch, bis am Ende eines jeden Kali die schließliche Zerstörung kommt – nur um einmal mehr einer neuen Schöpfung in einem neuen Krita Platz zu machen usw.“8 Über die Zyklen sprechend, benutzte Mutter einmal das okkulte Symbol einer Schlange, die sich in ihren eigenen Schwanz beißt. Im Verlauf der Zyklen kommt es zu einem „zunehmenden Abstieg vom Subtilsten bis zum Materiellsten“.9 Das Ende des Kali-Yuga stellt den materiellsten Punkt in der ganzen Entwicklung dar, der, wie wir sehen werden, einen sehr speziellen Platz im Universum einnimmt. Da ein Goldenes Zeitalter dem Eisernen Zeitalter folgen wird, passiert es genau an diesem Ende – der Punkt, an dem sich die Schlange in ihren Schwanz beißt –, dass die Arbeit des Wandels zum Eintritt in das Goldene Zeitalter in seiner konzentriertesten und wirksamsten Form getan werden kann.

Die Zyklen der menschlichen Evolution sind nicht exakte und ewige Wiederholungen einer gegebenen Sequenz von Ereignissen, wie das zum Beispiel bei Nietzsches „ewiger Wiederkehr“ der Fall ist, sondern „Zyklen einer wachsenden, aber immer noch unvollkommenen Harmonie und Synthese“. Die Natur bringt den Menschen „gewaltsam zu ihren ursprünglichen Prinzipien, ja manchmal sogar zu etwas ihren früheren Zuständen Ähnlichem zurück, damit er frisch auf einer größeren Kurve des Fortschritts und der Selbst-Erfüllung starten kann.“10 Die spiralförmige Bewegung ist eine doppelte: Eine sich ausweitende, um immer größere Anteile der göttlichen Manifestation einzuschließen, und eine nach oben, auf die göttliche Vollkommenheit hin gerichtete.

„Es gab schöne Zivilisationen wie diejenige, die eine Art okkulte Erinnerung eines Kontinents zurückließ, der vielleicht Indien mit Afrika verband und von dem keine Spur übrigblieb – es sei denn, dass gewisse menschliche Rassen die Überbleibsel jener Zivilisation sind“, sagte Mutter. „Es gibt solche Zivilisationen, die plötzlich verschwinden und die von langen Perioden voller Dunkelheit, Unbewusstheit, Unwissenheit gefolgt werden, mit sehr primitiven Rassen, die den Tieren scheinbar so nahe sind, dass man sich sogar fragt, ob überhaupt noch ein Unterschied besteht. So haben wir ein großes dunkles Loch, und die Menschheit muss durch Umbrüche aller Arten gehen. Aber dann, ganz plötzlich, erscheint an der Spitze etwas Höheres als zuvor, mit größeren Qualitäten, einer größeren Verwirklichung – als ob die ganze in der Nacht verbrachte Zeit und Arbeit die Materie so vorbereitet hätte, dass sie etwas Höheres auszudrücken vermöchte. Darauf folgt eine erneute Dunkelheit, Vergessenheit: Die Erde wird wieder barbarisch, verworren, unwissend, elend. Und einige Tausend Jahre später taucht plötzlich eine neue Zivilisation auf. – Bis jetzt ist man immer zurückgefallen.“11 Es war Mutters und Sri Aurobindos konstante Bestrebung, ihre supramentale Schöpfung zu begründen, „um den Jahren zu trotzen“, so dass es für diesmal zu keinem Rückfall mehr kommen würde, oder, wie Sri Aurobindo sich ausdrückte, „um nicht das alte Fiasko zu wiederholen“.

Mehr als einmal erinnerte sich Mutter an das, was ihr früherer Lehrer, Max Théon, ihr in den Ausläufern des Atlas-Gebirges gesagt hatte: „Die Traditionen besagen, dass ein Universum erschaffen wird, dann in das pralaya12 zurückgezogen wird, woraufhin ein neues erschaffen wird, usw. Und nach ihnen wären wir das siebte Universum, als welches wir dasjenige sind, das nicht in das pralaya zurückfällt, sondern kontinuierlich vorwärtsschreitet, ohne je zurückzufallen. Übrigens ist es deswegen, dass der Mensch dieses Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit und ununterbrochenem Fortschritt hat: Es ist so, weil die Zeit gekommen ist.“13 Allerdings sagte sie auch, als sie in den Sümpfen des Unterbewusstseins ihre Schlachten ausfocht: „Im Unterbewussten besteht eine Erinnerung an frühere pralayas, somit ist es diese Erinnerung, die einem das Gefühl gibt, dass alles aufgelöst werden wird, dass alles in sich zusammenfallen wird.“14

Vorgeschichtliche Zeiten

Nicht ein Hunderttausendstel von dem, was gewesen ist, trägt immer noch einen durch die menschliche Zeit bewahrten Namen“,15 schrieb Sri Aurobindo, der nie zu Übertreibungen neigte, in einem Brief an einen Schüler. Im Arya hatte er bereits geschrieben: „Aufgetaucht aus den Zeiten der Verfinsterung und den Nächten der Unwissenheit, die die Menschheit überkommen, nehmen wir immer an, dass wir Zugang zu neuem Wissen finden. In Wirklichkeit entdecken wir andauernd das Wissen und wiederholen die Errungenschaften der uns vorausgegangenen Zeitalter, und erhalten aus dem ‚Unbewussten‘ das Licht zurück, das es in seine Verborgenheiten zurückgezogen hatte und jetzt einmal mehr für einen neuen Tag und einen weiteren Marsch der großen Reise freisetzt.“16 Sein sehr einleuchtendes Argument in dieser Frage lautet, dass die zehntausend Jahre unserer „offiziellen“ Geschichte nicht ausreichen können, um den menschlichen Geist aus der Primitivität hin zu den Leistungen der Zivilisation zu entwickeln. „Die für das Wachstum der Zivilisation eingeräumte Zeitspanne ist immer noch unmöglich kurz, und als Folge davon ist die Anwendung der evolutionären Idee auf unsere menschliche Entwicklung von einer Aura der Unwirklichkeit umgeben.“17 Mutter bestätigte ihrerseits, dass „die historische Periode zu kurz“ ist. Wir haben bereits ihren Hinweis auf einen Kontinent erwähnt, der Indien mit Afrika verbunden haben könnte und von dem keine Spur verblieb. „Vor sehr langer Zeit gab es große und schöne Zivilisationen, die materiell vielleicht ebenso fortgeschritten waren wie die unsere. Von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen, scheint die modernste Kultur nicht mehr als eine Wiederholung uralter Kulturen …“18 sagte sie im Jahre 1929. Und 1951, unter der Bedrohung eines Dritten Weltkriegs, sagte sie: „Es hat viele Zivilisationen auf der Erde gegeben. Es gab Wissenschaftler, die wieder zu entdecken versuchten, was da war, aber niemand kann mit Sicherheit sagen, was es war. Der größte Teil jener Zivilisationen ist vollständig verloren. Ich spreche von Zivilisationen, die jener vorausgehen, die für uns zum historischen Zeitalter gehört. Nun, wenn es wieder Tausende von Jahren bräuchte, um eine neue zu begründen … Aber uns wurde gesagt, dass das zu verrichtende Werk, dass die versprochene Verwirklichung jetzt stattfinden wird. Sie wird jetzt stattfinden, weil das Rahmenwerk der gegenwärtigen Zivilisation als Plattform oder eine Basis, auf der sich aufbauen lässt, günstig zu sein scheint. Aber wenn diese Zivilisation zerstört wird, auf was sollen wir dann aufbauen? Zuerst muss das Fundament errichtet werden, damit sich darauf aufbauen lässt …“19 Die Wissenschaft schiebt die Zeit des Ursprungs der menschlichen Spezies fast alle fünf Jahre weiter zurück, und die Tatsache, dass es Zivilisationen gab, die von der Oberfläche der Erde verschwunden sind, scheint für jedermann mit einem offenen Geist unbestreitbar. Woher schöpfte denn die plötzlich aufblühende Zivilisation Ägyptens ihr erstaunliches theoretisches und praktisches Wissen, ein Wissen, das nach einem glänzenden Beginn verkümmerte? Ein weiterer Beweispunkt: „Das durch die alten Landkarten zur Verfügung gestellte Beweismaterial scheint in fernen Zeiten, noch vor dem Aufstieg bekannter Kulturen, eine echte Zivilisation fortgeschrittener Art nahezulegen, die entweder in einem Territorium beheimatet war, aber einen weltweiten Handel betrieb, oder – in einem wirklichen Sinn – eine weltumspannende Kultur war. Diese Kultur war zumindest in einiger Hinsicht fortgeschrittener als die Zivilisation Griechenlands und Roms. Auf dem Gebiet der Erdvermessung, der Nautik und der Landkartengestaltung war sie fortgeschrittener als irgendeine der bekannten Kulturen vor dem 18. Jahrhundert des christlichen Zeitalters. Erst im 18. Jahrhundert entwickelten wir praktische Mittel zur Festlegung der Längengrade. Ebenfalls im 18. Jahrhundert wurde zum ersten Mal der Erdumfang gemessen. Nicht vor dem 19. Jahrhundert begannen wir, Schiffe zur Erforschung der Arktis und Antarktis auszusenden, und erst dann begannen wir mit der Erforschung des Grundes des Atlantik. Die Karten zeigen an, dass ein uraltes Volk all diese Dinge schon tat … Mehr als ein Vierteljahrhundert nach seiner Publikation bleibt die Beweisführung von Hapgoods Buch [Maps of the Ancient Sea Kings, 1966 – Landkarten der alten Meereskönige] so solide und unerschüttert wie eh und je.“20 Dies stimmt mit dem überein, was Sri Aurobindo in einer unvollendeten Abhandlung vor 1914 geschrieben hatte: „Die für das Wachstum der Zivilisation eingeräumte Zeitspanne ist immer noch unmöglich kurz, und als Folge davon ist die Anwendung der evolutionären Idee auf unsere menschliche Entwicklung von einer Aura der Unwirklichkeit umgeben. Dieser wesentliche Einwand wird auch nicht aufgehoben durch irgendwelches Beweismaterial für die Modernität der menschlichen Zivilisation. Ihr weit in die Geschichte zurückweisendes Alter wird lediglich durch die Abwesenheit von bestätigenden Daten angezweifelt; es gibt keine positiven Hinweise, die ein solches Alter leugnen würden, aber wo Daten kärglich sind, ist eine solch negative Basis im höchsten Grad ungesund und heikel. Wir können nicht länger argumentieren, dass keine alten Zivilisationen existiert haben, deren Spuren gänzlich zerstört wurden und dass der Begriff ‚prähistorisch‘ notwendigerweise wild und unterentwickelt bedeutet. Im Gegenteil ist die Geschichte voll von Beispielen von großen Gesellschaften, die um ein Haar verschwunden wären, ohne irgendwelche sichtbaren Erinnerungsstücke zurückzulassen, und kürzliche Ausgrabungen haben gezeigt, dass solche Vorfälle des Verschwindens in alten Zeiten nicht einmal ungewöhnlich waren. Wir können nicht alles erschöpft haben, was die Erde enthält.“21 –„Man kann annehmen, dass Überbleibsel von anderen, noch unentdeckten Zivilisation existieren, und es mag deren noch weitere geben, die wegen der Art ihres Verschwindens oder aus anderen Gründen überhaupt keine Spuren hinterlassen haben, ob auf der Oberfläche der Erde oder unter ihr.“22

„Unsere Beobachtung ist ungenügend, denn erfüllt von der fixen Idee eines kurzen und kürzlichen Auftauchens aus einem uralten Barbarentum stellen wir uns vor, dass Platon in einigen wenigen Jahrhunderten aus einem Bestand aufblühen konnte, der nur wenig fortgeschrittener war als der des Südsee-Inselbewohners, und wir weigern uns, in den Berichten, die immer noch verbleiben von einem verlorenen überlegenen Wissen, deren natürliche und folgerichtige Bedeutung zu sehen“, schreibt Sri Aurobindo. „Wir verdrehen sie eher in das Bild unserer eigenen Gedanken oder sperren sie in die immer noch engen Grenzen dessen ein, was wir selbst wissen und verstehen. Der logische Fehlschluss, in dem wir als Ergebnis unserer ungenügenden Beobachtung landen, ist die fehlerhafte Auffassung, dass wir aufgrund unserer Überlegenheit im Vergleich zu gewissen alten Völkern in speziellen Erfolgsbereichen wie in den Naturwissenschaften notwendigerweise auch in anderen Bereichen fortgeschrittener sind, wo wir immer noch in den Kinderschuhen stecken und erst kürzlich begonnen haben zu beobachten und zu experimentieren, so wie in der Wissenschaft der Psychologie und dem Wissen über unsere subjektive Existenz und unsere mentalen Kräfte. Demzufolge haben wir das exakte Gegenteil des alten Aberglaubens entwickelt, dass die Bewegung des Menschen immer rückwärts bis zu seinem Niedergang führe.“23

Es scheint drei Prinzipien der Entdeckung zu geben, die zumindest so zuverlässig wie Murphys Gesetz sind: Jeder Bereich der Entdeckung erweitert sich aus dem Begrenzten zum Grenzenlosen, aus dem Einfachen zum Komplexen, aus dem Vorstellbaren zu dem jegliche Vorstellung Sprengenden. Dies gilt für alle Zweige der Entdeckung, die von den exakten Wissenschaften in ihrer Erforschung des Kosmos, des Planeten, der Lebewesen, des Körpers, der Zelle, der atomaren und subatomaren Welt etc. verfolgt werden. Dies wird ebenso gültig sein für die Erforschung der inneren Welten, ihrer Wesen, des Menschen, der Seele des Menschen, der okkulten und spirituellen Fähigkeiten des Menschen und seiner Möglichkeiten der Transformation. Die Wissenschaft hat sich selbst begrenzt durch ihr vorherrschendes Prinzip des positivistischen Materialismus. Die „zukünftige Wissenschaft“, wie von Sri Aurobindo und Mutter vorhergesehen, wird durch die Barriere dessen brechen, was durch die Sinne wahrnehmbar ist und wird „von innen nach außen“ gehen.

Ein gewisses Bewusstsein der enormen Länge menschlicher Zeit vor unserer aufgezeichneten Geschichtsperiode ist eine Notwendigkeit, um die Bedeutung des „gigantischen Punkts“ zu realisieren, bei dem die evolutionäre Entwicklung jetzt angekommen ist. Denn wenn es stimmt, dass wir uns in einer Übergangsphase von der niederen zur höheren Hemisphäre der Existenz befinden, dann muss der Homo sapiens all seine Möglichkeiten betätigt und ausgeschöpft haben, welche viel mannigfaltiger und reicher sind, als wir auf der Grundlage unserer gegenwärtigen Fähigkeiten annehmen. So wie jeder Avatar die ganze Vergangenheit der Menschheit auf sich nimmt, um sie einen Schritt vorwärts zu bringen, muss jetzt die Menschheit ihre ganze Vergangenheit auf sich nehmen, um sich selbst zu übertreffen, zumindest in einigen ihrer Repräsentanten: die gegenwärtigen Übermenschen.

Die Ausarbeitung all ihrer Fähigkeiten mag der Grund sein, dass die Menschheit immer wieder zurückfallen musste, um „etwas Höheres als zuvor“ zu erreichen, wie Mutter sich ausdrückte. Sri Aurobindos Haltung gegenüber dieser häufigen Regression ist durchaus positiv. Als er zum Beispiel über die immer noch existierenden primitiven Stadien der menschlichen Entwicklung schrieb, machte er den Vorbehalt: „… falls sie tatsächlich so ist [d.h. primitiv] und nicht in dem, was wir immer noch von ihr sehen, ein Rückfall, ein Überbleibsel, ein Niedergang von einer höheren Erkenntnis, die zu einem vorausgegangenen Zyklus der Zivilisation gehörte, oder auch der verlorene Rest einer toten oder veralteten Kultur …“24 Dies würde viele der Geheimnisse erklären, welche jetzt von Wäldern, Wüsten und Ozeanen bedeckt sind. „Der Wilde ist vielleicht nicht, wie es scheint, der Urahne des zivilisierten Menschen, sondern vielmehr der degenerierte Abkömmling einer vorhergehenden Zivilisation … Das Barbarentum ist ein dazwischen liegender Schlaf, nicht eine ursprüngliche Dunkelheit …“25

Der folgende Text von Sri Aurobindo über dieses Thema, ein Ausschnitt eines Kommentars über die Isha Upanishade, verdient hier ausführlich zitiert zu werden: „Der puranische Bericht lässt uns annehmen, dass wir die letzte Satya-Periode, das Zeitalter der Harmonie, hinter uns gelassen haben und wir uns jetzt in einer Periode eines enormen Zusammenbruchs, einer allgemeinen Auflösung und zunehmenden Verwirrung befinden, in der sich der Mensch unter Mühen auf eine neue Harmonie hinzubewegt. Diese wird erscheinen, wenn der Geist Gottes erneut auf die Menschheit in Form des Kalki-Avatars herniederkommt und alles zerstört, was gesetzlos, dunkel und verwirrt ist und das Reich der Heiligen, der Sadhus errichtet, d.h. jener – wenn wir die buchstäbliche Bedeutung des Wortes Sadhu nehmen – die nach Vollkommenheit streben. Wieder in die moderne rationalistischere, aber nicht notwendigerweise genauere Sprache übersetzt, würde dies bedeuten, dass die Zivilisation, in der wir leben, nicht das Resultat eines zielgeraden Galopps nach vorne vom Zustand des Karibikbewohners oder Hottentotten ist, sondern die Trümmermasse und ungewisse Umgestaltung einer großen Ära des Wissens, des Gleichgewichts und des Ausgleichs, die für uns nur in einer Tradition, allerdings in einer universalen Tradition, dem Goldenen Zeitalter, der Saturnia regna, des Westens lebt – unser Satyayuga oder das Zeitalter des wiedererlangten Vedas.

Was sind dann diese wilden Rassen, diese Epochen des Barbarentums, diese animistischen, totemistischen, naturalistischen und abergläubischen Glaubensarten, diese Mythologien, diese Versöhnungsopfer, diese barbarischen Gesellschaftsbedingungen? Teilweise, wie die Hindu-Theorie sagen würde, das unwissende, fragmentarische Überleben von entstellten und zersetzten Glaubensformen und Gebräuchen, die ursprünglich tiefer, einfacher, wahrer als die modernen waren, so wie eine bruchstückhafte Statue von Phidias oder Praxiteles oder ein Fragment eines Bühnendichters aus Athen zugleich einfacher und edler oder schöner und vollkommener ist als das beste Werk der Modernen – und teilweise ein Zurücktaumeln in das Tierische, eine enorme Bewegung eines durch weltweite zerstörerische Kräfte zustande gebrachten Stammes-Atavismus, bei dessen Wirken sowohl die Natur wie der Mensch mitgearbeitet haben.

Der Animismus ist die verdunkelte Erinnerung an eine uralte Disziplin, die uns in eine spirituelle Verbindung brachte mit intelligenten Wesen und Kräften hinter der Hülle grobstofflicher Materie, fühlbar für unsere beschränkten materiellen Organe. Die Naturverehrung ist eine andere Seite der gleichen alten Wahrheit. Der Fetischismus in barbarischer Form erinnert an das große vedische Dogma, dass Gott überall ist und Gott alles ist und dass der unbewegte Stein und Fels, geistentleerte und hilflose und grobe Dinge auch Er sind; auch in ihnen ist die intelligente Kraft, die das Himalaya-Gebirge gebaut, mit ihren flammenden Glorien die Sonne erfüllt und den Lauf der Planeten angeordnet hat. Die Mythologien sind alte Traditionen, Allegorien und Symbole. Der Wilde und der Kannibale sind lediglich das menschliche Tier, der Mensch, der von seinem Aufstieg heruntergeschleudert wurde und aus dem sattvischen oder intelligenten Zustand in das Tamasische zurückkehrt, zum Tier zermahlt wird, ja, beinahe aufgrund dieser Zersetzung durch Trägheit zum Erdklumpen wird, welches nach der hinduistischen Idee der gewöhnliche Weg ins Verschwinden in das vage und rohe Material der Natur ist, aus dem wir gemacht wurden. Der Aufstieg des Menschen ist gemäß dieser Theorie kein einfacher und sicherer Marsch; im Gegenteil ist es ein steiler Weg, eine mühsame Anstrengung und der Aufstieg schwierig, obwohl die Perioden der Erfüllung und Ruhe uns Zeitalter goldener Freude bescheren; der Abstieg jedoch bleibt erschreckend einfach.“26

Ein bewohnbarer Planet in einem unbewohnbaren System27

      This earth is not alone our teacher and nurse;

      The powers of all the worlds have entrance here.

      Nicht nur die Erde ist Amme und Lehrer uns;
Die Mächte aller Welten finden sich hier ein.28

„[Sri Aurobindo] zieht nicht das ganze Universum in Betracht“, sagte Mutter, als sie eine Passage aus Das Göttliche Leben kommentierte. „Er hat das irdische Leben, das heißt, unser Leben hier auf der Erde, als eine symbolische und konzentrierte Vertretung der raison d’être des gesamten Universums genommen. Tatsächlich wurde die Erde, gemäß den uralten Traditionen von einem tieferen spirituellen Standpunkt aus gesehen, als eine symbolische Konzentration des universellen Lebens geschaffen, so dass die Arbeit der Transformation leichter getan werden kann, sozusagen auf einem beschränkten, konzentrierten ‚Raum‘, wo alle Elemente des Problems zusammengefasst sind. In dieser Konzentration kann die Aktion vollständiger und effektiver sein.“29

Bei einer anderen Gelegenheit sagte sie: „Das Universum ist eine Objektivierung des Höchsten, als hätte Er sich aus sich selbst heraus nach außen objektiviert, um sich selbst zu sehen, sich selbst zu erfahren, sich selbst zu erkennen und damit es eine Existenz und ein Bewusstsein gäbe, die fähig wären, Ihn als ihren Ursprung zu erkennen und sich bewusst mit Ihm zu vereinen, um Ihn im Prozess des Werdens zu manifestieren. Es gibt keinen anderen Grund für das Universum. Die Erde ist eine Art symbolische Kristallisierung des universellen Lebens, eine Reduktion, eine Konzentration, so dass die Arbeit der Evolution leichter vonstatten gehen kann. Und wenn wir die Geschichte der Erde betrachten, können wir verstehen, warum das Universum erschaffen wurde. Es ist dies der Höchste, der sich in einem ewigen Werden seiner selbst bewusst wird, und das Ziel ist die Vereinigung der Schöpfung mit dem Schöpfer, eine Vereinigung, die innerhalb der Manifestation bewusst, freiwillig und frei ist.“30

Sri Aurobindo und Mutter haben der Erde wieder ihren früheren zentralen Platz im Kosmos eingeräumt, nicht physisch, sondern symbolisch. Sie ist die bhumi, der Ort der materiellen Evolution. Nach Kopernikus und zu einer Zeit, wo die Suche nach außerirdischem Leben eine Modeerscheinung der offiziellen Wissenschaft geworden ist, mag dies zuerst wie ein Schock kommen. Oder vielmehr wäre es 1957 als eine Art Schock empfunden worden, zu der Zeit, aus welcher die obigen Zitate stammen. In den letzten Jahren scheinen die Experten ihre Meinung geändert zu haben. John Horgan beispielsweise, der ehemalige Chefautor der Zeitschrift Scientific American sowie Verfasser der beiden einflussreichen Bücher The End of Science (deutscher Titel: An den Grenzen des Wissens: Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften) und The Undiscovered Mind (deutsch: Der menschliche Geist: Wie die Wissenschaft versucht, die Psyche zu verstehen], äußerte sich wie folgt: „Die Physiker denken, dass die Existenz einer hoch technisierten Zivilisation hier auf der Erde die Existenz ähnlicher Zivilisationen anderswo höchst wahrscheinlich erscheinen lässt. Die wirklichen Experten des Lebens – die Biologen – finden diese Ansicht aberwitzig, denn sie wissen, wie viel Glück für den Prozess der Evolution erforderlich war. Der Paläontologe Stephen Jay Gould von der Harvard University hat gesagt, dass, wenn das große Experiment des Lebens eine Million Mal wiederholt würde, die Chancen äußerst klein stünden, dass sie je wieder Säugetiere schaffen würde, ganz zu schweigen von genügend intelligenten Säugetieren, um das Fernsehen zu erfinden.“31

(Goulds Auffassung ist jedoch beschränkt, denn sie geht von der grobmateriellen Evolution als einzige Möglichkeit aus. Gemäß Sri Aurobindo und Mutter gibt es überall im Universum Leben, aber in verschiedenen Formen und Dichtigkeiten der Substanz, die durch den jeweiligen Himmelskörper, auf dem sie ihren Ursprung nahmen, unter ständiger Anpassung an ihn erschaffen wurden. Als Mutter dieses Thema in einer privaten Unterhaltung berührte, sagte sie, dass „sogar unsere Art zu denken von unserer Form abhängt“ und uns nichts Anlass zur Vermutung gebe, dass ein Leben anderswo der Lebensform ähnlich sein müsse, die wir kennen und sind. „Es gibt nur eine Sache, eine Schwingung, die wirklich universal zu sein scheint: die Schwingung der Liebe.“32)

Ein weiteres Zitat in diesem Zusammenhang stammt von Charles Panati, dem ehemaligen Chefphysiker bei RCA und einem wissenschaftlichen Herausgeber der Zeitschrift Newsweek: „Wie absurd sie auch klingen mag und trotz des statistischen Beweismaterials, das gegen sie spricht, hat die präkopernikanische Idee, dass wir das Zentrum des Universums sind, wieder an Beliebtheit gewonnen. Gemäß dem Kosmologen George Ellis der Universität von Cape Town ist die Theorie unannehmbar anthropozentrisch, doch überraschenderweise steht sie nicht im Widerspruch zu den heutigen astronomischen Beobachtungen … Merkwürdig 33